ONLINE-EXTRA Nr. 149
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"Im Himmel, unter der Erde" - so lautet der Titel eines Dokumenatrfilms, den die Berliner Journalistin und Filmemacherin Britta Wauer drehte und der im Frühjahr dieses Jahres in den deutschen Kinos anlief. Auf Anhieb erhielt der Film in den Feuilletons der Zeitungen glänzende Kritiken und bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin wurde er mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Reichlich ungewöhnlich für einen Film, in dessen Mittelpunkt ein Friedhof steht - allerdings ein ganz besonderer Friedhof mit einer ganz besonderen Geschichte: Der jüdische Friedhof Weissensee in Berlin.
"Im Himmel, unter der Erde" erzählt Geschichten rund um den Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee, der seit 1880 besteht, seitdem ununterbrochen in Benutzung war und heute der größte jüdische Friedhof Europas ist. Knapp 130 Jahre ist er alt und der größte jüdische Friedhof in Europa, auf dem noch bestattet wird. Das unter Denkmalschutz stehende Areal soll in einigen Jahren offiziell zum Weltkulturerbe der UNESCO zählen. Der Friedhof gleicht einem Geschichtsbuch. Hier haben berühmter Künstler, Philosophen, Juristen, Architekten, Ärzte, Religionslehrer und Verleger die letzte Ruhe gefunden. Die Kaufhausgründer Jandorf (KaDeWe) und Hermann Tietz (Hertie) gehören dazu, der Maler Lesser Ury, der Hotelier Kempinski, der Verleger Samuel Fischer (S. Fischer Verlag) und Rudolf Mosse, dem einst das größte Verlagshaus Europas gehörte. Über 115.000 Menschen sind hier bestattet. Es gibt nur wenige Angehörige, die die Gräber pflegen könnten: die Shoa hat nicht nur das Millionen Menschen umgebracht, sondern auch das Andenken an sie geraubt. In Berlin lebten in den 1930er Jahren rund 170.000 Juden, nach Kriegsende waren es nur noch 1.500.
Britta Wauer suchte mit Hilfe der Zeitschrift "aktuell – Zeitschrift für ehemalige Berlinerinnen und Berliner" nach Personen, die Dokumente und Informationen über den Friedhof Weißensee besitzen. Sie erhielt Zuschriften aus aller Welt und trug so zahlreiche Geschichten über den Friedhof zusammen, die auf berührende Weise das Zentrum ihres Dokumentarfilms bilden. In Ergänzung zu dem Film veröffentlichte sie ein Buch, das anhand von Originaldokumenten und Fotos der Fotografin Amélie Losier die Geschichte des jüdischen Friedhofs auf Deutsch und Englisch erzählt. Aus diesem ungemein sorgfältig edierten und äußerst ansprechenden Buch präsentiert Ihnen COMPASS heute das Vorwort von Britta Wauer, die Einleitung und ein beispielhaftes Kapitel.
COMPASS dankt der Autorin, der Fotografin und dem be.bra-Verlag für die Genehmigung zur Wiedergabe von Wort und Bild an dieser Stelle!
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Online-Extra Nr. 149
VORWORT Es war nicht meine eigene Idee, mich mit dem Jüdischen Friedhof Weißensee zu befassen. Als mich Gabriel Heim, der damalige Fernsehdirektor des Rundfunks Berlin- Brandenburg, im Jahr 2006 darauf ansprach, war ich zwar voller Faszination für diesen Ort, aber auch skeptisch, ob man über ihn einen sehenswerten Film zustande bringen könnte. An ein Buch habe ich damals – als Dokumentarfilmerin – überhaupt noch nicht gedacht. Die Besonderheit des Friedhofs, die Mischung aus steinernen Grabmälern und wild wuchernder Natur, das Wunder, dass die Anlage die Nazizeit unzerstört überstanden hat, spürt man am besten bei einem persönlichen Besuch. Ein Film dagegen, so war die Überlegung, müsste zeigen, was dem Friedhofsbesucher beim Sonntagsspaziergang verborgen bleibt: die Geschichten hinter den Grabsteinen. Auch die Karteikarten in der Friedhofsregistratur erzählen nicht, wer die knapp 116 000 Menschen waren, die hier begraben liegen, und was aus ihren Angehörigen geworden ist. Mir war klar, dass – verstreut in alle Welt – Kinder, Enkel, Neffen oder Cousinen dieser Menschen leben. Aber was wissen sie von ihren Vorfahren noch? Verbindet sie etwas mit dem Friedhof in Weißensee? Die Antwort würden allein die Angehörigen geben können. Nur wie sollte ich sie finden?
