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Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit

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ONLINE-EXTRA Nr. 101

September 2009

Dass christliche Theologie und christliches Selbstverständnis nur im Angesicht Israels authentische Qualität gewinnen kann, dass die Auslegung des Neuen Testaments und die jüdische Identität Jesu den christlichen Glauben zwingend auf das Judentum und damit eben auch auf den Glauben, die Geschichte und die Gegenwart Israels verweisen, dies alles gehört mit zu den Errungenschaften des christlich-jüdischen Dialogs der letzten Jahrzehnte.

"Ganz anders ist die Ausgangsposition jüdischer Studenten und Studentinnen im Israel des 21. Jahrhunderts, die mit säkularer Schulbildung an die Universität kommen", schreibt die Autorin des heutigen ONLINE-EXTRA, Barbara U. Meyer. "Das Christentum ist ihnen fremd – obschon sie mit der westlichen Kultur vertraut sind. Es gibt guten Grund zu der Vermutung, dass es sich hier um ein komplexes Phänomen einer Verfremdung handelt, und nicht um schlichte Unkenntnis. Wie kommt es zur Fremdheit des Christentums in der Heimat Jesu, im jüdischen Lande?" Auf diese Frage und auf die Frage, ob und wie im jüdischen Staat Christentum gelehrt werden kann und soll versucht Barbara Meyer, die an der Privatuniversität IDC Herzliya, am Hebrew Union College und an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrt, einige Antworten zu geben.

COMPASS dankt der Autorin und der Redaktion "Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum" für die Möglichkeit der Wiedergabe des Textes an dieser Stelle!

© 2009 Copyright bei Autorin und Redaktion der "Begegnungen" 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA




Online-Extra Nr. 101


Die Lehre des Christentums im jüdischen Staat 

BARBARA U. MEYER


Im 21. Jahrhundert Christentum in Israel zu unterrichten, stellt in mehrfacher Hinsicht eine theologische Herausforderung dar. Der jüdisch-christliche Dialog der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und die mit dieser menschlichen Begegnung verbundenen exegetischen Revisionen und dogmatischen Einsichten haben ein neues Licht auf das Christentum geworfen: Die Intertextualität des Neuen Testamentes, der eine Bund und die bleibend jüdische Identität Jesu unterstreichen die „schlechthinnige Abhängigkeit“ des Christentums von Glauben, Geschichte und Gegenwart Israels. Die Selbstwahrnehmung und theologische Reflexion des Christlichen haben sich geändert und betonen heute die enge Verbindung von Judentum und Christentum.

Ganz anders ist die Ausgangsposition jüdischer Studenten und Studentinnen im Israel des 21. Jahrhunderts, die mit säkularer Schulbildung an die Universität kommen. Das Christentum ist ihnen fremd – obschon sie mit der westlichen Kultur vertraut sind. Es gibt guten Grund zu der Vermutung, dass es sich hier um ein komplexes Phänomen einer Verfremdung handelt, und nicht um schlichte Unkenntnis.


DIE FREMDHEIT DES CHRISTENTUMS IM JÜDISCHEN LAND

Wie kommt es zur Fremdheit des Christentums in der Heimat Jesu, im jüdischen Lande?

