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ONLINE-EXTRA Nr. 285

April 2019

In vielfacher Hinsicht stand im vergangenen Jahr 2018 das Ende des Ersten Weltkriegs 1918 im Fokus der Öffentlichkeit. Durch vielerlei Publikationen, Filme, Ausstellungen und öffentlichen Debatten gedachte man auch schon in den Jahren zuvor dieses einhundert Jahre zurückliedenden Ereignisses, das man bei allen Unterschieden in der Bewertung im Detail übereinstimmend als eines der einschneidendsten Ereignisse nicht nur in der Geschichte Europas, sondern der Moderne überhaupt einstufte. Eines der zentralen Merkmale dieses ersten Weltkriegs war ohne Frage die beinahe alle gesellschaftlichen Schichten übergreifende Begeisterung für den "großen Krieg" (Herfried Münkler), die sich u.a. auch aus der spätestens seit der Jahrhundertwende epochebestimmenden Kraft des Nationalismus speiste. Im Kontext dieses verstärkt wirkenden nationalistischen Denkens ist dabei auch die Enstehung des Zionismus zu sehen, der mit dem ersten zionistischen Weltkongress 1897 in Basel die Bühne der Geschichte betrat.

Vor diesem Hintergrund ist es höchst interessant, wie sich jüdisches Denken in jenen Jahren gewissermaßen zwischen pseudoreligiösem Nationalismus und jüdischer Selbstfindung im Zionismus positionierte. Besonders deutlich wurden die dabei enstandenen Herausforderungen, Probleme, Widersprüche und Visionen auf jüdischer Seite gerade auch im Zusammenhang mit der nationalistischen Begeisterung für den Ersten Weltkrieg. Dies und die einschneidenden Konsequenzen, die das Kriegserlebnis selbst nicht zuletzt im Blick auf den Zionismus jüdischerseits zur Folge hatten zu beschreiben, unternimmt in nachfolgendem Beitrag der Theologe und Judaist Christian Wiese, seines Zeichens Inhaber der Martin-Buber-Professur an der Universität Frankfurt.

Wiese diskutiert die genannten Zusammenhänge beispielhaft anhand der intellektuellen Geschichte dreier bedeutender jüdischer Persönlichkeiten, die nicht nur alle in Verbindung zu Martin Buber und dessen Denken standen, sondern auch ihre gemeinsame Herkunft aus Prag miteinander teilten: der Journalist, Politiker und spätere Leiter des Leo-Baeck-Instituts in London Robert Weltsch; Hans Kohn, zionistischer Aktivist, später Professor in Amerika und namhafter Nationalismusforscher; und Shmuel Hugo Bergmann, Philosoph und zwischen den 1920er Jahren und seinem Tod 1975 eine prägende Gestalt der Hebräischen Universität Jerusalem.

Wieses Beitrag ist nicht nur ein spannendes Stück von den Anfängen zionistischer Kulturgeschichte in bewegter Zeit, sondern gibt darüber hinaus einen tiefen und - etwa im Blick auf Buber - für manche überraschenden Einblick auf die Wirkungen des Ersten Weltkriegs für die Entwicklung des Kulturzionismus sowie der zentralen Frage, die sich für die genannten Denker späterhin stellte: ob und wie nämlich ein in Palästina/Israel zu realisierender jüdischer Nationalismus möglich sein könne ohne die blutgetränkten Verwerfungen eines in zwei Weltkriegen wütenden europäischen Nationalismus.

Christian Wieses Beitrag geht auf einen im Oktober 2014 anlässlich der Mitgliederversammlung der "Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts" im Jüdischen Museum Frankfurt am Main gehaltenen Vortrag zurück. Ein wesentlich erweiterter Aufsatz zum Thema erschien unter dem Titel „Martin Buber und die Wirkung des Ersten Weltkriegs auf die Prager Zionisten Hugo Bergmann, Robert Weltsch und Hans Kohn” in: Galili Shahar (Hg.), Texturen des Krieges: Körper, Schrift und der Erste Weltkrieg (Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 43), Göttingen 2015, 181-222. Dort finden sich auch die Nachweise der zitierten Quellen. Die nachfolgend als ONLINE-EXTRA Nr. 285 wiedergegebene Fassung folgt der Publikation im Bulletin der "Freunde und Förderer des Martin-Buber-Hauses" (FuF), 2/2018, Heppenheim. 

