ONLINE-EXTRA Nr. 222
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Online-Extra Nr. 222
Einleitung
Der Untertitel dieses Buches verspricht Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, eine jüdische Lektüre des Johannesevangeliums. Ich muss gleich zu Beginn gestehen: Dies ist ein irreführender Untertitel. Zum einen bietet dieses Buch nicht eine jüdische Lektüre, sondern mehrere. Zum anderen sind diese Lektüren nicht normativ oder repräsentativ für jüdische Zugänge zum Johannesevangelium, da schliesslich die wenigsten Jüdinnen und Juden das Vierte Evangelium lesen. Ich kann Ihnen auch nicht versichern, dass alle – oder wenigstens einige – Jüdinnen und Juden, die sich in die johanneischen Gefilde gewagt haben, meinen Lektüren zustimmen würden. Daher hätte ein präziserer, allerdings sehr schwerfälliger Untertitel vielleicht ‹Verschiedene Lektüren des Johannesevangeliums, unternommen von einer einzigen jüdischen Leserin› lauten müssen.
Einige unter Ihnen halten dieses Buch vielleicht für ein törichtes Unterfangen. Sicherlich kann eine aus Sicht des christlichen Glaubens Aussenstehende das Vierte Evangelium, das ‹spirituellste der Evangelien›1, kaum verstehen. Andere mögen es für ein gefährliches Unternehmen halten, das meine jüdische Identität bedroht. Ich sollte mich besser nicht zu intensiv mit christlichen Schriften auseinandersetzen, um mich nicht von der christlichen Botschaft verführen zu lassen. Wieder andere unter Ihnen mögen applaudieren. Endlich, sagen Sie vielleicht, wird sie uns verraten, warum und wie ein ‹nettes jüdisches Mädchen› dazu kommt, sich auf das Gebiet der neutestamentlichen Forschung einzulassen. Sie erwarten vielleicht, dass ich die Rolle des Vierten Evangeliums in der Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehungen untersuche oder vielleicht sogar, dass ich Jesus als lange verlorenen jüdischen Bruder zurückfordere. Ich wage zu behaupten, Sie alle meinen, die Tatsache, dass ich Jüdin und – ebenso bedeutend – ein Kind von Holocaustüberlebenden bin, erkläre, warum ich so viele Jahre lang Texte gelesen habe, die zu Jahrhunderten von Hass beigetragen haben und wohl auch geholfen haben, ein Fundament für rassistischen Antisemitismus zu legen.
Ich bestreite nicht, dass meine jüdische Identität einen, wie auch immer gearteten Einfluss auf meine langjährige Auseinandersetzung mit dem Neuen Testament im Allgemeinen und mit dem Vierten Evangelium im Besonderen hat. Vielleicht liesse sich durch ein oder zwei Jahre Psychoanalyse aufzeigen, dass ich noch immer unter den unbedachten Worten von Miss R., meiner Lehrerin in der zweiten Klasse, leide, die uns arglosen Siebenjährigen in der Osterzeit einen ausgedehnten Vortrag über Jüdinnen und Juden als Christus-MörderInnen hielt. Vielleicht bin ich noch immer betört von den weissen Kommunionskleidern meiner jungen katholischen FreundInnen, die durch die Strassen unseres Einwandererquartiers in Toronto spazierten. Vielleicht liess ich mich vom täglichen Aufsagen des Unservaters und dem munteren Singen von ‹Jesus loves me, this I know› in der Primarschule, in der ich eine der wenigen jüdischen SchülerInnen war, oder vom winzigen Neuen Testament, das wir in der fünften Klasse bei einer besonderen Zeremonie überreicht bekamen, unangemessen beeinflussen. Vielleicht hilft mir meine Berufswahl tatsächlich, mir über meine jüdische Identität als Teil einer Minorität in der Diaspora klar zu werden oder mit dem übermächtigen Einfluss zurechtzukommen, den Antisemitismus auf das Leben meiner Eltern hatte.
Vielleicht. Nun aber zu einem zweiten Geständnis: Ich habe erst kürzlich angefangen zu erkennen, dass es eine Verbindung zwischen meiner jüdischen Identität, der Wahl meines Forschungsgebiets und der Art, wie ich darin arbeite, gibt. Zu Beginn meiner Graduate Studies hatte ich nie die bewusste Absicht, mich auf das Neue Testament zu spezialisieren. Ich wollte schlicht die Studien zum Frühen Judentum, die ich als Undergraduate begonnen hatte, fortführen. Da ich erkannt hatte, dass gewisse Kenntnisse über das Frühe Christentum diesbezüglich hilfreich sein würden, lernte ich zusätzlich zum Hebräischen noch Griechisch und besuchte neben Veranstaltungen zum Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels und zum frühen rabbinischen Judentum Vorlesungen über die Evangelien und Paulus.
Wann und wie genau mein Schwerpunkt sich verschob, kann ich heute kaum noch sagen. Doch sicherlich war das wachsende Gefühl von Berufung ein sehr wichtiger Faktor. Im Laufe meiner Graduate Studies fing ich an, mir vorzustellen, welche Chancen eine jüdische Lehrerin für Frühchristentum hätte: wie sie die christlichen Studierenden ansprechen, zu Diskussionen über ihre eigenen heiligen Schriften einladen und sie so ermutigen könnte, ihre Ansichten über Jüdinnen, Juden und das Judentum, die sie vielleicht an die Arbeit mit diesen Texten herangetragen haben, zu überdenken.
In gewissem Konflikt zu diesem mächtigen Gefühl von Berufung standen die Normen und Sichtweisen, die ich im Laufe meiner Forschungstätigkeit zum Neuen Testament übernahm. In den ‹Religious Studies› legte man wie in vielen anderen Wissenschaften während der 1970er und 1980er Jahre grossen Wert auf Objektivität und wissenschaftliche Methodik. Bei der wissenschaftlichen Lektüre von heiligen Texten und Traditionen sollten wir unsere persönliche Identität an den Türen der Universitätsbibliothek abgeben, und weit entfernt vom Vorlesungssaal stehen lassen. Wir dachten, dass unser akademisches Urteil als Forschende und Lehrende auf diese Weise von persönlichen Vorlieben und Ideologien unberührt bliebe. Folglich würden wir ausschliesslich vom Material und den spezifischen Methoden, die wir anwandten, geleitet.
Ich war von diesem Zugang sehr überzeugt. Er schien mich, die ich gegenüber den Gemeinschaften, für die das Neue Testament Heilige Schrift ist, eine Aussenseiterin bin, auf die gleiche Stufe mit meinen ‹Insider-KollegInnen› zu stellen. Zu Beginn war es nicht ganz einfach, zwischen meiner jüdischen Identität und meinen Studien zu trennen. Es waren nicht die neutestamentlichen Aussagen über Jesus als den Messias und Sohn Gottes, die sich als Schwierigkeit herausstellten. Nein, ich hatte Probleme mit der auffälligen, oft feindseligen Darstellung jüdischer Personen, des jüdischen Gesetzes und der jüdischen Bräuche. Jede der siebzig Erwähnungen der ‹Juden› im Johannesevangelium fühlte sich wie ein Schlag ins Gesicht an. Die Worte «Sein Blut komme über uns und unsere Kinder», die Matthäus der jüdischen Menschenmenge bei Jesu Kreuzigung in den Mund legt (Mt 27,25), liessen mich erschauern. Meine jüdische Identität auszuklammern bedeutete, mich für diese Aspekte des Neuen Testaments unempfindlich zu machen, ein Zustand, den ich erst erreichte, als ich die Texte unzählige Male gelesen hatte.
Mit der Zeit liess ich meine Identität so geschickt ausserhalb des Unterrichtsraumes, dass meine Studierenden oftmals überhaupt nicht merkten, dass ich Jüdin bin. Dies realisierte ich bei einem Erlebnis an der Universität Toronto. Eines Tages kam nach der ersten Sitzung meiner ‹Einführung in das Neue Testament› eine Frau zu mir. Sie war sehr besorgt und fragte mich, ob die Studierenden eine katholische Sicht auf das Neue Testament übernehmen müssten. Wäre dem so, müsste sie, als Anglikanerin, die Vorlesung aufgeben. Ich versicherte ihr, dass ihr kein spezifischer, konfessioneller Zugang aufgedrängt würde und fragte sie, ob ihr etwas Bestimmtes diesen Eindruck vermittelt habe. Hatte ich etwas in dieser Richtung gesagt? Nein, antwortete sie, nur hätten ihr andere Studierende erzählt, ich sei eine katholische Nonne.
An diesem Punkt begann ich zu realisieren, dass ich mit meinen Bemühungen, objektiv und unbeteiligt zu sein, zu weit gegangen war. Wie konnte ich eine positive jüdische Sicht auf bestimmte Aspekte der neutestamentlichen Literatur vermitteln, wenn ich mich unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Objektivität versteckte?
Es war eindeutig Zeit, mich als Jüdin zu ‹outen›. Aber ich tat es nicht. Obwohl ich in meinen Veranstaltungen offener wurde, mied ich tunlichst jene Aspekte des Neuen Testaments, welche Jüdinnen, Juden und Judentum direkt betrafen. Das Johannesevangelium, mein Spezialgebiet, bot reichlich Stoff, die meiner Meinung nach wichtigsten Aspekte – die literarischen und rhetorischen Elemente – zu untersuchen. Das Gebiet der Forschung am Johannesevangelium bot ein weites Feld, innerhalb dessen ich mich persönlich oder schriftlich mit anderen WissenschaftlerInnen über Fragen literaturwissenschaftlicher Methoden und über Berührungspunkte zwischen Literaturwissenschaft und historisch-kritischer Exegese austauschen konnte. Mich reizte insbesondere die äusserst komplexe Frage, ob das Evangelium als Fenster zum historischen, religiösen und kulturellen Kontext, für den und innerhalb dessen es geschrieben worden war, benutzt werden kann.
Doch wie sehr ich auch darauf beharrte, meine jüdische Identität habe keinen direkten Einfluss auf meine akademische Arbeit, mein Umfeld liess sich nicht überzeugen. Im Lauf der Jahre wurde ich immer häufiger eingeladen, darüber zu sprechen und zu schreiben, was es heisst, eine jüdische Neutestamentlerin zu sein, Jesus aus jüdischer Sicht zu beschreiben und mich zu Themen des gegenwärtigen jüdisch-christlichen Dialogs zu äussern. Anfänglich reagierte ich auf diese Angebote wie ein scheues Kind, das lieber am Rand sitzt, als sich ins Getümmel zu stürzen. Ich hatte das Gefühl, meine KollegInnen hätten mich freundlich, aber bestimmt an der Hand genommen und mich in ein Spiel verwickelt, das ich nicht gewählt hatte. Als ich jedoch einmal dabei war, fand ich das Spiel nicht nur erfreulich, sondern merkte auch, dass es mein Verständnis für das Neue Testament und das Gebiet der Forschung am Johannesevangelium ebenso erweiterte.
