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ONLINE-EXTRA Nr. 201

März 2014

Eine Zeitlang beherrschte es die Weltpolitik ebenso wie die täglichen Nachrichten: Der elende Kampf, das Leiden und das Morden, das sich vor aller Augen in Syrien abspielt. Inzwischen dominieren andere Nachrichten und andere Bilder den Informationsalltag - und vergessen scheint, dass Flüchtlingselend und Sterben in Syrien nach wie vor alltägliche Realität ist.

Dieser die gesamte Weltgemeinschaft aufs Tiefste beschämende Befund ist umso tragischer, als dass der gesamte Großraum Syrien auch für unsere eigene Geschichte, namentlich die Geschichte unseres Glaubens und unserer Religionen - der christlichen ebenso wie der jüdischen und muslimischen - eine kaum mehr bewußte Bedeutung einnimmt. Denn im Großraum Syrien liegt die Wiege eben dieser drei großen monotheistischen Religionen: eine Region mithin voller spannender Begegnungen und wechselseitiger Beeinflussungen, die im Westen fast ganz vergessen und verdrängt ist. Dort hat sich das Christentum aus dem Judentum entwickelt und der Islam als „arabische Religion“ seinen Anfang genommen.

Gerade über die orientalischen Christen wissen wir in der westlichen Welt wenig. Vielleicht sind historisch interessierten Menschen die Nestorianer und damit Nestorius ein Begriff, aber bei Namen wie Apharat, Ephraem dem Syrer oder gar Theodor von Mopsuesta bewegt man sich auf unbekanntem Terrain. Nicht nur die Namen dieser östlichen Kirchenväter muten fremd an, auch viele Bräuche und Traditionen würden aus westlicher Sicht eher dem muslimischen Glaubenskreis zugerechnet werden. Dabei sind die östliche Kirche und das arabische Christentum räumlich und zeitlich eng mit Jesus und seinem Wirkungskreis zu Lebzeiten verbunden.

Andreas Goetze nimmt in seinem nachfolgenden Beitrag die Leser mit auf eine interessante Spurensuche nach den "syrischen Wurzeln des Christentums" und legt dabei seinen Schwerpunkt auf die Einflüsse der „Heiligen Apostolischen und Katholischen Assyrischen Kirche des Ostens“, die ab dem 5. Jahrhundert insbesondere im östlichen Teil des großsyrischen Raumes nicht nur unter den Arabern, sondern bis hin nach Armenien, Indien und China gewirkt hat. Diese so genannte „Kirche des Ostens“ hat im westlichen Kontext in der christlichen Theologie bisher wenig Beachtung gefunden und damit auch keine Würdigung im Rahmen der frühen Islamgeschichte erfahren. Goetze gibt in seinem auch für Laien verständlich geschriebenen Beitrag Einblicke in diese orientalisch faszinierende Glaubenswelt und ihre Verbindung zum Islam. Und schließlich legt er dar, welche zweifache Brückenfunktion das ostsyrische Christentum im Blick auf das westliche Christentum wie auch gegenüber dem Islam einnehmen könnte und beschreibt vor diesem Hintergrund neue Perspektiven für den interreligiösen Dialog zwischen Christentum, Judentum und Islam.  

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!

© 2014 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 201


Die syrischen Wurzeln des Christentums

Der Beitrag der „Heiligen Apostolischen und Katholischen Assyrischen Kirche des Ostens“ für den christlich-islamischen Dialog1


ANDREAS GOETZE



I. Historische Voraussetzungen

Der christlich-muslimische Dialog ist in der westlichen Welt stark durch die Gegenüberstellung von „christlichem“ Europa und „muslimischer“ arabischer Welt geprägt. Verloren geht bei dieser Einordnung, dass der christliche Glaube seine Wurzeln genau in diesem Lebensraum hat, der heute als „arabische Welt“ bezeichnet wird. Und diese Welt ist bis heute nicht nur muslimisch geprägt, sondern auch jüdisch, persisch, mandäisch und eben auch christlich.

Syrien war Kernland der Hochkulturen des Vorderen Orients und beherbergt die ältesten Kulturen der menschlichen Zivilisation. Dort ist die Keilschrift, die älteste Schrift der Menschheit, im 3. Jahrtausend v. Chr. verwendet worden. Das erste auf 26 Buchstaben reduzierte Alphabet, das die Grundlage für das lateinische Alphabet bildet, wurde in Syrien erfunden. Durch die geographische Lage hat die syrische Region eine Brückenfunktion zwischen dem Orient und Europa übernommen. Judentum, Christentum und Islam haben ihre Wurzeln in Syrien.

