ONLINE-EXTRA Nr. 117
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Seit geraumer Zeit hat der Begriff "Neuer Antisemitismus" Eingang in die Diskussion gefunden. Vor dem Hintergrund eines zunehmenden Antisemitismus, der sich verstärkt in der Maske des Antizionismus zeigt, will der Begriff das Phänomen fassen, dass es jüngst vor allem muslimische Kreise und die traditionell eher weniger unter Antisemitismusverdacht stehende politische Linke ist, die sich durch wachsenden Judenhass auszeichnen.
Gleichwohl ist der Begriff ebenso wie die Phänomene, die er beschreiben will, bislang umstritten geblieben. Im vorliegenden Beitrag versucht der israelische Schriftsteller und Essayist Chaim Noll der Entstehung und Tauglichkeit des Begriffs auf den Grund zu gehen: Was ist "Neuer Antisemitismus"?
Der Beitrag von Noll erschien in gedruckter Fassung erstmals in "Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums" (Heft 193, 2010) im März diesen Jahres. COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe seines Essays an dieser Stelle!
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Online-Extra Nr. 117
Seit einigen Jahren spricht man in Europa von einem „neuen Antisemitismus“. Zur Prägung des Begriffs führten der neuerliche Anstieg judenfeindlicher Gewalttaten und die wachsende Hass-Propaganda gegen Israel. Träger der europaweiten Bewegung sind vor allem Gruppen, die erst neuerdings als judenfeindlich wahrgenommen werden, wie zum Beispiel die europäische Linke oder bislang selbst für bedroht erachtete Minderheiten, vor allem Muslime.
Als traditionell judenfeindlich gilt in Europa die politische Rechte. Dagegen wurde der Antisemitismus der europäischen Linken lange nicht als solcher wahrgenommen, auch nicht so bezeichnet. Linker Antisemitismus erschwert aus mehreren Gründen seine Wahrnehmung: einmal, weil er sich hinter progressiven Parolen verbirgt („Solidarität“, „Befreiung unterdrückter Völker“, „Kampf für Menschenrechte“), zum anderen, weil er sich vornehmlich als sogenannter „Antizionismus“ geriert, als Opposition – im eigenen Sprachgebrauch „Kritik“ – gegenüber dem Staat Israel. Auch der heutige islamische Judenhass entzündet sich scheinbar am Staat Israel, erstreckt sich jedoch darüber hinaus auf alle Juden der Welt, die eo ipso als Handlanger des Zionismus gelten.
Aus mehreren Gründen ist „Neuer Antisemitismus“ ein fragwürdiger Terminus. Zum ersten war das um 1860 in Deutschland entstandene Wort „Antisemitismus“ immer missverständlich, da in Wahrheit Judenhass gemeint ist, nicht, wie das Wort suggeriert, eine Aversion gegen „Semiten“. Im Rahmen dieser Begrifflichkeit – falls man ihr folgt – sind Araber, heute die vehementesten Vertreter antijüdischer Ressentiments, gleichfalls „Semiten“. Um solche Verwirrungen zu vermeiden, ist es zutreffender, statt von „Antisemitismus“ schlicht von Judenhass zu sprechen oder, wenn es unbedingt wissenschaftlich klingen soll, von Antijudaismus.
Zweitens ist diese Art Judenhass nicht „neu“. Das Attribut reflektiert eher eine Wahrnehmungsstörung als die tatsächliche Neuheit des Antijudaismus bei den in Frage kommenden Gruppen. In Wahrheit gehörte Judenhass sowohl bei der europäischen Linken als auch im Islam von Anfang an zu den Grundzügen des Weltbildes. Die europäische Linke zeigte judenfeindliche Tendenzen schon in ihrer Frühperiode, bei Charles Fourier oder Bakunin1, deutlicher seit ihrer Herausbildung als Massenbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Karl Marx, selbst noch als Jude geboren, später zum Protestantismus konvertiert, sah im Judentum das Symbol kapitalistischer Ausbeutung und Geldgier, wie er in seinen Aufsätzen „Zur Judenfrage“ ausgeführt hat. Der Historiker Edmund Silberner stellt summarisch fest, dass „die bedeutenden Sozialisten des 19. Jahrhunderts die Juden als Verkörperung sozialen Schmarotzertums betrachteten“2. Ein zweiter Vorwurf, den linke Theoretiker früh gegen die Juden artikulierten, galt deren Festhalten an Tradition und religiöser Überlieferung. Karl Kautsky, einer der Gründer der deutschen Sozialdemokratie, hielt das Judentum für eine reaktionäre, konservativ beharrende Kraft, die um des gesellschaftlichen Fortschritts willen beseitigt werden müsse: „Je eher es verschwindet, desto besser für die Gesellschaft und die Juden selbst.“3 Auch Wilhelm Marr, Gründer der „Liga der Antisemiten“ im wilhelminischen Deutschland, kam bekanntlich aus der radikalen Linken.
