ONLINE-EXTRA Nr. 330
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Mit dem heutigen ONLINE-EXTRA, dem letzen dieses Jahres, stellt Ihnen COMPASS vielleicht eine der interessantesten Publikationen des Jahres 2022 vor, wenn es um Antisemitismus und das deutsch-israelische wie auch jüdisch-europäische Verhältnis geht. In der von Anita Haviv-Horiner vorgelegten Publikation "In Europa nichts Neues? Israelische Blicke auf Antisemitismus heute" lernen Sie 23 israelische Jüdinnen und Juden kennen, die Teile ihres Lebens in Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Polen, Ungarn, Italien, den Niederlanden oder Belgien verbracht haben. Sie alle geben Auskunft über ihre Familiengeschichte und ihr eigenes Leben und wurden von Haviv-Horiner ausführlich befragt zu den unterschiedlichen Erscheinungsformen des gegenwärtigen Antisemitismus in Europa, des israelbezogenen Antisemitismus sowie der der Rolle Israels insgesamt und der Frage nach dem Verhältnis von Judenhass und der Ablehnung anderer Minderheiten.
Die Antworten und Einstellungen der Interviewten liefern dabei ein ebenso faszinierendes wie breit gefächertes Spektrum und vermitteln ein multiperspektivesches Bild, das so divers ist wie die Biografien und Famliengeschichten der Befragten. Damit wird dieser Band nicht nur zu einer spannenden, informativen und anregenden Lektüre, sondern eignet sich darüber hinaus auch hervorragend zum Einsatz sowohl in der Jugend- wie auch Erwachsenenbildung, in Schulen oder Gesprächsgruppen.
Abgerundet wird das Buch schließlich mit ebenfalls sehr lesenswerten Beiträgen der ehemaligen ZEIT-Korrespondentin und jetzigen Professorin am European Forum der Hebräischen Universität in Jerusalem Gisela Dachs, dem deutsch-israelischen Historiker Moshe Zimmermann, den beiden Frankfurter Soziologen Julia Bernstein und Florian Diddens sowie dem Antisemitismusforscher Samuel Salzborn. Ihre Beiträge kontextualisieren aus wissenschaftlicher und praxisbezogener Perspektive die in den Gesprächen herausgearbeiteten kontroversen und subjektiven Eindrücke im Blick auf die Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus.
Das nachfolgende ONLINE-EXTRA gibt zunächst die nahezu vollständige Einleitung von Anita Haviv-Horiner wieder, in der sie die Problemstellung, Zielsetzung und Struktur des Buches vorstellt sowie die Entstehungsgeschichte des Buches darlegt. Lediglich der letzte Teil der Einleitung, in dem es um die Frage nach der Auswahl der Befragten und methodologische Aspekte geht, ist an dieser Stelle ausgespart. In der dann nachfolgenden Anzeige zum Buch beachten Sie bitte das dort zur Verfügung gestellte Inhaltsverzeichnis. Abschließend folgt exemplarisch für die im Buch versammelten Interviews die vollständige Wiedergabe des Gesprächs mit dem Radioautor Ofer Waldmann. "Exemplarisch" bezieht sich hier freilich allein auf Struktur und Fragenkatalog der Gespräche.
COMPASS dankt herzlich sowohl der Autorin Anita Haviv-Horiner wie auch der Bundeszentrale für politische Bildung für die Genehmigung zur Veröffentlichung der nachfolgenden Buchauszüge an dieser Stelle!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 330
Meine Arbeit an diesem Buch widme ich in Liebe 1.1 Anmerkungen zur Demografie der jüdischen Bevölkerung Europas seit dem Holocaust 2 Zur Zielsetzung und Struktur des Buches 4 Zu den Interviews
meinen Eltern und Großeltern.
Ihre Geschichte ist der Grund, warum ich mich mit dem Thema
Antisemitismus beschäftige.
1 Einleitung
Die 2020 veröffentlichte Studie »Jews in Europe at the turn of the Millennium. Population trends and estimates« von Sergio Della Pergola und L. Daniel Staetsky untersuchte die demografischen Entwicklungen der jüdischen Bevölkerung in Europa.
Der Kontinent war das bedeutendste Zentrum jüdischen Lebens in seinen mannigfaltigen Formen. Es ist bekannt, dass der Holocaust einen demografischen Schock sondergleichen darstellte.
Die Studie nennt folgende Zahlen: 1939 lebten in Europa 9 500 000 Jüdinnen und Juden. 1945 waren es 3 800 000, von denen viele den Kontinent mit der Zeit verließen. 2020 waren es 1 329 000. Die beiden Experten kamen darüber hinaus zu dem Schluss, dass die Auswirkungen des Holocaust auf die Struktur und Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in Europa nachhaltig prägend sind.
Aber auch andere historische Ereignisse wie zum Beispiel die Gründung des Staates Israel, der Sechstagekrieg und der Fall der Mauer führten zu großen jüdischen Auswanderungswellen aus dem Kontinent. Aus der oben genannten Studie geht hervor, dass Europa zwischen 1970 und 2020 fast 60 Prozent seiner jüdischen Bevölkerung verloren hat. Der prozentuale Rückgang war in erster Linie in Osteuropa zu spüren, wo der Anteil der jüdischen Weltbevölkerung von 26 Prozent im Jahr 1945 innerhalb von 77 Jahren auf 2 Prozent schrumpfte. Beispielhaft sollen hier zwei Länder genannt werden, die im Buch thematisiert werden. In Polen lebten 1939 3 225 000 Jüdinnen und Juden; 1945 nur mehr 100 000, und 2020 waren es 5 000. In Ungarn wies die jüdische Bevölkerungsgruppe 1939 eine zahlenmäßige Stärke von 404 000 auf; 1945 waren es nur noch 180 000 und 2020 lediglich 47 000.
In Deutschland ist die jüdische Gemeinde zwar seit 1945 gewachsen, doch beträgt ihre Größe nur noch weniger als ein Viertel des vor dem Machtantritt durch die Nationalsozialisten verzeichneten Standes. Gab es 1933 noch über eine halbe Million Jüdinnen und Juden in Deutschland, waren es 1945 nur noch 45 000, die meisten davon in Displaced Persons Camps. Durch die Einwanderung aus Gebieten der ehemaligen Sowjetunion leben heute etwa 118 000 jüdische Menschen in Deutschland.
In Frankreich dezimierte der Holocaust die jüdische Bevölkerung von 320 000 im Jahr 1939 auf 180 000 im Jahr 1945, doch ist die Zahl der Jüdinnen und Juden später aufgrund der jüdischen Einwanderung aus den ehemaligen Kolonien in Nordafrika sowie aus Mittel- und Osteuropa gewachsen. Heute leben in dem westeuropäischen Land 449 000 Jüdinnen und Juden.
Eine Antisemitismusstudie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) kam 2018 zu folgenden Ergebnissen: Durchschnittlich gaben 38 Prozent der in Europa lebenden jüdischen Befragten an, während der vergangenen fünf Jahre die Auswanderung in Betracht gezogen zu haben. Sie begründeten dies mit mangelndem Sicherheitsgefühl in dem Land, in dem sie lebten. In Ungarn, Belgien, Frankreich und Deutschland waren es zwischen 40 und 44 Prozent.
1.2 Analytische Ansätze und Kontroversen
Antisemitismus ist eine Konstante der deutschen und auch der europäischen Geschichte. Moshe Zimmermann schreibt in seinem Beitrag: »Antisemitismus ist so alt wie die Geschichte der Menschheit, oder zumindest so alt wie die Geschichte der Juden.«
In ihrem Aufsatz erklären Julia Bernstein und Florian Diddens Judenhass folgendermaßen: »Alle Erscheinungsformen des Antisemitismus strukturieren einen Ordnungsentwurf der Welt, in dem Jüdinnen und Juden als bis ins Übernatürliche übersteigertes, personifiziertes Übel und absolutes Böse einer religiös, kulturell, ›rassisch‹, politisch oder national definierten Gemeinschaft entgegengesetzt werden.«
Oft wird gefragt, ob die Gleichsetzung von rechtem und linkem Antisemitismus für die Bekämpfung von Judenhass nicht kontraproduktiv sei. Es werden Bedenken geäußert, dass sich rechtsextremer und gewaltbereiter Antisemitismus im Schatten des politischen Umgangs mit der BDS-Bewegung [s. Glossar] in Deutschland unbehelligt entfalten kann.