Syrien meint dabei den Großraum Syrien und nicht nur den heutigen politischen Staat im Nahen Osten, wie wir ihn auf der Landkarte finden. Syrien ist im Folgenden eine Landschaftsbezeichnung. Das griechische Wort „Syria“ entstand aus dem Wort „Assyrien“ und bezeichnet ein schon sehr altes Kulturland, das früh besiedelt wurde: Paläolithische Fundplätze liegen im Euphrattal sowie an der Mittelmeerküste. Der Großraum Syrien umfasst dabei das Gebiet vom Mittelmeer bis zum Euphrat (vom damaligen Palästina bis zum heutigen Irak / Iran). Zahlreich waren die Handelswege, die diesen Lebens- und Kulturraum durchzogen. Die Handelswege verbanden Syrien mit dem Norden bis hin zu den Bergen (dem heutigen Armenien), mit der arabischen Halbinsel im Süden (dem heutigen Saudi Arabien) und reichten im Osten über Mesopotamien (dem heutigen Irak / Iran) bis nach Indien und China.

Ursprünglich wurden die Menschen, die in dieser Region lebten, als „Aramäer“ bezeichnet2. Das Judentum benutzte das Wort „Aramäer“ im Sinne von „Heiden“, die syrisch-aramäische Übersetzung des Neuen Testaments für „Hellenisten“. Später wurde der Begriff aufgegeben zugunsten des griechischen Terminus „Syrer“, einer Kurzform von „Assyrer“. Seit der Zeit Alexander des Großen wurde das Land am Tigris „Assyrien“ genannt, später verkürzt „Syrien“, um später so die aramäisch sprechende Region als ganze zu bezeichnen. Auf alle Fälle darf der Ausdruck „Syrien“, „syrisch“ hier nicht auf das heute politisch existierende Land Syrien bezogen werden.

In Bezug auf die Kirchengeschichte meint Syrien einerseits das römisch-byzantinische Reich „Westsyrien“ und zum anderen das parthische und dann persische (sassanidische) „Ostsyrien“ in Mesopotamien, dem „Zweistromland“ mit Euphrat und Tigris bzw. Persien. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem römisch-byzantinischen und dem persischen Reich führten immer wieder zu machtpolitisch bedingten Grenzverschiebungen, so dass diese Bezeichnungen nicht ganz eindeutig sind.

In der Entwicklung und Ausbreitung des Christentums spielte dieses Syrien eine entscheidende Rolle. Man kann sogar sagen, dass der Großraum Syrien die Wiege des Christentums ist. Denn Syrien ist das Land der meisten christlichen Gemeinden im 1. Jahrhundert. Nach der Zerstörung von Jerusalem durch die Römer im Jahre 70 mussten Juden wie Christen aus der Stadt fliehen bzw. wurden vertrieben. Der Großraum Syrien, insbesondere der Ostteil bis hin nach Mesopotamien und noch weiter bis in den Ostiran, wurde zum Überlebensraum von Judentum und Christentum. Viele jüdische Gemeinden und Gruppen, die wie die Christen aus dem Herrschaftsgebiet des römischen Reiches, aus der römischen Provinz „Palästina“ nach Osten flohen, um der Verfolgung zu entgehen, siedelten im ostsyrischen Raum. Gleiches lässt sich auch vom Christentum sagen: Durch die vom Apostel Paulus angeregte Heidenmission hatten sich verschiedene Gemeinden gebildet, z. B. in Damaskus und Antiochien. Nicht die Jerusalemer Gemeinde, sondern die Kirche von Antiochien trug entscheidend dazu bei, dass sich das Christentum nach Indien im Osten und nach Europa im Westen ausbreiten konnte.