Im Grunde sind dies die beiden wichtigsten judenfeindlichen Stereotype der europäischen Linken bis heute. Erstens: Judentum als tragende Komponente einer sozial ungerechten kapitalistischen Ordnung – analog der Staat Israel als „Vorposten“ eines westlichen Imperialismus gegen seine zu Opfern stilisierten islamischen Nachbarn. Zweitens: Judentum als reaktionäres, den Forschritt hemmendes Potential, vor allem wegen seiner traditionalistisch-historischen, gesetzesbetonten Orientierung. Die geballte Aversion linker Judengegner gilt daher religiösen Juden, etwa den Siedlern in der Westbank. Sie sind für viele europäische Linke die Schuldigen am Nicht-Zustandekommen eines dauerhaften Friedens im Nahen Osten, wenn nicht gar des Weltfriedens. Mehr noch: ein Symbol des Reaktionären, Fortschritt und Frieden Hemmenden schlechthin. Religiöse Juden verkörpern am sichtbarsten eine im jüdischen Volk gewachsene Neigung zu spiritueller Introvertiertheit und historisch motiviertem Nationalismus – gleichfalls mit linker Weltsicht unvereinbare Positionen.
Trotz dieser in der Tiefe schlummernden Aversion gegen jüdische Ausprägungen, die bei Gelegenheit zu offenem Judenhass ausbricht, bekennt sich die europäische Linke in einer fast deklamatorischen Weise gegen den Antisemitismus. In der Tat widerstrebt eine Diskriminierung auf Grund „rassischer“ oder anderer angeborener Eigenschaften dem egalitären Grundprinzip linker Ideologien. Im Zuge linker Bekenntnis-Prozeduren wird der Antisemitismus als ein auf die politische Rechte beschränktes Phänomen dargestellt. Die Schuldzuweisung an den Gegner dient zugleich als Ritual eigener Entschuldung. Da der Kapitalismus per se antisemitisch ist, so das argumentative Muster, können wir Linken, seine entschiedensten Gegner, es unmöglich sein. Der autosuggestive Vorgang wiederholt sich periodisch in der Geschichte der europäischen Linken, auch im osteuropäischen Staatssozialismus. Noch kurz vor Ende seines Regimes, in dem die wenigen Juden ein klägliches, von der Staatssicherheit überwachtes Dasein fristeten, erklärte Erich Honecker den Antisemitismus zu einem Symptom der „Ausbeuterordnung“ und die DDR zur „Heimstatt der Juden“.
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Zeitschrift zum Verständnis des Judentums
Heft 193 / 2010
Mit Beiträgen u.a. von: Heiner Lichtenstein, Anja Schader, Alexander Felsenthal, Barbara von der Lühe, Ilan Hameiri, Tekla Szymanski, Roland Kaufhold, Nina Dehos, Clemens Heni, Chaim Noll, Andreas Disselnkötter, Stephan Grigat, Anton Maegerle, Birgit Seemann, Birgit Maria Körner, Nassrin Sadeghi, Baruch Licht, Wilfried Weinke, Angelika Benz, Ricarda Haase, Dana-Livia Cohen.
