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ONLINE-EXTRA Nr. 95

April 2009

Israel in den Jahren der Oslo-Verträge: ein faszinierendes, ein zerrissenes Land, das Linda, Professorin aus New York, in einem Schabbatjahr kennelernen will. So die Ausgangssituation des Romans "Der Schatten des Zwillings", den die Wuppertaler Autorin Annette Lübbers vor wenigen Wochen im prignitz-pur-Verlag publizierte.

Die Professorin begegnet während ihres Aufenthaltes in Israel Palästinensern, die sich wie Fremde im eigenen Land fühlen, sowie strenggläubigen Juden und anderen Menschen, denen die Geschichte jeglichen Glauben an Gott genommen hat. Einer davon ist Gideon, Sohn von Holocaust-Überlebenden, in den sich Linda Hals über Kopf verliebt. Ein Mann, so widersprüchlich wie das Land, in dem er lebt. Linda träumt von einer gemeinsamen Zukunft, obwohl sie weiß, dass ihrer Liebe eine furchtbare Zerreißprobe bevorsteht...

Der nachfolgende Text präsentiert Ihnen online exklusiv eine Leseprobe aus diesem Roman, der behutsam und unaufdringlich um Verständnis und Zuneigung für eine Region samt ihrer Menschen wirbt, die immer wieder die Schlagzeilen der Welt bestimmen.

COMPASS dankt der Autorin und dem Prignitz-Pur-Verlag für die Genehmigung zur Wiedergabe des Textauszuges an dieser Stelle!


© 2009 Copyright bei Autorin und Verlag 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA




Online-Extra Nr. 95


Im Schatten des Zwillings

Roman (Leseprobe)

ANNETTE LÜBBERS


Kap. 25


Zum ersten Mal seit langer Zeit saß Gideon wieder in einer Synagoge. Es war Freitagabend, der zweite Tag von Chanukka und die Kinder tobten um die Tische, die ausnahmsweise im Betraum der Reformgemeinde in Nahariya aufgestellt waren. Chanukka: Als die Hasmonäer die griechischen Götzendiener überwanden, den Tempel reinigten und den Dienst an Gott wieder aufnahmen. Die siegreichen Krieger fanden nur einen Krug mit geheiligtem Öl, das eigentlich nur für einen Tag reichen konnte. Dennoch brannte der Leuchter acht Tage lang. Seitdem feiern die Juden das Wunder dieser acht Tage. Tage, an denen jede Trauer in Israel verboten ist. Gideon seufzte. Trauer ließ sich so wenig wie jedes andere Gefühl auf Knopfdruck hervorrufen – oder beseitigen.

Im Gegensatz zum normalen Gottesdienst gab es heute auch eine musikalische Begleitung auf dem Klavier. Der Thoraschrank mit dem blauen Samtvorhang, auf dem in Gold der Löwe von Juda prangte, war an die Seite gerückt worden. Davor standen auf einem Tisch viele Leuchter mit bunten Kerzen. Zu Beginn des Gottesdienstes setzten sich die Kinder zu ihren Eltern, allerdings blieben sie dort nicht lange. Hinaus und hinein ging es und keiner fühlte sich gestört. Dies war ein Freudenfest für die Kinder und so ließ man sie gewähren. Der Kantor, gehüllt in seinen weiß-blauen Gebetsmantel, intonierte die traditionellen Worte mit tiefer, melodiöser Stimme. Gideon saß mit den anderen, stand auf mit den anderen, verbeugte sich zur Tür, der Braut Schabbat entgegen und tat seinem Erbteil entsprechend. Aber er fühlte nichts, er sang nicht mit, obwohl er die Texte noch aus Schultagen auswendig kannte. Zwei alte Männer wurden zur Thoralesung aus dem Buch Sacharja aufgerufen. Ihre leisen und ungleichmäßigen Stimmen formten Worte, die seit Jahrhunderten gleichlauteten, aber in Gideon vermochten sie keinen Widerhall zu erzeugen.

Die Kinder rannten nach vorne, um die zwei Chanukka-Kerzen anzuzünden, die nach der Schule des großen Hillel dem zweiten Tag von Chanukka entsprechen. Diese Lichter zünden wir an ob der Wunder, Siege und allmächtigen Taten, welche du für unsere Väter vollbracht.

Gideon sehnte sich nach der frommen Zuversicht der Männer jener Tage, der Makkabäer, die im Namen des Herrn der Heerscharen kämpften und auf ihr Banner geschrieben hatten: Mi kamocha ba’elim Adonai - Wer ist wie du unter den Göttern, o Herr? Die Makkabäer hatten nicht gezweifelt, und vielleicht wurden nur denen Wunder zuteil, die glaubten, ohne zu zweifeln.

Warum war er gekommen? Er wusste es nicht. Seinen Eltern machten die festlichen Tage keine Freude, wenn die Enkel nicht dabei waren, und Esther – Esther war nicht erschienen. Seine Schwester hatte zwei Kinder, einen Jungen von vier Jahren und eine Tochter von sieben. Ihre Großeltern sahen sie kaum, und nur Gideon wusste, wie sehr seine alten Eltern ihre Enkelkinder vermissten, auch wenn sie Esther nie einen Vorwurf machten.

