ONLINE-EXTRA Nr. 107
Vor gut einer Woche hat SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles auf einer Pressekonferenz ihr jüngstes Buch vorgestellt: Ein Buch über ihre Partei... und ihren Glauben! "Frau. Gläubig. Links" lautet der programmatische Titel und für viele war es wohl eine Überraschung, dass die streitbare Linke mit dem Image des Bürgerschrecks sich als gläubige Katholikin outete: „Das ist der eigentliche Kern meines politischen Engagements“, bekannte sie auf der Pressekonferenz. © 2009 Copyright bei Autorin und Redaktion "Themenheft"
Nahles wuchs in einem kleinen Dorf in der Vulkan-Eifel auf, wo sie bis heute noch wohnt. Ihr voller Name: Andrea Maria Nahles. Religion spielte und spielt in der Familie eine große Rolle, nicht nur, dass ihre Großmutter die Haushälterin des Pfarrers war, ihr Vater leitet noch heute den Kirchenchor und Mutter Gertrud ist Mitglied im Verwaltungsrat der Pfarrgemeinde. Mit neun Jahren gehörte Andrea Maria zu den ersten Mädchen ihrer Generation, denen es erlaubt war, als weibliche Meßdienerinnen vor den Altar zu treten. Bis heute ist sie regelmäßige Kirchgängerin. Ihren katholischen Hintergrund hat die SPD-Generalsekretärin nie verschwiegen, aber auch nicht betont. Das hat sich nun geändert, wie auch aus dem vorliegenden Beitrag "Die Bedeutung religiöser Überzeugungen in der Politik" deutlich hervorgeht.
Nahles schrieb diesen Beitrag für das vor wenigen Tagen erschienene "Themenheft" des Deutschen Koordinierungrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR), das traditionell stets dem nächstjährigen "Jahresthema" gewidmet ist, welches wiederum den über 80 christlich-jüdischen Ortsgesellschaften als Arbeitsgrundlage und zugleich der im März stattfindenden "Woche der Brüderlichkeit" als Leitmotto dient. In 2010 lautet es: "Verlorene Maßstäbe". Auch das neue Heft versammelt einmal mehr eine illustre Schar prominenter Autorinnen und Autoren, die sich zumeist in Originalbeiträgen dem "Jahresthema" widmen, u.a.: Elie Wiesel, Bundespräsident Horst Köhler, Rabbiner Jonathan Magonet, der Journalist Georg M. Hafner, der holländische Schriftsteller Leon de Winter, der Soziologe Ulrich Beck - und eben auch Andrea Maria Nahles. (Weitere Infos und Bestellmöglichkeit siehe die Anzeige weiter unten).
COMPASS freut sich, Ihnen mit dem heutigen ONLINE-EXTRA Nr. 107 den Beitrag von Andrea Nahles online exklusiv anbieten zu können und dankt an dieser Stelle der Autorin und der Redaktion "Themenheft" für die Genehmigung zur Wiedergabe dieses für viele sicher überraschenden Textes!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 107
Macht Religion Politik? Natürlich tut sie das. Das zeigt nicht nur der Blick in die Geschichte oder der (beliebte) Verweis auf die religiöse Rechte, die in den USA George W. Bush zur Wahl verholfen hat und die die innen- und außenpolitische Agenda nach wie vor mit bestimmt. Auch in der Bundesrepublik haben die Kirchen und Religionsgemeinschaften eine wichtige Bedeutung für das politische Geschehen, bis hin dazu, dass sie die Bindung ihrer Gläubigen an Parteien beeinflussen.
Doch die Frage nach dem Stellenwert religiöser Überzeugungen in der Politik erschöpft sich nicht in der Beschreibung von Macht und Einfluss von Kirchen und Religionsgemeinschaften. Sie zielt vielmehr darauf, was politischen Zielsetzungen und konkreten politischen Entscheidung noch einmal voraus liegt, was sie motiviert und im Innersten leitet.