TRIBÜNE
Allerdings bekannte die europäische und russische Linke früh ihre Aversion gegen den Zionismus. In ihm sahen die Bolschewiki, wie Trotzki 1934 schrieb, „eine Ablenkung vom Klassenkampf durch Hoffnungen auf einen jüdischen Staat unter kapitalistischen Bedingungen“. Der bereits hier geäußerte Vorwurf, der Zionismus arbeite dem Kapitalismus in die Hände – eine Neuauflage Marxscher und früherer sozialistischer Vorurteile gegen die Juden –, steigerte sich bald darauf zur tödlichen Anschuldigung, etwa in den Schauprozessen gegen jüdische Kommunisten. Wegen „zionistischer Aktivitäten“ wurden Rudolf Slansky und andere Parteifunktionäre jüdischer Herkunft 1952 in Prag zum Tode verurteilt und exekutiert. „Zionismus“ blieb von da an in der kommunistischen „Weltbewegung“ ein Drohwort und für viele andere Linke – für manche bis heute – ein Pejorativ. Früh erschien auch das Motiv, der Zionismus sei ein Instrument kapitalistischer Unterdrückung gegen den gerechten Befreiungskampf der palästinensischen Araber, so etwa 1931 in der von der Kommunistischen Partei Deutschlands herausgegebenen Broschüre „Tag des Fellachen“4.
Der Staat Israel als Verhinderer des Friedens ist das am meisten verbreitete Stereotyp des „Neuen Antisemitismus“. Nach entsprechender Vorarbeit durch europäische Medien nannten im Jahre 2003 – während der zweiten Intifada – Befragte mehrheitlich (besonders in Frankreich und Benelux-Ländern) den Staat Israel „das größte Hindernis für den Weltfrieden“. Zunächst wird bei solchen Anschuldigungen die Existenz zahlreicher anderer Kriegsherde in der Welt einfach ausgeblendet. Dann ist „Weltfrieden“ ein religiöser, messianischer Topos, ungeeignet als Schlagwort der Tagespolitik. Ohne Frage ist Frieden ein wünschenswerter, erstrebenswerter Zustand, sogar allgemeiner, verbreiteter Frieden, wie etwa allgemeine Gerechtigkeit oder allgemeine Gesundheit, doch weiß jeder erwachsene Mensch, dass solche Zustände Ideale darstellen, deren praktische Umsetzung zwar immer wieder in der Geschichte angestrebt, doch niemals erreicht wurde.
Dennoch legt eine Mehrheit der europäischen Linken die offensichtliche Unerreichbarkeit der Utopie „Weltfrieden“ allen Ernstes dem Staat Israel zur Last. Und das in einer Region, in der kaum jemals Frieden geherrscht hat. In den letzten anderthalb Tausend Jahren waren es vor allem islamische Kriege und Machtkämpfe, zunächst die grausamen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzüge der muslimischen Araber gegen ihre Nachbarvölker, die den Mittleren Osten in ständige Unruhe versetzten. Seit dem siebten Jahrhundert, unmittelbar nach Mohameds Tod, beherrschen inner-islamische Kriege die Region, beginnend mit dem bis heute bestehenden Schisma zwischen Shiiten und Sunniten und zahlreichen anderen Spaltungen und Feindschaften. Jahrhunderte lang bekämpften rivalisierende muslimische Dynastien und Khalifate einander, Ismailiten, Fatimiden, Ayyubiden, Umayyaden, Abbasiden und andere. Immer wieder brach auch der Hass zwischen verschiedenen Ethnien auf, die zwar alle den Islam angenommen haben, oft unter blutigem Zwang, zwischen denen jedoch die alten Aversionen bis heute fortbestehen, wie zwischen Arabern und Türken, Arabern und Persern, zwischen Persern und Türken, diesen und den Kurden etc. Das osmanische Reich, der letzte islamische Großverband, zerbrach an inner-islamischen Unverträglichkeiten schon lange vor der Neugründung des Staates Israel. Die islamischen Beduinenstämme der arabischen Wüste nahmen im Ersten Weltkrieg die Seite der Engländer – gegen ihre türkischen Glaubensbrüder. Vor dem Hintergrund dieser blutigen Geschichte ist das in Europa verbreitete Stereotyp, der Unfrieden im Mittleren Osten hätte mit der Neugründung des Staates Israel im zwanzigsten Jahrhundert begonnen, schlicht und einfach Nonsens.