© 2019 Copyright beim Autor und FuF
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Online-Extra Nr. 285


Martin Buber, der Prager Kreis und die Folgen des Ersten Weltkriegs


CHRISTIAN WIESE
 


1. Makkabäer-Klänge: Martin Bubers Sinndeutung des Ersten Weltkriegs

Am Chanukkafest des Jahres 1914 hielt der Philosoph Martin Buber vor der Berliner zionistischen Vereinigung eine leidenschaftliche Rede, in der er seinem Publikum zurief, das Makkabäerfest, das Fest des Sieges über die hellenistischen Syrer und der Wiedererneuerung des Tempels, werde in diesem Jahr mit einem anderen Gefühl gefeiert als je zuvor in der Geschichte des jüdischen Volkes. Juden gedächten der Geschehnisse der Antike in einer Zeit, in der sie „in den größten Krieg der Geschichte mit tausend und abertausend blutigen Fäden verflochten worden“ seien, „aber nicht als Volk, sondern als Teile der Völker“. Das Erlebnis von 1914 müsse auch das Gefühl beeinflussen, in dem Juden jener kriegerischen Erhebung ihres Volkes in ferner Zeit gedächten.


„Das Herz des Judentums ist wieder erschüttert wie damals, zerrissen wie damals, aber unendlich anders, denn es ist nicht sein Schicksal, um dessentwillen es erschüttert und zerrissen ist, sondern das der widereinander streitenden Völker, denen es verhaftet ist und an deren Seite es streitet, unter sie aufgeteilt streitet, wider sich selber. Und doch, wir ahnen es im Grunde unserer Seelen […]: Es ist doch auch das Schicksal des Judentums, das sich, in dieser Zeit, gleichsam unterirdisch, entscheidet; und wenn Scharen von Juden gegeneinander kämpfen, so kämpfen sie doch – in einem Sinne, der sich uns heute noch nicht völlig zu erschließen vermag – mitsammen um ihr Judentum.

Liest man diesen Text mit all seinem Pathos, so gewinnt man einen Eindruck dessen, was viele Zionisten – und gerade auch viele der jungen Kulturzionisten, die vor dem Kriegsausbruch von Bubers Deutung der Situation des Judentums zu Beginn des 20. Jahrhunderts fasziniert waren – motivierte, sich freiwillig zu melden, obwohl ihre zionistische Überzeugung doch theoretisch eine Distanzierung vom nationalen Aufbruch ihrer Gesellschaften nahegelegt hätte. Wir finden in diesem Text keine chauvinistischen Klänge, kein Beschwören des Krieges gegen das unterdrückerische Zarenregime in Russland, auch keine Reflexionen über die innige Beziehung von deutschem und jüdischem „Geist“ oder über die Bedeutung des militärischen Pflichtgedankens, wie sie etwa der Neukantianer Hermann Cohen 1915 in seiner Schrift über Deutschtum und Judentum beschwor. Der Blick ist überhaupt weniger auf das Geschehen des Krieges selbst gerichtet, auch wenn er die Problematik des Aufeinandertreffens jüdischer Soldaten in feindlichen Armeen anklingen lässt. Im Gespräch mit dem religiösen – und für den Zionismus seit jeher wichtigen nationalen – Gehalt von Chanukka legitimierte Buber die Partizipation am Krieg vielmehr mit Blick auf dessen erhoffte Wirkung auf die nationale Erneuerung des Judentums. Er erinnerte seine Zuhörer daran, dass das Fest in nationaljüdischen Kreisen, in jenem Teil des Judentums, „in dem das Blut eine lebendige und schöpferische Macht geblieben war“, zum Fest der Erinnerung an nationale Hoffnungen und der Kundgebung des Willens geworden sei, „das alte Land, in dem starken Wurzeln unserer Kraft sind, wiederzugewinnen“.