Hermann Simon, der Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, schlug mir vor, einen Artikel in der Zeitschrift »Aktuell« zu veröffentlichen, die vom Berliner Senat herausgegeben und an ehemalige Berliner in aller Welt verschickt wird. Im Mai 2007 schrieb ich darin über das Filmvorhaben und fragte nach Angehörigen, die mir mit Informationen weiterhelfen könnten. Innerhalb weniger Wochen kamen fast 250 Zuschriften! Das war eine schöne Überraschung, aber auch eine überwältigende. Die Briefe kamen aus Neuseeland, Argentinien, Südafrika, Kanada, den USA, Austra lien, Israel und allen Teilen Europas. Ein Landarbeiter aus einem Kibbuz in Israel schrieb ebenso wie eine Lady von der 5th Avenue in New York, ein junger, orthodoxer Mann aus Kanada berichtete über die Herkunft seiner Familie, ein 95-Jähriger aus Australien schickte Bilder per Email. Traurige Berichte und spannende Schilderungen, nützliche Hinweise und erstaunliche Informationen erreichten mich. Die meisten Umschläge waren gefüllt mit Fotos von Verstorbenen oder mit Unterlagen über den Kauf eines Grabes. Viele Absender fragten aber auch: Wie sieht das Grab meines Vaters, meiner Großtante, meiner Uroma heute aus?
Ziemlich schnell musste ich mir eingestehen, dass ich die bald auf zwölf Aktenordner anwachsende Korrespondenz nicht allein bewältigen konnte. Anna Fischer vom Centrum Judaicum half mir von Anfang an. Bei ihr im Archiv sind auch alle Originaleinsendungen verwahrt. Thomas Pohl aus dem Büro der Friedhofsverwaltung suchte Hunderte von Grabnummern in der Registratur heraus und markierte ihre Lage in den Feldplänen des Friedhofs. Miriam Seyffarth spürte die Gräber auf dem weitläufigen Gelände auf und fotografierte sie. Meine Regieassistentin Jana Westmann recherchierte fehlende Informationen und Lebensdaten in Berliner Archiven und formulierte liebevolle Antwortschreiben. Katja Schmitz-Dräger vermittelte sogar einen Steinmetz, um einen umgefallenen Grabstein wieder aufrichten zu lassen. Noch ein Jahr nach dem Artikel bekamen wir neue Briefe und mit vereinten Kräften haben wir tatsächlich jeden einzelnen beantwortet – auch wenn manch einer mehrere Monate darauf warten musste.
Mit jeder neuen Geschichte wurde mir aber auch klarer, wie unmöglich es war, all die besonderen und erzählenswerten Schicksale in einem einzigen Film unterzubringen. So entstand die Idee zu diesem Buch. Viele der gezeigten Fotos stammen aus Familienalben. Sie haben Knicke und kleine Flecken, einige sind unscharf, weil nicht professionellen Fotografen, sondern die Angehörigen selbst die Situationen eingefangen haben. Manchmal fotografierten sie direkt nach einer Beerdigung oder Steinsetzung, spätestens aber dann, als sie Ende der 1930er Jahre dem Friedhof in Weißensee einen letzten Besuch abstatteten, bevor sie Deutschland fluchtartig verlassen mussten. Die Fotos wurden geliebt und gehütet und reisten mit ihren Besitzern in ein neues Zuhause am anderen Ende der Welt. Nun sind sie nach Berlin zurückgekehrt, um zum ersten Mal öffentlich gezeigt zu werden. Das Buch vereint die Fotos aus Privatbesitz mit Bildern aus Archiven und Sammlungen, auf die wir während der dreijährigen Recherche gestoßen sind. Den historischen Aufnahmen sind aktuelle Bilder gegenüber gestellt, die die Fotografin Amélie Losier während unserer Dreharbeiten aufgenommen hat. Unter jeder Bildbeschreibung findet sich eine Quellenangabe. Dort stehen die Namen der Menschen, die mir die Geschichte des Bildes erzählt haben. Auch die Angaben zur Lage des beschriebenen Grabes sind auf jeder Seite aufgeführt. Die Bezeichnung »F6« bedeutet zum Beispiel, dass sich das Grab im Feld F der Abteilung 6 befindet. Auf der letzten Seite dieses Buches gibt es zur besseren Orientierung einen Übersichtsplan des Friedhofs.