Es ist dennoch ein Eckpfeiler des „Neuen Antisemitismus“. Nichtwissen, auch Nicht-Wissen-Wollen, erweist sich als eine der Grundlagen heute verbreiteter Israel-Kritik. Ihre argumentative Dürftigkeit ist oft verblüffend. Eine professionelle Anti-Israel-Aktivistin wie die in der Sowjetunion ausgebildete, kürzlich mit dem deutschen Bundesverdienstkreuz geehrte Propagandistin Felicia Langer kümmert sich wenig um die historische Wahrheit oder gedankliche Logik ihrer in populären Broschüren niedergelegten Anklagen. Sie weiß, dass es darauf nicht ankommt. Israel-Hassern geht es um emotionale Wirkungen und Gemeinschaft stiftende Wir-Gefühle: Anti-Israel-Propaganda als Chiffre für generelles Unbehagen an einer schlechten, von Kapitalisten, Unterdrückern der Völker und Zionisten beherrschten Welt. Solche Autoren beschwören das Bild konspirativer Netzwerke nicht anders als die „Protokolle der Weisen von Zion“, die Nazi-Propaganda oder die Anklageschriften kommunistischer Staatsanwälte gegen „zionistische Aktivitäten“ und „Kosmopolitismus“. So sah sich der deutsche Politiker Jürgen Möllemann, ein typischer Vertreter des „Neuen Antisemitismus“, als Opfer von Mossad-Umtrieben. Felicia Langer wähnt in der Bundesrepublik eine „jüdisch-zionistische Lobby“. Auch die Geschäftsführerin der deutschen Grünen-Partei, Renate Künast, beschuldigte kürzlich in Berlin eine Gruppe Demonstranten gegen die atomare Aufrüstung des Iran, vom israelischen Geheimdienst Mossad gesteuert zu sein.
Irgendwo, unbemerkt, an einer schwer zu bezeichnenden Stelle, geht diese Art „Israel-Kritik“ in offensichtlichen Judenhass über, eine nach demokratischem Konsens verwerfliche Haltung. Für einen Augenblick herrscht Erschrecken, Dementieren, Beteuerung prinzipiellen Wohlwollens gegenüber den Juden. Dennoch können linke Israel-Gegner, die sich zu weit vorgewagt haben, des Wohlwollens ihrer Parteifreunde sicher sein. Die Äußerung des Grünen-Politikers Hans-Christian Ströbele während des Golfkrieges 1991, der Staat Israel hätte die Raketenangriffe Sadams durch sein Auftreten selbst verschuldet, haben seiner Karriere kaum geschadet. Linke Israel-Gegner sind sich darin einig, dass ihre Kritik an Israel „legitim“ sei und keinen Judenhass bedeute. Im Gegenteil, man kritisiere den jüdischen Staat in hilfreicher Absicht. Ein von Juden geleitetes Staatswesen neige nun einmal zu „alttestamentarischer Grausamkeit“, „unangemessener“ Vergeltung und Menschenrechtsverletzungen, weshalb es permanenter Beaufsichtigung durch fortschrittliche europäische Kräfte bedürfe.
Dem iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad ist zu danken, dass er die direkte Verbindung zwischen den Stereotypen linker Israel-Verurteilung (Israel ein „Apartheid-Staat“, seine Militäraktionen „Kriegsverbrechen“, sein Umgang mit den Palästinensern – trotz deren enormem Bevölkerungswachstum – ein „Genozid“) und dem offenen Hass auf das jüdische Volk ins allgemeine Bewusstsein gerückt hat. Ahmadinejad verknüpft die bekannten Stereotype linker Israel-Kritik direkt und offenherzig mit dem Aufruf zur Vernichtung des jüdischen Staates. Er erspart sich die umständlichen Tarnmanöver europäischer Israel-Gegner, die von sich behaupten, allenfalls Antizionisten, aber keine Antisemiten zu sein und denen die Demontage des einzigen demokratischen Staates im Mittleren Osten ein angemessener Preis erscheint, um ihre verjährten Vorstellungen von einer gerechteren Welt-Ordnung durchzusetzen. Durch Ahmadinejad und seine zugleich anti-westlichen und judenfeindlichen Auftritte ist manches klarer geworden, was im Nebel linker Hochherzigkeiten seine Kontur verloren hatte.