Sehnsucht nach Gemeinschaft ist wohl das zentrale Motiv, das Bubers Überlegungen über die jüdische Partizipation am Krieg zugrunde liegt. Dahinter verbirgt sich zunächst seine zeitkritische, kulturpessimistische Diagnose des von den Folgen der Assimilation geschwächten westeuropäischen Judentums, das seine Wurzeln und jedes Gefühl der Gemeinschaft verloren habe. Die jüdische Teilhabe am Krieg erschien Buber, der sich selbst freiwillig gemeldet hatte, zu seinem Bedauern aber als „untauglich“ gemustert worden war, in erster Linie als ein Weg zur Entdeckung der jüdischen Volksgemeinschaft im Gefolge des erhabenen Erlebnisses der Gemeinschaft auch mit der nichtjüdischen Gesellschaft. Auffällig ist in dem folgenden Zitat die für Buber schon vor dem Krieg charakteristische neoromantische Rhetorik von Blut und Boden, die hier zur vollen Entfaltung kommt.


„Jetzt aber hat der Jude in dem katastrophalen Vorgang, den er in den Völkern miterlebte, bestürzend und erleuchtend das große Leben der Gemeinschaft entdeckt. Und es hat ihn erfasst. Er blieb nicht Atom; er wurde mitgerissen; er schloß sich glühend der Gemeinschaft an, der Gemeinschaft, die ihn in diesem Augenblick am meisten brauchte. Wird ihn das der Gemeinschaft, die ihn in der Ewigkeit braucht, der tiefen Gemeinschaft seines Blutes und seiner Art weiter entfremden? Ich glaube, dass es ihn ihr wiederbringen wird. Gemeinschaftsgefühl ist in ihm erglommen, er fühlte etwas in sich entbrennen, wovor aller Nutzzweck zusammenfiel, er erlebte den Zusammenhang. Er hat den ersten Schritt der inneren Befreiung getan. Wenn dem Augenblick sein Recht geschehen sein wird, wird er nicht wieder ins Leben des Atoms zurückfinden, und der Ruf der tiefen Gemeinschaft seines Blutes und seiner Art, den wir ihm zutragen werden, wird ein wacheres Ohr treffen als je zuvor. […]“ Sie "die Juden" werden in die erschütterten Schollen ihrer Seele den Samen der lebendigen Wahrheit empfangen. Sie werden ihre Einheit als Juden fühlen und erkennen lernen. Sie werden ihr Gemeinschaftserlebnis vertiefen und aus ihm ihr Judentum neu aufbauen. Sie haben in Blut und Tränen die Zerrissenheit des Judentums geschaut und die Sehnsucht wird über sie kommen, sie zu heilen. Sie werden danach Verlangen tragen, dass aus ihrem kranken Volke ein heiles und aufrechtes Volkswesen werde wie das, dessen Glut sie in jenem Augenblick miterfasste. Sie werden ans sich arbeiten, dass sie an dem neuen Leben teilnehmen dürfen. So werden sie die wahre Befreiung und Tempelweihe vollziehen.