Doch ist es nicht die Aufgabe von Staat und Gesellschaft, allen Formen von Antisemitismus durch Prävention und Bekämpfung entgegenzutreten? Dabei muss der Staat zwischen den einzelnen Kategorien des Judenhasses in Bezug auf Motivation, Auswirkungen und Gewaltbereitschaft unterscheiden.
In seiner Filmreihe »Die Sache mit den Juden« ist der Fernsehjournalist Richard C. Schneider dem Antisemitismus in Deutschland in dessen unterschiedlichen Erscheinungsformen nachgegangen. Die Filme thematisieren Judenfeindschaft von links, von rechts sowie von muslimischer Seite. Einer der Beiträge befasst sich mit den Auswirkungen von Antisemitismus auf jüdische Menschen in ihrem Alltag. Die Filme konzentrieren sich dabei auf die Wahrnehmung und Reaktionen jüdischer Betroffener. Dieser Blickpunkt ist wichtig, denn um die Auswirkungen von Antisemitismus heute zu erfassen, sind jüdische Stimmen unerlässlich.
Doch gibt es in Deutschland und in Europa keinen akademischen, medialen und politischen Konsens über die Einordnung und Bewertung unterschiedlicher Manifestationen von Antisemitismus. Selbst bei der Frage, wie Antisemitismus gemessen werden soll, gibt es keine Übereinstimmung. Sind Umfragen der Gradmesser, oder ist es die Zahl tätlicher Angriffe? Wie geht man mit Antisemitismus im Internet um? Ein Punkt, der Dissens auslöst, ist die Frage, welche Gewichtung jüdische Wahrnehmungen in diesem Kontext haben sollten.
»Selbstverständlich ist bei den Objekten eines Vorurteils größere Empfindlichkeit zu erwarten, doch werfen diese Zahlen die Frage auf, ob beide Gruppen dieselbe Definition von Antisemitismus haben. Opfergruppen tendieren dazu, ihre Gruppenzugehörigkeit als Erklärungsmuster für die Verhaltensweisen ihrer Umgebung zu verstehen.« schreibt Moshe Zimmermann.
Samuel Salzborn hingegen weist auf die Notwendigkeit hin, die Perspektive der Betroffenen verstärkt in die wissenschaftliche Arbeit einzubeziehen. Darüber hinaus unterstreicht er, dass die Wahrnehmungen jüdischer Opfer durchaus in der Realität verankert seien: »Hierbei spielt die Frage des Vertrauens von Jüdinnen und Juden in staatliches Handeln eine gewichtige Rolle. Dieses Vertrauen steht nicht nur wegen der Tradierung einer Nichtaufarbeitung des Nationalsozialismus und der Schoah immer wieder infrage, sondern auch wegen des Handelns der Exekutive und der Judikative in der Gegenwart. Leuchtturmurteile wie dasjenige zu den antisemitischen Anschlägen auf die Wuppertaler Synagoge 2014, in dem das Gericht die antisemitischen Motive der Täter ignorierte, lösen immer wieder fundamentale Erschütterungen im Realvertrauen von Jüdinnen und Juden in die Justiz aus.«
Die besondere Rolle Israels im Kontext von Antisemitismus beschäftigt den öffentlichen Diskurs in Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern. Die polarisierte und emotional aufgeladene Debatte entzündet sich oft an konkreten Ereignissen wie zum Beispiel den militärischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas.
Zur Debatte steht dabei nicht zuletzt die Frage, wann Kritik am Staat Israel bzw. an dessen Politik legitim ist, wann sie antisemitische Formen annimmt und wo die Grenze verläuft.
Die überproportionale Beschäftigung mit Israel in den Medien und die häufige Dämonisierung des jüdischen Staates bringt Monika Schwarz- Friesel wie folgt auf den Punkt: »Eine der irreführendsten Behauptungen, die leider auch öfters in akademischen Texten zu lesen sind, lautet, der Nahostkonf likt sei die Ursache für Israelhass. Zwar lösen mediale Konf liktmeldungen ref lexhaft und eruptiv Wellen von Hass-Kommentaren gegen Israel aus, sie sind aber keineswegs auf den Konf likt beschränkt. Der schwelende Konf likt ist auch keineswegs der Grund. Israel steht als wichtigstes Symbol für jüdisches Überleben und gelebtes Judentum im Fokus aller Antisemit*innen und ist quasi der Stachel in deren Fleische: Die Existenz eines jüdischen Staates ist eine ungeheure Provokation. Daher finden wir die antisemitische Israelisierungssemantik auch bei Themen, die mit dem Nahostkonf likt nichts zu tun haben: ob es sich um Gal Gadot im Film Wonder Woman, Netta beim ESC, Waldbrände, den Syrien-Krieg, die Corona-Pandemie oder die innerdeutsche Beschneidungsdebatte handelt.« Das Narrativ des Judenhasses passt sich immer wieder an neue Gegebenheiten und Themen an. Samuel Salzborn bringt es in einem Interview mit der »Jüdischen Allgemeinen« auf folgenden Punkt: »Der Antisemitismus ist da und wird unter einem Vorwand aktiviert – seien es Entwicklungen in Israel oder Hygieneschutzverordnungen. Das ist eine langfristig zentrale Erkenntnis, die man nicht vergessen darf. Auch wenn die Pandemie irgendwann vorbei ist – das antisemitische Verschwörungsdenken wird nicht aus der Welt sein.« (Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses, https://archive.jpr.org.uk/download?id=3584, S. 52)
Der Judenhass, der sich seit Beginn der Covid-19-Pandemie ausbreitet, greift auf jahrhundertealte Mechanismen zurück, manifestiert sich aber, je nach Situation, immer wieder in »neuen Kleidern«.
»Wie einfach dieses Repertoire abrufbar ist, hat sich auch während der Coronapandemie 2020 gezeigt. So stand das Gerücht über die Juden als Verursacher und Profiteure von Covid-19 bald im Raum. Verwunderlich ist das nicht. Schließlich haben sich Verschwörungstheorien im Umfeld von Krankheiten schon im Mittelalter gegen Jüdinnen und Juden gerichtet, die als religiöse Minderheit besonders angreifbar waren«, stellt Gisela Dachs in ihrem Beitrag fest. Doch dabei sollte es nicht bleiben. Corona- Leugnende verglichen sich mit Opfern des Nationalsozialismus. Sie scheuten nicht davor zurück, sich den gelben Stern an den Kragen zu heften. Damit verharmlosen und banalisieren sie den Holocaust und setzen sich mit jüdischen Opfern gleich, die in Auschwitz vergast wurden.
Im Kontext von Corona-Verschwörungstheorien mit antisemitischer Prägung hat der Autor Sascha Lobo den Begriff »Denkpest« geprägt. »Bei der Denkpest hat einerseits die Art und Weise der Verbreitung etwas mit Übertragung zwischen Personen zu tun. Andererseits wirkt sie mehr oder weniger auf den gesamten Menschen: auf die Denkweise, die Wahrnehmung, das Verhalten, die Kommunikation, die soziale Interaktion. Denkpest ist, was passiert, wenn ein Mensch sich in den Gedankenirrgärten von Fake News und Verschwörungstheorien verläuft.« (https://www.spiegel.de/netzwelt/ netzpolitik/corona-und-die-radikalisierung-der-impfgegner-die-denkpestgeht- um-kolumne-a-307b0e08-c4fe-43c2-800b-b2da618ec4ca)
Das als Instrument der breiten politischen Bildung konzipierte Buch »In Europa nichts Neues? – Israelische Blicke auf Antisemitismus heute« erschien erstmals im Jahr 2019 bei der bpb. 2021 wurde es von Berghahn Books auf Englisch veröffentlicht.
Die Kontextualisierung des Themas, der biografische Ansatz und der Pluralismus der israelischen Perspektiven stießen auf reges Interesse und positives Feedback. Die Arbeit mit den didaktisch strukturierten Interviews habe ich in zahlreichen, seit Ausbruch der Pandemie zumeist digitalen Workshops erprobt.
Aufgrund der positiven Resonanz wurde dieser Band als eine erweiterte Ausgabe des ersten erstellt. Die Publikation möchte einen Beitrag zur Bekämpfung neuer und alter Erscheinungsformen von Antisemitismus in Deutschland und Europa leisten. Das Buch soll zur individuellen und kollektiven Selbstref lexion ermutigen und eine breitere Öffentlichkeit ansprechen. Daher legt es einen Schwerpunkt auf die Wechselwirkung zwischen persönlichen und gesellschaftlichen Faktoren.
Das Gesamtkonzept und die Zielsetzungen des ersten Bandes wurden beibehalten. Ergänzendes Ziel der Neuauf lage ist – unter Beibehaltung der Methode und des Gesamtkonzeptes – die Aktualisierung und Erweiterung des Themas.