Den Kirchen Europas und damit dem ganzen Abendland ist kaum bewusst, welch’ großes, bedeutendes, weit verbreitetes frühes Christentum es im Vorderen Orient gegeben hat: mit blühenden, an Mitgliedern starken Gemeinden, bedeutenden Theologen, ausstrahlenden Mystikern und Heiligen, mit seinen Asketen und gebildeten Mönchen, die in zahlreichen Klöstern mit großen Bibliotheken lebten. Bis in das 11. Jahrhundert hinein stellten die Christen insgesamt noch die Mehrheit der Bevölkerung. Sie wurden von der Minderheit der Muslime regiert. Noch nach dem 1. Weltkrieg lebten im Osmanischen Reich ca. 25% Christen, heute sind es allerdings nur noch ca. 7%.3

Kultureller und religiöser Austausch führte zu manchen Ähnlichkeiten der Religionen. Vor allem das Mönchtum und die Heiligenverehrung waren fest im Lebensverständnis der Menschen dieser Region verankert. Eine asketische Lebensweise war für die Christen im Großraum Syrien ein Ausdruck ihrer Frömmigkeit, weshalb Einsiedler und Asketen als „Heilige Männer“ besonders verehrt wurden. Das galt ebenso für jüdische, gnostische oder manichäische Gruppierungen. Ähnliche Riten und religiöse Praktiken durchzogen die Religionen. Beispielhaft seien die vielen Pilger genannt, die es glaubensübergreifend an die Wirkungsstätten und Gräber dieser geistbegabten Heiligen Männer sowie der Märtyrer zog, die in der Zeit der Verfolgung für ihren Glauben gestorben waren. Man kann regelrecht von einem „Heiligen-Mann-Kult“4 sprechen.

In dieser multireligiösen Situation entwickelte sich ein lebendiges Christentum. Vielfältig waren (und sind bis heute!) diese Ausprägungen des Christentums im großsyrischen Raum, die sich neben machtpolitischen Interessen aus einem unterschiedlichen Schriftverständnis und aus dem Streit um die Christologie ergaben. Die verschiedenen Konfessionen wie die Chalcedonenser, „Melkiten“, Jakobiten oder ostsyrischen Christen, die in der westlichen Kirchengeschichte fälschlicherweise „Nestorianer“ genannt werden, bauten ihre Kirchen und bildeten ihre je eigenen Gemeinden mit Bischofssitzen und eigenständigen Kirchenstrukturen heraus.

Der Streit über den rechten Zugang zum Geheimnis der Inkarnation, d. h. der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, sollte auf dem Konzil von Chalcedon im Jahr 451 gelöst werden. Doch die Konzilsergebnisse machen deutlich, dass der Glaube aus einem Christusbild lebte, „dessen Fülle nicht mit den Formeln von 451 über die Person Christi eingefangen werden konnte“ 5. So kam es, dass sich damals verschiedene Kirchen von der byzantinischen Reichskirche abspalteten, obwohl sie sich untereinander im Tiefsten mehr eins waren, als sie es selbst wussten. Aus diesen Richtungen der christologischen Streitigkeiten entwickelten sich im syrischen Raum drei verschiedene Gruppen von Christen6 , die auch besonderen Einfluss auf den Großraum Syriens und der Araber hatten:


1. Zum einen die westsyrische „Syrisch7 -Orthodoxe Kirche von Antiochien“.
Ihre Christologie wurde geprägt durch die „Mia Physis“-Formel8  des Apollinarius9. Man nannte sie „Monophysiten“ 10 , obgleich die Bezeichnung „Miaphysiten“ angemessener gewesen wäre. Sie lehnten die Beschlüsse des Konzils von Chalcedon ab, weil sie darin nicht die Einheit der Person Christi genügend berücksichtigt fanden. Zudem förderten nationale, d. h. politisch gegensätzliche Interessen die Entstehung verschiedener „miaphysitischer“ bzw. „monophysitischer“ Kirchen. Die syrischen „Monophysiten“ werden nach Jakob Baradäus (gest. 578) auch „Jakobiten“ genannt. Jakob Baradäus, 544 zum „Araberbischof“ geweiht, etablierte die „monophysitische“ Kirche nicht nur im westsyrischen, sondern auch im ostsyrischen Raum und bewahrte durch seine unermüdliche Tätigkeit diese antichalcedonensische Kirche vor allem in Syrien vor dem Aussterben. Zu den „Monophysiten“ zählen bis heute auch die Koptische Kirche (in Ägypten), die Armenisch-Apostolische Kirche und die Äthiopische Kirche.