Die im Rückblick verstörende Tatsache, dass der Philosoph des „Dialogischen“, Prophet einer „jüdischen Renaissance“ und Künder eines „hebräischen Humanismus“, vor 1913 noch Mitstreiter von Initiativen zur Völkerverständigung, wie so viele Intellektuelle seiner Zeit zeitweise der Faszination der Gemeinschaftsrhetorik des „Augusterlebnisses“ von 1914 erlag und diese zudem mit einer an völkische Motive erinnernden Rede von jüdischer Blutsgemeinschaft verband, ist zur Genüge kommentiert worden. Bubers Kulturzionismus der Vorkriegszeit war stark zeitbedingt, und es war mehr als die hypnotische Suggestion des historischen Augenblicks, die seine Rechtfertigung des Krieges bestimmte. Hinzu traten apokalyptische Denkfiguren, denen zufolge erst durch den „Großen Krieg“ und das Sterben der alten europäischen Welt die Geburt eines neuen Zeitalters möglich sei. In einem „den Freunden im Feld“ gewidmeten Artikel für die Jüdische Rundschau mit dem Titel „Der Engel und die Weltherrschaft. Ein altjüdisches Märchen“ setzte sich Buber mit der Frage auseinander, wie sich die Existenz Gottes angesichts des ungeheuren Leidens im Ersten Weltkrieg rechtfertigen lasse, und die Antwort ist verblüffend: Die Menschheit müsse leiden, weil nur so künstlerisch Wertvolles entstehe – es sei unvermeidlich, „die Erde mit Fäulnis zu nähren und mit Schatten zu decken, daß sie aus dem Samen gebäre, – das heißt, die Seelen mit Blut und Schmerzen fruchtbar machen, daß das Werk aus ihnen erstehe“. Und noch 1916, auf den ersten Seiten seiner neu gegründeten Zeitschrift Der Jude, verklärte Buber die Rolle der Juden im Krieg und beschwor das „Gefühl der übermächtigen Pflicht“, die mannhafte, durch den Tod besiegelte Bewährung „in der virilen, übervirilen Welt, die ihre Mitwelt ist“, die Gemeinschaft mit Europa in dessen Schicksalsstunde, aber auch die völkerverbindende Funktion des Judentums als eines Propheten einer neuen Humanität.

Bubers Freund Gustav Landauer warf ihm eine Ästhetisierung des Krieges vor und bestritt ihm das Recht, „über die politischen Ereignisse der Gegenwart, die man den Weltkrieg nennt, öffentlich mitzureden und diese Wirrnisse in Ihre schönen und weisen Allgemeinheiten einzuordnen: es kommt völlig Unzulängliches und Empörendes heraus“. Er nahm Buber die tendenziöse Parteinahme für Deutschland übel, fast noch mehr jedoch die Verharmlosung des Leides, die er einst zu bedauern und zurückzunehmen haben werde: „Schade um das jüdische Blut, jawohl; schade um jeden Tropfen Blut, der in diesem Kriege vergossen wird; schade um die Menschen; schade auch, dass Sie sich in diesen Krieg hineinverirrt haben.“ Auch dem jungen Gershom Scholem, der sich dem Kriegsenthusiasmus konsequent entzog, war die begeisterte Reaktion der jüdischen Jugendbewegung auf Bubers quasi-religiöse Überhöhung des jüdischen Gemeinschaftserlebnisses ein 8Gräuel. Vehement bestritt er die Vorstellung, der Zionismus könne durch die Beteiligung an einem europäischen Krieg, der allen seinen Idealen widerspreche, zur Reife gelangen – stattdessen gelte es in diesem historischen Moment gerade die Trennung zwischen Exil und Zion radikal zu ziehen und sich Palästina zuzuwenden. Aber das ist eine andere Geschichte.



Mar'ot. Die jüdische Moderne in Quellen und Werken

Hrsg. v. Christian Wiese

Seit den Anfängen der Aufklärung bis zum heutigen Tag denken Juden über jüdisches Selbstverständnis und die conditio humana in der Moderne nach. Entstanden ist dabei nicht nur eine moderne jüdische Geschichtswissenschaft, Philosophie und Philologie, sondern auch eine faszinierende Literatur jüdischer Reflexion zu politischen, religiösen, philosophischen und säkularen Fragen. Mit der Shoah und der Staatsgründung Israels hat dieses Nachdenken wichtige neue Bezugspunkte erhalten.

Die von Christian Wiese herausgegebene Schriftenreihe setzt sich zum Ziel, schwer zugängliche oder verborgene Quellen und Werke, die zum Verständnis jüdischer Geschichte und jüdischen Denkens seit dem 17. Jahrhundert von Bedeutung sind, in kommentierter und mit wissenschaftlicher Einleitung versehener Fassung neu herauszugeben. Der hebräische Titel der Reihe Mar’ot (“Spiegel”, pl.) verweist auf eine facettenreiche  Entwicklung, in der das Judentum in den vielfältigen “Spiegeln” von Tradition, zeitgenössischer Kultur, Integrations- und Diskriminierungserfahrung neue, moderne, vielfach von unterschiedlichen Brechungen bestimmte Identitätsentwürfe des Jüdischen hervorbrachte.