Zu dieser Zeit begann man in der neutestamentlichen Forschung, sich für Zugänge und Methoden anderer Disziplinen zu öffnen. Die fundamentalen Annahmen, auf denen meine bisherige Arbeit gründete, wurden auf wahrlich postmoderne Art und Weise herausgefordert – in erster Linie durch einen feministischen Ansatz. Das Aufkommen feministischer Exegese liess mich erkennen, dass die wissenschaftliche Objektivität, die ich durch die Ausklammerung meiner jüdischen Identität zu erreichen glaubte, eine Illusion war. Ich erkannte das Ausmass, in welchem sowohl meine eigene Arbeit als auch diejenige anderer ExegetInnen explizit wie implizit von unserer jeweiligen Identität und unseren Loyalitäten beeinflusst sind. Feministische Exegese hob die Trennung zwischen dem Elfenbeinturm und der ‹wirklichen Welt› mit dem Argument auf, sowohl der Text als auch seine InterpretInnen seien für ihren Einfluss auf das Wohlergehen anderer verantwortlich und daher auch in die Verantwortung zu nehmen. Obwohl der feministische Ansatz seinen Ausgangspunkt in den Erfahrungen von Frauen hat, setzte ich mich für den Grundsatz ein, dass eine feministische Lektüre der Bibel weit über die Bilder von und die Worte über Frauen in diesen Texten hinausgehen muss. Sie muss vielmehr die Fragen von Befreiung nicht nur aus der Perspektive von Frauen als Frauen aufdecken, sondern vom Standpunkt der Marginalisierten aus, gleichgültig ob diese auf Grund von Gender, Religion, Rasse, Klasse, sexueller Orientierung, physischen Fähigkeiten oder aus irgendeinem anderen Grund an den Rand gedrängt werden.2
Diese Einflüsse machten es mir unmöglich, die teilnahmslose wissenschaftliche Maske zu wahren, an der ich so hart gearbeitet hatte. Ich konnte weder die negative Darstellung von Jüdinnen, Juden und Judentum im Text weiter ignorieren noch die Einsicht, dass meine eigene jüdische Identität zwangsläufig eine Rolle in meiner Arbeit als Exegetin des Vierten Evangeliums spielte und vielleicht auch spielen sollte.
Doch genauso wie ich schliesslich meine jüdische Identität nicht mehr von meiner akademischen Arbeit trennen konnte, kann ich meine professionelle Identität und die Jahre des Studierens und Forschens, die sie geformt haben, jetzt beim Versuch einer explizit jüdischen Begegnung mit dem Johannesevangelium nicht beiseite legen. Wie auch immer ich es anstelle, ich gehe nicht als ‹naive› Leserin zum ersten Mal an diesen Text heran, sondern als professionelle Leserin mit langjähriger Erfahrung. Meine Lektüren des Vierten Evangeliums sind von meiner jüdischen Identität geprägt, aber sie sind auch durch die Forschung am Johannesevangelium geformt und verfeinert.
Meine Versuche, das Johannesevangelium zu lesen, widerspiegeln folglich sowohl meine jüdische als auch meine berufliche Erfahrung. Die Gestalt der Versuche wurde jedoch von keinem dieser Elemente, sondern von einem literaturwissenschaftlichen Dilemma bestimmt. Mich interessiert nicht so sehr die Frage, warum eine oder gerade diese Jüdin am Neuen Testament forscht, sondern vielmehr die pragmatische Frage danach, wie sie dies tut. Die Frage, wie eine Jüdin diesen Text liest, gehört zur grundsätzlicheren theoretischen Frage, die sich allen LeserInnen bewusst oder auch unbewusst stellt: Wie wird unsere Interpretation von Texten davon beeinflusst, wer wir als Menschen sind? Es ist eine Frage von Distanz, sei diese nun geografisch, kulturell, chronologisch oder durch die Perspektive bestimmt. Diese Frage stellt sich noch drängender beim Lesen jener Texte, die Individuen, Gruppen, Bräuche oder Lehren kritisieren, verunglimpfen oder abweisen, mit denen wir uns vielleicht selbst identifizieren, und/oder Haltungen einnehmen, die wir als LeserInnen für unethisch halten.
Aus jüdischer Sicht ist das Neue Testament natürlich voll solcher Texte. Die Bemühung um die Einhaltung des Gesetzes, die Paulus als Hindernis für die Erlösung darstellt (2 Kor 3,14), ist zentral für das jüdische Verständnis vom Bundesverhältnis zwischen dem jüdischen Volk und Gott. Die PharisäerInnen, die der matthäische Jesus als LügnerInnen und HeuchlerInnen brandmarkt (Mt 23), werden in der jüdischen Tradition als die AuslegerInnen und GesetzgeberInnen der Tora verehrt, denen das nachbiblische Judentum sein Überleben verdankt. In höchstem Masse anstössig sind in diesem Fall die vielen Erwähnungen der ‹Juden› im Johannesevangelium. Denn was genau ist es, das uns Jüdinnen und Juden heute, über die zeitliche und räumliche Distanz hinweg, von den Jüdinnen und Juden unterscheidet, die der johanneische Jesus als ungläubige Nachkommen des Teufels schmäht, blind, sündig und unfähig ihre eigenen Schriften zu verstehen? Können wir einen Text, der seinen Standpunkt durch Verunglimpfung der oder des Anderen ausdrückt, weiterhin lesen und wertschätzen? Diese Fragen zeigen deutlich, was es heisst, diesen schwierigen Text als Jüdin zu lesen. Doch sie betreffen alle LeserInnen und die Haltung, mit der wir Büchern, die wir lesen, bewusst oder unbewusst begegnen.
Es folgen nun meine verschiedenen Versuche, das Vierte Evangelium bewusst und absichtlich als diejenige Person zu lesen, die ich bin: als jüdische Professorin für Neues Testament. Die Aufgabe ist erstaunlich schwierig. Die im akademischen Bereich etablierten Lesegewohnheiten sterben nur langsam. Doch bot mir schon der Versuch an sich die Möglichkeit, die altbekannten Pfade der Forschung am Johannesevangelium zu verlassen und eine Brücke zwischen dem Johannesevangelium und – über viele Jahrhunderte und Meilen hinweg – meiner eigenen Situation als Jüdin in Nordamerika zu schlagen. Ich lade Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ein, diese Distanz mit mir zusammen zu überqueren.
ADELE REINHARTZ
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Was geschieht, wenn sich eine jüdische feministische Neutestamentlerin auf das Johannesevangelium einlässt? Auf einen kanonischen Text des Christentums, der wegen seiner antijüdischen Polemik auch schon als «Vater des Antisemitismus» (Gregory Baum) bezeichnet wurde? Denn Lesen stellt immer Beziehungen her, im besten Fall sogar Freundschaften. Die kanadische Neutestamentlerin Adele Reinhartz beschäftigt sich seit Jahren mit dem Vierten Evangelium, aber auch mit Fragestellungen der neueren Literaturwissenschaft und der feministischer Theologie. Sie erprobt in der vorliegenden Studie erfrischend unkonventionell, ob für sie eine Freundschaft mit dem impliziten Autor des Evangeliums, dem Geliebten Jünger, möglich ist. Dafür unterzieht sie das Johannesevangelium verschiedenen Lektüren: Einer zustimmenden, einer widerständigen, einer wohlwollenden und einer beteiligten Lektüre. Dabei tritt ihr auch der Geliebte Jünger in verschiedenen Rollen entgegen: Als Mentor, aber auch als Gegner, als Kollege und als Anderer. Indem sie ihre eigene Position nicht verleuget, sondern in die Lektüren einbezieht, eröffnet sie die Diskussion über das Gelesene und weist auf die Verantwortung der eigenen Lektüre hin.
Vier Lektüren des Johannesevangeliums: kenntnisreich, umsichtig, argumentativ und einfühlsam. Doch der Stachel bleibt.
Norbert Copray, Publik-Forum
Kap. 5: Der Geliebte Jünger als Gegner Wie soll sie unsere ‹besten und berühmtesten› Geschichten, in denen die amerikanische Vorstellung geboren wird, lesen, wenn der definierende Akt jener Vorstellung darin besteht, die wirkliche Amerikanische Revolution mit dem Vermeiden von Erwachsensein gleichzusetzen, was das Meiden von Frauen und das Meiden der eigenen Ehefrau bedeutet? Wie wirkt dieser amerikanische Traum auf sie? Die Antwort ist offensichtlich: desaströs. Was im Grunde, ein einfacher Akt der Identifikation ist, wenn ein Mann die Geschichte liest, wird, wenn eine Frau die Geschichte liest, zu einer Verwicklung in Widersprüche. Wo soll sich eine Leserin in einer solchen Geschichte positionieren? Sicherlich ist sie nicht Rip, denn die Phantasie, die er verkörpert, ist durch und durch männlich und als Gegensatz zu einer Frau definiert. Ebenso wenig ist sie Dame Van Winkle, denn Dame ist keine Person: Sie ist ein Sündenbock, der Feind, die Andere…3 Das Johannesevangelium legt Frauen nicht auf die Rolle der Anderen fest; alle weiblichen Personen in der Erzählung zählen zur positiven Seite der johanneischen Dichotomie. Vielmehr sind es die Jüdinnen und Juden, die das Andere verkörpern. Gemeint sind jene Jüdinnen und Juden, die nicht an Christus glauben. Aus diesem Grund sind die jüdischen LeserInnen in der genau gleichen Position wie eine Leserin von Rip Van Winkle. Wenn sie sich mit Jesus, dem Protagonisten der Evangeliumserzählung identifizieren, müssen sie einer Reihe von Glaubenssätzen zustimmen, die Feindseligkeiten gegenüber einer jüdischen Identität darstellen. Wenn sie sich zu den Jüdinnen und Juden, den AntagonistInnen des Stücks, stellen, müssen sie den Angriff von Jesu Schimpfrede ertragen, das Gefühl, der Verfolgung und des Mordes angeklagt zu sein und die Rolle der verunglimpften Anderen in der johanneischen Erzählung übernehmen. Ein Mensch kann nichts nehmen, es sei ihm denn vom Himmel gegeben. Ihr selbst bezeugt mir, dass ich gesagt habe: Nicht ich bin der Christus, sondern ich bin vor ihm her gesandt. Wer die Braut hat, ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der dasteht und ihn hört, freut sich sehr, dass er die Stimme des Bräutigams hört. Diese meine Freude nun hat sich erfüllt. Jener muss wachsen, ich aber abnehmen. (3,27–30) Wir können die Möglichkeit offen lassen, dass