Ob nun der Staat Israel selbst als jüdisch zu bezeichnen ist oder die Mehrheit seiner Bürgerinnen und Bürger – die Kultur des modernen Staates Israel ist jüdisch. Außer vielleicht in New York gibt es nirgendwo sonst heute eine Gesellschaft, die mehrheitlich jüdisch geprägt ist. Und auch für jüdische Intellektuelle ist dies eine neue Erfahrung. Die Akademiker und Akademikerinnen, die die israelischen Universitäten aufgebaut haben, waren selber mit der Schulbildung einer jüdischen Minderheit in überwiegend christlicher Umgebung aufgewachsen. Heute sind ein großer Teil des Universitätskollegiums und fast alle Lehrerinnen im Land geborene Sabres, und tragen selbst die Spuren des israelischen Bildungssystems. Für die jüdische Wahrnehmung des Christentums ist das eine völlig neue Situation. Selbst wenn jüdische Eltern in der westlichen Diaspora eine jüdische Bildung für ihre Kinder wünschen, so ist das Christentum doch immer im Alltag und in der Kultur präsent. Manchmal muss man jüdisch sein, um als christlich wahrzunehmen, was Christen für allgemein oder universal halten. Diese christliche Bildung, also selbst die informelle oder sogar unerwünschte, gibt es im jüdischen Staat nicht, und vor allem nicht in der Landessprache Hebräisch. Durch das Fernsehen und das Internet entsteht lediglich ein visueller Eindruck des Christentums; die lokalen Christen und Kirchen werden mit diesem englischsprachigen Christentum nicht unbedingt in Verbindung gebracht. Trotz der intensiven Verbindung mit der westlichen Welt ist der christliche Kalender nicht im Bewusstsein: Auch informierte und westlich orientierte Israelis wissen meist nicht genau wann das Weihnachtsfest ist, was trotz der vielleicht verwirrenden Abfolge des westlichen, östlichen und armenischen Weihnachtsfestes bemerkenswert bleibt. Andererseits hat sich in den letzten Jahrzehnten besonders in Jerusalem ein reges Interesse für die Mitternachtsgottesdienste entwickelt, die von jüngeren säkularen Israelis gern besucht werden. In der lutherischen Erlöserkirche bleiben sie meist nur kurz, da es nicht viel zu sehen gibt, während die nächtliche Messe der Dormitio auf dem Zionsberg sinnlich ansprechender ist. Die Erwartung an das Christentum ist, exotisch zu sein, in Klängen, Farben und Gerüchen. Von diesem bunten, geheimnisvollen und musikalischen Christentum geht keine Gefahr aus, es verspricht, fremd zu bleiben. 

Die Studierenden sind auf Exotik eingestellt und gehen offen mit der Andersheit des Christentums um, die Interesse weckt und eher positiv als negativ besetzt ist. Die Betonung der Bindung und der theologischen Abhängigkeit des Christentums vom Judentum ruft hingegen eine gewisse Enttäuschung hervor: Dass das Abendmahl und die geheimnisvolle Oblate, Inbegriff des spezifisch Christlichen, seine Wurzel nun einfach im Sederabend, nach Lukas der Abend des letzten Mahles, und im Kidusch, dem jüdischen Segensspruch über Brot und Wein, haben soll, ist ein beunruhigender Gedanke. Dieser Widerstand gegen die Nähe beider Traditionen steht diametral im Gegensatz zu den christlichen Lernprozessen im jüdisch-christlichen Dialog, die die Nähe beider Glaubenstraditionen in den Vordergrund rücken. In dieser Spannung wird die christliche Selbstwahrnehmung erneut herausgefordert und verunsichert: Das neu gelernte Verständnis des Christentums aus den Wurzeln des Judentums führt zu einer Darstellung, die die Entstehung des Christentums für junge Israelis beinahe unverständlich macht!

Für die universitäre Lehre ergeben sich komplizierte Aufgaben, nämlich die historische und theologische Bindung des Christentums mit den verschiedenen dogmengeschichtlichen Phasen der Auseinandersetzung, Verdrängung und Erinnerung dieser Bindung offenzulegen. Die Frage, was eigentlich christlich ist, stellt sich dabei in alt-neuer Dringlichkeit.

