ONLINE-EXTRA Nr. 24
© 2005 Copyright bei Autor und Übersetzerin
Das nachfolgend wiedergegebene Interview erschien in der Wochen-endbeilage der israelischen Tageszeitung "Haaretz", am 18.11.2005, S. 26-32. Es wurde von Edna Brocke aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt.
COMPASS dankt der Übersetzerin sowie der Zeitschrift "Kirche und Israel" für die Genehmigung zur Vorab-Online-Wiedergabe an dieser Stelle!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 24
Der jüdische Philosoph Alain Finkielkraut, einer der führenden Intellektuellen in Frankreich und der Bannerträger des Kampfes gegen den „Neuen Antisemitismus“ möchte zur Zeit nichts über französischen Rassismus, über Armut und Benachteiligung hören. Er möchte von diesem verlogenen Diskurs verschont bleiben. Aus seiner Sicht ist alles klar: Obwohl Frankreich viel für die getan hat, hassen es die Kinder der muslimischen Migranten. So ist es in ihrer Kultur. Die bürgerlichen Feingeister und die sanften Schulen bestärken sie darin – und Frankreich geht zum Teufel.
Das erste, was der französisch-jüdische Philosoph Alain Finkielkraut uns sagte, als wir uns eines Abends im eleganten Pariser Kaffee Le Rostand trafen, dessen Innenraum mit orientalischen Bildern geschmückt ist, dessen Terrasse den Jardin du Luxemburg gegenüber liegt, lautete: „Ich hörte, dass sogar Haaretz einen Artikel veröffentlichte, der sich mit den Unruhen identifiziert. “
Diese Bemerkung, mit einiger Vehemenz geäußert, fasst die Gefühle Finkielkrauts zusammen – einer der prominentesten Philosophen in Frankreich in den letzten 30 Jahren – seitdem die heftigen Unruhen am 27. Oktober in den verarmten Stadtteilen rund um Paris anfingen, und sich überraschend schnell in ähnlichen Vororten landesweit ausbreiteten. Er verfolgt die Ereignisse über die Medien, informiert sich über jede Nachricht und jeden Kommentar und ist schockiert über jeden Artikel, der Verständnis oder gar Identifizierung mit „den Aufständischen“ zeigt (und derer gibt es zahlreiche in der französischen Presse). Er hat viel zu sagen, aber es scheint, dass Frankreich nicht bereit ist, zu hören - dass sein Frankreich bereits von einem „verlogenen Diskurs“ erobert ist, der es blind dafür macht um die harte Realität seiner Situation zu sehen. Die Dinge, die er zu uns im Verlauf unseres Gespräches sagen wird, hebt er wiederholt hervor, kann er in Frankreich nicht mehr sagen. Es ist unmöglich, ja sogar gefährlich, diese Dinge in Frankreich jetzt zu sagen.
In der Tat ist Finkielkrauts Stimme in der lebhaften Debatte, an der die wichtigsten zeitgenössischen Intellektuellen Frankreichs – seit Beginn der Unruhen – in der französischen Presse teilnehmen, eine abweichende, sogar sehr abweichende Stimme. Dies vor allem deshalb, weil sie nicht aus der Kehle eines Mitgliedes der Front National von Jean Marie Le Pen kommt, sondern von einem Philosophen, der zuvor als einer der bekanntesten Wortführer der französischen Linken bekannt war, der zur Generation der Philosophen gehört, die in der Zeit des „Studentenaufstandes“ vom Mai 1968 heranwuchsen.
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In der französischen Presse werden die Unruhen in den Vorstädten primär als ein Wirtschaftsproblem, als eine gewalttätige Reaktion auf ökonomische Härten sowie auf Diskriminierung wahrgenommen. In Israel hingegen, gibt es zuweilen eine Tendenz, sie als Gewalttätigkeit anzusehen, deren Ursprünge religiös oder zumindest ethnisch sind, d.h., man sieht sie zuweilen als Teil eines islamischen Kampfes. Wo würden Sie sich – in Bezug auf diese Positionen – platzieren?