Ich wünsche mir, dass all diese Bilder dazu beitragen, den Friedhof Weißensee ins Bewusstsein der Menschen zu rücken, damit er nicht länger ein Schattendasein am Rande der deutschen Hauptstadt führt. Denn dieser Ort vermag Menschen zu begeistern und zu verbinden. Das haben mich die Entdeckungen und Begegnungen, die wir in Weißensee und durch Weißensee erlebt haben, gelehrt.
Britta Wauer, im Januar 2010
Der jüdische Friedhof Weissensee
Der Jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee, einer der schönsten und größten jüdischen Friedhöfe in Europa. Unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte, schrieb einst Heinrich Heine in seinen Reisebildern. Der 1880 eingeweihte Friedhof verbindet Menschen und Schicksale aus der ganzen Welt: den Chirurgen aus Israel, dessen Großeltern hier begraben liegen, die Familie aus Südamerika, die das Mausoleum ihres reichen Vorfahren zu Geld machen wollte, den Mann, der als 14-Jähriger zwischen den Gräbern Sportunterricht hatte und sich dabei in seine Mitschülerin verliebte, oder auch die kleine Familie, die heute auf dem Friedhof wohnt. Dieses Buch spürt Geschichten derer auf, die in Weißensee ihre letzte Ruhe fanden und derer, die mit ihnen verbunden sind. Bisher unbekannte historische und aktuelle Fotografien ergänzen die Texte.
»Alle Geschichten wird man nie erzählen können, aber es lohnt sich, immer wieder neuen Geschichten nachzuspüren, sie in gewisser Weise den Grabsteinen zu entlocken.«
Hermann Simon (Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin- Centrum Judaicum)
Weitere Infos:
Bebra-Verlag
EINLEITUNG
Auf dem Plan sieht er aus wie ein Garten der Renaissance: Eine Geometrie von Rechteck, Trapez und Dreieck. Die Alleen kreuzen sich in Kreisen und Quadraten. Aber wer die Anlage betritt, fühlt sich wie an einem verwunschenen Ort. Morgentau und Nebel, hohe Bäume, Dickicht. Dazwischen Säulen, Steine, Mausoleen, Efeu, Flieder und von rechts ein kleiner Fuchs – der Jüdische Friedhof Weißensee.
Es ist der dritte, der von der neuzeitlichen Jüdischen Gemeinde Berlins angelegt wurde. 130 Jahre ist er alt und der größte jüdische Friedhof in Europa, auf dem noch bestattet wird. Etwa 86 Fußballfelder hätten dort Platz. Dennoch steuert kaum ein Sightseeing-Bus das Gelände abseits der Touristenpfade an. Nur wenige wissen, dass das unter Denkmalschutz stehende Areal in einigen Jahren offiziell zum Welterbe der UNESCO zählen soll. Das Bedeutsame des Friedhofs sind nicht nur die außergewöhnlichen Grabdenkmäler, deren Vielzahl und Pracht heute schier unglaublich erscheint, sondern es ist sein Schicksal, das eng mit dem Berlins verbunden ist. Wenn man über den Friedhof geht, spaziert man wie durch ein Geschichtsbuch. Lang ist die Liste berühmter Künstler, Philosophen, Juristen, Architekten, Ärzte, Religionslehrer und Verleger, die dort beerdigt sind. Die Kaufhausgründer Adolf Jandorf (KaDeWe) und Hermann Tietz (Hertie) gehören dazu, der Maler Lesser Ury, der Verleger Samuel Fischer (S. Fischer Verlag), Berthold Kempinski, der den berühmten Luxus-Hotels seinen Namen gab, und Rudolf Mosse, dem einst das größte Verlagshaus Europas gehörte.