Was wissen ein Jurastudent und eine Wirtschaftsstudentin heute im überwiegend säkularen Herzliya vom Christentum? Sie kennen nach ihren eigenen Aussagen keine christlichen Texte. Sie wissen so gut wie nichts – so urteilen sie selbst. Doch tatsächlich kommen sie mit erheblichen Vorkenntnissen; denn sie kennen den ersten Teil des christlichen Kanons, sie kennen die Geschichte dieses Gottes und die Epoche des historischen Jesus, die Zeit des Zweiten Tempels. Tatsächlich hat sich das Christentum oft selbst geschichtslos präsentiert, als Religion des Neuen Bundes, mit einem Gott der Liebe und Jesus, der diese Liebe gelebt hat. Die Geschichte des Bundes, die Geschichte Gottes und die Geschichte Jesu wurden und werden im Christentum nicht immer erzählt. Stattdessen wurde und wird oft betont, dass die Botschaft neu, Gott nah und Jesus Christus präsent ist. Die Geschichte des christlichen Glaubens kann sicherlich sehr unterschiedlich erzählt werden. Wenn sie spontan israelisch erzählt wird, ist es eine kurze Geschichte. Einer, der die Religion erfindet und einer, der sie verbreitet. Oder einer, der gar keine Religion erfinden will und dann der, der sie trotzdem verbreitet hat. Kurzweg wird aus der christlichen Geschichte gestrichen, was die eigene, die jüdische Geschichte ist. Dann bleibt nicht viel übrig. Die Vermutung, dass das Christentum kurzatmig und gedächtnislos ist, erinnert daran, dass diese Option 140 n.Chr. wirklich eine Alternative darstellte. Die heute in Israel weit verbreitete Annahme, dass das Buch der Christen das Neue Testament ist, und die vage Vermutung, dass mit Jesus eine neuer Gott in die Welt gekommen ist, führt zu den Anfängen der christlichen Häresie- und Dogmengeschichte.

Was gehört zu einer Einführung ins Christentum? Oft frage ich die Studierenden zu Beginn des Semesters, wie sie „Christentum“ definieren würden oder was sie für das Zentrum des Christentums halten. Diese Frage ist immer wieder gestellt worden, es ist die dogmengeschichtliche Frage schlechthin: Die berühmten Vorlesungen von Adolf Harnack tragen den Titel Vom ›Wesen‹ des Christentums, und Leo Baeck hat 1905 mit seinem Buch Das Wesen des Judentums darauf reagiert. Die israelischen Studierenden haben den Namen Harnacks nie gehört, den Namen Leo Baeck können sie von verschiedenen Institutionen kennen, die nach ihm benannt wurden. Sie wissen nicht, dass Harnack das angeblich Wesentliche des Christentums vor dem Hintergrund eines abgewerteten und als defizitär dargestellten Judentums entwickelt hat.

Die Haltung der jungen Israelis gegenüber dem Christentum lässt sich eher mit Neugier als mit Abneigung beschreiben. Sie wissen von der Gewaltgeschichte der Kirche, da diese die jüdische Geschichte kreuzt, doch verbinden sie das zeitgenössische Christentum nicht mit Aggression – abgesehen von der Aggressivität der Mission, die dem Christentum zumindest als Programm grundsätzlich zugeschrieben wird. Eher gilt die christliche Religion als ›leicht‹: einfach in der Praxis, nachsichtig im Urteil und schlicht im Narrativ.

Im Kontext des jüdisch-christlichen Dialogs haben sich Theologen und Theologinnen auf eine zweite Suche nach dem Wesen des Christentums gemacht. Das neu gesetzte Ziel ist hier, christliche Identität ohne eine Abwertung des Judentums zu formulieren. Eher waren und sind viele Christen bereit, christliche Ansprüche auf eine alleinige Wahrheit zurückzunehmen. Theologen wie Paul van Buren betonen bewusst die Solidarität Jesu mit seinem Volk und seine Treue zur Tora. Auch Paulus wird als jüdischer Theologe neu entdeckt und antijüdische, antinomistische Exegese zurückgewiesen.

In der Landschaft und historischen Umgebung Jesu, wo das heilige Buch Jesu, die hebräische Bibel, heute Pflichtfach im Abitur an säkularen Schulen ist, wo die literarischen Genres des Neuen Testamentes, nämlich halachische Diskussionen, Gleichnisse und Midraschim aus jüdischen Quellen bekannt sind, und wo die Gebetssprache Jesu Alltagssprache ist, führt das Studium des Christentums zu Verwunderung und Überraschungen.


BEGEGNUNGEN - Zeitschrift für Kirche und Judentum

* akutelle Ausgabe *





Heft Nr. 2 - 2009
Aus dem Inhalt (Auszug):

Arnulf Baumann:
Christlich-jüdisches Gespräch heute
Gabor Lengyel:
Ansprache zur Einführung als Rabbiner
Wolfgang Geiger
Israel im Schulunterreicht

Probeheft, Bestellungen und Anfragen:
Begegnungen.
Zeitschrift für Kirche und Judentum
Archivstr. 3
30169 Hannover



DIE BIBEL! WELCHE BIBEL?