Finkielkraut: „In Frankreich, möchte man diese Unruhen auf ihre soziale Dimension reduzieren. Man möchte sie als einen Aufstand von Jugendlichen aus den Vororten sehen, die sich gegen ihre Situation, gegen die Diskriminierung, unter der sie leiden und gegen die Arbeitslosigkeit wenden. Das Problem ist, dass die meisten dieser Jugendlichen Schwarze oder Araber sind, mit moslemischer Identität. Schauen Sie, in Frankreich gibt es auch andere Immigranten, deren Situation schwierig ist, - Chinesen, Vietnamesen, Portugiesen – sie alle nehmen nicht an den Unruhen teil. Folglich ist es klar, dass dies ein Aufruhr mit ethno-religiösem Charakter ist.“
„Was ist sein Ursprung? Ist dies die Antwort von Arabern und Schwarzen auf Rassismus, dessen Opfer sie sind? Ich bin nicht dieser Meinung, weil diese Gewalttätigkeit sehr beunruhigende Vorläufer hatte, die man nicht auf eine reine Reaktion gegenüber französischem Rassismus reduzieren kann.“
„Nehmen wir z.B. die Ereignisse beim Fußballspiel zwischen Frankreich und Algerien vor einigen Jahren. Das Spiel fand in Paris, im Stade De France, statt. Man sagt uns, dass die französische Nationalmannschaft von allen bewundert wird, weil sie black-blanc-beur ist ["Schwarz-weiß-Araber" – eine Paraphrase auf die Farben der französischen Flagge, der tricolor und als Symbol des Multikulturalismus der französischen Gesellschaft. D.M.]. In Wirklichkeit ist die Nationalmannschaft heute schwarz-schwarz-schwarz, was Spott in Europa weckt. Wenn Sie dieses in Frankreich herausstellen, werden Sie inhaftiert, aber es ist dennoch interessant, dass die französische Fußballnationalmannschaft fast ausschließlich aus schwarzen Spielern besteht.“
„Trotzdem wird diese Mannschaft als Symbol einer offenen, multiethnischen Gesellschaft wahrgenommen. Die Stadionbesucher, junge Leute algerischer Herkunft, buhten diese Mannschaft während des gesamten Spiels aus! Sie buhten auch während des Abspielens der Nationalhymne, der ‚Marseillaise’. Das Spiel wurde unterbrochen, als die Jugendlichen mit algerischen Flaggen auf das Feld drangen.
„Darüber hinaus gibt es die Texte der Raplieder. Besorgniserregende Texte. Ein wahrer Aufruf zum Aufruhr. Es gibt jemanden, der Dr. R. genannt wird, der singt: ‚Ich pisse auf Frankreich’, ‚Ich pisse auf De Gaulle’ und so weiter. Dies sind sehr aggressive Äußerungen des Hasses auf Frankreich.“
„Dieser Hass und diese Gewaltbereitschaft entladen sich jetzt in den Unruhen. Darin eine Antwort auf französischen Rassismus sehen zu wollen, bedeutet, blind zu sein gegenüber dem grundsätzlichen Hass gegenüber dem Westen, der an allen Verbrechen schuld sei. Dem ist Frankreich heute ausgesetzt.“
Heißt das Ihrer Meinung nach, dass diese Unruhen nicht gegen Frankreich, sondern gegen den gesamten Westen gerichtet sind?
„Nein. Sie richten sich gegen Frankreich als ehemalige Kolonialmacht, gegen Frankreich als europäisches Land, gegen Frankreich mit seiner christlichen oder jüdisch-christlichen Tradition.“
Einen langen Weg hat Alain Finkielkraut, 56, seit den Ereignissen vom Mai 1968 bis zu den Unruhen vom Oktober 2005 zurückgelegt. Als Absolvent einer der wichtigsten Brutstätten französische Intellektueller, der Ecole Normale Superieure, wird Finkielkraut seit den frühen siebziger Jahren einer Gruppe, die als „die Neuen jungen Philosophen“ bekannt ist (Bernard-Henri Levy, André Glucksman, Pascal Bruckner und andere), zugerechnet. Es ist eine Gruppe junger Philosophen, viele von ihnen jüdisch, die kritisch mit der marxistischen Ideologie vom Mai 1968 und mit der französischen kommunistischen Partei gebrochen haben, und deren Auswirkung auf die französische Kultur und Gesellschaft anprangerten.
1987 veröffentlichte er sein Buch „Die Niederlage des Denkens“ in welchem er seine Ablehnung der postmodernen Philosophie, mit ihrer Auflösung der Grenzen zwischen hoher und niedriger Kultur und ihrem kulturellen Relativismus begründete. Daraufhin begann man ihn als einen „konservativen“ Philosophen abzustempeln: als scharfen Kritiker aller intellektuellen Strömungen von Multikulturalität wie Postkolonialismus, als jemanden, der eine Rückkehr Frankreichs zu republikanischen Werten predigte. In der Kopftuch-Debatte, die Frankreich in den letzten Jahren umtrieb, gehörte Finkielkraut zu den entschiedenen Verteidigern des umstrittenen Gesetzes.