Diese Einleitung dient zur Kontextualisierung des Buches, erklärt seine Geschichte und seinen Ansatz. Darüber hinaus gibt sie Anregungen für die Arbeit mit den Interviews in der Bildungsarbeit.
Das Herz der Publikation sind 23 lebensgeschichtliche Interviews mit jüdischen Israelinnen und Israelis. Die Gespräche beziehen sich auf folgende Länder: Deutschland (8), Österreich (3), Schweiz (1), Großbritannien (2), Polen (2), Ungarn (1), Frankreich (3), Belgien (1), Italien (1) und Niederlande (1). Mehrere Interviewgebende äußern sich aufgrund ihrer Geschichte zu jeweils mehreren europäischen Ländern.
Die ursprünglichen 15 Unterhaltungen wurden durch acht neue erweitert. Einerseits zeigt diese Kombination die Kontinuität der Auseinandersetzung mit Antisemitismus aus jüdisch-israelischen Perspektiven, andererseits werden neue Entwicklungen berücksichtigt. So sprechen mehrere der 2021 Befragten antisemitische Verschwörungstheorien im Kontext der Coronapandemie an.
Der deutschsprachigen Leserschaft sollen auch Einblicke in israelische Perspektiven auf Antisemitismus in anderen Ländern gewährt werden. In den obengenannten Staaten ist Antisemitismus in den vergangenen Jahren zu einem sehr präsenten und kontrovers debattierten Thema des öffentlichen Diskurses geworden, sei es aufgrund des Aufstiegs nationalistischer Kräfte, sei es infolge von Gewalttaten oder verbalen Angriffen in den sozialen Medien.
Die Interviews sind nicht repräsentativ, sondern verstehen sich als Abbildung unterschiedlicher – zum Teil kontroverser – individueller Wahrnehmungen. Die Erzählungen zeigen – aus unterschiedlichen Blickwinkeln – jüdisch-israelische Familiengeschichten und persönliche Lebenswelten, den Alltag in Israel und das Judentum. Die Leserschaft nähert sich durch die biografischen Berichte diesen für viele unbekannten Themen an. »So soll das Interview im Idealfall eine Begegnung darstellen – wie seine wortgeschichtliche Ableitung von entre-vue, ›Zwischensicht‹, bereits angibt – und einen Dialog mit dem ganz Anderen, Fremden und bis dahin Unzugänglichen ermöglichen«, schreiben Dorothea Walzer und Anke te Heesen. Leitthemen wie Identität, Inklusions- und Exklusionserfahrungen im Alltag stehen im Mittelpunkt der Unterhaltungen. Des Weiteren bringen sie subjektive Perzeptionen, Interpretationen und individuelle Reaktionen der Befragten auf heutigen Antisemitismus zum Ausdruck. Einen weiteren inhaltlichen Schwerpunkt bilden die Ansichten der Befragten über die Rolle Israels im Kontext der Auseinandersetzung mit Antisemitismus.
Die lebensgeschichtlichen, auf den Umgang mit Antisemitismus fokussierenden Interviews stellen selbstverständlich keine wissenschaftliche Forschungsarbeit dar. Das ist weder möglich noch beabsichtigt. Daher runden die begleitenden Beiträge der Expertinnen bzw. Experten Moshe Zimmermann, Gisela Dachs, Julia Bernstein und Florian Diddens sowie Samuel Salzborn die Publikation nicht nur ab, sondern sind auch ein unerlässlicher und integraler Teil ihres Konzeptes. Da dafür mehrere deutsche Expertinnen und Experten einbezogen wurden, bezieht sich der Untertitel des Buches, »Israelische Blicke auf Antisemitismus«, nicht auf ihre Aufsätze.
Dabei beleuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedene Aspekte des Antisemitismus und dessen Bekämpfung, so etwa die Situation an den Schulen, die Rolle der Medien und der sozialen Medien, Handlungsmöglichkeiten des Staates und der Gesellschaft, die historische Komponente und die aktuelle politische Debatte. In den Beiträgen spiegelt sich unter anderem ein zwischen den verschiedenen Betrachtungsweisen bestehender Dissens wider.
Der Beitrag von Moshe Zimmermann vermittelt einen geschichtlichen Überblick über das Thema Antisemitismus und analysiert dessen aktuelle Erscheinungsformen. Gisela Dachs fokussiert auf die Rolle der Medien und der sozialen Medien im Kontext von Antisemitismus unter Einbeziehung von Verschwörungstheorien. Diese beiden Texte präsentieren eine historische und aktuelle Bestandsaufnahme von Antisemitismus in Deutschland im Besonderen und in Europa im Allgemeinen.
Die theoretischen Analysen werden durch zwei Beiträge ergänzt, die die Praxis des Umgangs mit Judenhass in all seinen Erscheinungsformen zum Thema haben: Samuel Salzborn stellt das von ihm gestaltete Berliner Modell der Antisemitismusbekämpfung vor; Julia Bernstein und Florian Diddens analysieren Judenhass an deutschen Schulen und vermitteln praxisbezogene Aspekte seiner Bekämpfung. In den beiden empirisch geprägten Beiträgen geht es sowohl um eine Darstellung der Problematik als auch um Prävention und um die strukturelle Bekämpfung von Vorfällen.
Alle Bausteine des Buches einschließlich des Glossars sollen es den Lesenden ermöglichen, die erforderlichen Informationen für das Verständnis der Interviews zur Hand zu haben. Das kann insbesondere für Lehrkräfte, die das Buch im Unterricht einsetzen möchten, hilfreich sein. Gleichzeitig sollen die Texte auf die Themenkreise Judentum, Israel, Schoah und Antisemitismus in unterschiedlichen Ländern Europas neugierig machen und zu weiterführendem Lernen anspornen. Die Lesenden sind auch aufgrund der Methode »personalisierte Geschichte« gefordert, ihr Wissen zum Thema Antisemitismus, aber auch Israel, jüdisches Leben und Holocaust zu vertiefen. Hierfür eignen sich andere Publikationen der bpb, einige davon sind am Ende des Bandes (»Weiterführende Literatur«) aufgeführt.
3 Zur Entstehung der Publikation
Ich bin 1960 in Wien zur Welt gekommen. Meine Eltern waren Überlebende des Holocaust.
Meine Großeltern väterlicherseits wurden in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Mein Vater wurde aus Auschwitz nach Mauthausen gebracht, wo er Zwangsarbeit leisten musste. Bei der Befreiung wog er 35 Kilo und war todkrank.
Meine Mutter überlebte den Holocaust im Ghetto von Budapest mit ihrer Mutter. Ihr Vater wurde in den letzten Kriegstagen bei einem Fluchtversuch aus einem ungarischen Arbeitslager erschossen. Viele andere Familienangehörige meiner Eltern wurden in Auschwitz ermordet.
Diese Erfahrungen haben meine Eltern fürs Leben seelisch und körperlich gezeichnet. Ich bin mit ihrem Trauma aufgewachsen.
Die Schoah war in unserer Familie ein seltenes Thema, Antisemitismus hingegen kam immer wieder zur Sprache. Mein Vater sah in den meisten Österreicherinnen und Österreichern seiner Generation Nazis und eingef leischte Antisemitinnen und Antisemiten. Umso mehr irritierte es mich, dass er schwieg, wenn judenfeindliche Ressentiments geäußert wurden. Wenn ich sein Verhalten kritisierte, meinte er nur: »Du bist noch jung und verstehst vieles nicht. Es ist vollkommen zwecklos, zu versuchen, antisemitische Menschen von ihren Stereotypen und ihrem Hass abzubringen. Warum sollte ich mir die Mühe geben, es zu versuchen? Der Preis, den ich für Judenhass gezahlt habe, ist schon hoch genug. Meine ganze Familie wurde ermordet und ich war in Auschwitz und Mauthausen inhaftiert.«
Seine Antwort schmerzte mich, doch konnte sie mich nicht überzeugen. Noch mehr als sein Schweigen entrüstete es mich als Jugendliche, dass er auch mir jegliche Reaktion untersagte. Meine Mutter wiederum bat mich, den Davidstern an meiner Kette zu verstecken, wenn ich sie in ihrem Geschäft besuchte. Heute verstehe ich, dass meine Eltern mich schützen wollten, damals reagierte ich auf ihr Verhalten mit Trotz. Mit der Zeit entwickelte ich einen Mechanismus, um peinlichen und schmerzhaften Situationen vorzubeugen. Sobald ich in Wien auf mir nicht bekannte Menschen traf, deklarierte ich offensiv: »Ich bin Jüdin.« Und die spontane Reaktion meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner war ein zentrales Kriterium dafür, ob ich Interesse an weiterführendem Kontakt zu ihnen hatte.