die Widerständigkeit der JohannesanhängerInnen eine ideologische oder theologische Komponente gehabt haben mag, auch wenn dies in der Erzählung in keiner Weise deutlich wird. Offensichtlicher ist das politische Element. Die AnhängerInnen des Täufers verstanden die Jesusgruppe als RivalInnen, die absichtlich Rekrutierungsaktivitäten betrieben, welche die Stärke und vielleicht sogar die Lebensfähigkeit ihrer eigenen Gruppe bedrohten. Ihr Anführer, Johannes der Täufer, entwaffnete sie und neutralisierte ihren Widerstand. Sie werden weder von Jesus noch vom Erzähler offen kritisiert und werden auch nicht als die Anderen gebrandmarkt. Ihre Anwesenheit deutet jedoch auf einen unterschwelligen Widerstand gegen Jesus und seine Gruppe hin, die sich nicht auf die Jüdinnen und Juden, die aktiv Jesu Tod anstrebten, beschränkte. Da kam Pilatus zu ihnen heraus und sagte: Was für eine Anklage bringt ihr gegen diesen Menschen vor? Sie antworteten und sagten zu ihm: Wenn dieser nicht ein Verbrecher wäre, hätten wir ihn dir nicht überliefert. (18,29f.) Dem Geliebten Jünger zufolge war ihr höchstes Ziel, Jesus von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Dieses Ziel scheint mit der Kreuzigung Jesu erreicht, aber dieser ‹Sieg› wird durch seine Auferstehung und Himmelfahrt zunichte gemacht. Ein Grund für den Beschluss der jüdischen Obrigkeit, Jesus loszuwerden, scheint politischer Natur zu sein. Nach 11,48 fürchteten die Hohepriester und die Pharisäer: «Lassen wir ihn auf diese Weise gewähren, so werden alle an ihn glauben und die Römer werden kommen und uns sowohl die (heilige) Stätte als auch das Volk wegnehmen.» Der Hohepriester Kajafas hat eine Antwort bereit: «Ihr wisst nichts: auch bedenkt ihr nicht, dass es für euch besser ist, wenn ein Mensch für das Volk stirbt und nicht das ganze Volk umkommt» (11,49f.). Daraufhin suchte Pilatus ihn freizulassen. Die Juden aber schrieen: Wenn du diesen freilässest, bist du des Kaisers Freund nicht; jeder, der sich zum König macht, widersetzt sich dem Kaiser. Als nun Pilatus diese Worte hörte, liess er Jesus herausführen und setzte sich auf den Richterstuhl, an einem Ort, der ‹Steinpflaster›, auf hebräisch aber Gabbatha, heisst. Es war aber Rüsttag für das Passa; es war um die sechste Stunde. Und er sagte zu den Juden: Da seht euren König! Da schrieen jene: Hinweg, hinweg mit ihm, kreuzige ihn! Pilatus aber sagte zu ihnen: Euren König soll ich kreuzigen? Die Hohepriester antworteten: Wir haben keinen König ausser dem Kaiser. Darauf lieferte er ihn an sie aus, damit er gekreuzigt würde. (19,12–16) Wir wissen nicht genau, wie die historische Wahrheit hinter den Ereignissen, welche die Kreuzigung begleiteten, aussah. Zumindest auf der narrativen Ebene wird Pilatus als schwacher Führer dargestellt, als Schachfigur der Jüdinnen und Juden, um Jesus aus ihrer Mitte zu entfernen. Eine zustimmende Lektüre würde die Taten der Jüdinnen und Juden hier als den tragischen, aber bösartigen Höhepunkt ihrer Bemühungen, Jesus zu töten, beurteilen. Eine widerständige Lektüre verwandelt die Tragödie nicht in eine Komödie, sondern sieht vielmehr in der Passionserzählung die kontrollierende Hand des Geliebten Jüngers als impliziten Autor. Indem er den Jüdinnen und Juden die volle Verantwortung für Jesu Tod zuschreibt, macht er sie zu Opfern der Erzählung und lenkt die Gefühle der zustimmenden LeserInnen gegen sie. Und das Passa der Juden war nahe, und Jesus zog nach Jerusalem hinauf. Und er fand die Verkäufer von Ochsen, Schafen und Tauben und die Wechsler im Tempel sitzend. Und er machte eine Geissel aus Stricken und trieb alle aus dem Tempel hinaus, die Schafe wie die Ochsen und den Wechslern schüttete er das Geld aus und stiess ihnen die Tische um, und zu den Taubenverkäufern sprach er: Traget das von hier weg; machet nicht das Haus meines Vaters zu einem Kaufhause! (2,13–16) In dieser Passage wird beschrieben, wie Jesus zu Pessach eine Wallfahrt zum Tempel machte, wie es den Jüdinnen und Juden geboten ist (Ex 23,14; 34,23). Er traf auf die Händler und Wechsler, die ihre Tische dort dauerhaft aufgestellt hatten, was impliziert, dass es ihnen erlaubt war, im Tempel zu sein und auch, dass ebendiese Tätigkeiten als Händler und Wechsler es den Wallfahrenden ermöglichte, ihre Opfer nach Vorschrift darzubringen.7 Jesus hisste mit seiner Tat die ‹Jesusfahne› über dem Tempel und bekräftigte so seine Legitimität, während er diejenige der Händler und Wechsler bestritt und als Folge auch die Legitimität derjenigen, die von ihrem Angebot Gebrauch machten. Jesus meldete als der rechtmässige Sohn seines göttlichen Besitzers seinen Anspruch auf dieses Haus an (vgl. 8,34f.); BesucherInnen, die nicht in Jesu Dienst standen, gehören nicht dazu.8 Wenn ihr Kinder Abrahams seid, so tut Abrahams Werke! Nun aber sucht ihr mich zu töten, einen Menschen, der euch die Wahrheit gesagt hat, die ich von Gott her gehört habe; das hat Abraham nicht getan (8,39f.). Er bestritt auch ihre Rolle als Kinder Gottes, das heisst als Mitglieder eines Volkes, das mit Gott in einer Bundesbeziehung steht: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Jeder, der Sünde tut, ist der Sünde Knecht. Der Knecht aber bleibt nicht für immer im Hause; der Sohn bleibt für immer. (8,34f.) Die Jüdinnen und Juden sind weit davon entfernt, Kinder Gottes zu sein. Sie sind Kinder des Teufels, was sich in ihrer anhaltenden Ablehnung gegenüber Jesus und seiner Botschaft zeigt (8,44). In der kosmologischen Erzählung des Geliebten Jüngers richtet sich die Ablehnung Jesu seitens der Jüdinnen und Juden nicht so sehr gegen Jesu Handlungen, als vielmehr gegen die Neudefinierung des göttlichen Bundes, die Jesu Worte und Taten implizieren. Ihre Einwände können aus 8,31–59 rekonstruiert werden. Dies erlaubt uns einen Blick auf das alternative Verständnis der johanneischen Jüdinnen und Juden von der Beziehung zwischen Gott und der Welt und von ihrem Platz in dieser Beziehung. einen scharfen Blick, grosse Überredungsgabe und selten irrende Urteilskraft, und da er auch tugendhaft war und im Ansehen eines weisen Mannes stand, beschloss er, die hergebrachten falschen Ansichten von Gott in richtige umzuwandeln. Daher erklärte er zunächst, dass es nur einen Gott gebe, den Schöpfer aller Dinge, und dass dieser alles, was zum Glücke diene, gewähre, während der Mensch aus eigener Kraft dies nicht erlangen könne. (Josephus, Altertümer 1.7.1) Philo beschreibt Abraham in ähnlicher Weise. Er beschreibt, wie Abraham als Chaldäer mit der Anbetung verschiedener Götter aufwuchs bis das Auge seiner Seele «wie aus tiefem Schlaf» geöffnet wurde. Da erkannte Abraham, was er vorher nicht gesehen hatte: eine einzige führende Kraft, «einen Lenker und Leiter der Welt, der über sie waltet und in heilsamer Weise sein eigen Werk regiert» (Philo, Ueber Abraham 69–71).14 ‹Die Juden› scheinen Jesu Worte über Freiheit nicht richtig zu begreifen und verstehen sie in einem politischen Sinn. Sogar auf dieser Ebene ist ihr Stolz fragwürdig, denn unter der ägyptischen, der babylonischen und der römischen Herrschaft waren sie versklavt worden. Vielleicht meinten sie, dass sie als privilegierte Erben der Abrahamsverheissung nicht wirklich versklavt werden könnten, obwohl Gott gelegentlich erlaubte, dass sie durch zeitweilige Unterwerfung gezüchtigt wurden.22 Rudolf Schnackenburg kommentiert: Das jüdische Freiheitsbewusstsein, mag es auch religiös motiviert sein, ist noch weit entfernt von der Freiheit, wie sie Jesus versteht. Mit ihrem Stolz und Selbstruhm verfehlen die Juden gerade die Haltung, die sie für die Freiheitsbotschaft Jesu empfänglich machen würde.23 Diese Auslegungen übersetzen das Verb douleuo mit ‹versklavt werden›. Diese Lektüre hängt mit dem Kontext der Behauptung der Jüdinnen und Juden, sie seien frei (8,33), zusammen. Dieser Behauptung geht Jesu Versprechen voraus, die Wahrheit werde sie freimachen (8,32) und ihr folgt Jesu Gegenüberstellung vom Sklaven, der nur zeitweilig Zutritt zum Haus hat, mit dem Sohn, der für immer im Haus bleibt (8,35). Doch das Verb douleuo hat eine andere, weitverbreitete Bedeutung: ‹dienen›. In vielen Kontexten bedeutet dieser Begriff ‹(an-)beten›. Diese Verwendung erscheint in der Septuaginta häufig, insbesondere in bestimmten Abschnitten der geschichtlichen Bücher, in der prophetischen Literatur und in den Psalmen. In 1 Sam (LXX: 1 Kön) 7,3 schärft der Prophet Samuel Israel ein: «Richtet euer Herz auf den Herrn und dient [douleusate] ihm allein». Jeremia prophezeit, Israel werde Folgendes gesagt, wenn es nach dem Grund seines Unglücks frage: «Wie ihr mich verlassen und fremden Göttern gedient habt [edouleusate] im eignen Lande, so sollt ihr Fremden dienen [douleusete] in fremdem Lande» (Jer 5,19). Ps 105, (LXX: 106),35f. nennt eine Zeit in der Wildnis, als die Israeliten den Götzen dienten. Im Brief an die Gemeinde in Galatien verwendet Paulus dieses Verb so, dass es sowohl Anbetung als auch Sklaverei bedeuten kann (Gal 4,9; vgl. Jer 5,19). Er tadelt die GalaterInnen, die aus den Völkern stammen, scharf, indem er sie fragt: «Jetzt jedoch, da ihr Gott erkannt habt, vielmehr aber von Gott erkannt worden seid, wie könnt ihr wieder zurückkehren zu den schwachen und armseligen Naturmächten, denen ihr wieder von neuem dienen wollt? [douleuein]?» (Gal 4,9). … nach der Auffahrt des Christus gen Himmel die Dämonen es unternahmen, Menschen auf die Bahn zu bringen, die sich für göttliche Wesen ausgaben, und die von euch nicht nur keine Verfolgung, sondern vielmehr Ehrungen erfuhren. So einen gewissen Samaritaner Simon aus einem Flecken Gittä, der unter dem Kaiser Klaudius vermittelst der Kunst der in ihm wirksamen Dämonen in euerer Kaiserstadt Rom Zaubereien ausgeführt hat, für einen Gott gehalten und von euch wie ein Gott durch eine Bildsäule geehrt worden ist […] Und fast alle Samaritaner, wie auch einzelne unter andern Völkern, erkennen und beten ihn als den obersten Gott an (Justin, Erste Apologie 26). 