Mit der Zeit wurde er auch zum Symbol des „engagierten Intellektuellen“, den Jean-Paul Sartre nach dem Krieg prägte – ein Philosoph, der sich nicht scheut, am politischen Leben teilzunehmen, der in Zeitungen schreibt und Interviews gibt, der sich für humanitäre Ziele einsetzt wie der Protest gegen die ethnischen Säuberungen in Bosnien oder beim Gemetzel in Ruanda. Die Gefahr, der er sich heute, im Licht der Unruhen, entgegen stellt, ist der wachsende Hass gegen den Westen und dessen Durchdringen des französischen Schulwesens.
Denken Sie, dass die Quelle des Hasses gegen den Westen unter jenen Franzosen, die an den Unruhen teilnehmen, in der Religion liegt, im Islam?
„Wir müssen in dieser Frage klar sein. Es ist eine sehr schwierige Frage und wir müssen uns bemühen, die Sprache der Wahrheit beizubehalten. Wir neigen dazu, die Sprache der Wahrheit zu fürchten – aus ‚noblen’ Gründen. Wir ziehen es vor, von den ‚Jugendlichen’ anstelle von den ‚Schwarzen’ oder von den ‚Arabern’ zu sprechen. Man darf aber die Wahrheit nicht opfern, egal wie nobel die Gründe sein mögen. Selbstverständlich muss man sich vor Verallgemeinerungen hüten: Es handelt sich nicht um Schwarze und Araber in ihrer Gesamtheit, sondern um einen Teil der Schwarzen und Araber. Selbstverständlich spielt die Religion – nicht als Religion an sich, sondern als Anker der Identität – eine wichtige Rolle. Die Religion, so wie sie im Internet, in den arabischen Fernsehsendern erscheint, wo sie einigen dieser Jugendlichen als Anker der Identität dient.“
„Anders als andere spreche ich nicht von einer ‚Intifada’ der Vororte, und ich denke, man sollte diese Sprache nicht verwenden. Gleichwohl stelle ich fest, dass auch sie die Allerjüngsten in die vorderen Linien des Kampfes schicken. Sie haben das in Israel gesehen – sie schicken die Jüngsten zur Frontlinie, weil man sie ihres jungen Alters wegen nicht inhaftieren kann. Hier gibt es aber noch keine Bomben und wir befinden uns in einem anderen Stadium: Ich denke, dass es das Stadium des anti-republikanischen Pogroms ist. Es gibt in Frankreich Menschen, die Frankreich als Republik hassen.“
Aber warum? Aus welchem Grund?
„Weshalb haben Teile der arabisch-muslimischen Welt dem Westen den Krieg erklärt? Die Republik ist die französische Version von Europa. Sie und jene, die sie rechtfertigen, behaupten, es sei eine Folge des Zusammenbruchs des Kolonialismus. Mag sein, aber man darf nicht vergessen, dass die Integration der arabischen Arbeiter in Frankreich während der Zeit der Kolonialreiches viel einfacher war. Will sagen: Es handelt sich um einen verspäteten Hass. Ein Hass im Nachhinein.“
„Wir sind Zeugen einer islamischen Radikalisierung, die man umfassend in ihrer Ganzheit erklären muss, bevor man zu dem französischen Fall kommt. Es ist eine Kultur, die, anstatt sich mit ihren eigenen Problemen zu beschäftigen, externe Schuldige sucht. Es ist einfacher, einen externen Schuldigen zu finden. Es ist verführerisch, sich selbst zu sagen, dass Frankreich einen vernachlässigt, und zu sagen, ‚Gebt mir, gebt mir’. Es hat für niemanden so funktioniert. Es kann eben nicht funktionieren.“
Aber was Finkielkraut stärker als dieser „Hass gegen den Westen“ zu stören scheint, ist seine Internalisierung im französischen Schulwesen und die Identifizierung der französischen Intellektuellen mit dieser Haltung. Diese Internalisierung und Identifizierung, die sichtbar werden im Verständnis für die Ursachen der Gewalttätigkeit und die postkoloniale Haltung, die das Schulwesen durchdringen, bedrohen Frankreich als Ganzes, aber auch die Juden dieses Landes, weil diese Haltung die Infrastruktur für den „Neuen Antisemitismus“ schafft.