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Der Antisemitismus der Linken unterscheidet sich von dem der Nazis vor allem darin, dass seine Vertreter leugnen, Antisemiten zu sein. Die für Juden lebensbedrohliche – und damit fraglos antisemitische – Komponente linker „Israel-Kritik“ zeigt sich in Situationen zugespitzter Bedrohung des Staates Israel. Die zweite Intifada, der gewaltige, letzte Ansturm Arafats und seiner Anhänger gegen den jüdischen Staat, war für die meisten Israelis eine harte Zeit. Nicht nur die täglichen Terror-Anschläge, die Störung des öffentlichen Lebens, die Sicherheitsmaßnahmen, die Gefahr, in der sich jeder wusste, auch die ökonomische Krise, der Rückgang des Tourismus, der Verlust an ausländischen Investitionen, die Ausgaben für Sicherheit und Kürzungen anderswo, die Fotos der gestrigen Terror-Opfer in den Zeitungen, junger Gesichter meist, die Zunahme der Invaliden im Straßenbild. Niemand, der diese Jahre erlebt hat, wird sie vergessen. Und niemand hier hat vergessen, wie die europäische Linke in diesem Augenblick Israel in den Rücken fiel. Mit einem Trommelfeuer wohlmeinender Kritik, mit Solidaritäts-Visiten bei Arafat, mit Anklagen vor dem Gerichtshof in Den Haag, mit Boykott gegen Israelis im Ausland, sogar gegen ganz unpolitische Wissenschaftler und Künstler. Wie zugleich mit den Terror-Attacken in Israel auch in Europa der Judenhass wieder massenhaft und gewalttätig wurde: brennende Synagogen in Frankreich und Belgien, Überfälle auf Juden in London, Berlin und Paris. An manchen Tagen schien es, als sei ein weltweiter Pogrom in Gang gekommen.
Wie der Antisemitismus der Linken von Anfang an zu dieser Bewegung gehörte und folglich nicht „neu“ ist, erweist sich auch der des Islam als tief verwurzelt und alteingesessen im Weltbild seiner Gläubigen. Allerdings ist der Judenhass des Islam viel älter als der linke, und gibt sich – anders als dieser – ohne Scheu als solcher zu erkennen. Schon 1833, in seiner in Frankfurt veröffentlichten Dissertation „Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen“, hat Abraham Geiger, der spätere Begründer des deutschen Reform-Judentums, ausführlich nachgewiesen, wie weitgehend sich Mohameds Lehre aus biblischem Gedankengut nährt und zugleich die Träger des biblischen Konzepts, Juden und Christen, bekämpft. Der Grund, warum sich Mohamed in seinen Predigten oder „Suren“ großzügig aus jüdischen und frühchristlichen Quellen bediente, war nicht Liebe zur biblischen Lehre, sondern pragmatischer Art: „die Macht, die die Juden in Arabien (in den ersten christlichen Jahrhunderten – Ch. N.) erlangt hatten“ und ihr Vorteil an „Kenntnissen“, etwa politischen und sozialen Erfahrungen oder landwirtschaftlichen Methoden. Mohamed trug dem Druck seines nomadischen Publikums Rechnung und vermischte das biblische Material, das er in seinen Predigten wie eine eigene Offenbarung vortrug, mit alt-arabischen Lebensregeln und Traditionen, die nicht selten zu den biblischen Geboten in direktem Widerspruch standen. Daraus erklärt sich die Inkonsistenz vieler koranischer Textpassagen. Das religiöse Dilemma des Islam, der „tiefe und der Vermittlung unfähige Gegensatz“ zwischen dem Ehrenkodex der arabischen Männergesellschaft und den ethischen Konzepten der Bibel, wurde von Ignaz Goldziher in seinen „Muhammedanischen Studien“ ausführlich untersucht5. Die innere Unstimmigkeit des Textes versetze den muslimischen Gläubigen „in den Zustand einer ständigen Krise“, befand einige Jahrzehnte später der Anthropologe Claude Levi-Strauss. „Der gesamte Islam scheint eine Methode zu sein, im Kopf der Gläubigen unüberwindliche Konflikte zu schaffen, aus denen man sie dann dadurch rettet, dass man ihnen Lösungen von sehr großer (jedoch zu großer) Einfachheit anbietet.“6
Eine dieser Lösungen ist der Judenhass, den schon der Religionsgründer selbst als Ausweg aus dem Dilemma vorführte. Die in den heute vorherrschenden islamischen Auslegungen propagierte Lehrmeinung, die bloße Anwesenheit von Nicht-Muslimen bedeute für Muslime eine Gefahr, stützt sich auf Sure 2,191, wo es heißt, die von „Ungläubigen ausgehende Verführung ist schlimmer als Töten“. Sie wurde zu einem Leitmotiv islamischer Theologie, die von nun an den gewaltsamen Angriff auf Juden, Christen und andere „Ungläubige“ als Akt der Verteidigung darstellt7. Auch hier ging der Prophet mit seinem Beispiel voran, indem er im Jahre 628 die gesamte jüdische Bevölkerung Medinas abschlachten ließ.