25 Diese Stelle schreibt Simons Fähigkeit, Wunder zu wirken, Dämonen zu und betrachtet die Anbetung eines Zauberers durch die SamaritanerInnen als idolatrische Handlung. Das Buch der Jubiläen sieht, wie wir bereits festgestellt haben, die Hand Mastemas bzw. den Teufel in jenen, die andere Götter anbeten, in ähnlicher Weise am Werk. Indem die Jüdinnen und Juden Jesus einen Samaritaner nennen und behaupten, er sei von einem Dämon besessen, beschuldigen sie Jesus folglich, vom einen, wahren Gott abgeirrt zu sein. Wenn in deiner Mitte ein Prophet oder Träumer aufsteht und dir ein Zeichen oder Wunder angesagt und das Zeichen oder Wunder eintrifft, das er dir genannt hat, indem er sprach: ‹Lasst uns andern Göttern folgen, die ihr nicht kennt, und lasst uns ihnen dienen›, so sollst du nicht auf die Worte jenes Propheten oder Träumers hören; denn der Herr, euer Gott, stellt euch auf die Probe, um zu erkennen, ob ihr den Herrn, euren Gott, von ganzem Herzen und von ganzer Seele liebet. Dem Herrn, eurem Gott, sollt ihr folgen und ihn sollt ihr fürchten, seine Gebote sollt ihr halten und auf seine Stimme sollt ihr hören, ihm sollt ihr dienen und ihm anhangen. Jener Prophet oder Traumdeuter aber soll getötet werden; denn er hat gegen den Herrn, deinen Gott […] Abfall gepredigt […]. Dtn 13,11 schreibt für Personen, auf die obige Beschreibung zutrifft, den Tod durch Steinigung vor. Eines Tages kam er [Ješu, d.i. Jesus] zu ihm, als er [R. Jehošua’ b. Perahja] gerade beim Šma’-lesen war; er wollte ihn nunmehr aufnehmen und winkte ihm mit der Hand, jener aber glaubte, er weise ihn wieder ab. Da ging er fort, stellte einen Ziegelstein hin und betete ihn an. Hierauf sprach er [R. Jehošua’] zu ihm: Tu Busse! Jener erwiderte: Es ist mir von dir überliefert, dass, wenn jemand sündigt und das Publikum zur Sünde verleitet, man ihm nicht gelingen lasse, Busse zu tun. Der Meister sagt nämlich, Ješu trieb Zauberei, verführte Jisraél und machte uns abtrünnig.27 Hier beschreibt Jesus sich selbst als einen, der Israel verführt hat und deshalb der grosszügigen Einladung Rabbi Jehosuas, zu ihm und damit zum Judentum zurückzukehren, nicht würdig ist. Natürlich widerspiegelt dies keine historische Begebenheit, sondern eher die rabbinische Auffassung von Jesus als Lügenprophet wie ihn Dtn 13 beschreibt. Diese Auffassung wird an einer anderen rabbinischen Passage desselben Textes beschrieben (bSan 43a): Am Vorabend des Pesahfestes henkte man Ješu. Vierzig Tage vorher hatte der Herold ausgerufen: Er wird zur Steinigung hinausgeführt, weil er Zauberei getrieben und Jisraél verführt und abtrünnig gemacht hat; […] er war ja ein Verführer und der Allbarmherzige sagt: du sollst seiner nicht schonen, und seine Schuld nicht verheimlichen [Dtn 13,2–6], vielmehr war es bei Ješu anders, da er der Regierung nahe stand.28 Da diese talmudischen Stellen mehrere Jahrhunderte jünger sind als das Vierte Evangelium, bezeugen sie nicht die unmittelbaren Einwände, welche die Jüdinnen und Juden im 1. Jahrhundert gegenüber dem historischen Jesus erhoben haben mögen. Aber einige Hinweise darauf, dass Jesus als Verführer des Volkes gesehen wurde, finden sich bereits im Evangelium. In 7,12 diskutiert die Volksmenge, ob Jesus ein guter Mensch sei, oder einer, der sie zu verführen suche. Nach der Auferweckung des Lazarus beschlossen die Hohepriester, «auch Lazarus zu töten; denn seinetwegen gingen viele der Juden hin und glaubten an Jesus» (12,10f.). Diese Stellen implizieren, dass die johanneischen Jüdinnen und Juden über Jesu Fähigkeit, AnhängerInnen zu gewinnen, beunruhigt waren, und dass sie diese AnhängerInnen als Abtrünnige vom Judentum und überdies vom monotheistischen Gottesverständnis betrachteten. Ein äusserst interessantes Stück, aber die Fakten sind alle falsch. Ich möchte ihnen erzählen, was wirklich geschehen ist. Solange die AnhängerInnen Jesu noch in die Synagoge kamen, ihre Mitgliedschaft bezahlten, Tischgemeinschaft pflegten und ihre Kinder in die Hebräischschule der Gemeinde schickten, schenkte niemand ihren seltsamen Ansichten über Jesus Aufmerksamkeit. Die Probleme fingen an, als die AnhängerInnen Jesu nach und nach aufhörten, mit den anderen zu verkehren, und allmählich ihre eigene Gruppe bildeten, zuerst innerhalb der Synagoge und schliesslich ausserhalb. Es dauerte nicht lange, bis sie sich völlig von der Gemeinde getrennt hatten, mit Ausnahme der Tatsache, dass sie gelegentlich vorbeikamen, um unseren Mitgliedern hinsichtlich Jesu, dem Messias, und unseren Schriften Vorhaltungen zu machen. Sie behaupten also, ausgestossen worden zu sein? Glaubt ihnen kein Wort. Es ist nur ein Versuch, der Verantwortung für den Bruch, den sie selbst eingeleitet haben, zu entkommen. Dieser Brief ist fiktiv, auf kein historisches Dokument gestützt und frei von den Zwängen der historisch-kritischen Wissenschaft. Doch die widerständigen LeserInnen könnten ohne grosse Übertreibungen und Wunschdenken behaupten, dass er nicht weniger, oder mindestens nicht wesentlich weniger plausibel ist als die vorherrschende historische Rekonstruktion.
EINE WIDERSTÄNDIGE LEKTÜRE DES VIERTEN EVANGELIUMS
Der Geliebte Jünger bemüht sich sehr um die Zustimmung seitens der LeserInnen und darum, dass sie das Geschenk annehmen, das er als impliziter Autor durch das Medium des Vierten Evangeliums anbietet. Er weiss auch um die Möglichkeit, dass die LeserInnen dieses Geschenk ablehnen können, indem sie sich weigern zu glauben, dass Jesus der Christus und Sohn Gottes ist. Diejenigen, die diese Möglichkeit wahrnehmen, nennt der Geliebte Jünger ‹die Juden›. Wie wir gesehen haben, nehmen die Jüdinnen und Juden den Platz der ‹Anderen› innerhalb der Weltsicht des Geliebten Jüngers ein. Sie stehen ausserhalb des Rasters von Heil, das er vorlegt. Ihre Ablehnung des Geschenkes des Geliebten Jüngers liefert sie der Verdammung und dem Tod aus.
Man kann diejenigen, die das Geschenk des Geliebten Jüngers ablehnen und das Evangelium trotzdem lesen, als ‹widerständige LeserInnen› bezeichnen. Eine widerständige Lektüre zieht folgerichtig die Bemühung nach sich, vom Standpunkt der Anderen (entsprechend ihrer Definition im zu diskutierenden Text oder Genre) aus zu lesen. In ihrem Buch The Resisting Reader. A Feminist Approach to American Fiction, vertritt die feministische Literaturwissenschaftlerin Judith Fetterley die Meinung, die Klassiker der amerikanischen Literatur, die versuchen mit der amerikanischen Identität zurechtzukommen oder diese zu erklären, unternähmen dies nur mittels männlicher Personen. Diese Werke, argumentiert Fetterley, schaffen ein ernsthaftes Dilemma für Leserinnen. «Was», fragt sie, «hat eine Frau mit ‹Rip Van Winkle› zu schaffen?»
Eine widerständige Lektüre ermöglicht einen Weg aus dieser Sackgasse. Sie liest ausdrücklich den Text gegen den Strich. Das bedeutet, dass sie die ideologische Perspektive des Textes, die rhetorischen Strategien, welche die LeserInnen dazu leiten sollen, sich mit der einen Person und im Gegenüber zu einer anderen zu identifizieren, wahrnimmt. Eine widerständige Lektüre versucht eine alternative Perspektive zu konstruieren, die nicht durch den Protagonisten der Geschichte bestimmt ist, sondern durch die Person oder Gruppe, die als die Anderen definiert werden. Im vorigen Kapitel brachte der Versuch der Darstellung einer zustimmenden Lektüre die ideologische Perspektive des Textes zum Vorschein und deckte einige seiner rhetorischen Lesestrategien auf, welche die LeserInnen dahin lenken sollen, sich eher mit den positiven als mit den negativen Vorbildern des Evangeliums zu identifizieren. Das folgende Kapitel bietet eine widerständige Lektüre, die das Evangelium und den Geliebten Jünger mit den Augen der johanneischen Jüdinnen und Juden sieht. Ich werde mich wieder mit den drei Erzählsträngen des Vierten Evangeliums beschäftigen, mit den Geschichten Jesu, der Welt und der Gemeinde. Und ich werde mich wieder von zwei Fragen leiten lassen: Zum einen frage ich nach der Art von Beziehung zum Geliebten Jünger, die eine widerständige Lektüre schafft, zum anderen nach den ethischen Implikationen einer solchen Lektüre.
EINE WIDERSTÄNDIGE LEKTÜRE DER HISTORISCHEN ERZÄHLUNG
In dieser widerständigen Lektüre der Geschichte Jesu, wie sie der Geliebte Jünger erzählt, sollen zunächst zwei Personengruppen betrachtet werden, die selbst widerständig sind oder zumindest Vorbehalte gegenüber Jesus und seiner Botschaft äussern. Dies sind zum einen die AnhängerInnen Johannes’ des Täufers und zum anderen die johanneischen Jüdinnen und Juden.
AnhängerInnen des Täufers
Johannes der Täufer wird als Vorläufer und Herold Jesu und als Zeuge von dessen Identität als Sohn Gottes dargestellt (1,6–8.32–34). Das Evangelium hebt die harmonische, aber hierarchische Beziehung zwischen Johannes als Zeugen und Jesus als demjenigen, über den er Zeugnis ablegt, hervor. Im Rahmen des Evangeliums scheint es unausweichlich und sogar wünschenswert, dass ‹Jesus wächst, der Täufer aber abnehmen muss› (3,30).