„In den Vereinigten Staaten sind wir Zeugen einer Islamisierung der Schwarzen. Es war Louis Farrakhan, in Amerika, der zum ersten Mal erklärte, die Juden hätten eine zentrale Rolle bei der Einrichtung der Sklaverei gespielt. Und der Hauptwortführer dieser Theologie in Frankreich heute ist Dieudonné [ein schwarzer Stand-Up-Künstler, der mit seinen antisemitischen Aussagen einen Aufschrei auslöste D.M.]. Er ist heute der wahre Chef des Antisemitismus in Frankreich und nicht die Front National Le Pens.“
„Anstatt sein Gerede in Frankreich zu bekämpfen, folgen sie seinen Forderungen und ändern im Geschichtsunterricht die Aussagen über die Kolonialgeschichte und die Geschichte der Sklaverei. Heute wird die Kolonialgeschichte ausschließlich als negative Geschichte gelehrt. Es wird nicht mehr aufgezeigt, dass das Kolonialprojekt auch auf Export der europäischen Zivilisation zielte. Es wird lediglich und ausschließlich von Ausbeutung, Herrschaft und Ausplünderung gesprochen.“
„Aber was will Dieudonné wirklich? Er will auch einen ‚Holocaust’ für die Araber und für die Schwarzen. Doch wenn man den Holocaust mit der Sklaverei auf eine Ebene stellen will, muss man lügen. Die Sklaverei war kein Holocaust. Und der Holocaust war kein „Verbrechen gegen die Menschheit”, weil es nicht nur ein Verbrechen war. Es war etwas Ambivalentes. Das gleiche gilt für die Sklaverei. Sie begann lange vor „dem Westen”. Im Grunde, was den Westen – im Hinblick auf die Sklaverei – betrifft, so war es gerade der Versuch, die Sklaverei zu beenden. Die Aufhebung der Sklaverei ist eine europäische und amerikanische Angelegenheit. Diese Wahrheit darf nicht mehr in den Schulen unterrichtet werden.“
„Deshalb betrüben mich diese Ereignisse so sehr, und weniger, weil sie geschahen. Schließlich musste man blind und taub gewesen sein, um nicht vorherzusehen, dass sie geschehen würden. Die Erklärungen, die sie begleiteten, betrüben mich. Sie waren ein entscheidender Schlag gegen das Frankreich, das ich liebte. Ich habe immer gesagt, dass ein Leben für Juden in Frankreich unmöglich werden wird, wenn die Frankophobie siegen wird. Und das ist es, was geschehen wird. Die Juden verstehen, was ich eben gesagt habe. Plötzlich schauen sie um sich herum und sehen all diese ‚bobos’ (französischer Slang für bourgeois-bohemians), die Loblieder auf die ‚Ausgebeuteten dieser Erde’ singen (Finkielkraut verweist damit auf ein Buch des in Martinique geborenen antikolonialistischen Philosophen Franz Fanon. D.M.) und fragen sich: Was ist mit diesem Land? Was ist ihm passiert?“
Da Sie es als einen muslimischen Angriff betrachten - wie erklären Sie die Tatsache, dass Juden bei den jüngsten Angriffen nicht attackiert wurden?
„Zunächst heißt es, dass tatsächlich eine Synagoge angegriffen wurde. Doch meine ich, dass das, was wir erlebt haben, ein anti-republikanischer Pogrom war. Man sagt uns, dass diese Stadtteile vernachlässigt seien und die Bewohner Not litten. Welche Verbindung gibt es zwischen Armut und Verzweiflung einerseits und der Zerstörung, und dem Anzünden von Schulen andererseits? Ich glaube, Juden würden so etwas nicht tun.“
„Was Juden verbindet – die säkularen, religiösen, Peace Now, Gross-Israel – ist ein Wort: Schul (= Synagoge, hier als religiöser Lernort verwendet). Dies hält uns Juden zusammen. Und ich war erschüttert durch diese wiederkehrenden Handlungen und noch stärker erschüttert durch das Verständnis, mit dem diese Taten in Frankreich aufgenommen worden sind. Diese Leute wurden wie Rebellen, wie Revolutionäre behandelt. Dies ist das Schlimmste, was meinem Land passieren konnte, weshalb es mir richtig schlecht geht. Der einzige Weg zur Überwindung ist, sie dazu zu bringen, sich zu schämen. Scham ist der Ausgangpunkt der Ethik. Anstatt sie dazu zu bringen, sich zu schämen, haben wir ihr Tun legitimiert. Sie sind ‚interessant’. Sie sind die ‚Unterdrückten dieser Erde’.“
„Stellen Sie sich für einen Moment vor, es wären Weiße, wie in Rostock. Sofort würde jeder sagen: ‚Faschismus kann nicht toleriert werden’. Wenn ein Araber eine Schule anzündet, ist es Rebellion. Wenn ein Weißer es tut, ist es Faschismus. Ich bin ‚farbenblind’. Das Böse ist böse, egal, welche Farbe es hat. Und dies ist Böses. Für mich als Jude ist dies vollkommen unannehmbar.“
„Mehr noch. Hier ist ein Widerspruch. Wären diese Stadtteile wirklich völlig vernachlässigt, gäbe es dort keine Gymnasien zum Anzünden, keine Schulen, keine Busse. Wenn es aber Gymnasien, andere Schulen und Busse gibt, so deshalb, weil sich jemand bemüht hat. Vielleicht nicht ausreichend, aber immerhin.“
Gewiß. Aber die Arbeitslosigkeit in den Vororten ist extrem hoch. Fast 40% der jungen Menschen im Alter von 15-25 haben keine Chance, einen Job zu finden.