2. Zum zweiten die mit der römisch-byzantinischen Reichskirche verbundenen Christen,
die „Melkiten“ genannt wurden (von aramäisch: malkā’ / hebräisch: „mäläch“ = König, so ihre Bezeichnung ab dem 7. Jahrhundert, hier schon verwendet um die geschichtlichen Linien besser nachvollziehen zu können), weil sie sich mit dem Kaiser in Byzanz verbunden wussten. Diese Christen waren Anhänger der „Zwei-Naturen-Lehre“ und trugen die Konzilsbeschlüsse von Chalcedon mit. Als chalcedonensische Kirchen gelten heute die griechisch-orthodoxe Kirche, die römisch-katholische (lateinische) Kirche, die griechisch-katholische Kirche (seit 1724 mit Rom uniert und heute „Melkiten“ genannt, aber nicht identisch mit der Kirche aus dem 7. Jahrhundert!) und die Maroniten (eine ab dem 7. Jahrhundert in enger Beziehung zu Rom stehende Kirche im Libanon); insgesamt alle Kirchen der Orthodoxie sowie alle westlichen Kirchen inklusive der Protestanten und Anglikaner.

3. Schließlich die so genannte „Heilige Apostolische und Katholische Assyrische Kirche des Ostens“,
die sich besonders im ostsyrischen, im persischen Raum stark entwickelte. Sie selbst führt ihre Ursprünge zurück auf die Apostel Addai (Thaddaeus, aus Mt. 10, 3) und seinen Schüler Mari, die von Jerusalem, Edessa und Antiochien den Glauben nach Mesopotamien gebracht haben sollen11. Ihren Lehrern, zunächst und vor allem Theodor von Mopsuestia, später dann auch Nestorius, wurde vorgeworfen, eine „Zwei-Personen-Lehre“ zu verbreiten. Sie wurden im Laufe der Geschichte polemischerweise „Nestorianer“ 12  genannt, um ihre angebliche häretische Haltung zu demonstrieren. Das zeugt allerdings von einer großen Unkenntnis dem ostsyrischen Christentum gegenüber.



Religion fällt nicht vom Himmel


  ANDREAS GOETZE
   Religion fällt nicht vom Himmel
   Die ersten Jahrhunderte des Islams


  Wissenschaftliche Buchgesellschaft
   Darmstadt 3. unv. Aufl. 2013
   491 S. mit 17 s/w Abb., Bibliogr.,
   Zeittafel, versch. Reg. und Glossar

   WBG-Preis EUR 39,90
   Buchhandelspreis EUR 59,90



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Im Großraum Syrien liegt die Wiege von Islam, Judentum und Christentum: eine Region voller spannender Begegnungen und wechselseitiger Beeinflussungen. Andreas Goetze nimmt den Leser mit auf eine interessante Reise zu den gemeinsamen Ursprüngen der drei monotheistischen Weltreligionen und zeichnet die Entstehungsgeschichte des Islams nach. Mit einem Begriffslexikon, einer Übersicht zum arabischen Alphabet, Karten und Abbildungen sowie einer vergleichenden Chronologie.

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II. Die vergessene „Kirche im Osten“

In der westlichen Kirchengeschichte beschränkt sich die allgemeine Kenntnis der Konfessionen in der Regel auf katholisch, evangelisch und orthodox. Die Glaubensüberzeugungen der orientalischen Kirchen mit ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden sind vielfach nicht bekannt. Diese Kirchen des Mittleren Ostens sind aber nicht bloß „pure Geschichte“, sie sind weiterhin lebendige Zeugen christlichen Glaubens in den heute mehrheitlich muslimisch geprägten Gesellschaften der arabischen Welt. Das gilt insbesondere für die „Heilige Apostolische und Katholische Assyrische Kirche des Ostens“ 13 , im Folgenden „ostsyrische Kirche“ oder „Kirche des Ostens“ 14 genannt. Sie hat mit ihren theologischen Grundgedanken und insbesondere mit ihrem Verständnis von Jesus Christus bemerkenswerten Einfluss im Großraum Syrien gehabt.

Der in der westlichen Kirchengeschichte gebräuchliche Ausdruck „Nestorianer“ wird von der „Kirche des Ostens“ abgelehnt. Sie verstehen sich nicht als Kirche, die auf den syrischen Kirchenvater Nestorius zurückgeht. Und vor allem kommt in der Bezeichnung „Nestorianer“ die abfällige Deutung der ostsyrischen Christen als Häretiker zum Ausdruck: als Mitglieder einer Kirche, die vom wahren – dem westlichen (!) – Glauben abgefallen ist. Der Ausdruck „Nestorianer“ ist daher keine Selbst-, sondern eine westliche Fremdbezeichnung und sollte deshalb im ökumenischen Gespräch vermieden werden15.

