ONLINE-EXTRA Nr. 222
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Dass ein angemessenes Verständnis des (christlichen) "Neuen Testaments" nicht ohne ein angemessenes Verständnis des (jüdischen) sogenannten "Alten Testaments" möglich ist, dass das "Alte Testament" als hebräische Bibel zunächst und zuerst ein jüdisches Buch ist, und dass die Person Jesu nicht ohne ihre jüdische Identität begreifbar ist, das alles sind elementare Erkenntnisse, die nicht zuletzt als theologische Früchte des christlich-jüdischen Dialogs angesehen werden können. Vor diesem Hintergrund hat es sich stets als besonders hilfreich und inspirierend erwiesen, wenn jüdische Persönlichkeiten sich aus ihrer Warte mit dem "Neuen Testament" oder der Person Jesu befasst haben. Zu den renommiertesten Gelehrten jüdischerseits, die genau dies getan haben, gehört zweifellos die jüdisch-kanadische Neutestamentlerin und Professorin an der Universität von Ottawa/Kanada Adele Reinhartz.
Anlässlich der Emeritierung von Prof. Dr. Ekkehard W. Stegemann, seines Zeichens ein theologischer Experte im christlich-jüdischen Gespräch, hielt Adele Reinhartz bei einem Symposion der Theologischen Fakultät der Universität Basel einen Vortrag unter dem Titel "Rabbi Jesus im Johannesevangelium", dessen schriftliche Fassung in der Neukirchener theologischen Zeitschrift "Kirche und Israel" (2/2014) erschien.
COMPASS freut sich, diesen Beitrag nachfolgend als ONLINE-EXTRA NR. 222 publizieren zu dürfen - und dankt der Redaktion von "Kirche und Israel" sowie Adele Reinhartz für die entsprechende Genehmigung!
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Online-Extra Nr. 222
Einleitung
Im November 2009 wurde Rabbi Shlomo Riskin, der Chefrabbiner der Stadt Efrat in Israel, heftig kritisiert. Denn er hatte sich in einem Interview, das anschließend auf YouTube geladen wurde, auf den „Rabbi Jesus“ bezogen.1 Rabbi Riskin versuchte den Sturm zu stillen, indem er später die Stellungnahme zurückzog und sich wie folgt erklärte:
Meine Kommentare bezogen sich auf die historische Gestalt Jesu, den Menschen, der kein „Christ“ war, der Juden nicht hasste, sondern vielmehr selbst ein engagierter Jude war. Um diesen Punkt vor einem christlichen Publikum zu betonen, bezog ich mich auf ihn als „Rabbi“ Jesus, den jüdischen historischen Jesus, als den ihn so viele Historiker, auch etwa die Professoren Joseph Klausner und David Flusser, erwiesen haben. Aber lassen Sie mich klar sagen: Wenn ich mich poetisch auf Jesus als „Rabbi“ beziehe, so war er doch nicht ein Rabbiner im klassischen Sinne des Begriffs. Dieser wurde nur benutzt, um einem christlichen Publikum den jüdischen Jesus zu erklären; aber aus nachträglicher Sicht wurde der Begriff unangemessen verwendet.2
Rabbiner Riskins Erläuterungen werfen eine interessante Frage auf: War Jesus im „klassischen“ Sinn ein Rabbi? Eine Antwort darauf hängt davon ab, welche Bedeutung der Begriff zur Zeit Jesu oder, wenn wir schon dabei sind, zur Zeit der Evangelisten hatte, welche ihn so bezeichnen.3 Doch ob nun der Begriff angemessen ist oder nicht, es gibt zweifellos christliche Wissenschaftler/innen, die ihn verwenden. Die wissenschaftliche und nicht so wissenschaftliche Literatur bietet eine intime Biographie des Rabbi Jesus an4, eine Gelegenheit, zu den Füssen des Rabbi Jesus zu sitzen5, in seinen Fußstapfen zu wandeln6, von seiner Weisheit zu profitieren und sich an seinem Esprit zu erquicken.7
Die Bereitwilligkeit von Wissenschaftler/innen, Jesus zum Rabbiner zu „ordinieren“, spiegelt eine gegenwärtige Tendenz christlich-jüdischer Wiederannäherung wider, die zum Teil in Relation steht zu der starken und relativ neuen Betonung des „Jüdischsein“ Jesu in der neutestamentlichen Wissenschaft.8 Aber wie auch immer man auf die Kennzeichnung Jesu als Rabbi reagiert, so kann doch nicht geleugnet werden, dass dies schon seit langer Zeit geschieht, da schon die Evangelien sich auf ihn als Rabbi beziehen. Bei Matthäus, Markus und Johannes gebrauchen die Jünger den Begriff „Rabbi“ für Jesus. Zudem gebrauchen alle Evangelien ab und zu den Begriff „Lehrer“ (didaskalos), der wohl dieselbe Bezeichnung reflektieren dürfte. Zudem stimmen – wie Bruce Chilton kürzlich in einem Vortag auf der Tagung der Society of Biblical Literature (Rabbi Jesus in the Gospel According to St. John) gezeigt hat – alle mit Jesus als Rabbi im Johannesevangelium verbundenen Aktivitäten mit solchen überein, die in der rabbinischen Literatur vom dritten Jahrhundert an mit Personen verbunden werden, die als Rabbinen bekannt sind.9
Aus historischer Sicht könnte der Gebrauch des Begriffs „Rabbi“ für Jesus in den Evangelien einen wertvollen Anhaltspunkt liefern für den Gebrauch des Begriffs als Titel im ersten Jahrhundert (vor der Zerstörung des Tempels), was uns wiederum etwas darüber mitteilen könnte, wie sich das Judentum des Zweiten Tempels im Land Israel organisierte.10 Der Begriff drückt deutlich einen Respekt aus und beinhaltet die Anerkennung der Autorität einer Person. Ob „Rabbi“ nun ein voll ausgebildeter Titel war oder nur eine Form der Anrede, in jedem Fall dürfte der Begriff als eine Linse dienen, durch welche die Beziehung zwischen Jesus und seinen Jüngern zu bedenken oder zu überdenken ist, vielleicht sogar bis in die Struktur und das Wertesystem der Jesusbewegung hinein, welche noch über Jesu Tod hinausreichten.