Nach dem Gottesdienst wurde gefeiert. Auf den Tischen standen gebackene kleine Pfannkuchen, Latkes genannt, deren ölglänzende Oberfläche an das Wunder der nicht verlöschenden Öllampen im Tempel der Makkabäer gemahnte. Auf einem anderen Teller fanden sich Sufganijot, mit Marmelade gefüllte Krapfen, die ebenfalls in Öl gebacken und mit Zucker bestreut wurden. Süße Freuden für die Kinder, die überall herumrannten mit zuckerverklebten, zufriedenen Gesichtern.

Es wurde gelacht, gescherzt, gesungen. Hin und wieder riefen Besucher laut in die Menge, wenn der eine oder andere Teilnehmer die Antwort auf eine Quizfrage wusste, die der Rabbi gestellt hatte. Die Kinder spielten mit Brummkreiseln auf den Tischen, auf denen die hebräischen Buchstaben Nun, Gimmel, Heh und Peh aufgemalt waren, die den hebräischen Satz ergaben: Nes gadol haja po - Hier hat sich ein großes Wunder ereignet. Gideon erinnerte sich, einst selbst mit diesen Kreiseln gespielt zu haben, und wehmütig dachte er an seine Kindheit. Nicht, dass seine Eltern religiös gewesen wären, aber Chanukka und Purim waren Kinderfeste, die dem christlichen Weihnachten in nichts nachstanden. Er hatte nicht gefragt, um was es dabei wirklich ging. Er hatte die Geschichten gelernt wie alle anderen, und die Männer und Frauen der Bibel waren seine Helden gewesen. Samson und David und natürlich die Makkabäer. Was war geblieben vom Reich seiner einstigen Helden? Die Söhne des Priesters Mattathias, die man die Makkabäer nannte und die später die hasmonäische Dynastie gründeten, gingen zugrunde und Herodes ermordete die übrig Gebliebenen aus ihrem Hause.


ANNETTE LÜBBERS

Im Schatten des Zwillings

Roman

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prignitz-pur Verlag
Meyenburg 2009
240 S.
12,95 Euro

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Israel in den Jahren der Oslo-Verträge: ein faszinierendes, ein zerrissenes Land, das Linda, Professorin aus New York, in einem Schabbatjahr kennenlernen will.

Sie trifft Palästinenser, die sich wie Fremde im eigenen Land fühlen strenggläubige Juden und Menschen, denen die Geschichte jeglichen Glauben an Gott genommen hat.

Einer davon ist Gideon, Sohn von Holocaust-Überlebenden, in den sie sich Hals über Kopf verliebt. Ein Mann, so widersprüchlich wie das Land, in dem er lebt.

Linda träumt von einer gemeinsamen Zukunft, obwohl sie weiß dass ihrer Liebe eine furchtbare Zerreißrobe bevorsteht.



Israels Glorie, Israels Sieger. Stolz war er gewesen, stolz auf die alten und auf die neuen Helden: die Soldaten in den olivgrünen Uniformen, die von jeher seine Begleiter auf den israelischen Straßen gewesen waren. Noch immer war er überzeugt davon, dass die Männer und Frauen in der Uniform der IDF für das Überleben des Staates Israel wichtig waren, er war noch immer ein Teil davon, und wenn er einmal im Jahr die Zivilkleidung mit der Uniform tauschte, dann wusste er, wofür er das tat. Aber heute bedrückte ihn die lange Liste der seit 1948 getöteten Soldaten, im Libanon, in der Westbank, auf dem Golan, in Jerusalem. Es tat ihm leid um jeden einzelnen von ihnen. Die Unterzeichnung des Vertrages in Washington war ein Hoffnungsschimmer, ein Licht am Horizont und vielleicht würden in Zukunft keine Mütter mehr ihre Söhne verlieren an den Fronten im Norden und Süden. Vielleicht, vielleicht würde es wirklich Frieden geben. Aber im Grunde seines Herzens wusste Gideon, dass wenig sich bisher verändert hatte und dass es noch immer Menschen gab, die den Frieden zu verhindern suchten. seufzte. Als Kind waren die Rollen immer gleich verteilt gewesen. Das Gute hier, das Böse dort. David und Goliath, die Juden und die Römer, Mordechai und Haman, die Makkabäer und Herodes. Einfach, klar, unerschütterlich.

Nichts war mehr wie einst. Irgendwann musste jeder erwachsen werden.

Der Rabbi der Synagoge, ein kleiner lebhafter Mann von knapp vierzig Jahren kam auf ihn zu. „Gideon ben Avraham? Der Sohn von Rachel und Simon Nußbaum?“

Unbehaglich stand Gideon auf und schüttelte dem Rabbiner die Hand.