Meine Eltern befürchteten, dass ich in einem österreichischen Gymnasium Judenhass ausgesetzt wäre. Tatsächlich berichteten viele meiner jüdischen Freundinnen und Freunde, die österreichische Schulen besuchten, dass sie von Lehrkräften und Kindern mit Sprüchen wie »Ihr seid reich wie alle Juden« oder »Hier geht es zu wie in einer Judenschule« konfrontiert wurden.
So kam es, dass ich auf Wunsch meiner Eltern die französische Schule besuchte, wo ich vom Kindergarten bis zum Abitur in einem offenen und multikulturellen Milieu aufwuchs. Die Kinder und Jugendlichen kamen aus zahlreichen Ländern und Kulturen und hatten unterschiedliche Religionen. Die dort kultivierte Atmosphäre beugte in nicht geringem Maße Antisemitismus und grundsätzlich jeder Form von Rassismus vor. Wir wurden dazu erzogen, Vielfalt als normal und wünschenswert anzusehen. Diese Sozialisierung prägt meine Weltanschauung bis heute.
Aufgrund meiner Familiengeschichte wollte ich nicht in Österreich bleiben. So sehr ich Wien bis heute liebe, das Land hätte nie meine emotionale Heimat sein können. Die einzige logische Alternative war für mich Israel, so zog ich 1979 dorthin. Seitdem lebe ich in Netanja und bin heute Mutter zweier erwachsener Kinder.
Viele innenpolitische Entwicklungen in Israel sowie der Umgang mit dem Konf likt entsprechen nicht den zionistischen Idealen, die mich geprägt haben. Die Realität vor Ort entspricht nicht den mit rosa Zuckerguss überzogenen, utopischen Vorstellungen von einer egalitären und liberalen Gesellschaft, die ich mir im Wiener Kaffeehaus erträumt hatte. Diese Diskrepanz hat sich im Lauf der Jahre immer mehr verstärkt.
Dennoch hat Israel mir eine Heimat gegeben, mit der ich mich emotional identifiziere. Damit meine ich nicht die Verbundenheit zu Flaggen und zur Nationalhymne, denn nationale Symbole bedeuten mir wenig. Ich meine vielmehr das Gefühl, dass der souveräne Staat Israel die Geschichte von Vertreibung in Europa für Jüdinnen und Juden beendet hat.
Viele europäische Jüdinnen und Juden, die nicht nach Israel auswandern, sehen in dem Land einen Schutzschild und einen Zuf luchtsort. Insofern habe ich bis heute das Gefühl, dass ich dort lebe, wo ich hingehöre. Dieses Land sehe ich als eine einzigartige historische Chance an, auch wenn ich mir heute um seine Zukunft Sorgen mache.
[...]
Antisemitismus ist eine Konstante der deutschen und europäischen Geschichte. Jüdinnen und Juden in Deutschland und Europa scheinen zunehmend als stereotypes Kollektiv wahrgenommen zu werden. Dies gilt auch für den Blick auf das Regierungshandeln des Staates Israel. Dabei zeigen die von Anita Haviv-Horiner geführten 23 Interviews mit israelischen Jüdinnen und Juden, die Teile ihres Lebens in Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Polen, Ungarn, Italien, den Niederlanden oder Belgien verbracht haben, vor allem ein multiperspektivisches und breit gefächertes Bild. Die Einstellungen der Interviewten zu den unterschiedlichen Erscheinungsformen des gegenwärtigen Antisemitismus in Europa, der Rolle Israels und der Frage nach dem Verhältnis von Judenhass und der Ablehnung anderer Minderheiten sind so divers wie ihre Biografien und und Familiengeschichten.
Ofer Waldman
»Antisemitismus ist die destillierte Form von Menschenhass«
1 Die Geschichte meiner Familie
Meine Eltern wurden im britischen Mandatsgebiet Palästina geboren. Beide sind älter als der im Jahr 1948 gegründete Staat Israel. Meine Mutter wurde 1945 in Haifa geboren, und mein Vater kam 1942 in Jerusalem zur Welt. Meine Großeltern väterlicherseits wurden als Kinder jüdischer deutschsprachiger Familien in Brody bzw. in Czernowitz geboren. Diese Städte, die heute in der Ukraine liegen, gehörten damals zum Habsburgerreich. Somit hatten die Eltern meines Vaters die k. u. k-Staatsbürgerschaft. Ihre genauen Geburtsdaten kenne ich nicht. Ich glaube aber, dass mein Großvater 1898 und meine Großmutter 1902 geboren wurden. Bekannt ist mir, dass sie als Kleinkinder nach Wien gezogen und dort aufgewachsen sind.
Mein Großvater war Feuer und Flamme für die zionistische Idee. Seine Begeisterung brachte ihn Mitte der 1920-er Jahre nach Palästina, wo er bei einem Zusammenstoß mit Arabern schwer verletzt wurde. Daraufhin holte ihn sein älterer Bruder nach Wien zurück. Dort lernte er im Krankenhaus seine spätere Frau kennen: Sie betreute ihn als Krankenschwester. Er studierte Jura. Nach ihrer Hochzeit wanderten meine Großeltern 1936 nach Palästina aus, also rechtzeitig vor dem »Anschluss« Österreichs an Nazi-Deutschland 1938. Sie sind nicht gef lohen. Sie waren zionistisch gesinnt und wollten sich deshalb in Jerusalem niederlassen.
Mein Großvater arbeitete als Rechtsanwalt, doch war er beruf lich anscheinend nicht sehr erfolgreich. Seine Frau gab ihren Beruf für die Familie auf. Sie hatten vier Kinder.
Aufgrund finanzieller Sorgen, in denen die Familie steckte, musste mein Vater schon im Alter von 14 Jahren arbeiten gehen und konnte daher die Schule nicht abschließen. Mit 18 wurde er zur Armee einberufen. Er diente bei »Nachal«, einem Truppenteil, dessen Name ein Akronym von Noar Chaluzi Lochem war, »kämpfende Pionierjugend«, und der den Militärdienst mit landwirtschaftlicher Arbeit verband. Auf diese Weise kam er in den Kibbuz Revivim im Süden des Landes. Obwohl die Arbeit im Kuhstall für ihn ein wahrgewordener Traum war, kehrte er nach drei Jahren nach Jerusalem zurück, um seine Eltern zu unterstützen.
Er fand Arbeit bei der größten Baufirma Israels, wo er sich hocharbeitete. Später arbeitete er im David’s-Tower-Museum und leitete das Henrietta- Szold-Institut für Verhaltenswissenschaften. Anschließend leitete er über 25 Jahre lang AMCHA Israel, eine Organisation, die sich der psychosozialen Betreuung von Überlebenden der Schoah widmet.
Meine Oma mütterlicherseits stammte aus Polen, aus der Nähe von Krakau, mein Opa aus Budapest. Ihre Geburtsdaten sind mir ebenfalls nicht bekannt, aber ich weiß, dass auch sie nicht vor den Deutschen gef lohen sind, sondern schon Mitte der 1930er-Jahre, also vor dem Zweiten Weltkrieg, in Palästina lebten. So kommt es, dass es in meiner unmittelbaren Familie keine Schoah-Überlebenden gibt. Allerdings sind entferntere Verwandte in Europa ermordet worden.
Mein Großvater mütterlicherseits war Fließbandarbeiter in Haifa, meine Großmutter zog zu Hause die Kinder groß. Meine Mutter wurde 1945 in Haifa geboren. In dem Wohnviertel, in dem sie aufwuchs, lebten viele Überlebende des Holocaust. Sie erzählte mir oft, dass sie von den tätowierten Nummern an ihren Unterarmen fasziniert war, die man im Sommer wegen der kurzen Ärmel gut sehen konnte. Sie erzählte mir auch von den Schreien in den Nächten. Sie engagierte sich in einer zionistischen Jugendbewegung, schloss die Schule erfolgreich ab, diente, wie mein Vater, in der Nachal-Truppe und brachte es zum Rang eines Leutnants.
Danach machte sie eine Ausbildung als Lehrerin und arbeitete in ihrem Beruf. Später promovierte sie an der Hebräischen Universität in Jerusalem und war Dozentin am Lehrerausbildungsinstitut in Jerusalem.