„Lassen Sie uns für einen Moment zur ‚Schul’ zurückkehren. Wenn Eltern ihr Kind zur Schule schicken, tun sie es, damit es einen Job findet? Ich wurde zur Schule geschickt, damit ich lerne. Kultur und Bildung haben eine Rechtfertigung an sich. Man geht zur Schule, um zu lernen. Das ist der Sinn von Schule. Diese Leute, die Schulen zerstören – was sagen sie in Wirklichkeit? Ihre Botschaft ist kein Schrei um Hilfe oder die Forderung nach zusätzlichen bzw. besseren Schulen. Es ist der Wunsch, die Vermittler zwischen ihnen und den Objekten ihrer Begierde zu zerstören. Und welches sind die Objekte ihrer Begierde? Sehr einfach: Geld, Markenkleider, manchmal Mädchen. Dies ist sicherlich etwas, wofür unsere Gesellschaft Verantwortung trägt. Denn sie wollen alles, sofort, und was sie wollen, ist, das Ideal der Konsumgesellschaft. Es ist das, was sie im Fernsehen sehen.“
Finkielkraut – wie sein Name zeigt – ist selbst Sohn einer Einwandererfamilie. Seine Eltern kamen aus Polen nach Frankreich. Deren Eltern wurden in Auschwitz ermordet. In den letzten Jahren ist sein Judentum auch in seinen Schriften zu einem zentralen Thema geworden, besonders nach dem Beginn der Zweiten Intifada und dem Anstieg des Antisemitismus in Frankreich. Er ist einer der führenden Vorkämpfer gegen den Antisemitismus in Frankreich und einer der prominentesten Unterstützer Israels und seiner Politik angesichts der zahlreichen Kritiker in Frankreich.
Seine Bedeutung als wichtigster Sprecher der jüdischen Gemeinschaft in Frankreich wuchs, insbesondere seit er eine wöchentliche Talkshow auf JCR, einem der vier jüdischen Radiosender im Land, übernommen hat. In seinem Programm diskutiert Finkielkraut aktuelle Themen – in der Zeit der Unruhen in den Vorstädten natürlich diese.
Auf Grund seiner Stellung als einer der meist gehörten jüdischen Intellektuellen Frankreichs wird seine Meinung großen Einfluss haben auf die Weise, wie in der französischen Judenheit diese Ereignisse bewertet werden. Womöglich auch über die zukünftige Beziehung zwischen der jüdischen und der muslimischen Gemeinschaft. Ausgerechnet dieser jüdische Philosoph als entschiedener Kämpfer gegen den Antisemitismus hat die jüngsten Ereignisse zum Anlass genommen, Krieg gegen den „Krieg gegen Rassismus“ zu erklären.
„Ich bin in Paris geboren worden, aber ich bin Sohn polnischer Einwanderer. Mein Vater wurde aus Frankreich deportiert. Seine Eltern wurden deportiert und ermordet. Mein Vater kam von Auschwitz nach Frankreich zurück. Dieses Land verdient unseren Hass. Was es meinen Eltern angetan hat, war weit gewalttätiger als das, was es den Afrikanern angetan hat. Was hat es den Afrikanern angetan? Nur Gutes. Meinen Vater haben sie für fünf Jahre in die Hölle gesteckt – aber ich wurde nie zum Hassen erzogen. Und der Hass, den die Schwarzen heute hegen, ist sogar noch größer als der der Araber.“
KIRCHE UND ISRAEL
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Sagen gerade Sie, der Sie gegen judenfeindlichen Rassismus kämpfen, dass Diskriminierung und Rassismus, von dem diese jungen Menschen sprechen, in Wirklichkeit gar nicht existiert? Aus dem Hebräischen übersetzt von Edna Brocke.