Das Semester beginnt. Die Studierenden erfahren auf der Internetseite des Kurses dass sie eine Bibel mitbringen sollen. Welche Bibel? Und wo findet man eine Bibel? Die Studierenden vermuten, dass es sich um das Neue Testament handelt. Dies ist tatsächlich im israelischen Buchhandel nicht zu erwerben! Nur die Universitätsbuchläden verkaufen eine Ausgabe mit akademischer Orientierung – eine wissenschaftliche kommentierte Ausgabe des Neuen Testaments gibt es nicht auf Hebräisch, auch keine mehrsprachige Fassung. Herausgegeben und vertrieben wird das Neue Testament von einer messianisch orientierten Bibelgesellschaft. Vor einigen Jahren wurde die schöne Übersetzung von Franz Delitzsch neu aufgelegt, während vorherige Übersetzungen auffällig schlicht gehalten waren. Das Neue Testament wird überwiegend allein gedruckt, doch gibt es auch eine Ausgabe, in der Tanach1 und das Neue Testament in ein Buch gefasst sind – somit eine christliche Bibel auf Hebräisch? Eine gute Frage, und viel interessanter als es auf den ersten Blick scheinen mag.

In vielen der christlichen Erklärungen im jüdisch-christlichen Dialog wird das gemeinsame Buch betont – so z. B. in der berühmten Rheinischen Synodalerklärung von 1980. Die Rede vom gemeinsamen Buch der Juden und Christen ist theologisch richtig – es ist derselbe Text. Die Bücher allerdings sind anders geordnet, so dass der Tanach und das Alte Testament sich im Aufbau in einer englischen Übersetzung unterscheiden. Historisch führt uns die Kanonfrage ins Herz der Entstehung des Christentums. Erst in der Mitte des zweiten Jahrhunderts entscheidet sich „die“ Kirche für den Doppelkanon. Seit ich mit israelischen Studierenden über die Entstehung des christlichen Kanons spreche, wächst meine Überzeugung, dass die Entstehung des Christentums in enger Verbindung mit der Entscheidung über den christlichen Kanon steht.

Die israelischen Studierenden sind überrascht, dass ihr Buch, der Tanach, Teil der christlichen Heiligen Schrift ist. Tatsächlich wird mit dem christlichen Doppelkanon eine unerhörte, weit reichende theologische Aussage getroffen. Wie diese Entscheidung getroffen wurde und sich durchgesetzt hat, ist historisch im Einzelnen schwer rekonstruierbar. Die Kirche des frühen zweiten Jahrhunderts ist noch keineswegs eine Institution, die nach einem bestimmten Muster Entscheidungen trifft. Daher ist die umgekehrte Aussage nicht unzutreffend: Mit der Kanon-Entscheidung entsteht die christliche Kirche. Die Verwunderung der israelischen Studierenden, dass ihr Buch auch das Buch der Christen ist, beruht nur vordergründig auf Unkenntnis. Theologisch ist Verwunderung eine angemessene Reaktion! Die Kanon-Entscheidung ist zugleich ein Bekenntnis zu demselben Gott, von dem beide Teile der Bibel handeln. Dietrich Ritschl spricht in der christlichen Perspektive vom »Staunen über die Kontinuität der Identität der Rede von Gott«2. Jüdische Verwunderung korrespondiert in gewisser Weise zu diesem christlichen Staunen.

Nichts ist selbstverständlich in der christlichen Kanonbildung: Weder dass alle Bücher der Tora, der Prophetie und der Schriften übernommen wurden, noch dass in ihnen nichts geändert wurde; weder dass der erste Teil des Kanons nicht als Buch eines anderen verstanden wurde, noch dass Christen ihren eigenen Namen nicht in diesen Text eingetragen haben. Im jüdisch-christlichen Dialog führte diese Wahrnehmung zunächst zu einem Rückzug: Der erste Teil des Kanons gehört uns wohl gar nicht! so erschraken revisionsbereite Christen. Paul van Buren beschrieb die christliche Hermeneutik des jüdischen Buches als »Reading Someone Else’s Mail«3. Christen im Dialog sprachen nicht mehr vom Alten Testament, sondern von der Hebräischen Bibel, die sie den Juden nicht mehr enteignen wollten.