Meine Eltern haben sich 1964 kennengelernt, zwei Jahre später geheiratet und drei Kinder bekommen, von denen ich das jüngste bin. Sie sind von einer sozialistisch orientierten Jugendbewegung geprägte Zionistin bzw. Zionist und fühlen sich politisch der israelischen Arbeitspartei zugehörig. Unsere Familie ist säkular. Wir haben wenig Bezug zur jüdischen Religion. Wir feiern zwar die Feiertage, sind mit den stark ritualisierten Gebeten aber nicht vertraut.
2 Meine eigene Geschichte
Ich bin 1979 in Jerusalem geboren und bin dort aufgewachsen. Ich bin ein Produkt des elitären Bildungssystems von Jerusalem und habe fast nur halbprivate Bildungsinstitutionen besucht.
Musik war in unserer Familie immer präsent. Mein Vater erzählte, wie seine Eltern in Jerusalem in den späten 1940er-Jahren und Anfang der 1950er-Jahre Wagner, Mahler oder Beethoven auf Deutsch hörten, und zwar mit heruntergelassenen Jalousien und geschlossenen Fenstern, weil Deutsch im öffentlichen Raum damals verpönt war.
So war es selbstverständlich, dass ich ab dem sechsten Lebensjahr zu spielen begann. Mit den Jahren wurde Musik ein immer wichtigerer Teil meines Lebens. Mit zehn begann ich, Horn zu spielen. Mit 15 wurde ich Mitglied des Young Israel Philharmonic Orchestra. Später habe ich in fast allen Orchestern Israels gespielt. Gleichzeitig engagierte ich mich seit meinem 13. Lebensjahr bei der Friedensbewegung Peace Now. Ich beteiligte mich an jüdisch-palästinensischen Begegnungen. Das war der Beginn meines politischen Aktivismus.
Nach dem Abitur wurde ich 1997 zur Armee einberufen. Dort habe ich im militärischen Holzbläserquintett gespielt. Es war eine sehr langweilige Dienstzeit. Gleichzeitig war ich immer noch Solohornist des Young Israel Philharmonic Orchestra in Tel Aviv, mit dem ich – mit Erlaubnis der Armee – auf Tournee im Ausland ging. 1999, als ich noch Soldat war, holte mich der weltberühmte Dirigent Daniel Barenboim nach Weimar in das von ihm und von Edward Said gegründete Orchester des West-östlichen Divans, das als ein Zeichen angestrebter Koexistenz zu gleichen Teilen aus jüdisch-israelischen und arabischen Musikerinnen und Musikern besteht. Zu dieser Zeit habe ich zum ersten Mal bei einer Generalprobe in Bayreuth die Wagner-Oper »Die Meistersinger von Nürnberg« erlebt. Ich bin übrigens, glaube ich, der erste israelische Hornist, der den Ring des Nibelungen komplett gespielt hat (aber leider nicht in Bayreuth). Das war allerdings später, als ich bereits in Deutschland lebte.
Nach einiger Zeit fragte mich der Maestro: »Junge, möchtest du in Deutschland studieren?« Ich sagte »Ja, aber ich habe noch ein Jahr zu dienen.« Und er sagte »Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich darum.« Er hielt sein Versprechen. Ich erhielt eine offizielle Einladung auf dem Briefpapier der Berliner Staatskapelle, nach Deutschland zu kommen, woraufhin die Armee mich von dem ehrlich gesagt völlig sinnlosen Dienst befreite. Im Jahr 2000 begann ich mein sechsjähriges Studium an der Hochschule der Künste, später Universität der Künste in Berlin. So bin ich nach Deutschland gekommen. Ab 2002 habe ich in einer Reihe deutscher Orchester gespielt, darunter dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, dem Deutschen Sinfonieorchester Berlin und den Nürnberger Philharmonikern.
Auf die Frage, warum ich kein Orchestermusiker mehr bin, habe ich keine eindeutige Antwort. Ich war in einer Krise. Das Gefühl, dass die Welt mehr zu bieten hat, zog mich aus dem Orchestergraben heraus. Ich begann zu schreiben. Dann holte mich 2008 das Israel Philharmonic Orchestra nach Israel, um als Gast bei zwei Programmen mitzuspielen. Bei diesem Besuch lernte ich in Tel Aviv meine Frau kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wenige Monate später haben wir geheiratet. Sie hat gesagt »Meine Kinder werden in Israel aufwachsen. Merk dir das.« Nach einem kurzen gemeinsamen Aufenthalt in Berlin kam 2009 für mich der Abschied von Deutschland, obwohl ich das Land gar nicht verlassen wollte. So sind wir nach Israel gezogen, wo unsere beiden Töchter 2010 und 2013 geboren wurden.
Nach der Rückkehr arbeitete ich als Musiker. Parallel dazu nahm ich mein Studium am Zentrum für Deutsche Studien an der Hebräischen Universität in Jerusalem auf. Später promovierte ich in einem gemeinsamen Promotionsverfahren der Hebräischen Universität und der Freien Universität Berlin. Meine Dissertation beschäftigt sich mit dem Dichter und Bühnenautor Thomas Brasch und durch ihn mit jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern der zweiten Generation in der DDR. 2014 sind wir wieder nach Berlin gezogen, weil meine Frau dort ein Jobangebot bekommen hatte. Ich begann als Radioautor tätig zu sein. Das ist bis heute mein Arbeitsschwerpunkt. Ich schreibe politische Feuilletons, Features, Hörspiele und andere Beiträge für Deutschlandfunk Kultur und andere Sender. 2021 gewann ich zusammen mit Noam Brusilovsky den deutschen Hörspielpreis der ARD für unser Hörspiel »Adolf Eichmann – Ein Hörprozess « (RBB/DLF).
Anfangs bezogen sich meine Sendungen größtenteils auf Israel. Dann aber gab mir eine befreundete Journalistin den Rat: »Pass auf, dass du nicht nur über jüdisch-israelische Themen schreibst. Schreib mal was zu Indonesien oder zu Botanik oder sonst etwas.« Ich finde es richtig, meinen kritischen Blick auf andere Bereiche als das Themenfeld Israel und den Nahostkonf likt zu erweitern. Zum Beispiel habe ich mich intensiv mit der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015 befasst. Ich sage bewusst »sogenannte Krise«, denn meines Erachtens handelte es sich zwar um Flüchtlinge, nicht aber um eine Krise. Zum Beispiel bin ich in sächsische Hochburgen der AfD gefahren, um mit dort lebenden Menschen das Gespräch zu suchen. Ich fragte sie, ob man die aus Syrien Gef lüchteten mit ihren seinerzeit aus dem Sudetenland oder aus Schlesien gef lüchteten Großeltern vergleichen könnte. Dort habe ich – nicht zum ersten Mal – festgestellt, dass man durch ein offenes, direktes Gespräch oft überraschend andere Antworten bekommt als die, die man erwartet. Man muss eben seine eigenen Ansichten immer wieder hinterfragen.
2016 übernahm ich ehrenamtlich für drei Jahre die Leitung der deutschen Vertretung der Stiftung New Israel Fund, die israelische, mehrheitlich politisch links stehende, zivilgesellschaftliche NGOs finanziert. Unser Sohn wurde 2017 in Deutschland geboren. Im Laufe der Zeit wurde uns klar, dass meine Frau in Deutschland nie glücklich sein würde. Bei aller Liebe zu meiner Arbeit: Meine Familie steht an erster Stelle. Und so sind wir 2018 wieder nach Israel gezogen. Seitdem pendle ich zwischen Deutschland und Israel, nur die Corona-Pandemie hat das für einige Zeit unterbrochen. Zusätzlich zu meiner Arbeit als Journalist berate ich Institutionen zu Themen, die sich auf Deutschland oder Israel beziehen.
3 Antisemitismus – Gedanken, Erfahrungen und Positionen
3.1 Wie definierst du Antisemitismus, und kannst du konkrete Beispiele aus deiner Erfahrung nennen?
Als Historiker weiß ich, dass Antisemitismus eine hartnäckige gesellschaftliche Erscheinung ist. Es kommt allerdings immer auf den Kontext und die Perspektive an, daher habe ich zwei Antworten – aus der deutschen und aus der israelischen Perspektive:
Antisemitismus ist grundsätzlich Judenhass. Eigentlich muss es nicht einmal Hass sein. Antisemitismus ist das Etikett des kategorischen Andersseins, das Menschen aufgrund ihrer jüdischen Herkunft angeheftet wird. Es kann auch ein vermeintlich positives Vorurteil sein. Es gibt ja genügend Menschen in Deutschland, die, wenn sie feststellen, dass du Jude bist, soein leichtes Zittern in den Knien bekommen und sagen: »Wie schön, wie toll und vielen Dank für Albert Einstein. Ich finde Mendelssohn besser als Wagner.« Da ich ein höf licher Mensch bin, antworte ich einfach: »Bitte, gern geschehen.« Antisemitinnen und Antisemiten betrachten die jüdische Herkunft als eine gleichzeitig omnipräsente und subversive Zugehörigkeit, die alle anderen Zugehörigkeiten unterläuft. Es gibt das Anderssein der Migrantin bzw. des Migranten, ein genderkonnotiertes oder ein religiös konnotiertes Anderssein.