Dass nicht alle JüngerInnen des Täufers darauf aus waren, sich Jesus anzuschliessen, wird in der beiläufigen Bemerkung des Erzählers hinsichtlich der Tauftätigkeit Jesu in der Zeit vor der Gefangennahme des Täufers deutlich (3,22–24). Diese Stelle deutet an, dass die Täuferbewegung und die Jesusbewegung getrennt blieben, auch nachdem Jesus seine Sendung antrat, und sie lässt die Frage offen, ob die zwei Gruppen zusammen oder gegeneinander arbeiteten.4 Dass es Spannungen zwischen ihnen gab, wird in einer Diskussion, die sich zwischen JüngerInnen des Täufers und einem Juden abspielte, am deutlichsten erkennbar. Die JüngerInnen des Täufers «kamen zu Johannes und sagten zu ihm: Rabbi, der, welcher jenseits des Jordans bei dir war, für den du Zeugnis abgelegt hast, siehe, der tauft, und jedermann geht zu ihm» (3,26).5
Diese Klage impliziert, dass Jesus aus der Sicht dieser bestimmten JüngerInnen Handlungsweisen dieser Gruppe an sich riss und ihr die Klientel stahl, also ‹in ihrem Teich fischte›. Ein zweiter Hinweis in diese Richtung bietet 4,1: «Jesus erfuhr, dass die Pharisäer gehört hatten, er mache und taufe mehr Jünger als Johannes.» Obwohl der Geliebte Jünger die Quelle dieses Berichtes nicht nennt, dürfen wir annehmen, dass er direkt oder indirekt von den JüngerInnen des Täufers, die sich über Jesu Aktivitäten Sorgen machen, stammte.
Der Täufer ist für die Klagen seiner JüngerInnen jedoch nicht empfänglich. Er lässt sie vielmehr auflaufen, indem er sagt:
Die Jüdinnen und Juden
Die Jüdinnen und Juden können, wie alle Personen einschliesslich Jesu (und des Geliebten Jüngers), nur in jenen Zeilen reden, die ihnen die Erzählung zuspricht. Der Geliebte Jünger hat ihre Handlungen und Worte aufgeschrieben, um ihre Rolle als Gegner Jesu in der Erzählung, als Antagonisten des Stücks, darzustellen und um die LeserInnen davon abzuhalten, sich mit ihnen und ihrer Weigerung, an Jesus als Christus und Sohn Gottes zu glauben, zu identifizieren. Doch trotz dieser Hindernisse können wir sowohl die Widerstandsformen, die diese Personen anwenden, als auch die Gründe für ihre Ablehnung des Geschenkes erblicken, zumindest in der Welt der Geschichte, die im Evangelium geschaffen wird, wenn nicht sogar in der Geschichte Palästinas im 1. Jahrhundert.
Die johanneischen Jüdinnen und Juden demonstrieren ihre Ablehnung des Glaubens an Jesus als Christus in ihren Worten und ihren Taten. Diesbezüglich werden den Jüdinnen und Juden oder ihrer religiösen Obrigkeit verschiedene Aussagen zugeschrieben. Einige Aussagen befassen sich direkt mit Jesu Identität, wie beispielsweise in 10,24, als sie sich zu Chanukka im Tempel um ihn scharen und fragen: «Wie lange lässest du unsere Seele im Ungewissen? Bist du der Christus, so sag es uns frei heraus!» Andere Bemerkungen sind feindseliger und stärker anklagend. Sie richten die Aufmerksamkeit auf Jesu Worte und Taten. Dem Erzähler zufolge störten sich die Jüdinnen und Juden an der Tatsache, dass Jesus über sich selbst Zeugnis ablegte (8,13), daran, dass er den Sabbat entheiligte (5,16; 9,16) und Gott seinen Vater nannte (5,17) und daran, dass er sich selbst zu Gott machte und damit die Sünde der Blasphemie beging (10,33). Eine dritte Gruppe besteht aus Verteidigungsaussagen. Solche Aussagen häufen sich in Kapitel 8. Die Jüdinnen und Juden beharrten angesichts der Versuche Jesu, ihre Ansprüche auf Selbstidentifizierung als Kinder Abrahams zu delegitimieren, auf ihrem Recht, sich als Kinder Abrahams und Kinder Gottes zu bezeichnen. Auf die Behauptung hin, sie müssten befreit werden (8,32), antworteten die Jüdinnen und Juden, sie seien Nachkommen Abrahams und niemals Sklaven einer Person (oder einer Sache, 8,33) gewesen. Als Antwort auf Jesu Anklage, sie könnten nicht Kinder Abrahams sein, weil sie ihn, Jesus, töten wollten, beharrten sie darauf, Abraham sei ihr Vater (8,39). Auf Jesu Anklage, dass sie nicht wie Abraham handelten, antworten sie, Gott sei ihr Vater (8,41).
Jesu Aussagen gegen die Jüdinnen und Juden übertreffen derartige Äusserungen bei weitem an Intensität und Quantität. In Kapitel 5 wirft Jesus den Jüdinnen und Juden beispielsweise vor, dass die Worte des Vaters nicht bei ihnen blieben (5,38), dass sie ihre eigenen Schriften falsch verstünden (5,39), dass sie keine Liebe zu Gott in sich hätten (5,42) und dass Mose sie anklage (5,45). Später bezichtigt Jesus sie, Gott nicht zu kennen (7,28), wie Menschen zu urteilen (8,15), den Teufel zum Vater zu haben (8,44), überhaupt sündig zu sein (9,41) und ihn, Jesus, sowie seinen göttlichen Vater zu hassen (15,24). Auch der Erzähler trägt zu dieser Kritik bei, indem er den Jüdinnen und Juden vorwirft, ihr Ansehen bei den Menschen mehr zu lieben als ihr Ansehen bei Gott (12,43).
Es scheint einsichtig, dass die Zielscheiben dieser Aussagen eine gewisse Feindseligkeit gegenüber dem Redner verspüren. Nicht nur die Worte der Jüdinnen und Juden, sondern auch ihre Taten drücken solche feindseligen Gefühle aus. Dem Erzähler zufolge hörte Jesus auf, in Judäa umherzuziehen, «weil die Juden ihn zu töten suchten» (7,1). Als die verteidigenden Worte nichts nützten, hoben die Jüdinnen und Juden Steine auf, um sie auf ihn zu werfen (8,59). Die Jüdinnen und Juden werden als diejenigen dargestellt, die Jesu AnhängerInnen aus der Synagoge ausschlossen (9,22; 12,42; 16,2). Schliesslich nutzten die Jüdinnen und Juden in der Passionserzählung ihre Beziehungen zur römischen Obrigkeit aus. Die Reihe von Ereignissen, die zu Jesu Hinrichtung führten, wurde vom Verrat Jesu durch Judas eingeleitet (18,3). Doch später ist es die gesamte jüdische Obrigkeit, die Jesus verriet, indem sie die verschiedenen Angebote des Pilatus, Jesus freizulassen, ablehnte (19,4–12). Diese Szenen demonstrieren, wie weit die Jüdinnen und Juden gehen würden, um diesen Mann loszuwerden, und betonen die relative Unschuld der Römer:
Aber Politik allein erklärt den jüdischen Widerstand gegen Jesus und die Angst vor seiner Macht nicht. Der johanneische Jesus beurteilt die Weigerung der Jüdinnen und Juden als Halsstarrigkeit (5,39), als Fehlinterpretation der Schrift (5,45f.) und als Beweis für ihre geistige Blindheit (9,39). Diese Anklagen gehen über die politischen und pragmatischen, ja sogar über die narrativen Parameter der historischen Erzählung hinaus. Sie zeigen, dass aus der Sicht des Geliebten Jüngers die Widerständigkeit der Jüdinnen und Juden grundsätzlich von einer Fehlinterpretation der Beziehung Gottes zur Welt und der Rolle Jesu in Gottes Heilsplan herrührt.
Meine widerständige Lektüre der historischen Erzählung, das heisst die Lektüre, in der ich mich in die Rollen der johanneischen Jüdinnen und Juden versetze, verlangt von mir, die Feindseligkeit der Worte Jesu gegenüber den Jüdinnen und Juden direkt zu erleben und über mögliche Reaktionen nachzudenken. Als widerständige Leserin spüre ich genau, wie der Geliebte Jünger einen subtilen, aber wirkungsvollen Rollenwechsel vollzieht. Jesus wird in der historischen Erzählung als Opfer der politischen Intrige der Jüdinnen und Juden dargestellt. Entsprechend werden die Jüdinnen und Juden zu Opfern von Jesu Rede und der Rhetorik des Evangeliums insgesamt. Diese Umkehrung wird an drei Charakteristika des Evangeliums erkennbar. Zum einen werden die Jüdinnen und Juden durchgängig mit negativen Darstellungen belastet, sowohl durch die Worte des johanneischen Jesus als auch durch diejenigen des Erzählers. Vom Prolog an werden die Jüdinnen und Juden implizit oder explizit als diejenigen dargestellt, die Jesus nicht annehmen. Ab Kapitel 5 wird der Konflikt expliziter und eskaliert in der Passionserzählung. Erreicht man Kapitel 8, sind die Jüdinnen und Juden schon fest als Jesu Feinde etabliert: Sie verhalten sich seinen Lehren gegenüber eindeutig feindselig und versuchen, ihn zu töten.6 Weiter wird der jüdischen Seite relativ wenig ‹Sendezeit› zugestanden, in der sie ihre Sicht der Dinge hätten darlegen können. In 8,30–59 kommen die Jüdinnen und Juden beispielsweise in 7 Versen (8,3339a. 41.48.52f.57) zu Wort, während Jesus in 22 Versen spricht. Die Reden Jesu sind bedeutend länger als die der Jüdinnen und Juden und Jesus hat fast immer das letzte Wort. Dies impliziert, dass Jesu Wort in der Erzählung des Evangeliums entscheidend ist und deshalb für die LeserInnen normativ sein sollte.
Schliesslich wird die Rolle der Jüdinnen und Juden in der Passionserzählung im Gegensatz zu derjenigen der Römer stark betont. Es ist hinlänglich bekannt, dass es sich bei der Kreuzigung um eine römische Hinrichtungsart handelt, die denjenigen vorbehalten war, die des Verrats überführt wurden (vgl. Josephus, Jüdischer Krieg 7.203). Genauso deutlich ist aber, dass das Vierte Evangelium, ebenso wie die Synoptiker, darum bemüht ist, die römische Verantwortung für den Tod Jesu möglichst herunterzuspielen. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Rolle, die Pilatus zugeschrieben wird. Pilatus hielt Jesus im Verhör für unschuldig, beugte sich aber der lärmenden Menge. Zunächst lag Pilatus daran, nichts mit Jesu Tod zu tun zu haben. Er sagte den Jüdinnen und Juden: «Nehmet ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz», worauf diese antworteten: «Uns ist es nicht erlaubt, jemand zu töten» (18,31). Pilatus unterzog Jesus einer Art Verhör, konnte aber keine Schuld an ihm finden (18,38). Daraufhin bot er an, Jesus einem Brauch entsprechend freizulassen, doch die Jüdinnen und Juden forderten die Freilassung des Barabbas, eines Banditen (18,39–40). Pilatus willigte ein und liess Jesus auspeitschen. Dies bedeutete eine milde Strafe und geschah, um die Jüdinnen und Juden zu beruhigen. Als sie dies sahen, riefen die Hohepriester und ihre Diener: «Kreuzige, kreuzige!» Wieder versuchte Pilatus, sich aus der Sache herauszuhalten: «Nehmet ihr ihn und kreuziget ihn! denn ich finde keine Schuld an ihm» (19,6). Doch die Jüdinnen und Juden insistierten: «Wir haben ein Gesetz, und nach unserem Gesetz muss er sterben; denn er hat sich zu Gottes Sohn gemacht» (19,7). Eine Aussage, die dem Erzähler zufolge Angst in Pilatus’ Herz treibt (19,8). Doch er gibt ihnen noch mehr Chancen, ‹das Rechte› zu tun:
EINE WIDERSTÄNDIGE LEKTÜRE DER KOSMOLOGISCHEN ERZÄHLUNG
Die kosmologische Erzählung des Vierten Evangeliums bietet eine Skizze des Bildes, das der Geliebte Jünger von der Beziehung zwischen Gott und Menschheit entwirft: Gott liebt die Welt und hat seinen Sohn geschickt, um Heil zu bringen (3,16). In dieser Beziehung vermittelt der Sohn die Beziehung zwischen der Menschheit und Gott (1,18). Das gesamte Evangelium treibt diese Botschaft hartnäckig und unzweideutig voran. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch gründet nicht mehr auf Tora und Tempel. Diese sind nun nicht nur Jesus als dem Sohn seines Vaters unterworfen (2,16), sondern ihr Wert hat sich im Lichte der neuen Offenbarung Gottes verringert (4,21–24).