Für die israelischen Studierenden ist es erstaunlich, dass die Christen dieses Buch zu ihrem eigenen gemacht haben. Sind die Christen auch aus Ägypten ausgezogen, frage ich kurz vor dem Pessachfest. Natürlich nicht. Das Volk Israel zog aus Ägypten aus! Das würden viele Christen heute auch antworten. Aber als lediglich respektvoll betrachtetes Buch des Anderen wären die Tora und Propheten nicht in den christlichen Kanon gekommen. Und ohne den Doppelkanon wäre nicht deutlich, wer Gott ist: Der Rückzug vom jüdischen Tanach führt zu Markion und ist ein Exodus aus der eigenen Glaubensgeschichte. Wenn die hebräische Bibel nicht mehr zu Christen gehört, dann sind sie nicht mehr Christen sondern Markioniten.

Die auf den ersten Blick ›politisch korrekte‹ Korrektur der Enterbung, der „Verzicht“ auf die  Hebräische Bibel und ihre „Rückgabe“ an das Judentum bietet somit keinen neuen Weg: sie ist keine christliche Option. Dass die markionitische Alternative mit ihrem neuen, unbekannten Gott und der Trennung von der hebräischen Geschichte trotz ihrer antijüdischen Impulse vielleicht zu weniger Gewalt gegenüber Juden geführt hätte, ist damit nicht bestritten.

Für die israelischen Studierenden bietet sich hier ein tiefer Einblick in die Komplexität christlicher Identität. Zugleich entmythologisieren sich unhistorische Selbsteinschätzungen: Tatsächlich haben Christen die hebräische Bibel angenommen. Historisch kann jedoch nicht gesagt werden, dass Christen den Tanach übernommen und zum Alten Testament gemacht haben. Denn der Tanach ist jünger als das Christentum. Das Ende des zweiten Jahrhunderts markiert den Abschluss mehrerer Kanonisierungsprozesse, nämlich sowohl des Tanach als auch der christlichen Bibel (und der Mischna, der bis dahin mündlichen Tora, auf der später der Talmud aufbaut). Wissen und Überzeugungen geraten hier in Konflikt miteinander: Die israelischen Studierenden wissen, dass der Tanach nicht immer in der jetzigen Form vorlag, und dass die Tora auf Rollen geschrieben war, ist wegen der synagogalen Toralesung auch ohne historische Bildung eine präsente Erinnerung. Dass der Tanach jedoch jünger sein soll als das Christentum klingt wie eine Provokation. Und tatsächlich, der kalifornische Talmudprofessor Daniel Boyarin4, der sich auch als jüdischer Kulturkritiker versteht, provoziert, indem er noch einen Schritt weitergeht und erklärt, das Judentum sei jünger als das Christentum. Es handelt sich hier um eine innerjüdische Provokation, die auch bei säkularen jungen Israelis ihre Wirkung nicht verfehlt. Gleichfalls hatten sich Christen soeben an die Rede von den jüdischen Wurzeln gewöhnt, aus denen sie entstanden sind und denen sie in Erinnerung an Römer 11 dankbar sein wollen.

Die Lernprozesse und Entmythologisierungen liegen auch hier quer: Christen haben nach vielen Irrungen und Wirrungen begonnen, die Kontinuität Israels anzuerkennen. Diese Kontinuität ist bei Paulus bezeugt, sie gehört also zum christlichen Zeugnis. Aber Kontinuität bedeutet nicht, sich nicht zu verändern. Boyarin’s Betonung der rabbinischen Innovation kritisiert eine unhistorische Sicht, die bei den Studierenden zur Rede vom jüdischen Abraham und jüdischen Mose führt, was nicht falsch, aber Ausdruck einer spezifischen Hermeneutik ist, die gerade von den säkularen Israelis, die die hebräische Bibel ohne rabbinische Kommentare gelernt haben, nicht als solche wahrgenommen wird.