Das vermeintliche jüdische Anderssein wird aber als tiefer, als stärker angenommen. Es ist fast so, als ob du zu einer anderen Spezies gehörst, das erzeugt immer sowohl Misstrauen als auch Faszination und Verlegenheit. Zum Beispiel sagte mir einmal ein Arzt, mit dessen Familie ich sehr eng befreundet war, »Komm, wir trinken jetzt einen Kasten Bier, gehen zum Priester und bringen es in Ordnung.« Mit »in Ordnung bringen« meinte er natürlich das Konvertieren – wirklich aus Verlegenheit. Er war nicht per se Antisemit, so wie wir uns einen Antisemiten vorstellen. Er würde jetzt nicht eine Synagoge abfackeln und wählt um Himmels willen nicht die AfD. Und er empfindet sich auch gar nicht als Antisemit. Ich habe einige Bekannte, die in diese schwammige Kategorie von Antisemitinnen und Antisemiten fallen. Sie unterstellen mir eine geheime Zugehörigkeit, eine geheime Verpf lichtung zu dieser Zugehörigkeit, die ich im Notfall immer bevorzugen würde. Aber – auch das ist eigentlich Antisemitismus.
Neben dem berechtigten Vorwurf des Antisemitismus wie in den obengenannten Fällen nimmt in Deutschland allerdings eine missbrauchende, inf lationäre Verwendung des Antisemitismusvorwurfs zu, und zwar als ein Feigenblatt oder ein Ablenkungsmanöver, um andere Diskussionen innerhalb Deutschlands zu vermeiden, sei es Diskussionen über Israel, sei es Diskussionen über den Umgang mit Migrantinnen und Migranten, sei es über den Umgang mit gef lüchteten Menschen. So empfinde ich die von konservativer Seite oft verbreitete Unterstellung, gef lüchtete Menschen aus arabischen bzw. muslimischen Ländern importierten Antisemitismus nach Deutschland, als empörend: Erstens gibt es genügend landeseignen, quasi selbsthergestellten Antisemitismus, man braucht da also keine fremde Unterstützung; zweitens geht es bei dieser Unterstellung oft nicht darum, jüdisches Leben zu beschützen, sondern darum, Menschen, die nicht zum deutschen Leitkulturbild passen, mit unredlichen Mitteln auszugrenzen.
Die zweite Antwort kommt aus der israelischen Perspektive. Aus dieser gesehen wird Antisemitismus, der echte und der angenommene, in zweierlei Hinsicht instrumentalisiert: Zum einen ist er ein Mittel, um die jüdischen Israelinnen und Israelis zusammenzuhalten, im Sinne des Mantras: »Die ganze Welt ist gegen uns, Israel ist ein kleines Land, umgeben von Feindinnen und Feinden. Bleibt also hier und seid auf der Hut.« Und damit sind nicht nur arabische Länder gemeint, sondern auch Deutschland, Frankreich und Großbritannien.
Zum anderen wird Antisemitismus heutzutage als Mittel verwendet – oder, besser gesagt, missbraucht –, um Kritik an der israelischen Politik in Bezug auf die Palästinenserinnen und Palästinenser zu delegitimieren. Antisemitismus wird damit für Israel ein mächtiges politisches Instrument, was die Bekämpfung des eigentlichen Antisemitismus erschwert, den es immer noch gibt und der nach wie vor jüdisches Leben weltweit gefährdet. Ich trage keine Kippa [s. Glossar] oder andere religiöse Symbole. Jedenfalls gibt es an mir nichts, woran man erkennen könnte, dass ich Jude bin. Ich habe Antisemitismus nur dort erlebt, wo man das wusste.
Die meisten Menschen nehmen wahr, dass ich irgendwie anders aussehe, aber dieses Anderssein können sie schlecht verorten. Und das finde ich gut so, das ist meine Tarnung. Als ich beispielsweise in Nürnberg gespielt habe, spielte ich manchmal sonntags Ständchen mit Tracht und Lederhose im umgebenden Land, irgendwo in Franken. Franken, um Nürnberg herum, das war damals DVU-Hochburg, heute AfD. Da verspürte ich keinen Drang zu sagen, ich sei Jude. Es wäre schade drum, so hoch ist meine Lebensversicherung nicht. Aber ich fand es interessant, da zuzuhören, wo man »Deutschland, Deutschland über alles« singt, und wie hier über Ausländerinnen und Ausländer geredet wird. Interessanter als zu sagen »Ich bin Jude. Mal schauen was jetzt mit mir passiert.«
Oder in Parchim, dort habe ich einmal ein Weihnachtsoratorium gespielt in einer Kirche, wo wirklich mindestens 20 Prozent der Kirchgänger Glatzen waren, also Nazis. Übrigens, wenn man in Berlin wohnt, reicht ein Ausf lug ins Brandenburger Land, um die Neonazi-Szene zu erleben, Menschen, die »88« auf ihren Nacken tätowiert haben. Damals hieß es NPD oder DVU, es gab die AfD noch nicht. Mit dem Auftauchen der AfD hat man plötzlich entdeckt, du musst weder nach Parchim noch ins Brandenburger Land, es reicht einfach, beim Nachbarn zu klopfen. Das sind bürgerliche, in Anführungszeichen »legitime« Leute.
Den offensichtlichsten Antisemitismus habe ich aber weder auf den Straßen von Neukölln oder Wedding oder Kreuzberg noch in Parchimer Kirchen erlebt, sondern im Orchestergraben der Deutschen Oper Berlin. Da gab es damals einige Kolleginnen und Kollegen, die der Meinung waren, ich sei anders, weil ich Jude bin. Sie gingen davon aus, dass ich eine Zugehörigkeit habe, die tiefer und für mich verpf lichtender ist als jede andere von mir angegebene Zugehörigkeit. Ich habe meinen Clan, so dachten sie, meinen Stamm, und wir sind alle miteinander verbunden und wir haben gleiche Interessen. Auch wenn das vordergründig nicht zu merken sei, so hätten alle Jüdinnen und Juden im Grunde die gleichen Interessen.
Als die Berliner Staatsoper mit der Deutschen Oper um öffentliche Gelder rang, was medial als ein Konf likt zwischen Daniel Barenboim und dem damaligen Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Christian Thielemann inszeniert wurde, sagte ein Kollege zu mir: »Du und deine Barenboims, ihr habt es uns angetan! Ihr seid es!« Das ist Antisemitismus. Ein anderer Kollege ist mir gefolgt, um mir seine Anteilnahme zu bekunden. Das rechne ich ihm bis heute hoch an.
3.2 Welche Rolle spielt der Staat Israel für dich in Bezug auf Antisemitismus?
In Israel ist mein Judentum unsichtbar, denn hier gehöre ich der Mehrheit an. Es ist ein mehrheitlich jüdisches Land, und dadurch wird das Judentum »durchsichtig«. Wenn alle weiß sind, sieht man nicht, dass alle weiß sind. Wenn alle schwarz sind, sieht man nicht, dass alle schwarz sind. Es reicht aber, dass einer anders ist, dann fällt es plötzlich auf. Wenn ich jüdische Freundinnen und Freunde in Deutschland treffe, höre ich von ihren Erfahrungen als eine Minderheit in Europa. Das ist ein grundlegender Unterschied, und diese Erkenntnis zu verinnerlichen, war ein wichtiger Lernprozess für mich. Ich habe verstanden, dass ich beim Thema Antisemitismus nicht nur die Mehrheitsperspektive eines Israelis, sondern auch die Minderheitsperspektive von Diasporajüdinnen und Diasporajuden berücksichtigen muss.