Es ist in der westlichen Welt kaum bekannt, dass diese „Kirche des Ostens“ eine höchst lebendige Kirche im syrischen Großraum gewesen ist, die nach dem 4. Jahrhundert größer und einflussreicher war als es die katholische Kirche und der Vatikan heute sind. Der Ursprung dieser „Kirche des Ostens“ liegt vor allem im Gebiet des persischen Reiches. Sie war es, der es gelang, den christlichen Glauben in Mesopotamien, Arabien und Asien bis nach Indien und sogar nach China auszubreiten. Sie prägte in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten die weitere religiöse und politische Entwicklung des Großraums Syrien. Sie war bis zum Mongolensturm im 14. Jahrhundert im asiatischen Raum eine blühende Kirche16.

Untersucht man ihre theologischen Grundgedanken, wird offenkundig, wie bedeutsam ihre Art zu glauben, ihre Theologie, ihr Selbstverständnis für die arabischen Christen in vorabbasidischer Zeit (vor dem 8. Jahrhundert) gewesen ist. Mehr noch: Mit der Kenntnis der theologischen Grundgedanken der „Kirche des Ostens“ werden einem christlich-muslimischen Dialog neue Perspektiven eröffnet. Dem ostsyrischen Christentum, wie es sich ab dem 4. Jahrhundert entwickelt hat, so die These, kommt eine besondere Aufmerksamkeit bezüglich der Anfänge des Islam zu. Schon im 19. Jahrhundert hat der Orientalist und Religionswissenschaftler Tor Andrae in seinen Forschungen darauf hingewiesen, dass Muhammad wohl durch missionarische Predigten der syrischen Christen geprägt worden sei17.

1. Auf „syrische Weise“ Christ sein
Antiochien war die erste Stadt, in der es Christen gab, die sowohl aramäisch wie auch griechisch dachten und mehrheitlich keine Juden waren. Theologisch haben sich dabei von Antiochien aus verschiedene theologische Überzeugungen entwickelt. Im Folgenden gilt die Konzentration einer Weiterentwicklung dieses theologischen Denkens, das unter dem Begriff „antiochenische Schule“ bzw. „antiochenische Theologie“ gefasst wird. Diese Weiterentwicklung gelang durch die Aufnahme des Heiligen Geistes in ihr Denken. Diese so genannte „antiochenische Theologie“ wurde zur Grundlage des Denkens der „Kirche des Ostens“.

Im 3. Jahrhundert wurde Edessa dann zum Zentrum einer bestimmten Art von Christentum18. Die Eroberung Antiochiens durch die Sassaniden im Jahr 260 hat diese Entwicklung mit beschleunigt. Die Sassaniden haben bei ihren Eroberungszügen viele syrische Christen nach Persien deportiert, im Jahr 540 einmal sogar die ganze Einwohnerschaft Antiochiens19. Die meisten Klöster und Gemeinden der „Kirche des Ostens“ lagen außerhalb des römisch-byzantinischen Reiches und waren dem machtpolitischen Einfluss von Byzanz entzogen. Isoliert von ihrer Heimat, haben diese Christen im fernen Persien ihre Christologie weiterentwickelt, ohne dass es zu theologischen Auseinandersetzungen mit den westlichen Christen gekommen wäre. Das hatte erhebliche Konsequenzen für ihre Sicht der Christologie. Denn das ostsyrische Christentum war zunächst nicht direkt einbezogen in die christologischen Kontroversen, die im römisch-byzantinischen Reich stattfanden20. Diese weitgehend selbstständige Entwicklung der „Kirche des Ostens“ durch die politische wie geographische Trennung von der Kirche im römisch-byzantinischen Reich ist nicht zu unterschätzen.