Durch das ganze Evangelium hindurch usurpiert Jesus jüdische Symbole, Identitätsmerkmale und heilige Orte und bestreitet so ihre Wirksamkeit für die Jüdinnen und Juden. In der Folge behauptet der johanneische Jesus, dass die Jüdinnen und Juden durch sein Kommen aus ihrer Bundesbeziehung zu Gott ausgeschlossen und durch diejenigen ersetzt würden, die glaubten, er sei Gottes eigener Sohn. Diese Dynamik wird am deutlichsten in Jesu ‹Tempelreinigung›.
Der johanneische Jesus vertrieb die Jüdinnen und Juden nicht nur von ihrem heiligen Ort, sondern untersagte ihnen auch die Selbstidentifizierung als Kinder Abrahams (8,39), denn:
Die Schlüssel zum Standpunkt der Jüdinnen und Juden finden sich in drei Aussagen ihrer Selbstdarstellung: zum einen, dass Abraham ihr Vater ist; weiter, dass sie niemals gedient haben oder Sklaven einer Person oder Sache waren, und schliesslich, dass sie Kinder Gottes sind. Gemeinsam drücken diese Behauptungen die Verpflichtung zum Monotheismus als dem fundamentalen Glaubenssatz des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels aus.9 Die hohe Bedeutung des Monotheismus – des Glaubens an den einen Gott – und der Monolatrie – der Verehrung eines Gottes – ist für jüdische Texte von biblischer Zeit bis heute axiomatisch. Wir können zwei biblische Texte herausgreifen: das Shma (Dtn 6,4–9) und die einleitenden Verse des Dekalogs (vgl. Ex 20,2–17; Dtn 5,6–21). Das Shma beginnt mit dem berühmten Glaubensbekenntnis zum einen Gott: «Höre Israel: der Herr, unser Gott, ist ein Herr» (Dtn 6,4). Die Einleitungspassage im Dekalog hält Gottes Einzigartigkeit und Einzigkeit auf ähnliche Weise fest: «Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägypten, aus dem Sklavenhause, herausgeführt habe; du sollst keine andern Götter neben mir haben. Du sollst dir kein Gottesbild machen, keinerlei Abbild, weder dessen, was oben im Himmel, noch dessen was unten auf der Erde, noch dessen, was in den Wassern unter der Erde ist […].» (Ex 20,2–4). Beide Texte postulieren die absolute Einzigartigkeit JHWHs, den Israel als Einzigen anzubeten habe.10
Von den drei Identitätsansprüchen der Jüdinnen und Juden in Kapitel 8 haben zwei eine offensichtliche Verbindung zum Thema Monotheismus. Abrahams Status als Patriarch des jüdischen Volkes gründet ausschliesslich auf seiner Rolle als erstem Monotheisten.11 Nachbiblischen Quellen zufolge war Abrahams Vater nicht nur ein Götzenanbeter, sondern stellte auch Götzenbilder her. Abraham realisierte die Nutzlosigkeit der Idolatrie, als er die Machtlosigkeit der Götzenbilder seines Vaters erkannte und die Gegenwart eines höchsten Wesens feststellte, dem die natürliche Welt in ihrer Schönheit und Verworrenheit zugesprochen werden muss (Apokalypse Abrahams 1,1–8,6; Buch der Jubiläen 12,12–14).12 Abraham entwickelte als Gottes geliebter Freund eine besondere Beziehung zu Gott (Testament Abrahams 1,6).13
Josephus zufolge besass Abraham
Kindschaftsterminologie wird auch in der Metapher für die Bundesbeziehung zwischen Gott und Israel verwendet und erscheint an jenen Stellen, in denen das Konzept von Erwählung und Monotheismus eine zentrale Bedeutung hat. Gott gebietet Mose in Ex 4,22f., dem Pharao zu sagen: «So spricht der Herr: ‹Israel ist mein Sohn, mein Erstgeborener, und ich befehle dir: Lass meinen Sohn ziehen, dass er mir diene! Weigerst du dich aber, ihn ziehen zu lassen, sieh so werde ich deinen Sohn, deinen Erstgeborenen, töten›.» In Dtn 14,1 weist Moses Israel an, die Rituale zu meiden, die mit Idolatrie in Verbindung stehen: «Ihr seid Kinder des Herrn, eures Gottes. Ihr sollt euch nicht Einschnitte machen, noch euch kahl scheren über der Stirne um eines Toten willen.» Der Prophet Maleachi klagt: «Haben wir nicht alle einen Vater? hat uns nicht ein Gott erschaffen? Warum handeln wir denn treulos aneinander und entweihen den Bund unserer Väter?» (Mal 2,10). Kindschaftsterminologie erscheint auch in nachbiblischen jüdischen Quellen. Josephus zufolge fing Josuas Abschiedsrede mit folgender Anrufung an: «Gott, der Vater und Herr des Hebräervolkes» (Josephus, Altertümer 5.1.25).15 Im Buch der Jubiläen 1,24–28 spricht Gott zu Mose: «Und es werden anhängen ihre Seelen mir und allem meinem Gebot. Und sie werden (für sich) mein Gebot tun. Und ich werde ihnen Vater sein, und sie werden meine Kinder sein […] und sie [alle Engel und alle Geister] sollen erkennen […], dass ich sie liebe. […] und jeder wird erkennen, dass ich der Gott Israels bin und der Vater für alle Kinder Jakobs und der König auf dem Berge Sion in die Ewigkeit der Ewigkeit.»16 Im Buch der Jubiläen 2,20 wird die Sprache von Gottes Vaterschaft explizit mit Israels Erwählung verbunden: «Und ich habe auserwählt den Samen Jakobs unter allem, was ich gesehen habe, und habe ihn mir aufgeschrieben als erstgeborenen Sohn. Und ich habe ihn mir geheiligt in die Ewigkeit der Ewigkeit.»17 Im Buch der Jubiläen 19,28 segnet Isaak Jakob und betet: «Und nicht sollen Macht haben über dich und über deinen Samen die Geister Mastemas, dass sie dich abbringen von dem Herrn, welcher dein Gott ist von jetzt an und bis in Ewigkeit. Und es sei dir der Herr, dein Gott, zum Vater und du ein erstgeborener Sohn.»18 Die letzte Stelle ist bedeutend, denn sie impliziert, dass der Abfall von Gott und folglich von der Sohnschaft das Werk Mastemas ist, das heisst das Werk des Teufels.
Die Behauptung der Jüdinnen und Juden, sie hätten niemals irgendwem19 gedient bzw. seien niemals versklavt gewesen, ist weniger eindeutig. Gewisse KommentatorInnen sehen in dieser Aussage ein weiteres Beispiel für das typisch johanneische Mittel des Missverständnisses.20 Sie verstehen die Aussage als Zeichen des übermässigen und unrealistischen Stolzes der Jüdinnen und Juden und halten es für einen Beweis, dass die Jüdinnen und Juden wirklich LügnerInnen waren, wie Jesus in 8,44 feststellt.21 Ein typischer Vertreter einer solchen Meinung ist Raymond E. Brown, der sagt:
Vielleicht kann die Behauptung der Jüdinnen und Juden in 8,33, niemals einer Person oder Sache ‹gedient› zu haben, auf zwei Ebenen verstanden werden. Aus der Sicht des johanneischen Jesus offenbart die Erklärung der Jüdinnen und Juden ihre gänzliche Unwissenheit und Blindheit gegenüber ihrem eigenen spirituellen Status, aus dem sie nur befreit werden können, wenn sie Jesu Wort folgen. Für die Jüdinnen und Juden hingegen drückt diese Erklärung ihre unerschütterliche Verpflichtung gegenüber dem Monotheismus aus. Sie haben nie einem anderen Wesen als Gott gedient; ja, sogar einem anderen ‹göttlichen› Wesen zu dienen, wäre gleichbedeutend mit Sklaverei gewesen. So gelesen lügen die Jüdinnen und Juden nicht und prahlen auch nicht, sondern erklären schlicht, warum sie nicht an Jesus glauben oder seinem Wort folgen können. Dies zu tun, würde bedeuten, das Fundament ihres Glaubens und Selbstverständnisses als Jüdinnen und Juden zu verletzen.
Diese Aussagen – dass die Jüdinnen und Juden Kinder Abrahams sind, dass sie auch Kinder Gottes sind und dass sie niemals gedient haben oder (religiös) von irgendwem oder irgendetwas versklavt waren – stecken den Rahmen des jüdischen Anspruchs auf monotheistischen Glauben ab. Sie implizieren auch, dass Jesus die Grenzen des Monotheismus, wie die Jüdinnen und Juden ihn verstanden, verletzte oder überschritt.24 Dieser Schluss wird durch zwei direkte Anklagen, die Jesus in 8,48 von jüdischer Seite entgegengeschleudert werden, gestützt: Ihm wird vorgeworfen, ein Samaritaner zu sein und dass er von einem bösen Geist besessen sei. Dieser Vers stellt zwar möglicherweise nur eine antike Hänselei unbestimmten Inhalts dar. Es erscheint jedoch sinnvoll festzuhalten, dass beide Vorwürfe in anderen Quellen mit Häresie in Verbindung gebracht werden. Ps 106,36f. bietet beispielsweise eine Parallele zwischen der Anbetung von Götzen durch die Israeliten und der Opferung ihrer Söhne und Töchter an Dämonen. In seiner Ersten Apologie, die an den Kaiser von Rom gerichtet ist, beschreibt Justin wie
Um den Grund dieser Anklagen zu erkennen, müssen die Ansprüche, die Jesus hinsichtlich seiner Person macht, untersucht werden. Diese treten nicht nur in Jesu eigenen Worten zum Vorschein, sondern auch in Worten, die den jüdischen Anklägern zugeschrieben werden. Jesus behauptete von sich, ewiges Leben für andere zu bringen, eine Aussage, welche die Jüdinnen und Juden als Beweis für seine dämonische Besessenheit betrachten: «Jetzt haben wir erkannt, dass du einen Dämon hast. Abraham ist gestorben und (ebenso) die Propheten, und du sagst: Wenn jemand mein Wort befolgt, so wird er in Ewigkeit den Tod nicht schmecken» (Joh 8,52). Dass Jesus auch für sich selbst ewiges Leben beanspruchte, ist in der Herausforderung seitens der Jüdinnen und Juden impliziert: «Bist du etwa grösser als unser Vater Abraham, der gestorben ist – und die Propheten sind (doch auch) gestorben? Wozu machst du dich?» (8,53). Noch schockierender erscheint Jesu Anspruch auf Präexistenz: «Euer Vater Abraham frohlockte, dass er meinen Tag sehen sollte. Und er sah ihn und freute sich» (8,56). Die Jüdinnen und Juden riefen aus: «Du bist noch nicht fünfzig Jahre alt und hast Abraham gesehen?» (8,57). Doch Jesus machte erneut seinen Anspruch geltend: «Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham war, bin ich [ego eimi]» (8,58).