Als erster wurde allerdings keine Berühmtheit begraben, sondern am 22. September 1880 Louis Grünbaum, der ehemalige Leiter eines Altersheims. Auf seinem Grabstein steht an der Seite eine große »1«. Dass der Stein noch steht, liegt daran, dass ein jüdischer Friedhof für die Ewigkeit angelegt wird. Die Gräber werden nicht eingeebnet, Liegefristen gibt es nicht. Auf jedem Grabstein in Weißensee findet sich eine fortlaufende Nummer, die frischen Gräber haben sechsstellige Zahlen.
Über 115 000 Menschen sind auf dem Friedhof in Weißensee bestattet. Einfache Steine stehen neben prächtigen Mausoleen aus der Zeit von Jugendstil oder Art déco. Einige Grabmale sind von den Bauhaus-Architekten Ludwig Mies van der Rohe und Walter Gropius entworfen. Manche wirken verspielt, viele rühren mit ihren Inschriften, andere beeindrucken durch ihre Monumentalität. Doch so unterschiedlich das Budget einst gewesen sein muss, das für die Grabgestaltung zur Verfügung stand, so sehr gleichen sich die Gräber heute: eingestürzt, zugewachsen, vergessen. Kaum ein Lichtstrahl dringt im Sommer durch die riesigen Baumkronen auf die Gräber. Manche Wege sind so verwuchert, als wäre seit Jahren kein Mensch mehr bis zu den Grabstellen vorgedrungen. Angehörige, die die Gräber pflegen könnten, gibt es kaum. Die Shoa hat nicht nur das Leben von Millionen Menschen vernichtet, sondern auch das Andenken an sie zerstört. In Berlin lebten in den 1930er Jahren rund 170 000 Juden, nach Kriegsende waren es nur noch 5 000.
Das Besondere ist: Weißensee wurde nie geschlossen. Der Friedhof gehörte zu den wenigen Institutionen in Deutschland, die auch während der Nazizeit in jüdischer Selbstverwaltung blieben. In Weißensee spielten jüdische Kinder, als es auf den Berliner Straßen zu gefährlich für sie wurde. Hier naschten sie Pflaumen und Aprikosen von wilden Obstbäumen. Einzelne Juden versteckten sich für ein paar Nächte in frisch ausgehobenen Gräbern oder Mausoleen vor ihren Verfolgern. Unter Rabbiner Martin Riesenburger fanden sogar von 1943 bis 1945 Beerdigungen statt – alle nach jüdischem Brauch, bis auf die Tatsache, dass Riesenburger und seine verbliebenen Mitarbeiter die einzigen waren, die den Sarg zur Grabstelle begleiten konnten.
Was aus den Berliner Juden wurde, erzählen manche Gräber: Steine, auf denen Eltern samt ihren Kindern dasselbe Todesdatum haben, deuten auf Freitod hin. Blanke Stellen auf Grabsteinen, die leer geblieben sind, erzählen von Menschen, für die ein Platz vorgesehen war, die dort aber nie beerdigt werden konnten, weil sie in einem Konzentrationslager ermordet wurden. Manchmal erfahren wir ihre Namen. An Familiengräbern steht hin und wieder der Zusatz: »Im Gedenken an …«.
Am Rande der Hauptstadt der DDR gelegen, geriet der Friedhof nach dem Krieg immer mehr in Vergessenheit. Der kleinen Ostberliner Gemeinde war es nicht möglich, den sich ausbreitenden Urwald in Weißensee zu beherrschen. In ihrer Hilflosigkeit entschied sich die Verwaltung damals, den größten Teil des Friedhofs der Natur zu überlassen, um Kraft und Mittel wenigstens für einige repräsentative Felder im Eingangsbereich zu haben, auf denen noch bestattet wurde. Seit der Wiedervereinigung versuchen die Mitarbeiter des Friedhofes, Stück für Stück die einzelnen Felder zurück zu erobern.
Die Jüdische Gemeinde zu Berlin ist heute mit mehr als 12 000 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde in Deutschland. Dies liegt an den in den letzten Jahren eingewanderten Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Mittlerweile sind etwa 80 Prozent der Gemeindemitglieder Zuwanderer. Die Bräuche und Traditionen der Angehörigen, mitgebracht aus der alten Heimat, sind das jüngste und spannungsreiche Kapitel von Weißensee, denn auf dem historischen Areal wird immer noch bestattet. Was wir auf dem Friedhof finden, ist jüdische Geschichte, die zugleich Berliner und deutsche Geschichte ist – abgeschlossen ist sie nicht.