Wenn das so wäre, könnten wir uns zum Beispiel fragen, ob diese Version dieselbe Weise der Kontinuität berücksichtigte, die wohl das rabbinische Judentum charakterisiert hat, nach der nämlich Jünger – also Schüler – selber Lehrer werden. Was die Beschreibung Jesu als Rabbi im Johannesevangelium angeht, so könnte man fragen, ob, und wenn ja, sich dann der Titel in der Organisation und Geschichte der johanneischen Gemeinde widerspiegelte oder andernfalls, wenn nein, sich der Gebrauch des Titels als ein Argument entweder für die Bedeutung des Johannesevangeliums im Hinblick auf die historische Jesusfrage oder dessen Kenntnis des Matthäus- und/oder Markusevangeliums sein könnte.
Dies sind alles interessante Fragen. Aber in meinem Vortrag möchte ich einen ganz und gar anderen Aspekt ins Zentrum stellen: den offenbaren Widerspruch zwischen der Bereitwilligkeit des Evangeliums, sich auf Jesus als Rabbi zu beziehen, und andererseits seiner Weigerung, sich auf ihn als einen Juden, Ioudaios, zu beziehen. Diese Differenz ist verwirrend, weil ungleich etwa den Begriffen „Lehrer“, „Herr“, „Meister“ oder vielen anderen, die im vierten Evangelium gebraucht werden, „Rabbi“ ein typisch jüdischer Begriff ist, der eine Person kennzeichnet, die eine respektierte Position einnimmt und womöglich eine führende Rolle innerhalb einer jüdischen Gruppe spielt. Also: Warum wird Jesus die Kennzeichnung als Ioudaios vorenthalten und er dennoch so prominent als Rabbi bezeichnet?
In der Betrachtung dieser Frage werde ich zunächst genauer die Kennzeichnung Jesu als Rabbi anschauen: Wer nennt ihn so? In welchen Kontexten? Zweitens will ich einen kurzen Blick darauf werfen, dass Jesus nicht als Ioudaios bezeichnet wird, und einige Vorschläge machen, welche Gründe es dafür geben könnte. Schließlich werde ich Vermutungen darüber anstellen, warum ein Nicht-Ioudaios wie Jesus gleichwohl Rabbi genannt werden kann. Ich werde die Auffassung vertreten, dass diese Trennung auf die Erfordernisse der johanneischen Gemeinde bzw. das implizite Publikum des Evangeliums hinweist, die es mit sich brachten, sich selbst von der jüdischen Gemeinschaft als solche zu distanzieren und zur gleichen Zeit doch einige zentrale Aspekte eines jüdischen Wertesystems, des liturgischen Kalenders und gemeindlicher Praxis beizubehalten
ADELE REINHARTZ
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Was geschieht, wenn sich eine jüdische feministische Neutestamentlerin auf das Johannesevangelium einlässt? Auf einen kanonischen Text des Christentums, der wegen seiner antijüdischen Polemik auch schon als «Vater des Antisemitismus» (Gregory Baum) bezeichnet wurde? Denn Lesen stellt immer Beziehungen her, im besten Fall sogar Freundschaften. Die kanadische Neutestamentlerin Adele Reinhartz beschäftigt sich seit Jahren mit dem Vierten Evangelium, aber auch mit Fragestellungen der neueren Literaturwissenschaft und der feministischer Theologie. Sie erprobt in der vorliegenden Studie erfrischend unkonventionell, ob für sie eine Freundschaft mit dem impliziten Autor des Evangeliums, dem Geliebten Jünger, möglich ist. Dafür unterzieht sie das Johannesevangelium verschiedenen Lektüren: Einer zustimmenden, einer widerständigen, einer wohlwollenden und einer beteiligten Lektüre. Dabei tritt ihr auch der Geliebte Jünger in verschiedenen Rollen entgegen: Als Mentor, aber auch als Gegner, als Kollege und als Anderer. Indem sie ihre eigene Position nicht verleuget, sondern in die Lektüren einbezieht, eröffnet sie die Diskussion über das Gelesene und weist auf die Verantwortung der eigenen Lektüre hin.
Vier Lektüren des Johannesevangeliums: kenntnisreich, umsichtig, argumentativ und einfühlsam. Doch der Stachel bleibt.