Aus solchen und anderen Koran-Stellen schöpfen heutige islamische Bewegungen wie die Hamas mühelos ihre Aufrufe zur Vernichtung von Juden („Zionisten“) und Christen („Kreuzfahrer“). Schon kurze Einblicke in fundamentales Schrifttum zeigen die tiefe Verwurzelung islamischer Aversionen gegen Israel und Juden in den religiösen Quellen. Es fällt daher leicht, im Koran legitimierende Stellen für moderne antisemitische Aktionen zu finden, wie es in der politischen Charta der Hamas geschieht oder in der außenpolitischen Staatsdoktrin des iranischen Präsidenten Ahmadinejad, für den die Vernichtung Israels das wichtigste Anliegen, geradezu den Schlüssel zur Verbesserung der Welt darstellt. So zitiert die Charta der Hamas, um ihren weltweiten Kampf gegen die Juden plausibel zu machen, Sure 5, Vers 64 oder Sure 3, Vers 1188. Noch entscheidender ist das koranische Konzept einer aus dem herkömmlichen Rassismus ins Religiöse gewendeten Segregation. Die generelle Unterteilung der Menschheit in zwei Klassen, „Gläubige“ und „Ungläubige“, die der Koran vornimmt, bedeutet die Zurücknahme der biblischen Gleichheit aller Menschen vor dem Schöpfer und macht den Islam zur einzigen der weltweiten Religionen, die offen Apartheid predigt.
Wenn von „neuem Antisemitismus“ die Rede ist, müssen auch Nazis und Rechtsradikale Erwähnung finden, deren judenfeindliche Straftaten nach Berichten der zuständigen Ämter in Europa gleichfalls ansteigen. Europas „neuer Antisemitismus“ ist ein mixtum compositum bekannter antijüdischer Stereotype verschiedener Provenienz. Sein Nährboden mag überlieferter europäischer Judenhass sein – ganz gleich, ob von links oder rechts –, doch fraglos ist die Eskalation des „neuen Antisemitismus“ eine direkte Folge von Europas Islamisierung. Oder, allgemeiner ausgedrückt, der zunehmenden Abhängigkeit Europas von islamischen Kräften, sei es inneren wie den islamischen Bevölkerungen, sei es äußeren wie dem radikalen Regime im Iran, mit dem viele europäische Staaten wirtschaftlich eng verbunden sind.
Die fortwährende Dämonisierung der einzigen Demokratie im Mittleren Osten degradiert auch das demokratische System als solches in den Augen der eigenen Bevölkerungen und der gesamten Welt. Judenhass ist ab ovo eine destruktive Haltung. Sein Wesen beruht auf Verneinung und Aversion. Oft in der Geschichte war Judenhass der Beginn weiterreichender Verachtungs- und Verneinungshaltungen, meist machte er nicht bei den Juden halt, sondern begann nur bei ihnen, um sich dann gegen andere Gruppen und Strukturen der Gesellschaft zu richten, gegen Bewegungen der Toleranz und Erneuerung. Eine Gesamtheit, die Antisemitismus duldet, zerstört ihr eigenes Immunsystem. Das bedeutet heute im Besonderen die Beschädigung des komplizierten Systems humaner Regulierungen und Schutzvorrichtungen, auf denen das Zusammenleben der modernen Demokratien beruht.