Für den politischen Alltag ist dies meistens eine akademische Frage. In der Regel stehen die Grundüberzeugungen von Politikerinnen und Politikern unausgesprochen im Hintergrund. Die politische Debatte ist kein philosophisches Seminar, in dem es um Letzt- oder Erstbegründungen geht. Politik will dem Zusammenleben der Menschen in einem Gemeinwesen und international Regeln geben, die möglichst viele beteiligen und für den Ausgleich unterschiedlicher Interessen sorgen. Sie darf sich nicht anmaßen, Antworten auf die großen Fragen des Menschen zu geben – woher komme ich? Wer bin ich? Was kann ich hoffen? Politik kann zwar zur Gestaltung einer guten Gesellschaft beitragen; sie kann aber individuelles Leid ebenso wenig verhindern wie sie das Glück der Einzelnen schaffen kann. Im besten Fall ist sie ein Mittel, das das gute Leben für alle befördert. Doch der Anspruch, tatsächlich das Himmelreich auf Erden zu schaffen, steht in seiner Absolutheit immer in Gefahr, in Totalität umzuschlagen. Politik und Religion sind deshalb sorgfältig voneinander zu unterscheiden.
Doch gibt es politische Fragen, die dazu auffordern, aus der eigenen religiösen Überzeugung heraus Farbe zu bekennen.
So ging es mir in der Debatte um sogenannte „Spätabtreibungen“ im Mai 2009. Dabei hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich aufgrund meines christlichen Glaubens in einer wichtigen ethischen Frage anders urteile als viele meiner Kolleginnen und Kollegen. Worum ging es? SozialdemokratInnen um meine Kollegin Kerstin Griese und ich haben uns dafür ausgesprochen, eine psychosoziale Beratung von Schwangeren zur Pflicht zu machen, die über eine Abtreibung nachdenken, nachdem sie mit der Diagnose einer schweren Behinderung ihres Kindes konfrontiert wurden. Darüber hinaus wollten wir festschreiben, dass zwischen der Diagnose einer Behinderung und dem Abbruch mindestens drei Tage liegen müssen. Unsere Position war heftig umstritten, weil wir mit ihr gegen die Mehrheit der SPD-Fraktion standen, die befürchtete, damit werde der Kompromiss des §218 aufgebrochen. Ich hatte dagegen bei meiner Entscheidung vor allem das Lebensrecht von Menschen vor Augen, die behindert sind. In der Debatte schien mir das ungeborene Kind immer mehr in den Hintergrund zu treten.
Ich war selbst überrascht, welche Reaktionen meine Entscheidung hervorrief. Vor allem war ich erstaunt, dass mir deshalb sogar ein allgemeiner politischer Gesinnungswandel unterstellt wurde. Dabei hätte ich Jahre zuvor ganz ähnlich geurteilt wie in jener Bundestagssitzung im Mai 2009. Denn ich bin beides: links und gläubig. Genauer gesagt, gläubig und links, denn ich war Christin, bevor ich Sozialdemokratin wurde. Auf dem biblischen Zeugnis, dass ein jeder Mensch Geschöpf und Abbild Gottes ist, beruhen meine Urteile über das Zusammenleben von Menschen und meine Vorstellungen von einer guten Gesellschaft. Mein Lebensoptimismus und mein politisches Engagement speisen sich aus der Grundüberzeugung, dass es einen Gott gibt, der so verrückt war, Mensch zu werden. Und der – wie Bischof Kamphaus es einmal ausdrückte – sagt: mach es wie Jesus, werde Mensch!
THEMENHEFT 2010
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Religion ist eine sehr persönliche „Sache“. Aber die ethischen Überzeugungen mindestens von Gläubigen der drei monotheistischen Religionen bleiben keine Privatsache, weil sie darauf drängen, von anderen geteilt zu werden. Christsein kann nie folgenlos bleiben, nicht privat und nicht politisch. Für Juden und Christen kann es keinen bloß geglaubten Glauben geben, weil es der Tora und weil es Jesus nicht nur um das Bekenntnis zu dem Einen Gott, sondern immer zugleich um die Anderen und um Gerechtigkeit geht. Gottes- und Nächstenliebe gehören untrennbar zusammen. Muslimische Gelehrte haben jüngst betont, dass das im Islam ebenso gilt und dass diese Überzeugung ein gemeinsames ethisches Handeln begründen kann.