„Du wohnst in Jerusalem, nicht wahr? Deine Eltern erzählen mir oft von dir und Esther, wenn ich sie auf der Straße treffe. Leider kommen sie nicht in den Gottesdienst.“

Beide setzten sich und der Rabbiner blickte Gideon aufmerksam an.

„Meine Eltern glauben nicht an den Gott Moses’ und Abrahams. Und ich auch nicht“, setzte er hinzu.

Der Rabbi lehnte sich zurück, die Arme vor der Brust verschränkt, auf seiner Stirn erschienen tiefe Furchen. „Warum bist du dann hier?“

Gideon holte tief Luft, legte den Kopf in den Nacken und blickte an die Decke. Dann beugte er sich vor, die Hände auf dem zuckerverklebten Tisch gefaltet und sah das geistige Oberhaupt der Gemeinde lange an. „Rabbi, ich will dich nicht verletzen, aber du weißt um die Geschichte meiner Eltern. Wie sie haben Tausende von frommen Juden den Herrn der Heerscharen angefleht, sie nicht eines sinnlosen Todes sterben zu lassen, die Mörder hinwegzuraffen und Israel zu erlösen. Nichts von all dem ist passiert, sechs Millionen Gebete sind ungehört verhallt, der Messias ist nicht erschienen und die Mörder wurden nicht bestraft. Wo ist der Gott der Gerechtigkeit gewesen in jenen Jahren?“

„Ich weiß um deine Gefühle, Gideon, und um die Gefühle deiner Eltern. Aber der Gott unserer Väter ist auch ein furchtbarer Gott, und seine Wege können nicht mit unserem kümmerlichen Geist erfasst werden. Es wird offenbar werden, eines Tages, warum die Kinder unseres Volkes in den Feueröfen verbrannt wurden.“

Gideon schüttelte abwehrend den Kopf. “Komm mir nicht damit. Es kann keinen Sinn und keinen Grund geben. Nicht für sechs Millionen. Die Sklaverei in Ägypten, das babylonische Exil - all das mögen Erziehungsmaßnahmen für ein widerspenstiges Volk gewesen sein. Aber nicht sechs Millionen. Dafür kann es keinen Grund geben, keinen menschlichen und keinen göttlichen. Sollte es aber einen geben, so werde ich ihn nicht anerkennen. Jetzt nicht und niemals.“

Die letzten Worte sprach Gideon in einem heftigen, zornigen Tonfall und eigentlich betrachtete er das Gespräch damit als beendet. Aber der Rabbi ließ nicht locker.

„Gideon, wer sind wir, dass wir Gott zu verstehen meinen? Er hat uns zurückgeführt, trotz allem. Wir sind wieder ein Volk in einem Land. Die Nation Israel ist wieder auferstanden. Aus der Asche, gewiss. Aber sie ist wieder auferstanden.“

Gideon krümmte sich zusammen, als hätte er körperliche Schmerzen. „Nein, Rabbi, nein und nochmals nein. Der Preis ist zu hoch für dieses Stück Land. Lieber weitere tausend Jahre Galut, lieber Ausgrenzung und Fremdheit, lieber eine geschundene Minderheit, als sechs Millionen sinnlos Verbrannter. Du machst mir die Rückkehr zum Gott der Bibel damit nicht schmackhaft. Wenn es ihn gibt, dann ist er ein Verbrecher.“

Die letzten Worte presste Gideon zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, gleichzeitig erhob er sich und ging davon. Der Rabbi blickte ihm nach. Wie gut verstand er diesen zornigen Mann, wie gut verstand er seine Verzweiflung, und doch – Gott ließ seiner nicht spotten, und es würde offenbar werden zu seiner Zeit. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs war nicht tot, und nicht gestorben war die Hoffnung seines Volkes auf Erlösung. Der Rabbi seufzte und zog sich seinen Tallit, den Gebetsmantel, enger um die Schultern. Wie viele jüdische Menschen machten das Gleiche durch wie Gideon, wie viele konnten nicht glauben, und doch war er da, der Namenlose Gott seines Volkes – YHWH - der Herr der Geschichte, der Herr, der aus der Wüste erstanden war, als die Hebräer noch wanderten.



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Die Autorin

ANNETTE LÜBBERS



geboren 1962 in Mülheim an der Ruhr, lebt und arbeitet als freie Journalistin im Bergischen Land. Mit 22 Jahren sammlte sie erste Erfahrungen als Volontärin im israelischen Kibbuz Kfar Giladi.

Von 1992 bis 1996 lebte sie in Nes Ammim, einem europäischen Versöhnungsprojekt in Israel. Ihre Begegnungen mit Überlebenden der Shoa und deren Kindern bilden die Blaupause für ihren Roman "Der Schatten des Zwillings".




Begegnungen und Gespräche sind der Autorin ein wichtiges Anliegen. Insofern freut sie sich über Kommentare, Anregungen oder Einladungen zu Lesung und Diskussion!

Homepage:
Annette Lübbers
*****
Kontakt:
schatten-zwilling@web.de


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