DAS AUSEINANDERGEHEN DER WEGE

Zwischen der historischen Erforschung der Entstehung von Judentum und Christentum und zeitgenössischen theologischen Auffassungen des jüdisch-christlichen Verhältnisses besteht eine enge Wechselwirkung. Christen haben das Modell der Enterbung sowohl historisch als auch theologisch als falsch erkannt. Das Modell der zwei Wege bedeutet hier sicherlich einen Fortschritt. Doch auch die Darstellung von Judentum und Christentum als zwei verschiedener Fortführungen desselben biblischen Israel ist nicht frei von historischer Projektion, wenn sie auch gut zu einer gleichberechtigten Sicht der Religionen passen würde.

Hilfreich ist hier der Perspektivenwechsel Boyarins: Auch für die ersten Jahrhunderte ist ein Versuch, Alltagsgeschichte zu erforschen, lohnend. Synagoge und Kirche sind keinesfalls allerorten Institutionen, die einander ausschließen. Aus der Sicht des betenden Individuums gibt es noch bis ins vierte Jahrhundert verschiedene Möglichkeiten synthetisierender Praxis und Zugehörigkeit. Einzelne sehen sich in der Jesusnachfolge und bleiben observant, andere beten in beiden Traditionen, manche feiern den einen wie den anderen Ritus.

Für die israelischen Studierenden ist diese historische Forschung der fließenden Identitäten ungewohnt. Die Notwendigkeit, über die christliche und jüdische Identität historischer Persönlichkeiten eine klare Entscheidung zu treffen, zeigt sich bereits in der Diskussion um Jesus und Paulus!

Jesus ist das erste große Thema. Nach der Erklärung nicht vorhandener Vorkenntnisse hat hier jeder und jede eine Vorstellung und ein Bild. Auch wenn sechzig Studierende den Einführungskurs besuchen, kommen hier alle zu Wort: Reihum sollen sie in einem Wort zusammenfassen was sie von Jesus halten, bevor wir uns den Texten zuwenden. ›Religionsgründer‹, ›Prophet‹, ›Messias der Christen‹, ›einfach ein charismatischer Mensch‹ – manche versuchen sich in Neutralität, einige sprechen aus jüdischer Intuition, andere versichern Anerkennung, hegen Sympathien.

Die Evangelientexte sind nicht bekannt und wir lesen die Anfänge der Synoptiker um einen Eindruck zu gewinnen. Die Studierenden sind fasziniert von der Unterschiedlichkeit der Jesus-Darstellungen. Ich habe die These entwickelt, dass das jüdischste am Neuen Testament in der Pluralität der Evangelien zu finden ist. Wir lesen die Bergpredigt, diskutieren ob das Vaterunser ein ›jüdisches‹ Gebet ist oder ein ›christliches‹. Studierende mit religiösem Hintergrund und rabbinischer Textkenntnis stimmen hier für jüdisch, viele Säkulare halten die Rede von der Sündenvergebung für typisch christlich. Was kann überhaupt christlich im Unterschied zu jüdisch sein, in diesen jüdischen Texten aus der Zeit des Zweiten Tempels?

Auch die Gleichnisse lösen Diskussionen aus. Die Arbeiter im Weinberg und der verlorene Sohn fordern das Gerechtigkeitsempfinden heraus. Zeigen sich hier Anfänge einer anderen Ethik? Zielen die Gleichnisse überhaupt auf Ethik? Und wieder, je säkularer die Studierenden, desto sicherer, dass die hier vertretenen Werte christliche sind. Am erstaunlichsten aber finden die Studierenden die Begegnung Jesu mit der kanaanäischen Frau. Dass diese Geschichte so tradiert wurde! Die textkritische Regel ›lectio difficilior‹, die besagt, dass die schwierigere Lesart die historisch wahrscheinlichere ist, leuchtet hier unmittelbar ein: Diesen Dialog hätte niemand erfunden, der im Sinne der Jesusbewegung Texte zusammengestellt hat. Jesus wird menschlicher, vertrauter. Fremd bleiben noch seine Wunder bzw. die Taten, die ihm zugeschrieben werden, nach der Meinung einiger Studenten „das, was aus ihm gemacht wurde“.