Norbert Copray, Publik-Forum
Jesus als Rabbi
Der Begriff „Rabbi“ kommt 8-mal im Johannesevangelium vor; alle Stellen finden sich in den ersten 11 Kapiteln. Weder der Erzähler noch Jesus selbst gebrauchen den Begriff (für Jesus oder für irgendeine andere Person). In sieben Fällen kommt der Begriff in Worten eines einzelnen Jüngers vor (Nathanael: Joh 1,49), eines potentiellen Jüngers (Nikodemus: Joh 3,2) oder der Jünger als Gruppe (Joh 1,38; 3,26; 4,31; 9,2; 11,8). In 6,25 ist es die jüdische Menge, die Jesus Rabbi nennt, nachdem sie ihren Anteil an den Broten und Fischen gegessen hat.
Inhalt und Kontext der „Rabbi“-Stellen variieren beträchtlich. In Joh 1,38 fragen zwei der Jünger von Johannes dem Täufer Jesus, wo seine Bleibe ist. In Joh 1,49 macht Nathanael kund, dass dieser Rabbi der Gottessohn und König Israels ist. In Joh 3,2 beansprucht Nikodemus etwas bescheidener für Jesus, dass er ein von Gott gekommener Lehrer ist. In Joh 3,26 äußern die Jünger ihre Sorge über den Anstieg der Popularität des Täufers, während sie in Joh 4,31 eine Sorge über den Rabbi Jesus persönlich ausdrücken: sie drängen ihn, etwas zu essen. Eine ähnliche Besorgnis für sein Wohlbefinden tritt in Joh 11,8 auf, wo die Jünger beunruhigt sind, dass Jesus, wenn er nach Judäa zurückkehrt, von „den Juden“ Leid zugefügt wird, welche gerade zuvor schon versucht haben, ihn zu steinigen. In Joh 9,2 bitten die Jünger ihren Rabbi, sie zu belehren: „Rabbi, wer hat gesündigt, er oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde?“ Obwohl der Erzähler selbst, also in der narrativen Instanz als Erzähler, den Begriff Rabbi nicht gebraucht, weiß er doch, was er bedeutet; denn er übersetzt ihn mit „Lehrer“, vermutlich für die Leser, die mit dem Begriff nicht vertraut sind (vgl. Joh 1,38).
Der Begriff „Lehrer“ kommt im Johannesevangelium ebenfalls vor; er dürfte synonym mit „Rabbi“ sein, obschon er nicht eine buchstäbliche Übersetzung des Begriffs ist (das wäre „Meister“). Der Begriff Meister (didaskalos) wird von Martha von Bethanien in Joh 11,28 und von Jesus selbst nach der Fußwaschung beim Letzten Mahl gebraucht:
Johannes 13,13-14:
13 Ihr nennt mich Meister (didaskalos) und Herr (kyrios), und ihr sagt es zu Recht, denn ich bin es. 14 Wenn nun ich als Herr und Meister euch die Füße gewaschen habe, dann seid auch ihr verpflichtet, einander die Füße zu waschen.
Schließlich begegnet eine Variante des Begriffs in Joh 20,16. Maria Magdalena ist zum Grab gegangen, um zu trauern und zu weinen. Aber sie nimmt zu ihrem Erstaunen wahr, dass der Stein weggerollt worden ist und der Leichnam des ihr teuren Jesus nicht da ist. Wenig später begegnet sie einem Mann im Garten, der sie zu ihrer Betroffenheit namentlich anspricht. Sie erkennt in ihm Jesus und ruft „Rabbouni“, was, wie der Erzähler erklärt, auch „Lehrer“ bedeutet. Nebenbei bemerkt, könnte dies darauf hinweisen, dass Marias Gebrauch des Begriffs sie als Jüngerin kennzeichnet. In der Tat dürfte der emphatische Charakter von „Rabbouni“ verglichen mit „Rabbi“ sogar einen speziellen Status Marias in Übereinstimmung mit ihrer Rolle als erster Zeugin des auferstandenen Jesus und als „Apostel(in) der Apostel“ anzeigen, da Jesus sie damit beauftragt, den Jüngern kundzumachen, dass er von den Toten auferstanden ist.
Wenn wir das Johannesevangelium als mögliche Quelle für das Leben des historischen Jesus betrachten, dann könnten die unterschiedlichen Kontexte, in denen Jesus Rabbi genannt wird, nahe legen, dass dieser Begriff in der Tat derjenige gewesen ist, mit dem man sich in der Jesusnachfolge an ihn wendete. Wenn wir jedoch das Evangelium als ein rhetorisches Dokument betrachten, also als einen Text, der die Leser davon überzeugen möchte, an Jesus als Messias und Gottessohn zu glauben und dadurch in seinem Namen zum ewigen Leben zu gelangen, stellt sich die Frage, wie diese Art der Verwendung auf das intendierte (imaginierte) ursprüngliche Publikum gewirkt haben dürfte.