Theologisch und kirchenpolitisch geriet sie dennoch unter Druck, weil sie die Verurteilung des der „antiochenischen Theologie“ nahe stehenden Bischofs Nestorius auf dem Konzil von Ephesus im Jahre 43121 nicht nachvollziehen konnte und deshalb nicht mitgetragen hat. Durch die Verurteilung des Nestorius mussten zahlreiche als „nestorianisch“ geltenden Theologen und Christen in den ostsyrischen Raum auswandern und verstärkten damit noch die innerkirchliche Trennung. Nestorius galt und gilt bis heute als wichtiger spiritueller Lehrer und Theologe der ostsyrischen Kirche22. Man sieht ihn nicht als Häretiker und falschen Lehrer an, sondern sieht ihn „als Märtyrer für die Sache der antiochenischen Theologie“ 23. In der Kirchengeschichte war er auch einer der ersten Theologen, die versuchten, die Inkarnation (die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus) wirklich so zu durchdenken, dass sie eine Lösung für die christologischen Probleme darstellte, die durch Arius und Apollinarius aufgekommen waren.

Diese „antiochenische Theologie“ lässt sich als eine Fortentwicklung und schließlich als Überwindung eines im 2. Jahrhundert in Syrien verbreiteten Denkens werten. Nach diesem Denken unterschied z. B. die apokryphe syrische „Apostelgeschichte des Thomas“ klar zwischen dem, was Jesus Christus als Mensch und was er als Gott tat24  und konnte noch nicht die Beziehung zwischen Gott und Mensch tiefgründig genug beschreiben. Lucian von Antiochien (um 300, dessen Denken später auch Arius geprägt hat) wird diese „Apostelgeschichte des Thomas“ und das „Thomasevangelium“ sowie weitere syrische Schriften gekannt haben. Hymnen aus diesen Schriften beschreiben die Notwendigkeit ethischer Bewährung zur Gewinnung des Heils: „Weil ich ihn, den Sohn, liebe, werde auch ich ein Sohn werden (…) Das ist der Geist Gottes, der nicht irren kann, der die Menschensöhne seinen Weg lehrt“. Auch die in dieser Zeit populären jüdisch-gnostischen „Oden Salomos“ besingen in poetischer Form das Heil des Individuums, wenn der Mensch mit dem Geist wie mit einem neuen Gewand bekleidet ist und sich zur Erlangung des Heils selbstverantwortlich bewährt.

Die Weiterentwicklung bestand vor allem darin, dieses ethisch-moralische Verständnis des Heils unter Zuhilfenahme des geschichtlichen Wirkens Gottes im Heiligen Geist zu überwinden. Dieses sich entwickelnde relational-existentielle Gottes- und Weltverständnis ist mit den syrischen Theologen Aphrahat, Theodor von Mopsuestia, Nestorius und Ephraem verbunden.

Zunächst nicht durch die hellenistische Theologie herausgefordert, konnte man ungebrochen auf „syrische Weise Christ sein“ 25. Die von Paul von Samosata (Bischof in Antiochien von 260-272) entwickelte Gottesvorstellung dürfte noch für viele syrische Gemeinden im 3. Jahrhundert bestimmend gewesen sein. Auch wenn die eigentliche Lehre Pauls nicht leicht zu rekonstruieren und wissenschaftlich umstritten ist, dürfte als grundlegend für ihn eine absolute Transzendenz Gottes festgehalten werden, die sich durch den Gott-Logos in der Welt offenbart und im Menschen Jesus als „unpersönliche göttliche Kraft“ wirkt. Durch den auf ihm ruhenden Geist Gottes erreicht Jesus die Einheit mit der Liebe und dem Willen Gottes und wird „Herr“ und „Gott aus der Jungfrau“ 26. Jesus wurde also von Gott bzw. durch den Geist Gottes adoptiert und war nicht von Anfang an bei Gott. Weil er nach seinem Willen tat, was Gott wohlgefällig war, wurde er „Gottes Sohn“ genannt.

Der hier kurz beschriebene so genannte Adoptianismus blieb letztlich (wie später bei Arius ebenso nachweisbar) bei einer „moralisch-ethischen“ Beziehung der beiden Naturen Christi durch den Willen stehen: „Jesus ist Gottes Sohn, weil er tut, was Gott will“. Dieses ethische Verständnis eröffnete keinen Zugang dazu, dass Jesus selbst Gottes Sohn „ist“, d. h. dass Jesus ganz und gar mit Gott verbunden ist, schon bevor (!) er etwas tut. Der Adoptianismus konnte keine in irgendeiner Weise zu beschreibende ontologische (d. h. seinshafte) Verbindung zwischen Gott und Jesus annehmen. Damit blieb er aber auch hinter dem aramäischen (hebräischen) Denken zurück und förderte ein Verständnis, nach dem den Menschen ohne eigenes Mittun keine Erlösung zuteil werden könne.