Bd. 4 Alexander Altmann: Metaphysik und Judentum. Schriften 1927 bis 1939
(Hrsg. v. Thomas Meyer)
Bd.3 Joseph B. Soloveitchik: Der Halachische Mensch
(Übers. v. Ruth Przybyla)
Bd. 2 Der jüdische Messianismus im Zeitalter der Emanzipation
(Hrsg. v. George Y. Kohler)
Bd. 1 Achad Ha'am: Am Scheidwege
(Hrsg. v. Christian Wiese)



2. Zwischen Enthusiasmus, Pflicht und Desillusionierung: Kriegserlebnisse

Der Ursprung der lebenslangen engen Weggenossenschaft der drei Intellektuellen lag im akkulturierten deutschsprachigen Judentum Prags, insbesondere im zionistischen Studentenverein „Bar Kochba“, dem auch andere Intellektuelle wie Max Brod, Felix Weltsch und Franz Kafka angehörten. Dieser Kreis hatte sich vor dem Ersten Weltkrieg ins Studium des Hebräischen, der Bibel und der jüdischen Literatur vertieft, zugleich aber eine Fülle unterschiedlicher weiterer Einflüsse aufgenommen: Herder und Fichte, Neuromantik, die Lebensphilosophie Henri Bergsons, Nietzsche, die sozialistisch-utopische Sozialtheorie Gustav Landauers und nicht zuletzt das Denken des russischen Zionisten Achad Ha’am. Die unmittelbarste Faszination ging jedoch vom Denken des jungen Martin Buber aus, den der „Bar Kochba“ zwischen 1909 und 1911 zu einer Reihe von Vorträgen nach Prag geladen hatte. Dort schlug Buber seine Hörer nachhaltig in den Bann, als er in seinen drei Reden über das Judentum die Auszehrung jüdischer Identität im Exil und die Zwiespältigkeit der zwischen Assimilation und Jude-Sein schwankenden jüdischen Existenz thematisierte. Er forderte eine grundlegende kulturelle Erneuerung, eine Bewusstwerdung der geistigen und ethischen Werte des jüdischen Volkes, die allein die Besinnung auf eine lebendige jüdische Nationalität und eine Stärkung des jüdischen Gemeinschaftsbewusstseins in der Diaspora bewirken könne.

Die Begegnung mit Buber bestärkte die Kritik der jungen Zionisten an der dem Judentum entfremdeten Generation ihrer Väter, d.h. an dem, was sie als „mechanisierende, entseelende, entgöttlichende Zweckhaftigkeit“ ihrer Zeit beschrieben. Heroische Tat, Veränderung des Lebens, „zionistisches Leben“ in der jüdischen Volksgemeinschaft – mit diesen programmatischen Forderungen formulierte etwa Weltsch 1913 in seinem Essay „Theodor Herzl und wir“ Leitmotive des Programms der Prager Zionisten: die Kritik an der „Entartung“, „Kriecherei“ und materialistischen Geschäftigkeit der assimilierten Juden, die Betonung des „Willens zur Veränderung des Lebens“, der „Verwirklichung“, wie Buber es nannte, sowie die Hoffnung auf eine innere Renaissance, die das jüdische Gemeinschaftsleben in Palästina bestimmen müsse. Ohne diese kulturelle und existentielle Erneuerung werde auch in Palästina „Galut“ sein. „Der Sinn des Zionismus“, so Weltsch, „ist, daß die Juden, die reinen Herzens sind, von ihrer Sehnsucht nach Ganzheit und Harmonie und radikaler Änderung des Lebens nach Palästina getragen werden.“