Auf der elementarsten Ebene hebt der Gebrauch des Begriffs „Rabbi“ für Jesus hervor, was wir alle für Faktenwissen halten, nämlich dass Jesus, seine Familie, seine Schüler, seine Anhänger und Gegner jüdisch waren. Weil ihr Judesein als gegeben angesehen wird, wird es nirgendwo direkt hervorgehoben. Gleichwohl ist es evident aus zahlreichen Details. Die Erzählung wird ausdrücklich in Galiläa (Joh 2,1), in Judäa (Joh 2,13) und Samaria (Joh 4,1) lokalisiert, und zwar während der Periode, in der Pontius Pilatus der Repräsentant Roms und Kaiphas Hoher Priester war (zwischen 18-26 d.Z.). Das Evangelium bezieht sich auf jüdische Praktiken wie etwa das Ritual des Händewaschens (Joh 2,6), des Brotsegnens vor einem Mahl (Joh 6,11), das Halten des Sabbats (Joh 5,9) und das Feiern von Festen wie etwa des Passahs (Joh 2,13; 6,4; 12,1), des Laubhüttenfestes (Joh 7,2) und des Tempelweihfests (Chanukka; Joh 10,22).
Dass Jesus regelmäßig an diesen Handlungen teilnimmt, untermauert seine jüdische Identität, selbst wenn seine Praktiken nicht mit Normen und Erwartungen anderer Juden konform sind, wie zum Beispiel dann, wenn er einen Lahmen (Joh 5,6-9) und einen Blinden (Joh 9,6-7) am Sabbat heilt (Joh 5,18; 9,14.16). Der Jesus des Johannesevangeliums beruft sich reichlich und häufig auf die Hebräischen Schriften, um seine Argumentation zu stützen (Joh 7,38). Auch seine Jünger sind Juden; Nathanael wird sogar „wahrer Israelit“ (Joh 1,47) genannt. Der Erzähler beschreibt die kosmologische Bedeutung Jesu, sein Verhältnis zu Gott, seine Präexistenz und seine Rolle bei der Weltschöpfung, indem er eine Sprache benutzt, die aus der jüdischen Weisheitstradition stammt (Joh 1,1-18); und er äußert auch den Glauben, dass in Jesus die Hebräischen Schriften erfüllt sind (Joh 18,9)
Schließlich setzt das Evangelium voraus, dass die Erlösung des ganzen Menschengeschlechts anbrechen wird aufgrund einer Intervention des einen Gottes Israels, der die Herrschaft über den gesamten Kosmos innehat. Entsprechend sagt Jesus zur samaritanischen Frau, der er nach Johannes 4 begegnet: Ihr betet zu dem, was ihr nicht kennt; wir beten zu dem, was wir kennen – denn das Heil/die Erlösung kommt von den Juden (Joh 4,22). Diese und viele andere Beispiele aus dem Evangelium bestätigen und bestärken Jesu Judesein und das seiner Umgebung und jeder Person, mit der er kommuniziert.
Während ihr Jüdischsein vorausgesetzt ist, wird jedoch weder auf Jesus noch auf die Jünger ausdrücklich als Juden Bezug genommen. Nur einmal wird Jesus Jude genannt: von der Samaritanerin, die ihr Erstaunen darüber zum Ausdruck bringt, dass entgegen der üblichen Praxis ein Jude eine samaritanische Frau um einen Trunk Wasser bittet (Joh 4,9). Ihre Worte lenken die Aufmerksamkeit auf die Spannungen zwischen Juden und Samaritanern und auf die Ansicht, dass Samaritaner für Juden einen Status als Außenseiter haben. Doch im Laufe des Gesprächs zwischen Jesus und der Frau wird klar, dass Jesus die Unterscheidung zwischen Juden und Samaritanern nicht beachtet oder sogar ablehnt.
Nach meiner Ansicht ist es leicht zu erklären, warum das Evangelium den Begriff Ioudaios für Jesus vermeidet. Denn für das Johannesevangelium sind die Ioudaioi, die Juden, diejenigen, die sich weigern, an Jesus als Messias und Gottessohn zu glauben, die danach trachten, ihn umzubringen und die die verfolgen und sogar töten, die an ihn glauben. Die, die an Jesus glauben – das heißt, um präziser zu sein, an die Interpretation und Repräsentation Jesu durch Johannes glauben –, die haben sich, was auch immer ihre ethnischen, nationalen, geographischen oder kulturellen Herkünfte sein mögen, von der Gruppe der Ioudaioi entfernt, selbst wenn sie noch nicht wirklich als Gruppe der „Christen“ identifiziert werden. Das ist ein Schritt, der erst einige Jahrzehnte nach der Abfassung des Evangeliums stattfinden wird. Wenn aber die, die an Jesus glauben, nicht unter die Kategorie der Ioudaioi fallen, dann gehört offensichtlich auch zu Jesus nicht dieser Name, ungeachtet seiner eigenen Ethnizität, geographischen Verortung und kultischen Praktiken.
Aber wenn das Evangelium so sorgsam darauf achtet, Jesus und seine Jünger nicht als Ioudaioi zu bezeichnen, stellt sich die Frage, warum es die Jünger Jesu ihn Rabbi nennen lässt und was das für das Verständnis des Evangeliums von Jesu Rolle und Identität bedeutet. Wie kann Jesus ein Rabbi sein, wenn er nicht zugleich ein Ioudaios ist? Um diese Frage zu beantworten, schauen wir zuerst kurz auf die Rolle, die ein Rabbi innerhalb eines jüdischen Kontextes spielt, und dann auf die Darstellung Jesu als Rabbi im Johannesevangelium. Schließlich werden wir die Implikationen dieser Darstellung im Hinblick auf das Selbstverständnis und die religiöse Praxis der johanneischen Gemeinde betrachten.