Das aramäische Denken kann das Welt- und Gottesverständnis nicht mit festen Begriffen definieren und kommt daher zu keinen statisch-ontologischen (naturhaften) Aussagen im Sinne von: „Gott ist so und so“ (z. B. „Gott ist der Allmächtige“). Für das aramäische Denken ist die relational-existentielle Beschreibung der Beziehung zwischen Gott und der Welt bzw. der Menschheit wesentlich: „Gott verhält sich zum Menschen treu und zuverlässig“ 27. Es geht um eine Beziehung (Relation) zu Gott durch den Geist, die für das eigene Leben bedeutungsvoll ist (existentiell). Auch dies ist eine Seinsaussage (griechisch: eine „ontologische Aussage“), aber nicht im definitorischem, naturhaften Sinn. Es geht dem aramäischen Denken nicht um „Gottes Wesen an sich“, sondern es ist ausgerichtet an der geschichtlichen Wirkung Gottes durch den Heiligen Geist. Durch sie wird aber gerade „das Sein“ bzw. die Beziehung von Gott zum Menschen wesenhaft beschrieben, z. B. als zuverlässig. Eine solche relational-existentielle Weiterentwicklung der Christologie zur „antiochenischen Schule“ hat sich damit nicht erst aufgrund der hellenistischen Herausforderung ergeben, sondern hatte ihren wesentlichen Grund im aramäischen Denken selbst. Die Syrer konnten von ihrem Denken her mit den begrifflichen Definitionen der Byzantiner wenig anfangen und sahen darin die Gefahr, dass der Glauben an den einen Gott dadurch in Frage gestellt wird.


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ANMERKUNGEN



1 Zuerst veröffentlicht in: Hans-Joachim Tambour/Sr. Friederike Immanuela Popp (Hrsg.), Geschichten verändern Geschichte. Perspektiven der Unerschöpflichkeit des Biblischen Wortes. Festschrift für F. E. Dobberahn.), in: Paul Imhof/Eduard Saroyan (Hrsg.), Strukturen der Wirklichkeit, Bd. 6 (Schriftenreihe der Deutschen Universität in Armenien und der Akademie St. Paul), Wambach 2010, S. 169-205.
2   Zum Sprachgebrauch vgl. Trimingham, S. 209. – Die bibliographischen Nachweise für die in dieser Untersuchung zitierten Literatur befinden sich am Schluss des Artikels im Literaturverzeichnis.
3   Die Zahlen verdanke ich Dr. George F. Sabra, Dekan der „Near East School of Theology“ in Beirut. Das 20. Jahrhundert war für die Christen im Mittleren Osten aufgrund der zwei Weltkriege, dem israelisch-palästinensischen Konflikt, dem so genannten „Kalten Krieg“ und zuletzt durch den aufkommenden Islamismus ein sehr schwieriges Jahrhundert.
4   So Trimingham, S. 233.
5   So Grillmeier, Bd. 2/1, S. 4.
6   Zum Folgenden vgl. Hainthaler, Araber, S. 30-33.
7   „Syrisch“ meint nicht den Nationalstaat Syrien, daher benutzt man im Englischen das Wort „Syriac“ (syrianisch) statt „Syrian“.
8   Zur Aporie der „Mia Physis“-Formel vgl. Grillmeier, Bd. 2/4, S. 30-35.
9   Apollinarius von Laodicea (gest. um 390) prägte den Begriff „mia physis“ (nur „eine Natur“) in Jesus Christus, weil er nicht zwei Herrschaftsprinzipien von Ewigkeit her (das göttliche und das menschliche) in Christus annehmen wollte. Denn dann wäre auch Christus in seiner menschlichen Natur schon präexistent, was seine Erniedrigung in menschlicher Gestalt nach Phil. 2 unmöglich machen würde. Er betonte daher, dass die eine göttliche Natur von Ewigkeit her das alles bestimmende Prinzip in Christus darstellt, wodurch er aber – nach Ansicht der „Kirche des Ostens“ und der Anhänger von Chalcedon – in der Gefahr stand, die menschliche Seele bzw. Natur in Christus durch die göttliche Natur (den Geist Gottes bzw. den Logos) zu ersetzen.
10   Die orientalischen Kirchen lehnen die Bezeichnung „Monophysiten“ für sich zu Recht ab, da sie nicht nur an eine einfache („mono“) Natur („physis“) Christi glauben, sondern an die einzig bestimmende göttliche Natur, in der aber Gottheit und Menschheit ungetrennt und unvermischt vereinigt sind. Sie selbst würden den Ausdruck „Miaphysiten“ daher eher akzeptieren. Im Folgenden verwende ich den in der Kirchengeschichte gängigen Ausdruck „Monophysiten“ deshalb nur mit Anführungszeichen; vgl. Hainthaler, Araber, S. 33.
11   Hainthaler, Araber, S. 33.
12   Dieser Ausdruck „Nestorianer“ setzte sich fest, weil Nestorius ab dem 7. Jahrhundert immer größeren Einfluss gewann und seine Lehren im Westen als entscheidende Grundlage der „Kirche des Ostens“ angesehen wurden. 
13   Wobei „katholisch“ hier nicht eine Verbindung zur römisch-katholischen Konfession meint, sondern sich herleitet von der griechischen Bedeutung „allgemein, umfassend“.
14   Von der „Kirche des Ostens“ kann man genau genommen nicht schon in der patristischen Zeit sprechen. Erst im 8. Jahrhundert hat vermutlich der Katholicos (leitender Bischof) Timotheus I. diese Bezeichnung ins Gespräch gebracht. Um die geistesgeschichtliche Linie von den Anfängen her sichtbar zu machen, verwende ich der Einfachheit halber den Ausdruck schon für die Anfangszeit.
15   Vgl. Winkler, Age, S. 31f; ders., Apostolic, S. 3-5; Brock, Christology, S. 126. Heute leben Nachfahren der „Kirche des Ostens” als in ihrer Existenz bedrohte Minderheit vor allem im Irak (verbunden mit der katholischen Kirche werden sie „Chaldäer” genannt).
16   Vgl. dazu mit vielen inschriftlichen Belegen ausführlich Klein.
 17   Andrae, Ursprung, S. 192ff.