Auch die Frage nach dem historischen Jesus stellt sich im israelischen Universitätskontext auf besondere Weise. Nachdem die christlich universitäre, historisch-kritische Forschung sich nicht auf authentische Jesusworte einigen konnte und sich auf eine Historizität Jesu wissenschaftlich nicht festzulegen vermochte, haben in den siebziger und achtziger Jahren zwei israelische Religionswissenschaftler maßgeblich zur Erforschung des historischen Jesus beigetragen: David Flusser hat überzeugend dargelegt, dass Jesus observant war und den Pharisäern nahestand. Shmuel Safrai hat darüber hinaus viele Gemeinsamkeiten zwischen Jesus und charismatischen Persönlichkeiten der Chassidim (Fromme) in der Zeit des Zweiten Tempels gefunden, darunter besonders mit Choni, dem Kreiszieher und Chanina ben Dossa. Von Choni, dem bekanntesten der Chassidim des Zweiten Tempels, haben alle gehört, die rabbinischen Texte sind hingegen nur religiös gebildeten Studierenden bekannt.

Die zeitnahen Wunder der Rabbinen zeigen große Ähnlichkeit mit den Jesusgeschichten. Das Verhältnis des Chassid mit seinem Gott ist ein Abba-Ben, ein Vater-Sohn Verhältnis! Was denn die Christen zu diesen Parallelen sagen?

Systematisch theologisch hat bisher vor allem Friedrich-Wilhelm Marquardt diesen Befund reflektiert und am Anfang seiner Christologie den christlich historischen Zweifel an Jesus mit der jüdischen Erinnerung kontrastiert.5 In jüdischer Kontinuität wird Jesus wahrscheinlicher als christliche Wissenschaftler zu behaupten wagen; zugleich ist Jesus nicht allein und einzigartig in seiner besonderen individuellen Gottesbeziehung und charismatischen Begabung.
Für Marquardt bildet die jüdische Identität die wichtigste christologische Aussage. Die Studierenden aber wollen verstehen, inwiefern Jesus Christus für Christen mehr als nur „Messias“ ist. Dies führt zu den Kirchenvätern, ihren Anliegen und Denkleistungen. Wie kann „wahrer Mensch und wahrer Gott“ zusammengedacht werden? Fasziniert sind die jungen Israelis vom Konzil von Chalcedon (451) und der spirituellen Dimension dogmatischer Präzision: Nur darüber, wie die menschliche und die göttliche Natur nicht zusammengedacht werden können, treffen die Kirchenväter eine dogmatische Aussage und bewahren so das Geheimnis Jesu Christi und die Menschlichkeit der Dogmatik.

Umgangssprachlich wird auch im modernen Hebräisch das Wort ›dogmatisch‹ (›dogmati‹) als Synonym für geistige Starrheit verwendet. Nach dem Gang durch die dogmengeschichtlichen Diskurse erwägen die Studierenden zwar noch nicht, den Begriff fortan als Kompliment für Kommunikationsfähigkeit zu benutzen(!), doch sie können die intellektuellen Leistungen und die theologische Denkdisziplin der Kirchenväter wertschätzen.


ANMERKUNGEN



1 Akronym aus den Anfangsbuchstaben der drei Teile der Jüdischen Bibel: Tora, Neviim (Propheten) und Ketuvim (Schriften). [Alle Fußnoten Redaktion "Begegnungen"].
2 Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie, München, 1984, S. 178.
3 „On Reading Someone Else’s Mail. The Church and Israels Scriptures”, in: Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte. Festschrift für Rolf Rendtorff. Neukirchen, 1990, S. 595-606.
4 Daniel Boyarin, Borderlines. The Partition of Judaeo-Christanitiy, Philadelphia, 2004.
5 Friedrich-Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie. Band 1. Gütersloh, 1993.



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Die Autorin

BARBARA U. MEYER


... lehrt an der Privatuniversität IDC Herzliya, am Hebrew Union College und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Ihr Buch „Christologie im Schatten der Shoa, im Lichte Israels. Studien zu Paul van Buren und Friedrich-Wilhelm Marquardt“ ist 2004 im TVZ Zürich erschienen. In ihrem derzeitigen Forschungsprojekt beschäftigt sie sich mit israelischer Philosophie.

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