KIRCHE UND ISRAEL
Neukirchener Theologische Zeitschrift
Neukirchener Theologische Zeitschrift
Herausgegeben von:
Edna Brocke, Hans Hermann Henrix, Rolf Rendtorff, Barbara Schmitz, Ekkehard W. Stegemann, Wolfgang Stegemann, Gabriele Oberhänsli-Widmer, Christina Tuor-Kurth (für die Schweiz), Hans Joachim Sander (für Österreich), unter Mitarbeit namhafter Fachgelehrter
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Rabbi Jesus als Ausleger der Offenbarung
Wer einen Synagogengottesdienst in Europa besucht hat, dem kann verziehen werden zu glauben, dass die Aufgabe eines Rabbiners hauptsächlich darin besteht, die Seiten im Gebetbuch laut aufzurufen und den Vorsitz bei den Gebeten zu führen. Wer eine Veranstaltung im jüdischen Lebenszyklus wie etwa eine Hochzeit oder eine Bar Mitzwa besucht hat, wird wohl den Rabbiner als jemand ansehen, der ein Amt ausübt im Zusammenhang eines „rite de passage“. Diese Funktionen eines modernen Rabbiners sind mindesten zu einem gewissen Grad beeinflusst durch die Rollen eines christlichen Geistlichen, dessen Anwesenheit erforderlich ist, um verschiedene Sakramente zu verwalten oder ein Gebet wirksam zu machen. Aber im jüdischen Kontext braucht man einen ordinierten Rabbiner nicht, damit ein Gebetsgottesdienst stattfindet. Auch Lebenszyklus-Veranstaltungen erfordern nicht die Anwesenheit eines Rabbiners, um den Übergang von einem Status in einen anderen zu markieren. Dies sind Funktionen, die im Laufe der Zeit den rabbinischen Aufgaben hinzugefügt wurden, womöglich als Folge christlichen Einflusses. Die grundlegende Aufgabe eines Rabbiners oder einer Rabbinerin ist vielmehr, den göttlichen Willen denen zu deuten, die seine oder ihre Autorität, dies tun zu können, anerkennen. Dieser Aufgabe liegt die Annahme oder vielmehr der Glaube zugrunde, dass der Wille Gottes in einer Offenbarung sich äußert, nämlich in der Tora.
Dieselbe Rolle liegt der Darstellung Jesu als Rabbi im vierten Evangelium zugrunde. Indem sich das Evangelium auf Jesus als Rabbi bezieht, macht das Evangelium deutlich, dass Jesus der „Kanal“ für die göttliche Offenbarung – das Wissen von Gott – für die ist, die seine Autorität anerkennen (nach Ansicht des Evangeliums ist dabei potentiell jeder auf der Welt im Blick). Grundlegend für diese Einsicht ist die Vermutung, dass die Menschheit sich nach ewigem Leben sehnt (oder was immer Erlösung konkret bedeuten mag), dass ewiges Leben nur erreichbar ist durch den Willen Gottes, der der Menschheit durch Offenbarung zugänglich ist. Essentiell ist deshalb für jeden, der den Tod überwinden und sich des ewigen Lebens erfreuen möchte, Gottes Willen zu kennen und ihn zu tun.
Nach dem Johannesevangelium ist Jesus wie andere jüdische Rabbinen ein Ausleger der Tora. In der sogenannten Lebensbrotrede in Joh 6 deutet Jesus das Manna der Exodus-Erzählung. Nach Johannes 6,31 ruft die Menge, die gerade Brote und Fische genossen hat: „Unsere Vorfahren haben das Manna in der Wüste gegessen“, und zwar Bezug nehmend auf Ex 16,14: „wie geschrieben steht: Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen“. Jesus erklärt, dass „es nicht Mose war, der euch das Brot vom Himmel gegeben hat, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel“ (Joh 6,32). Im weiteren Kontext der Rede ist diese exegetische Diskussion ein Präludium für die schockierende Erklärung, dass Jesus selbst das Brot vom Himmel ist, dessen Fleisch man essen muss, um ewiges Leben zu erlangen. Aber im unmittelbaren Kontext nimmt Jesus hier an einem Vorgang biblischer Auslegung teil. Während die Menge das Manna Mose zuzuschreiben scheint, führt Jesus sie zurück auf den einfachen Sinn des Textes (den Peshat), nach dem es Gott war, der das Manna bereitgestellt hat: „Da sprach der HERR zu Mose: Siehe, ich lasse euch Brot vom Himmel regnen, und das Volk soll hinausgehen und sammeln, was es für den Tag braucht“ (Ex 16,4).
In Joh 7 führt Jesus eine Deutung für eine rätselhafte Behauptung ein: „Wer an mich glaubt, aus dessen Leib werden, wie die Schrift sagt, Ströme lebendigen Wassers fließen“ (Joh 7,38). Obwohl es keinen biblischen Vers gibt, der diese Behauptung ausdrücklich aufstellt, kennzeichnet Jesus sie als einen Vers der Schrift; und in dieser Hinsicht stellt das Evangelium ihn als einen autoritativen Ausleger dar, jedenfalls den Lesern und Hörern, die nicht ihre Bibelkonkordanz zur Hand haben. In der Tat berichtet der Erzähler unmittelbar vor Jesu Erläuterungen: „Da staunten die Juden und sagten: Wie kann dieser die Schriften kennen, ohne unterrichtet worden zu sein“ (Joh 7,15)? Diese Beispiele lassen vermuten, dass die Autorität der Tora fortbesteht und Jesus, was er auch immer sonst sein mag, in jedem Fall ein autoritativer Deuter der Schrift ist. Entsprechend heißt es in Joh 10,35: „Die Schrift kann nicht aufgehoben werden“.