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Zwischen den Weltkriegen (1919–1938) Jedweder hat hier seine Welt: Als Kurt Tucholsky 1925 dieses Gedicht über den Friedhof Weißensee schrieb, war er noch überzeugt: »Da komm’ ich hin«. Aber der große Berliner Schriftsteller starb zehn Jahre später im schwedischen Exil, nicht so freiwillig, wie der Begriff »Freitod« nahe legt. Kurt Tucholsky wurde am Schloss Gripsholm begraben. Nur sein Vater liegt in Weißensee. An die Mutter erinnert eine Inschrift: »gest. 7. 5. 1943 in Theresienstadt«. Es sind Spuren einer traurigen Familiengeschichte, wie sie in Weißensee häufig zu finden sind. Je näher die Bilder und Geschichten dem Jahr 1933 kommen, desto eindringlicher fragt man sich, was aus den Menschen, deren Schicksal hier erwähnt wird, geworden ist. Selbst wenn sie sich retten konnten – vermochten es auch die Eltern, die Geschwister oder die Freundin? Ab einem bestimmten Punkt enden fast alle Geschichten in einem Vernichtungslager.
Die größte jüdische Gemeinde Deutschlands zählte Mitte der 1920er Jahre 170 000 Mitglieder. Jeder dritte in Deutschland lebende Jude hatte seinen Wohnsitz in Berlin. Viele von ihnen trugen als Künstler, Schriftsteller, Schauspieler, Politiker oder Wissenschaftler zum Mythos der »Goldenen zwanziger Jahre« bei. Die Blütezeit Berlins war auch die große Ära der Jüdischen Gemeinde. Sie war den christlichen Kirchen gleichgestellt und erhielt staatliche Zuschüsse. Doch Inflation, Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit verschonten auch die Juden Berlins nicht. Viele Vermögen gingen verloren, unzählige Menschen verarmten und waren hilfsbedürftig. Die Zeit der prächtigen Grabanlagen und Mausoleen auf dem Friedhof Weißensee war vorbei. Nach langen Diskussionen wurden ab 1926 sogar Urnenfelder ausgewiesen, da sich immer mehr Juden eine Feuerbestattung wünschten – für Orthodoxe ein unerhörter Gesetzesbruch. Im Laufe der Zeit wurde es üblich, die Asche der Verstorbenen nicht nur auf diesen Urnenfeldern beizusetzen, sondern auch auf anderen Feldern, wenn dort Angehörige lagen. Die Friedhofsverwaltung beruhigte die Gemüter der streng Gläubigen, indem sie garantierte, dass auf bestimmten Feldern, weit ab von Asche und Urnen, nur traditionell bestattet werden würde.
1924 bekam der Friedhof einen zweiten Eingang an der heutigen Indira-Gandhi-Straße. Auch eine neu errichtete Trauerhalle im Südost-Teil des Friedhofs deutete auf eine einschneidende Veränderung hin: die bevorstehende Teilung des Friedhofs. Schon als der Begräbnisplatz in Weißensee angelegt worden war, stand fest, dass einmal zwei Straßen das Friedhofsareal durchqueren würden. 1915 verpflichtete sich die Jüdische Gemeinde gegenüber dem Polizeipräsidenten von Berlin, die Streifen für die »Straße D und Straße 16a (…) von der Belegung mit Leichen freizuhalten« und unentgeltlich abzutreten. Zwar kam es vorerst nicht zum Straßenbau, aber das Vorhaben blieb noch Jahrzehnte aktuell. Interessant an diesem Vertrag ist auch, was im Paragraph 2 geschrieben steht: Danach beabsichtigte die Jüdische Gemeinde, angrenzende Grundstücke zu kaufen und später als Friedhof zu verwenden. Die Gemeinde Weißensee erklärte sich mit der Vergrößerung einverstanden.
1926, als der Friedhof fast 50 Jahre bestand, gab es bereits 72 000 Gräber. An manchen Tagen fanden zwölf Beisetzungen statt. Über den Friedhof entstand zu dieser Zeit sogar ein Gedicht:
ein Feld.