„Natürlich existiert Diskriminierung. Und natürlich gibt es französische Rassisten, Franzosen, die weder Araber noch Schwarze mögen. Sie würden sie noch weit weniger mögen, wenn sie wüssten, wie sehr sie von ihnen gehasst werden. Diese Diskriminierung wird somit nur noch ansteigen, auch hinsichtlich des Wohnens und Arbeitens.“
„Nun stellen Sie sich vor, Sie leiten ein Restaurant, Sie sind Antirassist und glauben, dass alle Menschen gleich sind – und Sie sind auch jüdisch. Mit anderen Worten: Über Ungleichheit unter den Menschenrassen zu sprechen, ist für Sie ein Problem. Stellen wir uns nun vor, es kommt ein junger Mann aus den Vororten und möchte bei Ihnen als Kellner arbeiten. Er spricht die Sprache der Vororte. Sie werden ihn nicht einstellen. Es ist ganz einfach. Sie werden ihn deshalb nicht einstellen, weil es unmöglich ist. Er muss Sie repräsentieren – dies erfordert Disziplin, gute Manieren und einen gewissen sprachlichen Umgang. Ich kann Ihnen sagen, dass französische Weiße, die den Verhaltenscode der Vororte nachahmen – so etwas gibt es wirklich – werden genau dem gleichen Problem begegnen. Der einzige Weg, Diskriminierung zu bekämpfen, liegt in der Wiederherstellung der Forderungen, in der Strenge der Erziehung. Dies ist der einzige Weg. Doch darf man auch dies nicht laut sagen. Ich kann es nicht. Das sind Einsichten des gesunden Menschenverstandes, doch bevorzugt man, ihm den Mythos des ‚französischen Rassismus’ gegenüber zu stellen. Dies ist falsch.“
„Wir leben heute in einer Umgebung des ‚immerwährenden Kampfes gegen Rassismus’, doch muss auch das Wesen dieses Antirassismus untersucht werden. Am Radio hörte ich jemanden, der Innenminister Sarkozy widersprach in seiner Absicht, jeden auszuweisen, der keine französische Staatsangehörigkeit besitzt, an den Unruhen teilgenommen hat und verhaftet worden ist. Und wie argumentierte er? Dass dies ‚ethnische Säuberung’ sei. Während des Krieges in Jugoslawien habe ich die ‚ethnischen Säuberung’ gegenüber den Moslems in Bosnien bekämpft. Keine einzige muslimische Organisation aus Frankreich stellte sich an meine Seite. Sie rührten sich nur, um die Palästinenser zu unterstützen. Jetzt über ‚ethnische Säuberung’ sprechen ? Es gab keinen einzigen Toten bei diesen Unruhen. Im Grunde gab es zwei – doch dies war ein Unfall. Sie wurden nicht verfolgt, sondern flohen in einen elektrischen Transformator, auf dem riesige Warnschilder angebracht waren.“
„Ich denke, dass die pathetische Vorstellung des ‚Krieges gegen Rassismus’ sich allmählich in eine scheußlich falsche Ideologie verkehrt. Der Antirassismus wird für das 21. Jahrhundert das werden, was der Kommunismus im 20. war: Eine Quelle der Gewalt. Heute werden Juden im Namen des antirassistischen Diskurses angegriffen, etwa der ‚Sperrzaun’ oder die UNO-Resolution ‚Zionismus ist Rassismus’.“
„Das gleiche gilt in Frankreich. Man muss sich vor der antirassistischen Ideologie hüten. Gewiss, es gibt ein Diskriminierungsproblem. Es gibt xenophobische Reflexe, das stimmt, doch die Ereignisse in Frankreich als Antwort auf Rassismus zu beschreiben, ist vollkommen falsch. Vollkommen falsch.“
Was halten Sie von den Schritten der französischen Regierung, um die Gewalt zu bannen? Dem Ausnahmezustand, der Ausgangssperre?
„Das ist normal. Was wir erlebt haben, ist schrecklich. Man muss verstehen, dass jene, die am wenigsten Macht in der Gesellschaft haben, die Herrschenden sind. Ja, sie sind verantwortlich, für die Bewahrung der Ordnung. Und dies ist wichtig, denn ohne sie würden irgendwelche Selbstschutzorganisationen entstehen und Menschen würden schießen. So erhalten sie die öffentliche Ordnung und tun dies mit größter Vorsicht. Man müsste den Hut vor ihnen ziehen.“
„Im Mai 1968 gab es eine gänzlich harmlose Bewegung, verglichen mit der, die wir nun sehen, und die Gewalt war auf Seiten der Polizei. Hier schleudern sie Molotovcocktails und schießen regelrecht. Und es gab keine einzige Gewaltanwendung seitens der Polizei. [Seit dem Interview wurden einige Polizeioffiziere unter dem Verdacht der Gewaltanwendung verhaftet. D.M.] Hierfür gibt es keinen Präzedenzfall. Wie soll man die öffentliche Ordnung durchsetzen? Mittels Methoden des ‚gesunden Menschenverstandes’, die übrigens gemäß einer Umfrage der Zeitung La Parisienne von 73% der Franzosen unterstützt werden.“