Für das Johannesevangelium ist die wichtigste Sache an der Schrift, dass sie für Jesus zeugt, und zwar nicht allein generell, sondern auch spezifisch im Blick auf seine Handlungen ebenso wie auf die Ereignisse, die zu seinem Tod und zu seiner Auferstehung führen. Der „Mangel an Glauben“ der Juden musste das Wort des Propheten Jesaja erfüllen: „Herr, wer hat unserer Botschaft geglaubt? Und der Arm des Herrn, wem ist er offenbart worden?“ (Joh 12,38). Der Verrat Jesu durch Judas musste „die Schrift erfüllen: Der mein Brot verzehrt, hat mich mit Füßen getreten“ (Joh 13,18). Bei Jesu Verfolgung „muss das Wort in Erfüllung gehen, das in ihrem Gesetz geschrieben steht: Sie haben mich ohne Grund gehasst“ (Joh 15,25). Die Soldaten, die über seine Kleider das Los warfen, haben einfach erfüllt, „was die Schrift sagt: Sie haben meine Kleider unter sich verteilt, und über mein Gewand haben sie das Los geworfen“ (Joh 19,24). Dasselbe gilt auch für Jesus, wenn er vor seinem Tod sagt: „Mich dürstet“ (Joh 19,28).
Für das Evangelium ist das richtige Verstehen der Schrift eine Sache von Leben und Tod; dies ist es, was einen Keil treibt zwischen dem johanneischen Jesus und den johanneischen Juden. So sagt denn auch Jesus seinen jüdischen Gegnern in Joh 5,45-47: „Meint nicht, dass ich euch beim Vater anklagen werde; euer Ankläger ist Mose, auf den ihr eure Hoffnung gesetzt habt. Wenn ihr Mose glaubtet, würdet ihr mir glauben, denn er hat über mich geschrieben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie könnt ihr dann meinen Worten glauben“? Für den Vierten Evangelisten bezeugen also die Schriften Jesus. Sie werden erfüllt in Jesu Worten und Taten, seinem Leben, seinem Tod, seiner Auferstehung. Mit anderen Worten: die Schriften bezeugen seine wirkliche Identität als Christus und Gottessohn und seine Bedeutung für die Menschheit. Deswegen gelangt die Exegese der Schrift des Rabbi Jesus immer dort an: Sie weist hin auf die wahre, göttlich intendierte Deutung der Schrift für ihn selbstn. Er ist das wahre Lebensbrot, das Gott der Welt gibt. Er ist das lebendige Wasser – der Heilige Geist –, das denen Erquickung bringt, die davon trinken (Joh 7,39).
Im Kontrast zu den Erwartungen der jüdischen Menge (und der Rabbinen späterer Perioden) rührt Jesu Autorität in der Auslegung der Schrift nicht von Jahren des Studiums her, sondern direkt von Gott selbst. Dementsprechend erklärt Jesus in Johanns 7,16: „Meine Lehre ist nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat“. Als Gottessohn ist Jesus Gottes vornehmlicher Repräsentant in der Welt. Diese Rolle qualifiziert ihn nicht allein zum Auslegen der Schrift, sondern auch als den, der Gottes Willen direkt durch seine Worte und seine Taten vermitteln soll (Joh 4,34). Ebenso wie die Worte der Tora nicht ihren Ursprung bei Mose, sondern bei Gott haben, so haben Jesu Worte und Taten ihren Ursprung nicht in ihm, sondern in Gott. Das ist der Grund dafür, dass Mose und Jesus nicht nur göttliche Offenbarung auslegen, sondern auch göttliche Offenbarung konstituieren. Darum erklärt Jesus in Johannes 6,38-40: „Denn ich bin vom Himmel herabgekommen, nicht um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. ... Denn das ist der Wille meines Vaters, dass jeder, der den Sohn sieht und an ihn glaubt, ewiges Leben habe; und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag ...“.
Dies ist die grundlegende Botschaft des Gebetes Jesu in Johannes 17, welche die lange Belehrung der Jünger beschließt. In diesem Gebet fasst Jesus seine Sendung so zusammen:
Johannes 17,6-8
6 Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und mir hast du sie gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt. 7 Jetzt haben sie erkannt, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. 8 Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und haben wirklich erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie sind zu dem Glauben gekommen, dass du mich gesandt hast.
Jesus stellt auch einige Anfragen an Gott. Er bittet für sich selbst um Gottes Segen und dass Gott ihn schützen möge „vor dem Bösen“ (Joh 17,15) und sie in der Wahrheit heilige (Joh 17,17). Er bittet, dass „dort, wo ich bin, auch all jene sind, die du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit schauen“ (Joh 17,24). Diese Segenswünsche werden nicht nur auf die noch elf Jünger bezogen, die seine Abschiedsreden gehört haben, sondern auch auf die, die „glauben werden an mich durch ihr Wort“ (Joh 17,20), also die zukünftigen Glaubenden, die „nicht gesehen haben, aber doch glauben“ (Joh 20,29).