Wenn religiös fundierte Überzeugungen ins Spiel kommen, ist aber entscheidend, wie sie im Raum der Politik Geltung beanspruchen können. Um es klar zu sagen: Die Regeln sind die der Politik. Der bloße Verweis auf die Dignität religiöser Überzeugungen verfängt nicht. Am Ende zählen wie sonst auch die Argumente und das Votum der Mehrheit, das nicht selten ein Kompromiss ist. Die Ereignisse der letzten Jahre sind doch ein Beleg dafür, wie verheerend es ist, wenn jemand meint, Gewalt und Krieg aus einem göttlichen Auftrag oder dem Gebot seiner Heiligen Schrift legitimieren zu können.
Die mit großer Leidenschaft, aber ebenso mit großer Ernsthaftigkeit geführten bioethischen Debatten um Stammzellforschung, Spätabtreibung und Patientenverfügung im Deutschen Bundestag haben dagegen gezeigt, dass der Rückgriff auf religiöse Überzeugungen in der politischen Debatte eben nicht bedeutet, dass nur „weltanschaulich imprägnierte Überzeugungen“ (Jürgen Habermas) aufeinander prallen. Dass verschiedene Abgeordnete auf der Basis der gleichen christlichen Überzeugung zu einer unterschiedlichen Gewichtung von Argumenten gekommen sind, macht ferner deutlich, dass religiöse Grundüberzeugungen das Ringen um den besten Weg zu einem Ziel nicht ersetzen. Eine gute Ethik ist noch keine gute Politik.
Deshalb bin ich auch so skeptisch, wenn in der gegenwärtigen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise die Lösung vor allem in der moralischen Haltung der einzelnen AkteurInnen gesucht wird. Ich kann mich nicht allein auf das Verantwortungsbewusstsein von Unternehmern und Managern verlassen. Nicht, weil ich die Mehrheit der Banker und Unternehmer für skrupellose Gewinntreiber halte. Sondern weil ich weiß, dass wenige, die so denken, ausreichen, um einen Strudel zu erzeugen. Aufgabe von Politik bleibt es, unsere Grundwerte und ethischen Vorstellungen in Regeln und Maßnahmen umzusetzen. Politik muss Märkten Regeln geben. Der Markt braucht eine ethisch begründete politische Ordnung.
Wenn man aber anerkennt, dass es in der Politik Gewissensentscheidungen gibt, die in der religiösen und weltanschaulichen Überzeugung der Einzelnen ihre Wurzel haben, stellt sich in der pluralen Gesellschaft die Frage, welche Überzeugungen in den Debatten tatsächlich zur Sprache gebracht und gehört werden. Die Diskussionen um Stammzellforschung und Spätabtreibungen hätten sicher noch einmal einen anderen Ton erhalten, wenn Juden und Jüdinnen, MuslimInnen, BuddhistInnen … darin selbstverständlich vertreten gewesen wären. Religion in der (westlichen) Demokratie ist ja nicht (mehr) gleichbedeutend mit „Christentum in der Demokratie“. Wir sind noch am Anfang zu erkennen, dass die gewachsene religiöse und weltanschauliche Pluralität auch Veränderungen der politischen Debatte nach sich ziehen muss.