„Es scheint jedoch zu spät zu sein, sie sich schämen zu lassen, da Radio, Fernsehen und die Zeitungen – jedenfalls die meisten von ihnen – den Aufrührern einen schönenden Spiegel vorhalten. Sie sind ‚interessante’ Menschen, sie pflegen ihr Leid und verstehen es, ihre Verzweiflung verständlich zu machen. Darüber hinaus wird Spektakel pervertiert. Sie zünden Autos an, um sich dies im Fernsehen anzuschauen. Es gibt ihnen das Gefühl, ‚wichtig’ zu sein, dass sie in einem ‚wichtigen’ Stadtteil leben. Das Nachverfolgen dieses Spektakels müsste analysiert werden. Es hat völlig perverse Folgen. Und die Perversion des Spektakels ist begleitet von einer völlig perversen Analyse.“
Seit dem Beginn der Unruhen in den Vororten beschäftigt sich die europäische Presse mit der Multikulturalität, ihren Möglichkeiten und ihren Kosten. Zu dieser Frage – die auch manche Schreiber in Israel beschäftigt – hat sich Finkielkraut schon vor vielen Jahren geäußert. Er wurde zum Verteidiger des republikanischen Modells und des republikanischen Schulwesens, stellte sich gegen intellektuelle Tendenzen, die die französische Gesellschaft und ihr Schulwesen für die kulturelle Vielfalt, die die Migranten mit sich brachten, öffnen wollten. Während einige Intellektuelle die jüngsten Ereignisse als Folge von zu geringer Offenheit gegenüber dem „anderen“ darstellen, sieht Finkielkraut darin den Beweis, dass diese kulturelle Offenheit in einem Desaster enden muss.
„Man sagt, dass das republikanische Modell in diesen Unruhen zusammengebrochen ist. Aber das multikulturelle Modell ist in keinem besseren Zustand. Weder in den Niederlanden noch in Großbritannien. In Bradford und Birmingham gab es ebenfalls Unruhen mit ethnischem Hintergrund. Zum anderen besteht die republikanische Schule – das Symbol des republikanischen Modells – schon seit langem nicht mehr. Ich kenne die republikanische Schule, ich habe in ihr gelernt. Es war eine Institution mit strengen Anforderungen, düster, ein unfreundlicher Ort, der hohe Mauern aufrichtete, um den Lärm von Außen abzuhalten.“
„Dreißig Jahre dummer Reformen haben unsere Landschaft verändert. Die republikanische Schule wurde durch eine ‚pädagogische Gemeinschaft’ ersetzt, die eher horizontal und weniger vertikal ist. Die Curricula wurden vereinfacht, der Lärm von Außen dringt hinein, die Gesellschaft ist in die Schule eingedrungen.“
„Das bedeutet, dass das, was wir heute sehen, das Versagen des ‚netten’ post-republikanischem Modell ist. Das Problem mit diesem Modell liegt darin, dass es sich von seinem eigenem Versagen nährt. Jedes Fiasko bildet den Grund, um noch extremer zu werden. Die Schule wird sogar noch ‚netter’ werden, während angesichts dessen, was wir sehen, Strenge und Anforderungsprofil bereits das Minimum dessen darstellen, was wir fordern müssen. Wenn wir dies nicht tun, werden wir bald ‚Kurse in Kriminalität’ haben.“
„Diese Entwicklung charakterisiert die Demokratie. Die Demokratie als Prozess – und Tocqueville hat dies gezeigt – duldet keine Selbstsucht. Alles muss in der Demokratie demokratisch vollzogen werden. Aber Schule kann so nicht geführt werden. Die Asymmetrie zwischen jenen, die wissen und jenen, die nicht wissen, zwischen jenem, der eine Welt mit sich bringt, und jenem, der neu in dieser Welt ist, ist himmelschreiend.
„Der demokratische Prozess delegitimiert diese Asymmetrie. Die ist ein allgemeiner Prozess in der westlichen Welt, doch in Frankreich erhält er eine pathetischere Form, weil ein Charakteristikum in Frankreich die strenge Erziehung ist. Frankreich wurde um seine Schulen herum aufgebaut.“
Viele der Jugendlichen sagen, das Problem sei, dass sie sich nicht französisch fühlen, dass Frankreich sie nicht wirklich als Franzosen betrachtet.