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Warum wird Jesus als Rabbi dargestellt?
Als ihr Rabbi legt Jesus also den göttlichen Willen – wie er sich in der Tora und in Jesu Worten und Taten ausdrückt – für seine Gemeinde aus, das heißt für die, die ihn anerkennen als einen, der spirituelle Autorität hat und seine privilegierte Stellung hinsichtlich seines Verhältnisses zwischen Gott und der Menschheit akzeptieren. Darum können wir nun zu der Frage zurückkehren, warum Jesus mit einem so spezifisch und exklusiv mit dem Judentum verknüpften Begriff „Rabbi“ bezeichnet wird, während das Evangelium zugleich sorgfältig darauf achtet, Jesus, seine Jünger und in der Tat alle Gläubigen vom Judentum und seinen Institutionen wie etwa dem Tempel und der Synagoge zu dissoziieren.
Eine Antwort könnte im Motiv der Ersetzung gefunden werden, zu dem viele Forscher sich geäußert haben. Jesus wird im Evangelium durchgehend als einer porträtiert, der vertraute Institutionen ersetzt. In der johanneischen Version der Tempelreinigung etwa deutet Jesus den Tempel neu als seinen Leib und evoziert so die Zerstörung des Tempels, die noch nicht zur Zeit Jesu stattgefunden hat, aber aus Sicht der ersten Adressaten des Evangeliums in jüngster Vergangenheit stattgefunden hatte. Nachdem er Unruhe im Tempel hervorgerufen hat, fordern die Juden Jesus heraus: „Was für ein Zeichen kannst du uns vorweisen, dass du dies tun darfst?“. Jesus antwortet ihnen: „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten.“ Darauf sagen die Juden: „Sechsundvierzig Jahre wurde an diesem Tempel gebaut, und du willst ihn in drei Tagen aufrichten? Er aber sprach von seinem Leib als dem Tempel“ (Joh 2,18-21). Die zentrale Bedeutung des Tempels wird auch in seinem Dialog mit der samaritanischen Frau in Frage gestellt. In ihm besteht Jesus darauf, dass der Gottesdienst nicht länger auf den Tempelberg konzentriert sein wird. Vielmehr sagt er: „Aber die Stunde kommt, und sie ist jetzt da, in der die wahren Beter in Geist und Wahrheit zum Vater beten werden, denn auch der Vater sucht solche, die auf diese Weise zu ihm beten“ (Joh 4,23). Jesus selbst ist Geist und Wahrheit. Zukünftig wird der Gottesdienst also auf ihn konzentriert sein und nicht auf einen bestimmten geographischen Ort.
Am wichtigsten ist, dass Jesu Kommen die Bedingungen von Gottes Bundesverhältnis zur Menschheit geändert hat. Vor Jesu Kommen waren es die Juden, die einen privilegierten Status als Gottes erwähltes Volk aufgrund ihrer Verwerfung des Götzendienstes und der Annahme der Tora als des offenbarten Willens Gottes hatten. Nachdem Jesus gekommen ist, sind es diejenigen, die an Jesus als Messias und Gottessohn glauben, die sich eines besonderen Bundesverhältnisses erfreuen. Das ist der zentrale Punkt der komplexen und schwierigen Rede in Johannes 8. In ihr macht Jesus den Anspruch der Juden auf eine Vorrangstellung im Blick auf den Bund als Kinder Abrahams zunichte, die die Verehrung anderer Götter verworfen haben. Er erklärt, dass ihre Verwerfung Jesu zum Ausdruck bringt, dass sie alles andere als Gotteskinder (Joh 8,41) sind, sondern den Teufel als ihren Vater haben (Joh 8,44).
In diesem Zusammenhang ist es nicht schwer zu vermuten, dass der Rabbi Jesus, der seine Auslegungen direkt von Gott erhält, die herkömmlichen Rabbis oder Lehrer ersetzt, die sich jahrelang mit Lernen beschäftigen müssen, bevor ihre Auslegungen von Gottes Willen als autoritativ angesehen werden. Das Evangelium behauptet jedoch nicht nur, dass Jesus bloß ein überlegener Rabbi ist, der eine bessere Informationsquelle bezüglich der angemessenen Schriftauslegung besitzt. Denn Jesus legt nicht nur die göttlich Offenbarung aus, er ist selbst sowohl Inhalt als auch Vermittler der göttlichen Offenbarung. Entsprechend sagt Jesus zu den Juden, die nicht an ihn glauben in Joh 8,28: „Wenn ihr den Menschensohn erhöht habt, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin und dass ich von mir aus nichts tue, sondern so rede, wie mich der Vater gelehrt hat.“
Diese Idee und ihre Konsequenzen für die Menschheit werden sogar noch deutlicher in Johannes 12,48-50 sichtbar: „Wer mich verwirft und meine Worte nicht annimmt, der hat schon seinen Richter. Das Wort, das ich gesprochen habe, das wird ihn richten am Jüngsten Tag. Denn ich habe nicht aus mir selbst geredet, sondern der Vater, der mich gesandt hat, hat mir aufgetragen, was ich sagen und was ich reden soll. Und ich weiß, dass sein Auftrag ewiges Leben heißt. Was ich also sage, sage ich so, wie es mir der Vater gesagt hat.“ Wenn Jesu Worte die Worte Gottes sind, dann ist er sowohl der Inhalt wie der Vermittler der göttlichen Offenbarung. Er ist der Rabbi, der den göttlichen Willen dem Volk auslegt und daher derjenige, der selbst die Offenbarung konstituiert. Zu hören, zu horchen, zu gehorchen und zu glauben – das ist es, was ewiges Leben garantiert.