Oft hört man in Israel den Satz: »Ich liebe Israel«. Einen Staat zu lieben, finde ich schwierig, ich liebe eher Menschen. Aber ich mag diesen Ort, und ich kämpfe dafür. Israel ist für mich ein sicherer Hafen unter der Bedingung, dass ich in ihn sowohl einlaufen als auch aus ihm auslaufen kann. Israels Selbstverständnis konzentriert sich aber nur auf das Kommen und nicht auf das Gehen. Jedes Mal, wenn es antisemitische Übergriffe in Europa gibt, reagieren die israelischen Politikerinnen und Politiker mit Aufrufen an die dortigen Jüdinnen und Juden, nach Israel einzuwandern. Der Subtext lautet: »Wieso seid ihr überhaupt dort? Was habt ihr dort verloren?«, und weiter, was eben eine doppelte Loyalität suggeriert: »Ihr gehört hierher.« Das ist für mich ein Problem. Israel profiliert und inszeniert sich als die Vertretung des jüdischen Volkes. Diese Vereinnahmung gefährdet Jüdinnen und Juden in der Diaspora, sie zwängt sie mehr in den Kontext des Nahostkonf likts, als dass sie sie schützt.
3.3 Betrachtest du Kritik am Staat Israel als antisemitisch?
Ist Kritik an Israel antisemitisch per se? Nein, natürlich nicht. Ist Israelkritik antisemitisch? Nein, aber der Begriff ist schwierig. Was ist Russlandkritik? Was ist Burmakritik? Was ist USA-Kritik? Wieso hat sich der Begriff »Israelkritik « etabliert? Jede besondere Behandlung macht mich misstrauisch, ob positiv oder negativ. Genauso problematisch sind in meinen Augen deutsche Politikerinnen und Politiker, die sich als Verteidigerinnen bzw. Verteidiger des jüdischen Volkes inszenieren, wobei es leider zu oft weniger darum geht, »die Juden zu beschützen«, als darum, den Antisemitismus- Diskurs zu missbrauchen, um eine in Deutschland grassierende Islamophobie zu rechtfertigen. Das geht dann nach dem Motto: »Die Muslime sind eine Gefahr für die Juden, deshalb sind sie integrationsunfähig/ müssen als gef lüchtete Menschen nicht nach Deutschland gelassen werden/ und so weiter.«
Dieser Mechanismus wurde auf der Höhe der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16 betätigt. Damals hieß es: »Die Syrer, die nach Deutschland kommen, importieren den muslimisch konnotierten und auf Israel bezogenen Antisemitismus.« Damals wohnten wir in Neukölln, die Mehrheit meiner Nachbarinnen und Nachbarn waren Palästinenserinnen und Palästinenser, es sind auch viele Syrerinnen und Syrer hinzugekommen, und einige von ihnen wussten, dass ich jüdischer Israeli bin. Das war überhaupt kein Problem. Ein Problem hatte ich eher mit Meinungsführenden, die mich als Juden missbrauchen wollten, um leiderfahrene Menschen an Deutschlands Grenzen zu stoppen.
Auf der anderen Seite geht es mir gegen den Strich, zum Beispiel in meinen Vorträgen, wenn Deutsche vollkommen undifferenziert und mit Inbrunst gegen Israel wettern. Dann lautet meine Antwort: »Moment mal, warst du mal im Jemen, oder warst du mal in Aleppo in letzter Zeit?« Und dann sage ich aus Trotz: »Lieber im Westjordanland als in Aleppo.« Es ist ein furchtbarer Satz, aber wenn ich dann so eine Predigt bekomme, dass Israel der schlimmste Staat der Welt und ein Schurkenstaat sei, in einem Lager mit Nordkorea und Russland, dann werde ich trotzig.
Der Vergleich zwischen Aleppo und dem Westjordanland ist für mich aber vor allem nicht relevant, denn als israelischer Staatsbürger trage ich die Verantwortung für die Handlungen der israelischen Regierung, ob ich sie gewählt habe oder nicht. Deshalb bekämpfe ich als Israeli die Besatzungspolitik Israels mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln. Wenn aber Israel in Deutschland nun als ein Schurkenstaat dargestellt wird, dann interpretiere ich das als einen Umgang, der zum Teil antisemitische Merkmale trägt. In der weltweiten Skala staatlicher Gräuel steht Israel nicht hoch oben, das mindert allerdings nicht meine Verantwortung für die Politik der demokratisch gewählten Regierung. Es ist kompliziert, was soll man machen. Nachdenken und Differenzieren waren nie eine einfache Angelegenheit.
Die BDS-Bewegung [s. Glossar] finde ich weder in der Zielsetzung noch in den Methoden förderlich, um eine friedliche Koexistenz zwischen Israel und den Palästinenserinnen und Palästinensern zu schaffen. Ich finde BDS unehrlich. Sie behauptet, ihr Ziel sei die Beendigung der Besatzung der besetzten Gebiete, sprich Gaza, Golan, Westjordanland und Ost-Jerusalem. Das ist grundsätzlich legitim. Des Weiteren fordert BDS die Abschaffung der ethnischen Komponente im israelischen Staatsbürgerschaftsrecht. Eine Komponente übrigens, die es auch im deutschen Einbürgerungsrecht gibt. Das würde bedeuten, Israel hört auf, der jüdische Nationalstaat zu sein. Diese Forderung würde bedeuten, dass alle Nachkommen der gef lüchteten Palästinenserinnen und Palästinenser das Recht hätten, in ihre alte Heimat zurückzukehren, nach Jaffa, nach Ramle, nach Jerusalem, nach Haifa, nach Lod. Wenn das passiert, hört Israel auf, Israel zu sein. Dann ist es etwas anderes. Darüber können wir gerne reden. Zu behaupten, dass BDS Israel an sich nicht abschaffen will, obwohl sie all das fordert, ist aber ein Widerspruch. Diese Diskrepanz ist eine Diskrepanz der Unehrlichkeit.
Ich glaube nicht, dass Israel als Pilotprojekt zur Abschaffung des Nationalstaates dienen sollte. Soll es doch erst mal Frankreich vormachen. Oder Deutschland. Oder Großbritannien. Oder Russland. Erst dann macht es Israel. Dann legt Israel die Nationalstaatlichkeit beiseite. Heißt das, dass BDS antisemitisch per se ist? Nein. Ist sie aber eine schwierige Bewegung? Ja. Ist sie eine bedeutende Bewegung in Deutschland? Nein. BDS gewinnt durch die israelische Regierung an Bedeutung, weil diese weiß, dass diese Bewegung einerseits gefährlich ist, andererseits aber zynisch dazu benutzt werden kann, jegliche Kritik an Israels Politik als verlogen und antisemitisch zu brandmarken.
Vor diesen Wagen lassen sich zum Teil auch deutsche Politikerinnen und Politiker einspannen, um daraus politisches Kapital zu schlagen, wie im Falle des gemeinsamen Antrags von CDU/CSU, SPD, FDP und den Grünen, der BDS-Bewegung Unterstützung und finanzielle Förderung zu entziehen. »Die Argumentationsmuster und Methoden der Bewegung sind antisemitisch«, hieß es zur Begründung. Später hat aber der wissenschaftliche Dienst des Parlaments ein Gutachten vorgelegt, wonach dieser Beschluss nicht auf der Basis einer spezifischen rechtlichen Regelung ergangen, sondern als »politische Meinungsäußerung im Rahmen einer kontroversen Debatte« zu betrachten sei. Aber ist BDS das größte antisemitische Problem in Deutschland? Im Schutz dieser ablenkenden BDSDebatte können sich wahre, gefährliche Antisemitinnen und Antisemiten wie der Attentäter von Halle, unbehelligt entwickeln.
[...]
3.4 Siehst du eine Korrelation zwischen Antisemitismus und der israelischen Politik?
Wir haben in letzter Zeit oft erlebt, dass der Nahostkonf likt sich auf deutsche Straßen übertrug, was unter anderem dazu führte, dass jüdische Einrichtungen, dass Jüdinnen und Juden angegriffen wurden. Das ist – und das muss in aller Deutlichkeit gesagt werden – nicht hinnehmbar.
Gleichzeitig ist es nicht akzeptabel, dass die israelische Politik Jüdinnen und Juden weltweit als Geiseln nimmt. Israelische Politikerinnen und Politiker, die das tun, vereinnahmen den Antisemitismus-Vorwurf, um Kritik an ihrer Politik abzuwehren. In der Folge ziehen sich dann wichtige gesellschaftliche Akteurinnen und Akteure in Deutschland, die die israelische Politik vielleicht kritisch betrachten, vom wichtigen Kampf gegen den eigentlichen Antisemitismus zurück. Das ist gefährlich! Denn was haben nette ältere jüdische Leute, die aus der UdSSR gekommen sind und heute in Augsburg leben, mit den Siedlungen im Westjordanland zu tun? Sie haben nichts mit der israelischen Politik zu tun. Aber eben durch das Insistieren der israelischen Regierung und auch einiger deutscher Politikerinnen und Politiker, werden diese netten älteren Menschen aus Augsburg in Gefahr gebracht. Durch dieses Insistieren wird diese vermeintliche Verbindung zwischen der israelischen Politik und der jüdischen Existenz in Deutschland oder in Europa zementiert. Plötzlich wird jede jüdische Einrichtung, werden jede Jüdin und jeder Jude zum Stellvertreterschauplatz des Nahostkonf likts. Es gibt genug echte Antisemitinnen und Antisemiten, die den Jüdinnen und Juden eine geheime, subversive Loyalität zu Israel unterstellen. Ihnen darf keine Schützenhilfe geleistet werden.