„Das Problem ist, dass sie sich selbst als Franzosen betrachten sollten. Wenn die Migranten sagen ‚die Franzosen’, wenn sie die Weißen meinen, so sind wir verloren. Wenn ihre Identität anderswo festgemacht wird und sie nur aus utilitaristischen Gründen in Frankreich sind, dann sind wir verloren. Ich muss zugeben, dass auch die Juden beginnen, diese Sprachregelung zu verwenden. Ich höre sie ‚die Franzosen’ sagen – und ich kann das nicht aushalten. Ich sage ihnen: ‚Wenn für euch Frankreich nur nützlich und eure Identität jüdisch ist, dann seid ehrlich mit euch selbst. Ihr habt Israel’. Dies ist in der Tat ein größeres Problem. Wir leben in einer post-nationalen Gesellschaft, in welcher der Staat für jedermann nur noch nützlich ist, eine große Versicherungsgesellschaft. Dies ist eine äußerst ernste Entwicklung.“
„Wenn sie einen französischen Personalausweis haben, sind sie französisch. Und wenn sie das nicht sind, haben sie das Recht zu gehen. Sie sagen: ‚Ich bin kein Franzose. Ich lebe in Frankreich und bin dazu noch in schlechter wirtschaftlichen Lage.’ Niemand hält sie hier. Und genau hier beginnt die Lüge. Denn, wenn sie die Vernachlässigten und Armen wären, wären sie woanders hingegangen. Sie wissen jedoch sehr wohl, dass sie anderswo, im Besonderen in den Ländern, aus denen sie kamen, hinsichtlich ihrer Rechte und Möglichkeiten, schlechter dran wären.“
Das Problem heute ist doch die Integration in die französische Gesellschaft von jungen Männern und Frauen der dritten Generation. Es ist keine neue Welle von Migranten. Sie sind in Frankreich geboren. Sie haben nirgendwo hinzugehen.
„Dieses Gefühl, dass sie keine Franzosen sind, wird ihnen nicht in der Schule vermittelt. Wie Sie vielleicht wissen, sind in Frankreich sogar Kinder, die illegal hier sind, in Schulen eingeschrieben. Da ist etwas überraschendes, etwas paradoxes. Die Schule hätte die Polizei alarmieren können, da das Kind illegal in Frankreich ist. Gleichwohl wird die Illegalität von der Schule nicht berücksichtigt. Es gibt also Schulen und Computer überall. Und dann kommt der Punkt, wo man sich anstrengen muss. Und die Menschen, die die Unruhen anzetteln, sind nicht bereit sich anzustrengen.“
„Nehmen Sie beispielsweise die Sprache. Sie sagen, es handelt sich um die dritte Generation. Wieso sprechen sie dann Französisch, so wie sie es sprechen? Es ist grobschlächtiges Französisch – der Akzent, die Worte, die Syntax. Ist es der Fehler der Schule? Der Lehrer?“
Da die Araber und Schwarzen offenkundig nicht vor haben, Frankreich zu verlassen – was schlagen Sie vor, wie man mit diesem Problem umgehen soll?
„Dieses Problem betrifft alle europäischen Länder. In den Niederlanden sind sie mit dem Problem seit der Ermordung von Theo van Gogh konfrontiert. Die Frage ist nicht, welches das beste Modell von Integration ist, sondern welche Integration kann erreicht werden mit den Menschen, die uns hassen.“
Und was wird in Frankreich geschehen ?
„Ich weiß es nicht. Ich bin verzweifelt. Wegen der Unruhen und wegen der medialen Begleitung. Die Unruhen werden abebben, doch was bedeutet das? Es gibt keine Rückkehr zur Ruhe. Es wird eine Rückkehr zur gewöhnlichen Gewalt sein. Es wird abebben wegen der Ausgangssperre und weil die Ausländer sich fürchten und weil die Drogendealer ebenfalls an der Rückkehr zur gewöhnlichen Ruhe interessiert sind. Aber sie werden Unterstützung und Ermutigung erhalten für ihre anti-republikanische Gewalt, durch die abstoßende Selbstkritik wegen der Sklaverei und der Kolonisierung. Es wird keine Rückkehr zur Ruhe geben, sondern nur zur gewohnten Gewalt.“
Ihre Weltsicht hat also keine Chance mehr?
„Nein. Ich habe verloren. Den Kampf um die Schule habe ich verloren. Es ist interessant, denn wenn ich so spreche, wie ich es jetzt tue, stimmen mir ganz viele Menschen zu. Sehr viele. Doch gibt es etwas in Frankreich, eine Art Leugnung, dessen Ursprung bei den ‚bobos’ liegt, bei den Soziologen und bei den Sozialarbeitern und niemand wagt es, etwas anderes zu sagen. Dieser Kampf ist verloren. Ich bleibe zurück.“
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Der Autor
geboren 1949, gilt als einer der einflussreichsten französischen Intellektuellen. Er ist Professor für Philosophie an der Ecole Polytechnique in Paris und leitet die 1987 von ihm gegründete Zeitschrift Le Messager européen. Zu seinen Hauptwerken zählen: Die neue Liebesunordnung (1977), Der eingebildete Jude (1979) und Der Verlust der Menschlichkeit (1999).