Die Wirkung von Bubers Reden wird in der großen Verehrung spürbar, die die Briefe der Bar-Kochbianer an Buber vor dem Krieg widerspiegeln. Auch 1914 waren sie von seiner Beschwörung von „Tat“ und „Gemeinschaft“ hingerissen, und alle drei hätten vermutlich sofort unterschrieben, was Buber im September 1914 an den befreundeten Religionsphilosophen Elijahu Rappeport schrieb: „Die Zeit ist freilich wunderschön, mit der Gewalt ihrer Wirklichkeit und mit dieser ihrer Forderung an jeden von uns“. Doch was bedeutete die Erfahrung des Soldatendaseins zwischen 1914 und 1918 für ihre politische Deutung der Zeit, des Judentums und des Zionismus? Alle drei brachten in ihrer Korrespondenz untereinander und mit ihrem geistigen Mentor auf je unterschiedliche Weise zum Ausdruck, welche Zäsur die Erfahrung der Inhumanität und Zerstörungskraft des europäischen Nationalismus für sie bedeuteten.

Zeigen lässt sich das zunächst an Shmuel Hugo Bergmann, der gleich in den ersten Tagen des Krieges eingezogen und nach Galizien entsandt wurde. Er begann als Leutnant, wurde 1915 „für tapferes Verhalten vor dem Feind“ zum Oberstleutnant befördert und hatte Ende des Krieges den Rang eines Hauptmanns inne. Die Stimmung, mit der er in den Krieg zog, war typisch – geprägt vor allem durch die Aussicht, im Krieg gegen Russland den Kampf gegen das zaristische Regime mit seiner unterdrückerischen Judenpolitik zu führen. Seine Eintragung in seinem Tagebuch am 1. August 1914 lautete: „Ich werde begeistert, rufe sogar: nieder mit dem Zaren, und ein Jude antwortet mir: Rache für die Pogrome.“ Aus diesem Kriegstagebuch wissen wir viel über sein Erleben dieser Zeit. Er berichtet darin eindrucksvoll über seine Beteiligung an z.T. dramatischen und verlustreichen Schlachten, reflektierte über das Verhältnis jüdischer zu den nichtjüdischen Soldaten, verlieh aber auch seinen zunehmend zwiespältigen Gefühlen gegenüber dem Krieg Ausdruck. Große Begeisterung hatte er offenbar von Anfang an nicht verspürt, vor allem die Pflicht hatte ihn davon abgehalten, sich durch Unwahrheiten vom Felddienst befreien zu lassen: „Wahrheit, Wahrheit und Ehrlichkeit! Es ist eine große Sache, für die ich kämpfen darf. Wie werde ich mich bewähren?“ Dabei war ihm unmittelbar bewusst, dass Krieg Blut und Leiden bedeutete, doch er erinnerte sich selbst beinahe beschwörend an die historische und religiöse Bedeutung des Krieges, an die Erhabenheit der eigenen Teilhabe an diesem Geschehen und an die Schicksalsgenossenschaft von Millionen. „Unser eigenes Leid“, schrieb er am 3. August an seine Frau Else, „ist nichts gegenüber dem großen Gericht der Geschichte, das hoffentlich niedergehen wird. Daß wir daran durch unser Tun und Leiden teilnehmen dürfen, dafür wollen wir Gott danken und Schehechijanu sagen über die große Zeit, deren Täter wir sein dürfen. Gebe uns Gott auch hienieden den Sieg […] Wir sind ein Tropfen im großen Ozean. Laßt euch nicht niederdrücken, lebt die große Zeit mit!“.

Das Entsetzen über die Brutalität des Krieges, die Allgegenwart des Todes und die sinnlosen Verluste verschwieg Bergmann in seinen Erlebnisberichten nicht, auch nicht die Eindrücke von der Flucht der jüdischen Bevölkerung in Galizien – „Bilder des Unglücks, die einem den ganzen Kriegsjammer vor Augen führen“. Von Heimweh ist die Rede, seit 1915 immer häufiger, und von dem Empfinden, er werde nach seiner Rückkehr aus dem Krieg den Anderen sein Erleben nicht in Worten mitteilen können, davon, dass es unvorstellbar sei, nach den schrecklichen Erlebnissen nicht einfach dort weiterzumachen, wo man vor dem Krieg begonnen habe.

