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ISSN 1612-7331
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Online-Extra Nr.

Theresienstadt. Eine Zeitreise

UTA FISCHER und ROLAND WILDBERG





Die SS ordnet die "Verschönerung" an

Besuch im „Vorzeige-Ghetto“

Für die SS dürfte diese Nachricht im Herbst 1943 ein Schock gewesen sein: Theresienstadt wird zur Besichtigung freigegeben! Schuld waren die Dänen: Rund 450 dänische Juden befanden sich seit Oktober im Ghetto, und das Wohlbefinden der überwiegend alten Menschen lag ihren Landsleuten am Herzen. Die Verschleppten wurden aus der Heimat besser versorgt als alle anderen Häftlinge – zugleich drangen die Behörden des von Deutschland besetzten Staates darauf, sich ein eigenes Bild vom Leben in Theresienstadt zu machen. Bisher war der Plan vom „Musterghetto“ ein reines Gedankenspiel gewesen. Doch jetzt sah sich die SS gezwungen, Theresienstadt wirklich repräsentabel zu machen, zumindest für ein paar Stunden.



Zeichnung von Helga Weissová:
SS-Männer überwachen die Renovierungsarbeiten von Häftlingen



Für die heikle Aufgabe nahm Adolf Eichmann sogar einen Personalwechsel vor: Der bisherige Lagerkommandant Anton Burger, der sich vor allem durch Brutalität einen Namen gemacht hatte, wurde am 8. Februar 1944 abgelöst. Neuer Chef in Theresienstadt war nun Karl Rahm, der zuvor in der übergeordneten Prager Behörde, der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ eingesetzt war. Rahm war gelernter Mechaniker und als Organisationstalent bekannt – und das brauchte man jetzt dringend für die „Stadtverschönerung“.

Die Ausführung war Sache der Häftlinge, Benjamin Murmelstein im Ältestenrat trug die von der SS auferlegte Verantwortung. Nach kurzer Zeit war Theresienstadt nicht wiederzuerkennen. Es wurden Häuserfassaden, Fenster und Türen gestrichen, Straßen aufgeräumt und gewalzt, in den Hinterhöfen wurden Mauern abgerissen und die Bretterzäune zur Abgrenzung der „arischen“ Bereiche abgerissen.

Auf dem Stadtplatz säte man Rasen, zusätzlich wurden 1.200 Rosenstöcke gepflanzt. Gegenüber dem „Kaffeehaus“ entstand ein Musikpavillon, wie er in Kurorten steht, von Bänken umstanden. „Man scheute keine Mühe, kein Geld, keine Arbeitskräfte“, kommentiert der Ghetto-Chronist H.G. Adler die Ereignisse. In Theresienstadt herrschte einmal mehr verkehrte Welt: Es wurde Material verbaut, das damals im Deutschen Reich nach vier Jahren Krieg kaum noch verfügbar war. Für eine perfekte Kulisse entstanden zahlreiche neue „Geschäfte“ mit Inneneinrichtung, ein gläserner Kinderpavillon mit modernster Einrichtung und mehrere Spielplätze. In den Massenquartieren wurde die dritte Etage der Stockbetten abgesägt.

Mit den nun „überzähligen“ Bewohnern verfuhr man ähnlich: Rund 7.500 Häftlinge, vor allem Alte und Kranke, wurden in hastigen Transporten nach Osten verfrachtet. In den Augen der SS eine weitere, effiziente Methode, Theresienstadt „schöner“ zu machen. Innerhalb weniger Wochen leerte sich die übervölkerte Stadt.



Kulissen: Grundriss eines Lebensmittelgeschäfts mit Ladentheken, das eigens für die Besichtigung der Delegation des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes entstand



Auch die Sprache wurde „verschönert“: Aus „Ghetto“ wurde „Jüdisches Siedlungsgebiet“, aus der „Ghettowache“ die „Gemeindewache“. Der Judenälteste war nun ein „Bürgermeister“. Nach mehreren Terminänderungen bestimmte die SS schließlich den 23. Juni 1944 für den Besuch einer Delegation des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK). Ihr Rundgang war zuvor unzählige Male geprobt, Texte eingeübt und „Auftritte“ besprochen worden. Dann wurde es ernst: Zwei Dänen und ein Schweizer ließen sich an einem sonnigen Tag von SS-Offizieren in Zivil durch das Lager führen.

Die Spannung muss sichtbar gewesen sein, für die Häftlinge war sie gewiss unerträglich. Doch die Aufführung klappte: Eppstein, der von einem der berühmten Wutanfälle Rahms noch einen blauen Fleck im Gesicht herumtrug, führte die Gäste kreuz und quer durch die Stadt, plauderte ihnen Geschichten vor, die die SS sich ausgedacht hatte, und hielt einen Vortrag über das Gemeinwesen. Niemand traute sich, die Maske fallen zu lassen. Nach fünfeinhalb Stunden verließ die Delegation Theresienstadt. Bis auf einige widersprüchliche Eindrücke – überbelegte Quartiere und hoffnungslose Gesichter – hatten sie nur Schönes gesehen. Und so fiel auch ihr Urteil aus: weitgehend positiv. Dänemark ließ seine Juden übrigens auch später nicht im Stich: Sie blieben vor Osttransporten verschont, erhielten regelmäßig Pakete.



Helga Weissová zeichnete als 15-Jähriges Mädchen die Ankunft der Inspekteure,
welche mit zwei Autos ankamen






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Uta Fischer/Roland Wildberg
Theresienstadt. Eine Zeitreise


Wildfisch Verlag
Berlin 2011
368 S.
29,80 Euro


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