Diese letzte Behauptung bestätigt mit ihrer absoluten Verwendung der Worte ‹ich bin›, einer göttlichen Selbstbezeichnung, Jesu göttlichen Status.26 Präexistenz, ewiges Leben und die Fähigkeit, anderen Leben zu schenken, werden im Kontext des Vierten Evangeliums ausdrücklich als göttliche Eigenschaften bezeichnet. Gott existierte vor der Schöpfung der Welt (1,1) und wird vermutlich ewig existieren; Gott ‹auferweckt die Toten und macht lebendig› (vgl. 5,21). Indem Jesus sich selbst auf diese Art und Weise beschreibt, schreibt er sich göttliche Attribute zu. Dass diese Behauptungen den Jüdinnen und Juden grosse Mühe bereiten, wird an einer anderen Stelle im Evangelium deutlich. In 5,18 informiert uns der Erzähler, dass die Jüdinnen und Juden beabsichtigten, Jesus zu töten, weil er «Gott seinen Vater genannt und sich selbst Gott gleich [oder ähnlich] gemacht hatte». In 10,33 sagen uns die Jüdinnen und Juden selbst: «Nicht wegen eines guten Werkes wollen wir dich steinigen, sondern wegen einer Lästerung, und zwar weil du, der du ein Mensch bist, dich zu Gott machst.» Aus der Sicht des Evangeliums sind diese Aussagen ironisch; denn Jesus ist der Sohn Gottes und ist gottgleich oder gottähnlich. Jesus rief nicht zur Anbetung eines anderen Gottes als des Gottes Israels auf. Er rief sich vielmehr als Sohn Gottes aus (17,1), den Einzigen, durch den Gott sich der Welt offenbart (1,18).
Die Beschuldigungen der Jüdinnen und Juden zeigen, dass sie nicht überzeugt sind. Ihre endgültige Antwort, Steine zu werfen, impliziert nicht nur ihre starke Ablehnung Jesu, sondern auch ihre Überzeugung, dass er sich eines Kapitalverbrechens schuldig gemacht hat. Diese Reaktion impliziert, dass Jesus sich eigenmächtig als Gott ausgibt, wenn er beansprucht, Gottes Sohn zu sein und an den göttlichen Eigenschaften teilzuhaben. Aus der Sicht der johanneischen Jüdinnen und Juden ist der Glaube an Jesus gerade nicht der Weg zum Gott Israels, sondern der Weg von ihm weg zur Idolatrie. Kein Mensch aus Fleisch und Blut kann Gott gleich oder ähnlich sein, oder an den Eigenschaften teilhaben, die ausschliesslich göttlich sind.
Aus der Sicht des strengen Monotheismus sind diese Behauptungen anstössig und geben dem jüdischen Blasphemievorwurf gegenüber Jesus (10,33) Raum. Noch problematischer als Jesu Anspruch, göttliche Eigenschaften zu besitzen, sind seine Bemühungen, Menschen zu bekehren. Der Zweck von 8,31–59, wie des gesamten Evangeliums, liegt nicht nur darin, Jesu Identität als Christus und Sohn Gottes zu bestätigen, sondern auch darin, andere zu überzeugen an Jesus zu glauben (3,18), ihm nachzufolgen (10,4), sein Wort anzunehmen (3,33) und – sehr provokativ – seinen Leib zu essen und sein Blut zu trinken (6,53). Wenn Jesus sich selbst als Gott ausgibt, und wenn diese Tat die Grenzen des Monotheismus überschreitet, wie die johanneischen Jüdinnen und Juden offensichtlich glauben, dann beschränkte sich Jesu Vergehen nicht auf Blasphemie oder Idolatrie. Auch die Tatsache, dass er andere dazu auffordert, an ihn zu glauben und sich so von ihrem Dienst am einen wahren Gott Israels und dessen Anbetung abzuwenden, ist zentral.
Dtn 13,1–5 gibt den LeserInnen eine Anweisung, wie man eine Person oder einen Propheten erkennt, der Israel zu verführen sucht:
Aus jüdischer Sicht ist der johanneische Jesus dem Lügenpropheten, wie er an dieser Stelle im Deuteronomium beschrieben wird, sehr ähnlich. Er ist unter ihnen erschienen (1,26) und hat Zeichen versprochen (z. B. 1,51). Zumindest einige dieser Wunder haben sich ereignet (z. B. 4,50) und er hat andere aufgefordert, ihm zu folgen (z. B. 1,43; 8,31).
Talmudische Quellen beurteilen Jesu Vergehen in genau dieser Weise. Im Traktat Sanhedrin des Babylonischen Talmuds (107b) wird folgende Geschichte erzählt:
Die Worte, die in 8,31–59 den Jüdinnen und Juden zugeschrieben werden, deuten darauf hin, dass die grundsätzliche Frage zur Debatte stand, ob Jesus und die in Bezug auf ihn erhobenen Ansprüche eine Überbietung des Monotheismus bedeuteten, und damit eine ‹neue und verbesserte›, aber im Wesentlichen erkennbare Offenbarung darstellten, oder ob es sich dabei im Gegenteil um einen radikalen Verstoss gegen den grundlegenden jüdischen Glauben handelte.29 Tatsächlich geht es in dieser Diskussion um verschiedene Versionen der kosmologischen Erzählung, das heisst um die Beziehung zwischen Gott und der Menschheit und um den jeweiligen Platz der Jüdinnen und Juden und Jesu in diesen verschiedenen Versionen.
EINE WIDERSTÄNDIGE LEKTÜRE DER EKKLESIOLOGISCHEN ERZÄHLUNG
Das Hauptmerkmal der ekklesiologischen Erzählung, wie ich sie konstruiert habe, ist die vollkommene religiöse Trennung zwischen johanneischer und jüdischer Gemeinde, wohingegen es weiterhin informelle soziale Kontakte gab. Ich sehe die johanneischen Christusgläubigen und die jüdischen Nichtchristusgläubigen, wie sie sich ob ihrer Glaubensverpflichtungen mit Misstrauen und Feindseligkeit über einen tiefen Graben hinweg anstarren, wie beide Seiten gleichzeitig den Bruch zwischen ihnen bedauern und sich gegenseitig anklagen, ihn verursacht zu haben. Als widerständige Leserin habe ich teil an der gegenseitigen Feindseligkeit, die in der ekklesiologischen Erzählung zum Ausdruck kommt. Ich bin aufgebracht ob der negativen Rolle, die das Ethos der johanneischen Gemeinde den Jüdinnen und Juden zuweist und ich akzeptiere die Trennung, die es zwischen mir und denjenigen gibt, die entschieden haben, das Geschenk des Geliebten Jüngers anzunehmen. Als widerständige Leserin übernehme ich daher vollumfänglich die polarisierte Rhetorik und partizipiere an der sozialen Situation, wie dies der Geliebte Jünger tut, der mir auf der anderen Seite des Grabens gegenübersteht.
Die zentrale Frage, die widerständige LeserInnen dem Geliebten Jünger stellen können, lautet also: Gab es überhaupt eine bittere Auseinandersetzung zwischen der johanneischen Gemeinde und den Jüdinnen und Juden, unter denen sie lebten und mit denen sie in der Synagoge beteten? Nimmt man dies an, stellt sich die Frage, worum es in dieser Auseinandersetzung ging. Die drängendste Frage aber lautet: Führte dies zu einem formalen Ausschluss der AnhängerInnen Jesu aus der jüdischen Gemeinde? Wäre ich doch eine Maus in der Synagoge, von der sich die johanneischen Jüdinnen und Juden anscheinend trennten! Da wir keine derartigen Zeugnisse aus erster Hand und keine ‹harten› historischen Fakten haben, müssen wir versuchen, uns diesen dramatischen Konflikt zwischen den Jüdinnen und Juden und der johanneischen Gemeinde vorzustellen. Das Skript dafür findet sich nahezu wörtlich im ersten Kapitel von Martyns History and Theology in the Fourth Gospel. Martyn imaginiert diese Szene als Schauspiel in einem lokalen Theater. Am Morgen nach der Aufführung steht in der Lokalzeitung ein Leserbrief des Präsidenten der Synagoge, in der diese Ereignisse stattgefunden haben sollen. In einem Abschnitt des Briefes heisst es:
So können diejenigen widerständigen LeserInnen, deren Reaktion auf das Vierte Evangelium auch von ihrer Beschäftigung mit der Forschung am Johannesevangelium geprägt ist, eine zusätzliche Ebene zu ihrer Widerständigkeit hinzufügen, indem sie der ekklesiologischen Erzählung, wie sie die ‹johanneische Gilde› erzählt, widerstehen. Selbstverständlich enthält die ekklesiologische Erzählung, wie ich sie in der Vorbereitung auf die Treffen mit dem Geliebten Jünger dargestellt habe, bereits meine eigene Widerständigkeit gegenüber der vorherrschenden wissenschaftlichen Darstellung, nach welcher die Jüdinnen und Juden die johanneische Gemeinde aus ihrer Mitte ausgestossen haben.
DER GELIEBTE JÜNGER ALS GEGNER
Als widerständige Leserin stehe ich dem Geliebten Jünger nicht als potentiellem Freund, der mir ein wertvolles Geschenk anbietet, gegenüber. Vielmehr erscheint er mir als Gegner, dessen Bemühungen, mir sein Geschenk aufzudrängen, ich mit aller Kraft widerstehen muss. Meine Ablehnung des Geschenkes des Geliebten Jüngers führt mich dazu, die ethischen Kriterien des Geliebten Jüngers zu verkehren und die Personen in der Erzählung neu zu beurteilen. Beurteilt man die Annahme des Geschenkes des johanneischen Jesus in der Erzählung eher als ‹böse›, denn als ‹gut›, können Maria, Martha, Maria Magdalena, die JüngerInnen und die Samaritanerin nicht als Vorbilder des Glaubens und als ‹Kinder Gottes› gepriesen werden. Sie sind vielmehr zu bemitleiden, da sie in ihrem Glauben bezüglich Jesu und Gottes tragisch in die Irre geführt wurden. Ich kann Nikodemus’ Mahnung an die jüdischen Führer, Jesus dem Gesetz entsprechend ‹fair› zu beurteilen, gutheissen. Seine etwas übertriebene Spende von Grabbeigaben kann ich als Form seiner Bemühung, dem Juden Jesus ein angemessenes Begräbnis zuteil werden zu lassen, wertschätzen. Nichtsdestotrotz kann ich als widerständige Leserin nur mit Bestürzung zusehen, wie er am Rande des Glaubens schwankt, und gegen die Intention des Evangeliums hoffen, dass er nicht nachgibt.