Fazit
Die Bezeichnung Jesu als Rabbi im Johannesevangelium mag oder mag auch nicht eine echte historische Reminiszenz sein, die zurückdatiert werden kann in das Leben Jesu selbst. Aber sie ist ebenso eine wichtige rhetorische Funktion im Licht des Evangeliums und seines Abfassungszwecks insgesamt. Wie wir gesehen haben, zielt das Evangelium darauf ab, eine entscheidende Rolle im Leben seiner Leser zu spielen, und zwar als Grundlegung ihres Glaubens an Jesus als Messias und Gottessohn und damit als Basis ihrer Hoffnung auf ewiges Leben. Für die johanneische Gemeinde und in der Tat auch für alle späteren Leser legt das Evangelium Zeugnis ab für – ja, man könnte sogar sagen, verkörpert es – die Worte und Taten Jesu, indem es sie für die Nachwelt aufbewahrt und so späteren Generationen, die ihn nicht direkt kennengelernt haben, ermöglicht, Jesus ihrerseits zu begegnen. Sofern all dies eine plausible Konstruktion der Rolle des Buches im Leben der Gemeinde ist, dann könnte man noch einen Schritt weiter gehen und annehmen, dass das Buch einen Status als Schrift hatte, nicht weil es bereits als autoritativ von den Kirchenvätern anerkannt war, sondern weil es den Logos, das göttliche Wort von Gott, aufgezeichnet hat. Indem das Evangelium Jesus als Rabbi konzipiert, könnte es die Aufmerksamkeit auf seinen eigenen besonderen Status lenken, und zwar erstens, indem es den Lesern seinen Inhalt als des Rabbis autoritative Auslegung des göttlichen Willens vorstellt, und zweitens, indem es anzeigt, dass es – wie die Predigten und Lehren anderer jüdischer Lehrer oder Meister – von der Gemeinde im Kontext regelmäßiger liturgischer Versammlungen gebraucht werden soll.
ANMERKUNGEN
1 Https://www.youtube.com/watch?v=kscCIQCyMdQ vom 3. Juni 2014.
2 Http://hirhurim.blogspot.ca/2009/12/jewish-jesus-iii.html.
3 Siehe etwa: Andreas J. Kostenberger, Jesus as Rabbi in the Fourth Gospel, Bulletin for Biblical Research 8 (1998), 97-128.
4 Bruce Chilton, Rabbi Jesus. An Intimate Biography, New York 2000.
5 Ann Spangler/Lois Tverberg, Sitting at the Feet of Rabbi Jesus. How the Jewishness of Jesus Can Transform Your Faith, Grand Rapids 2009.
6 Lois Tverberg/Ray Vander Laan/Ann Spangler, Walking in the Dust of Rabbi Jesus. How the Jewish Words of Jesus Can Change Your Life, Grand Rapids 2012.
7 William E Phipps, The Wisdom & Wit of Rabbi Jesus, Louisville 1993.
8 Unter den zahlreichen Büchern zum Juden Jesus vgl. z.B. Géza Vermès, Jesus the Jew. A Historian’s Reading of the Gospels, Philadelphia 1981; E. P Sanders, Jesus and Judaism, Philadelphia 1985; Paula Fredriksen, Jesus of Nazareth, King of the Jews. A Jewish Life and the Emergence of Christianity, New York 1999; Amy-Jill Levine, The Misunderstood Jew. The Church and the Scandal of the Jewish Jesus, San Francisco 2006. Auch: John P. Meier, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, New York 1991.
9 Bruce Chilton, The Gospel according to John’s Rabbi Jesus. Paper delivered at the Society of Biblical Literature Annual Meeting, Baltimore 2013.
10 H. Lapin, Art. Rabbi, Anchor Bible Dictionary 5, 1992, 600-602
Die Autorin
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Professorin am Department of Classics and Religious Studies an der Universität von Ottawa (Kanada) und General Editor des Journal of Biblical Literature. Die Hauptbereiche ihrer Forschung sind Neues Testament, frühe jüdisch-christliche Beziehungen, Bibel und Film und feministische Bibelkritik. Sie ist Autorin zahlreicher Artikel und Bücher; dazu gehören Befriending the Beloved Disciple: A Jewish Reading of the Gospel of John (Continuum, 2001), Scripture on the Silver Screen (Westminster John Knox, 2003), Jesus of Hollywood (Oxford, 2007), Caiaphas the High Priest (University of South Carolina Press, 2011; Fortress 2012) und Bible and Cinema: An Introduction (Routledge, 2013). Adele Reinhartz wurde zum Mitglied der Royal Society of Canada (2005) und der American Academy of Jewish Research (2014) gewählt. Auf Deutsch erschien 2005: Freundschaft mit dem geliebten Jünger. Eine jüdische Lektüre des Johannesevangeliums (TVZ Zürich). Siehe auch: Compass-Online Extra Nr. 24
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