18   Trimingham, S. 43.
19   Ohlig, Ostiran, S. 22; Popp, Ugarit, S. 19.
20   Brock, Christology, S. 130.
21   Details zum Ablauf des Konzils in Ephesus 431 vgl. Grillmeier, Bd. 1, S. 687-691.
22   Horner, S. 20-24.
23 Brock, Christology, S. 130. Zur Theologie des Nestorius vgl. Abramowski, S. 54ff., deren Ausführungen zu Nestorius zu einer Neubewertung der Verurteilung durch die monophysitischen Kirchen und die byzantinische Reichskirche (und damit auch durch die westliche Theologie) nach sich ziehen müssten.
24   Drijvers, Antioch, S. 14.
25   So Ohlig, Christentum, S. 388, genauer bei Winkler, Christentum, S. 41-48.
26   Williams, S. 293.
27   Ausführlich dazu  Goetze, Wahrheit.



Der Autor

ANDREAS GOETZE

Dr. Andreas Goetze ist seit vielen Jahren im interreligiösen Dialog, zu Themen des Nahen Ostens und als Geistlicher Begleiter im Bereich Spiritualität engagiert. Seit 2012 ist er der landeskirchliche Pfarrer für den interreligiösen Dialog in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). Dr. Goetze studierte in Heidelberg, Tübingen, Mainz und Frankfurt a. M. Evangelische Theologie, Nebenfächer Philosophie und Judaistik, islamwissenschaftliche Studien und Studien zum orientalischen Christentum in Jerusalem und Beirut, Vikar in Jerusalem, spiritueller Reiseleiter für das Heilige Land. Religionswissenschaftliche Promotion zu den Anfängen des Islams unter dem Titel „Religion fällt nicht vom Himmel“, deren Anliegen die Verbindung der historisch-kritischen Perspektive mit der spirituellen Dimension des Glaubens ist. Letzte Veröffentlichung (zusammen mit Roland Herpich): Toleranz statt Wahrheit? Herausforderung interreligiöser Dialog. Jüdische, christliche und muslimische Perspektiven (Wichern-Verlag 2013)

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