Als widerständige Leserin bewerte ich die Rollen Jesu und der Jüdinnen und Juden in der Erzählung neu und kehre sie um. Für den Geliebten Jünger wie für die zustimmenden LeserInnen der historischen Erzählung, ist Jesus das unschuldige Opfer eines jüdischen Mordplanes.30 In der kosmologischen Erzählung ist Jesus Gottes einziger Sohn (1,18 passim), nimmt die Sünde der Welt weg (1,29c) und bringt Heil. Ich hingegen stelle mich auf die Seite der johanneischen Jüdinnen und Juden: Wir sind die Opfer, deren Identität und Leben von der grausamen Rhetorik des Geliebten Jüngers und einer engen Sicht auf Gott und die Menschheit, in der wir Anderen keinen Platz haben, bedroht werden.
Eine widerständige Lektüre hilft, die Ansichten der johanneischen Jüdinnen und Juden wahrzunehmen, insofern diese aus dem Evangelium hergeleitet werden können. Eine widerständige Lektüre anerkennt die Legitimität der Einwände der Jüdinnen und Juden gegenüber Jesus und zeigt alternative Darstellungen des historischen Hintergrunds des Evangeliums und der Geschichte der Gemeinde auf. Doch aus einer ethischen Sicht, die tatsächlich versucht, das Andere zu achten, gelten gegenüber der hier versuchten widerständigen Lektüre die gleichen Kritikpunkte, die schon im vorigen Kapitel gegenüber der zustimmenden Lektüre vorgebracht wurden. Dies ist deshalb der Fall, weil die widerständige Lektüre die Perspektive der zustimmenden Lektüre schlicht umkehrt. Vom Standpunkt der widerständigen LeserInnen, die das Geschenk des Geliebten Jüngers mit den Augen der johanneischen Jüdinnen und Juden sehen, sind der Geliebte Jünger, Jesus und ihre AnhängerInnen innerhalb und ausserhalb der Erzählung die Anderen. Sie sind in ihrem Verständnis von der Beziehung Gottes zur Welt fehlgeleitet und vom wahren Monotheismus als Erfüllung von Gottes Willen ausgeschlossen. Als widerständige Leserin kann ich die Rhetorik binärer Opposition, die der Geliebte Jünger verwendet, nicht überwinden; vielmehr reproduziere ich sie mit umgekehrten Vorzeichen. Eine widerständige Lektüre ist deshalb keine Grundlage für eine Freundschaft mit dem Geliebten Jünger. Indem widerständige LeserInnen das Geschenk ablehnen, bestreiten sie auch dessen Wert für den Geliebten Jünger.
ANMERKUNGEN
1 Origenes brachte in seinem Kommentar zum Johannesevangelium 1.40 als erster diesen Ausdruck mit dem Johannesevangelium in Verbindung. Vgl. Origen, Commentary on the Gospel of John, Books 1–10, übers. von RONALD E. HEINE, Washington D.C. 1989, 4. [Im Deutschen wird dieser Ausdruck mit ‹Erstling der Evangelien› übersetzt. Vgl. Origenes, Das Evangelium nach Johannes, hg. und übers. von ROLF GÖGLER. Zürich/Köln 1959, 99, Anmerkung der Übersetzerin].
2 Vgl. ADELE REINHARTZ, A Feminist Commentary on the Gospel of John, in: ELIZABETH SCHÜSSLER FIORENZA (Hg.): Searching the Scriptures 2, New York 1994, 561–600.
3 JUDITH FETTERLEY: The Resisting Reader. A Feminist Approach to American Fiction, Bloomington 1978, 9.
4 Die Beziehung zwischen der Jesus- und der Johannesbewegung wird in der Forschung unterschiedlich interpretiert. Einige WissenschaftlerInnen, beispielsweise WALTER WINK (John the Baptist in the Gospel Tradition, Cambridge 1968, 94), vertreten die Meinung, Jesus und Johannes seien hinsichtlich des Taufritus Rivalen gewesen. Andere WissenschaftlerInnen, wie beispielsweise JEROME MURPHY O’CONNOR (John the Baptist and Jesus. History and Hypotheses; in: NTS 36 (1990) 363–366), sind der Ansicht, Jesus habe mit seiner im Vierten Evangelium beschriebenen Tauftätigkeit im Gegenteil das Wirken des Täufers vielmehr fortgeführt und vorangetrieben. Er schlägt vor anzunehmen, Jesus und der Täufer hätten sich das Gebiet aufgeteilt, um eine koordinierte Kampagne unter den Jüdinnen, Juden und SamaritanerInnen durchzuführen. MORTON ENSLIN bezweifelt, dass sich Jesus und der Täufer überhaupt gekannt haben und nimmt an, ihre gesamte Beziehung sei eine Erfindung der frühen Kirche (John and Jesus; in: ZNW 66 (1975) 1–18). Die Vielfalt der Ansichten zeigt, dass die Interpretation des johanneischen Materials und die Antwort auf die Frage nach seiner Historizität keineswegs eindeutig sind. Meiner Ansicht nach ist es wahrscheinlich, dass es gewisse Kontakte zwischen Johannes und Jesus gegeben hat und dass zwischen beiden eine gewisse Rivalität herrschte.
5 3,25 lässt unklar, mit welcher Partei oder welchen Parteien die JüngerInnen des Täufers in Auseinandersetzung standen. Einige Manuskripte bezeugen meta Ioudaiou, was ‹ein gewisser Jude› bedeutet; andere bezeugen meta Ioudaion, was ‹gewisse Juden› bedeutet. Eine ausführliche Besprechung bietet JOHN W. PRYOR: John the Baptist and Jesus. Tradition and Text in John 3,25; in: JSNT 66 (1997) 15–26. Die verschiedenen Varianten des Textes an dieser Stelle haben jedoch keinen Einfluss auf die Bedeutung dieser Stelle hinsichtlich der Besorgnis der JüngerInnen des Täufers im Blick auf Jesu Tauftätigkeit.
6 Vgl. R. ALAN CULPEPPER: Anatomy of the Fourth Gospel, Philadelphia 1983, 89–98.
7 E.P. SANDERS: Judaism. Practice and Belief 63 BCE–66 CE, Philadelphia 1992, 68.
8 Während ich diese Worte im Herbst 2000 schreibe, ist der Tempelplatz in Jerusalem als Ort, an dem sich die ‹Al-Aqsa-Intifada› – ein palästinensischer Aufstand gegen die israelische Besetzung – entzündete, erneut Schauplatz des Konfliktes über rechtmässige Kontrolle und Zugang. Der Konflikt steht in engem Zusammenhang mit konkurrierenden israelischen und palästinensischen Ansprüchen auf den Tempel als heiligen Ort.
9 RICHARD BAUCKHAM: God Crucified. Monotheism and Christology in the New Testament, Grand Rapids (Mich.) 1999, 6.
10 Ebd., 6.
11 SIGFRED PEDERSEN behauptet, der Hinweis auf Abraham spiele auch auf Gott als Schöpfer an und beeinflusse somit unsere Lektüre des 8. Kapitels von der Schöpfungssprache des Johannesprologs her (Anti-Judaism in John’s Gospel. John 8; in: JOHANNES NISSEN, SIGFRED PEDERSEN (Hgg.): New Readings in John. Literary and Theological Perspectives from the Scandinavian Conference on the Fourth Gospel, Århus 1997, JSNT.S 182, Sheffield 1999, 172–193, 186).
12 Die Apokalypse Abrahams, übers. von BELKIS PHILONENKO-SAYAR u. MARC PHILONENKO; in: JSHRZ 5. Apokalypsen, Gütersloh 1974–2003, 413–460; Das Buch der Jubiläen, übers. von KLAUS BERGER; in: JSHRZ 2. Unterweisung in erzählender Form, Gütersloh 1973–1999, 273–575, 393.
13 Testament Abrahams, übers. von ENNO JANSSEN; in: JSHRZ 3. Unterweisung in lehrhafter Form, Gütersloh 1974–2001, 193–256, 206.
14 Philo: Ueber Abraham; hg. und übers. von LEOPOLD COHN; in: DERS.: Die Werke Philos von Alexandria. In deutscher Übersetzung, 1. Teil, Breslau 1909, 91–152.
15 Flavius Josephus, Jüdische Altertümer, übers. von HEINRICH CLEMENTZ, Wiesbaden 142002, 267.
16 Jubiläen, 318–320.
17 Ebd., 329.
18 Ebd., 425.
19 Oudeni kann ‹irgendetwas› oder ‹irgendjemandem› bedeuten.
20 Vgl. CULPEPPER, Anatomy, 152–165.
21 JOHN ASHTON betrachtet diese Aussage als Bemühung des Evangeliums zu zeigen, dass die Jüdinnen und Juden LügnerInnen sind (Understanding the Fourth Gospel, Oxford 1991, 423).
22 RAYMOND E. BROWN: The Gospel According to John, Bd. 1, AB 29, Garden City (N.Y.) 1966, 355.
23 RUDOLF SCHNACKENBURG: Das Johannesevangelium. Kommentar zu Kapitel 5–12, HThK 4,2, Freiburg/Basel/Wien 1971, 263.
24 Eine Einführung in die wissenschaftliche Debatte über das Wesen des Monotheismus im 1. Jahrhundert bieten BAUCKHAM, God Crucified; JAMES D.G. DUNN: Was Christianity a Monotheistic Faith from the Beginning?; in: SJTh 35 (1982) 303–336.
25 Justinus: Rechtfertigung des Christentums, hg. und übers. von H. VEIL, Strassburg 1894, 16.
26 Eine ausführliche Untersuchung der johanneischen Verwendung von ego eimi als göttlichem Namen bietet BROWN, John I–XII, 533–538.
27 Der Babylonische Talmud, hg. und übers. von LAZARUS
GOLDSCHMIDT, Königstein 31981, Bd. 9. Synhedrin (2. Hälfte), Makkoth, Šebu’oth, ’Edijoth, ’Aboda Zara, Aboth, Horajoth, 119.
28 Der Babylonische Talmud, hg. und übers. von LAZARUS GOLDSCHMIDT, Königstein 31981, Bd. 8. Baba Bathra, Synhedrin (1. Hälfte), 631f.
29 Vgl. GRAHAM N. STANTON: Aspects of early Christian-Jewish Polemic and Apologetic; in: NTS 31 (1985) 377–392.
30 HELEN C. ORCHARD beschäftigt sich ausführlich mit dem Thema ‹Jesus als Opfer eines Verbrechens› (Courting Betrayal. Jesus as Victim in the Gospel of John, Sheffield 1998).
Die Autorin
Dr. theol., ist stellvertretende Vizepräsidentin für Forschung an der Universität Ottawa, Kanada, und Professorin am Institut für Altertums- und Religionswissenschaft an derselben Universität. Sie forscht zur Geschichte und Literatur des frühen Judentum und Christentums, jüdisch-christlichen Beziehungen und Berührungspunkten von Bibel und Film.