Europäische Demokratiegegner, etwa Neonazis, müssen sich von der ständigen Anti-Israel-Propaganda ermutigt fühlen. Die Diffamierung Israels führt unweigerlich zur Aufwertung der undemokratischen, autoritären, teilweise unmenschlichen Regimes seiner nahöstlichen Nachbarn und zur Legitimierung terroristischer Gruppen. Daher ist die Empörung linker Kreise über das Anwachsen der Neo-Nazis weitgehend Heuchelei. Wen könnte es in Wahrheit überraschen, da doch junge Muslime ungestraft ihren Judenhass ausleben dürfen und die europäische Linke ihren Hass auf Israel? Auch sie meinen offensichtlich mehr als die Juden. Auch ihnen geht es um das System der europäischen Werte. Denn das ist der „neue Antisemitismus“ seinem Wesen nach: ein Beitrag zur Selbstzerstörung Europas.
ANMERKUNGEN
1 Peter G.Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Österreich 1867-1914, Vandenhoek und Ruprecht (deutsche Übersetzung der englischen Originalausgabe von 1964), S.275 ff.
2 Edmund Silberner, Sozialisten zur Judenfrage. Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus von den Anfängen des 19. Jahrhunderts bis 1914. Berlin, 1962
3 Karl Kautsky, Rasse und Judentum, Stuttgart 1914. Der hier zitierte Grundgedanke, Judentum werde durch den Sieg des Sozialismus obsolet, bestimmte auch das 1931 erschienene Buch des österreichischen Kommunisten Otto Heller, Der Untergang des Judentums. Die Judenfrage – ihre Kritik, ihre Lösung durch den Sozialismus.
4 Mario Kessler, Die KPD und der Antisemitismus in der Weimarer Republik, Utopie kreativ, Heft 173, März 2005, S.228
5 Ignaz Goldziher, Muhammedanische Studien, Hildesheim 1961. Der gesamte erste Teil des Werkes, Muruwwa und Din, ist der Inkompatibilität von alt-arabischer und biblischer Weltsicht gewidmet.
6 Claude Levi-Strauss, Traurige Tropen, Leipzig 1988, S. 461
7 Chaim Noll, Judenhass im Islam, Tribüne, Frankfurt/M., Heft 185, 1/2008, S. 85 ff.
8 ebenda, S.95. Vgl. The Covenant of the Islamic Resistance Movement Hamas, Artide 22, www.mideastweb.org/hamas.htm
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Chaim Noll:
Der Kithara-Spieler
Verbrecher Verlag 2008
816 Seiten,
34,00 €
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Chaim Nolls historischer Roman "Der Kitharaspieler" zeigt jüdisches und frühes christliches Leben im antiken Rom, er beleuchtet die für die folgenden Jahrhunderte so entscheidenden Jahre am römischen Kaiserhof, an dem Tage und Nächte mit Theaterspiel, Liebeshändeln und politischen Intrigen vergingen, in deren Trubel und Lärm jedoch nur wenige ahnten, was wirklich vor sich ging.
Der Autor
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ursprünglich Hans Noll, wurde 1954 als Sohn des Schriftstellers Dieter Noll in Berlin (Ost) geboren. Dem Studium der Mathematik in Berlin und Jena folgt ein Studium der Kunst und Kunstgeschichte. Noll war Meisterschüler der Akademie der Künste. Anfang der 80er Jahre verweigert er den Wehrdienst und wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Chaim Noll löst sich aus seinen Bindungen an Staat und Partei, was zugleich den Bruch mit seinem Vater nach sich zieht. 1984 wird Noll ausgebürgert, geht in den Westen, arbeitet als Journalist und beginnt eine Karriere als Schriftsteller.
(Foto: © Fred Viebahn)
Von 1992 bis 1995 lebt er in Rom und geht von dort nach Israel, wo er 1998 eingebürgert wird. Er lebt heute in der Wüste Negev und ist Writer in Residence und Dozent am Center for International Student Programs der Ben Gurion Universität Beer Sheva. Zu seinem schriftstellerischen Werk gehören Gedichte, Erzählungen, Romane und Essays.
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Betreff: Noll Einladung
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