Und so ein Feld heißt irgendwie:
O oder I …
Es tickt die Uhr. Dein Grab hat Zeit,
drei Meter lang, ein Meter breit.
Du siehst noch drei, vier fremde Städte,
du siehst noch eine nackte Grete,
noch zwanzig-, dreißigmal den Schnee –
Und dann:
Feld P – in Weißensee –
in Weißensee.
1937 lebten noch 140 000 Juden in Berlin. Wie bei vielen jüdischen Einrichtungen blieb in den ersten Jahren des Nationalsozialismus auch der Alltag auf dem Jüdischen Friedhof unverändert. Die Zahl der Beschäftigten (mehr als 200) und der Bestatteten (etwa 2 300 im Jahr) blieb konstant. Ende der 1930er Jahre wurde die Friedhofsgärtnerei als Ausbildungsstätte für ausreisewillige jüdische Jugendliche genutzt. Die Umschüler (1939 waren es 40) erhöhten damit ihre Chancen, eine Einreisegenehmigung nach Palästina zu erhalten. Auch andere Handwerksberufe waren unter Jugendlichen aus diesem Grund gefragt. Die Jüdische Gemeinde richtete deshalb eine Schlosserwerkstadt in der Holzmarktstraße ein.
Als die Nazis im Sommer 1938 die so genannte »Entschrottungsaktion « anordneten, wurden drei Schlosserlehrlinge zum Friedhof Weißensee geschickt: Bruno Gumpel, Erich Joachim Arndt und Horst Bragenheim. Monatelang waren sie damit beschäftigt, Eisengitter von Grabanlagen abzuschweißen, weil das Metall für Rüstungszwecke verwendet werden sollte. Die Friedhofsverwaltung versuchte wenigstens darauf zu achten, dass nur die Grabumrandungen, also Metallzäune und -ketten entfernt wurden, dagegen Grabtafeln aus Metall und Bronzebuchstaben unangetastet blieben. Diese Metallsammelaktion, die genauso christliche Friedhöfe betraf, ist der Grund, weshalb nur noch wenige Zeugnisse der einst beeindruckenden Metallschmiedekunst in Weißensee zu finden sind.
Auf dem Bild oben sitzt Friedhofsgärtner Joseph Friedländer mit einer Kollegin im Schatten des Gedenksteins für die 14 jüdischen Gefallenen aus Neustadt bei Pinne, einem Städtchen in der ehemaligen preußischen Provinz Posen. Das schlichte Ehrenmal war 1929 errichtet worden. Damals gab es in Berlin viele Vereine, die an Soldaten aus ihren Heimatorten erinnerten, die in der Fremde begraben waren. Dass die Namen der Toten wenigstens auf einem Gedenkstein standen, war vielen Familien wichtig, war es doch meist die einzige Stelle, an der sie um ihre Männer trauern konnten. Das Foto entstand 1938. Fünf Jahre später wurde Joseph Friedländer, der Gärtner, in Auschwitz ermordet. Für ihn gibt es bislang keinen Ort des Gedenkens. »Vielleicht werde ich eine Inschrift für meinen Großvater auf dem Grabstein meines Vaters anbringen«, sagt sein Enkel Thomas Friedländer. Quelle: Thomas Friedländer, Berlin
Die Autorin / Die Fotografin
Britta Wauer, 1974 geboren, ist Regisseurin und Produzentin von Kino- und Fernsehfilmen (ausgezeichnet u. a. mit dem Deutschen Fernsehpreis und dem Adolf-Grimme-Preis). Über viele Jahre hinweg beschäftigte sie sich im Rahmen eines Dokumentarfilm-Projekts mit dem Jüdischen Friedhof in Weißensee, korrespondierte mir Angehörigen der dort Beigesetzten in aller Welt und recherchierte in zahlreichen Archiven.
Amélie Losier, 1976 geboren, studierte Germanistik in Paris und Berlin sowie Fotografie bei Arno Fischer. Sie arbeitet als freiberufliche Fotografin für Zeitungen, Zeitschriften und Verlage, für die Akademie der Künste, das Deutsch-Französische Jugendwerk und andere Institutionen sowie als Standfotografin (u. a. bei Sven Taddicken, Hans Weingartner und Britta Wauer). 2005 war sie Stipendiatin der Akademie der Künste.