Sobald eine existenzielle Frage auf die politische Tagesordnung kommt, wird „das anstößige Faktum des weltanschaulichen Pluralismus“ (Jürgen Habermas) erfahren – was aber schafft dann die gemeinsamen Haltungen und Wertvorstellungen, auf die die Demokratie angewiesen ist und die Politik dennoch nicht einfach herstellen kann? Das ist die Frage, die auf den viel zitierten Satz von Ernst-Wolfgang Böckenförde folgt, der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne. Gerade angesichts der Vielfalt religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen in unserer Gesellschaft scheint es mir zu kurz gesprungen, aus der Tatsache, dass der christliche Glaube den Einsatz für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität nachhaltig motivieren kann zu schließen, die freiheitliche Demokratie sei letztlich notwendig auf eine (christlich) religiöse Fundierung angewiesen. Der christliche Glaube darf auch selbst in bester Absicht nicht politisch in Dienst genommen werden. Vielmehr gebietet der Respekt vor den Überzeugungen der Einzelnen, genau hinzusehen. Dann zeigt sich: Demokratische Kultur als ethisches Fundament unserer Gesellschaft kann auch nicht-religiös geprägt sein, und die politischen Konsequenzen, die aus religiösen Überzeugungen abgeleitet werden, tragen nicht automatisch zu einer Stabilisierung der Werte der freiheitlichen Demokratie bei. Vielmehr gilt: Wer sich auf Religion im öffentlichen Raum einlässt, muss sich auch mit ihrem Eigensinn auseinander setzen, mit ihrem Maß an Unbedingtheit, ja sogar Intoleranz, die mindestens den Offenbarungsreligionen eigen sind. Denn die Spannung zwischen Glauben und Welt ist für sie eine prinzipielle, insofern die Ansprüche einer säkularisierten Gesellschaft den Überzeugungen, die aus den Schriften der Offenbarung abgeleitet werden, erst einmal äußerlich sind.
Was genau in einer freiheitlichen und pluralen Gesellschaft das Gemeinsame ist, muss im Diskurs um Werte und ihre Verbindlichkeit immer wieder neu ausgehandelt werden. Da reicht der formale Hinweis auf die gemeinsame Wertordnung der Verfassung nicht, zu der sich alle zu „bekennen“ hätten. Eine solche Forderung läuft zudem Gefahr, die Kategorien zu vertauschen. Das Grundgesetz ist kein Zweites neben Bibel und Koran, so dass sich der und die Einzelne zwischen beidem zu entscheiden hätte.
Wir müssen uns vielmehr darauf einstellen: Eine Gesellschaft, die auf der Freiheit des Menschen aufbaut, ist notwendig eine, in der Überzeugungen und Werte unterschiedlich sind und bisweilen aufeinander prallen. Gerade weil religiös motivierte Grundwerte keine Geschmacksurteile sind, sondern mit existenzieller Ernsthaftigkeit verteidigt werden, ist mit Konflikten zu rechnen.
Politik muss die Vielfalt gestalten. Die Debatten um Kreuz und Kopftuch, Schächten und Schulgebet zeigen: Religionspolitik wird neu zu einer Aufgabe. Der weltanschaulich neutrale Staat darf sich mit keiner Religion identifizieren oder eine religiöse Überzeugung privilegieren – aber ebenso ist Robert Leicht zuzustimmen, der einmal gesagt hat, nur ein Staat, der nicht darauf aus sei, Gott abzuschaffen, könne ein wahrhaft säkularer Staat sein. Wo Gott nicht ist, wird auch nichts automatisch besser, freier und humaner. Das ist eine der bitteren Erfahrungen des blutigen 20. Jahrhunderts.
Wir müssen die besten Wege finden, Achtung und Toleranz zu fördern und das gemeinsame Fundament demokratischer Werte zu stärken. Strittig ist dabei, ob dies eher gelingt, wenn man dabei die unterschiedlichen religiösen Traditionen stark macht und ihren Beitrag für eine freiheitliche, gerechte und solidarische Gesellschaft betont oder besser, indem das Gemeinsame auf der Basis der europäischen Aufklärungs- und Emanzipationsgeschichte so formuliert wird, dass von den unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der einzelnen möglichst abgesehen wird.
Die Debatte darüber hat gerade erst begonnen.
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Die Autorin
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Jhg. 1970; studierte neuere und ältere Germanistik sowie Politikwissenschaften; 1988 Eintritt in die SPD; 1995 bis 1999 Bundesvorsitzende der Jusos, seit 1997 Mitglied im SPD-Parteivorstand. 2000 bis 2008 Vorsitzende des Forum Demokratische Linke 21 (2000 Mitbegründerin); 2007 bis 2009 stellvertretende Vorsitzende der SPD sowie Sprecherin für Arbeits- und Sozialpolitik der SPD-Bundestagsfraktion; Seit Januar 2008 Mitglied des Vorstandes der SPD-Bundestagsfraktion und seit November 2009 SPD-Generalsekretärin.
(Copyright Foto: spdfraktion.de)
www.andrea-nahles.de