3.5 Siehst du eine Korrelation zwischen Antisemitismus und Hass auf andere Minderheiten wie Musliminnen und Muslime, Flüchtlinge, LSBTTIQ?
Ich würde sagen, der Mensch ist ein rassistisches Tier. Wir sind gerne unter unseresgleichen und mögen »die da« nicht, und »die da« können Jüdinnen und Juden, Schwarze, Schwule, Tel-Aviver sein, egal. Es gibt Abstufungen des Rassismus. Aufgrund meines mitteleuropäischen Bildungshintergrundes werde ich der deutschen Mehrheitsgesellschaft zugeordnet. Ich werde als jemand aufgefasst, der dieser Gesellschaft viel nähersteht als der Muslim bzw. die Muslimin oder als die gef lüchtete Person.
Wir wohnten, wie gesagt, einige Jahre in Neukölln, wo meine beiden Töchter in die Kita gegangen sind. Es gab dort mehr Kinder ausländischer Herkunft als »biodeutsche« Kinder. Und die überwältigende Mehrheit der Kinder ausländischer Herkunft war türkischer oder arabischer Herkunft. Und dann kam der Laternenumzug von Sankt Martin, eine sehr schöne Tradition. Wir wurden dazu eingeladen, die türkischen Kinder nicht. Intuitiv wurden wir, aschkenasische, weiße jüdische Israelis als Teil des Deutschen begriffen, im Gegensatz zu den dunkelhäutigeren Familien, in denen einige der Frauen auch Kopftuch trugen. Sie waren also noch mehr »anders« als wir. Aber ich bin mir hundertprozentig sicher, wäre diese Szene in einem bayerischen Dorf mit uns als den exotischsten Ausländern passiert, hätte man uns gesagt: »Wollt ihr vielleicht mitmachen? Das ist jetzt ein christlicher Brauch.« In Neukölln war dagegen klar, dass wir mitmachten. Das heißt, es ist eine Frage des Kontexts.
Was ich auf jeden Fall sagen würde: Zurzeit werden Jüdinnen und Juden oft als der deutschen Mehrheitsgesellschaft eher »zugehörig« betrachtet, als es gegenüber anderen Minderheiten der Fall ist. Das bedeutet nicht, dass Menschen, die eher rassistisch veranlagt sind, Jüdinnen und Juden mehr lieben als zuvor – es gibt einfach andere, die sie mehr hassen.
3.6 Ist es sinnvoll, Antisemitismus zu bekämpfen?
Ja. Doch es stellt sich die Frage, was man unter Bekämpfung versteht. Es ist meine Überzeugung, dass Bildung und Begegnung die richtigen Mittel gegen den Judenhass sind. Obwohl man bislang den Erfolg nur sehr begrenzt sehen kann, ist das kein Grund zum Aufgeben. Von der Antisemitismusbekämpfung kann man viel über den Umgang mit anderen Formen von gruppenbezogenem Menschenhass lernen, denn in vielerlei Hinsicht ist Antisemitismus die destillierte Form von Menschenhass.
In Deutschland hat mein Beitrag zur Bekämpfung des Rassismus darin bestanden, mein Leben als eine offene Einladung an die Mehrheitsgesellschaft zu verstehen: »Kommt rein, kommt rein in unser Haus, hört unsere Sprache und nehmt unsere Andersartigkeit wahr.«
Einen weiteren Beitrag versuche ich durch meine Arbeit als Radioautor zu leisten. Meine Radiosendung über Erinnerungsorte von Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Deutschland ist für mich der bis heute wichtigste Beitrag, den ich geschrieben und produziert habe. Da fiel das Wort Israel oder Jude nicht ein einziges Mal. Doch habe ich meine Position, meine privilegierte Stimme als jüdisch-israelischer Autor genutzt, um die Geschichte dieser Menschen zu erzählen. Das ist mein Beitrag gegen Rassismus und mein Beitrag gegen Antisemitismus. Antisemitismus bekämpfe ich auch, indem ich mich darauf konzentriere, die Diskussion über Antisemitismus in Deutschland von der Diskussion über Israel zu entkoppeln. Diese Trennung ist in meinen Augen die Voraussetzung für einen produktiven Diskurs über Antisemitismus, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens werden damit jene Antisemitinnen und Antisemiten enttarnt, ob »Biodeutsche« oder aus dem Ausland – auch solche mit muslimischem Hintergrund –, die »Israelkritik« als eine dünne Tarnung ihres Hasses verwenden. Zweitens wird damit vermieden, Applaus aus dem falschen politischen Lager zu bekommen.
Es gibt in Deutschland zwei falsche Seiten: erstens diejenigen, die die Politik der jetzigen israelischen Regierung unterstützen, einschließlich der Besatzung, und dann diejenigen, die die Jüdinnen und Juden quasi als einen Sandsack begreifen, um gegen »die Flut der Muslime«, nach Deutschland anzukämpfen. Ihr Mantra lautet: »Wir müssen doch unsere Juden beschützen, deswegen dürfen wir Muslime nicht ins Land lassen.« Das gleiche gilt für Aussprüche wie »Wir müssen unsere Frauen beschützen.« Oder »Wir müssen unsere Schwulen beschützen.« Auf einmal ist die politische Rechte in Deutschland zur Verteidigerin der Schwulen, der LSBTTIQ-Community geworden. Ich weigere mich, der Persilschein für solche Rassisten zu sein.
3.7 Sollte Israel sich im Kampf gegen Antisemitismus in Europa engagieren?
Ja, aber bis dahin ist es noch ein langer Weg. Dazu muss Israel sich glaubwürdig gegen Rassismus bei sich zu Hause einsetzen und Werte wie Vielfalt, Pluralismus und Toleranz in der eigenen Gesellschaft fördern, und das ist gegenwärtig nicht der Fall. Wir sollten unseren Rassismus hier, in Israel, zwischen Jüdinnen und Juden und Araberinnen und Arabern, zwischen europäischen Jüdinnen und Juden und Misrachi-Jüdinnen und -Juden [ Jüdinnen und Juden nordafrikanischen oder nahöstlichen Ursprungs, s. Glossar], zwischen Säkularen und Ultraorthodoxen zuerst bekämpfen. Dann können wir uns über den Rassismus in Europa unterhalten.
Israel schickt bei Katastrophen Hilfe nach Haiti und erklärt, »Schaut, wie toll wir sind!« Ihr müsst nicht nach Haiti f liegen. Gaza ist hier, wirklich hier, die Palästinenserinnen und Palästinenser brauchen unsere Solidarität mehr. Und dieses Elend haben wir verursacht. Aber genauso, wie mich meine israelische Staatsbürgerschaft verpf lichtet, für die Taten und Untaten meines Landes einzustehen, ist es die Pf licht jeder Bürgerin und jedes Bürgers in Deutschland, sich überall und jederzeit gegen Antisemitismus einzusetzen, unabhängig davon, ob Israel sich im Kampf gegen Antisemitismus engagiert oder nicht, oder ihn missbraucht.
Die Autorin
*****
1960 in Wien als Tochter von Holocaustüberlebenden geboren, wanderte 1979 nach Israel ein. Sie studierte Literaturwissenschaft an der Universität Tel Aviv und absolvierte Ausbildungen zur Gruppenmoderatorin, Museumspädagogin und Mediatorin. Die Bildungsexpertin fokussiert in ihrer Arbeit auf unterschiedliche Facetten des deutsch-israelischen Dialogs, u. a. Antisemitismus, Gedenkkultur, die Perzeption Israels und die Rolle von Lebensgeschichten. Sie ist Leiterin der 1994 von ihr gegründeten Agentur Israel Encounter Programs, welche die Programme der Israel-Studienreisen der Bundeszentrale für politische Bildung / bpb mitgestaltet und organisiert. Homepage:
www.anitahaviv.com/
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