Zwischen Bergmann und Buber entwickelte sich in diesen Jahren eine intensive, von Freundschaft geprägte Verbindung. Indem Buber dem tief angefochtenen jungen Philosophen in einem Brief ein „Signal […] des Einen Unerschütterlichen mitten im Chaos“ sandte, nämlich „daß es Verbundenheit gibt, aus der Idee und aus der Freundschaft“, und indem er sein eigenes Bedürfnis mitteilte, „das sonst zuinnerst auferlegte Schweigen zu brechen und Persönliches zu sagen, Herzgeborenes, die Worte der Nähe und der Liebe“, ermutigte er Bergmann, seinerseits zur Sprache zu bringen, was der Zusammenbruch des Menschlichen im Krieg in seinem Denken und Empfinden ausgelöst hatte. Dieser berichtete Buber über seine tiefe Ernüchterung mit Blick auf seine bisherige zionistische Tätigkeit, über seine Sehnsucht nach der Realität einer jüdischen Gemeinschaft, nach der „schlichten Art, wie Menschen anderer Völker werden und wachsen“. Die Zeit der religiösen Erhöhung des Krieges, die er 1917 rückblickend als „ein bis an den Rand Erfülltsein der Seele“ kennzeichnete, war, wie er Buber schrieb, endgültig vorbei, jetzt gebe es nur noch „ein Verzichten und Verdursten, ein Vertrocknen“, die Sehnsucht nach etwas Anderem, ganz Großen, das ihn zur Kraft und Lebensfreude zurückfinden lassen könnte – und er richtet den Blick weg von der ihn umgebenden Wirklichkeit des Krieges: „Könnte es Palästina sein? […] Helfe mir Gott zu wirklichem Leben und Erleben!“ Für Europa wünschte er sich einen Verständigungsfrieden, der eine Neuordnung des zerfallenden Habsburger Reiches ermöglichen würde, und je näher das Ende des Krieges rückte, desto schärfer wurde seine Enttäuschung über Deutschland, „das ich liebte und verteidigte, und das nun alles bindende Völkerrecht, alle Völkerverständigung mit Füßen tritt“.

In seinen Aufsätzen, die er aus dem Felde für jüdische Zeitschriften wie Bubers Der Jude beisteuerte, befasste sich Bergmann mit den Folgen des Krieges für das Judentum und insbesondere für den Zionismus. In einem Aufsatz mit dem Titel „Der jüdische Nationalismus nach dem Kriege“ machte er 1915 geltend, der Maßstab für den Sinn des Zeitgeschehens für die europäischen Juden liege in der Frage, ob sie diesen ersten Krieg, in dem Juden in einem solchen Maße mitkämpften, nur als etwas erlebten, was ihnen widerfahren sei, oder als etwas, was sie durch ihr Handeln aktiv gestaltet hätten. Die Rhetorik der Tat und Verwirklichung, von Gemeinschaft statt Individualismus, die Bubers Haltung bestimmte, beschrieb bei Bergmann zu dieser Zeit „die große, erzieherische Bedeutung des Krieges“, die Notwendigkeit, durch diese Konfrontation mit den tatsächlichen Kräften der Geschichte für die Juden das Recht wiederzugewinnen, „ein Volk zu sein und eine wirkliche, das Geschehen bewegende Kraft“. Der im Krieg gewonnene Wirklichkeitssinn der Juden müsse sich nun in der konkreten „Volksarbeit“ in Palästina bewähren, in dem Willen, das „Gespensterhafte“ jüdischen Daseins in der Diaspora zu überwinden und eine eigene, sozialistisch geprägte Gemeinschaft im eigenen Land aufzubauen.

Für diesen Ruf zur „Verwirklichung“ des Zionismus berief sich Bergmann auf Buber selbst und scheute auch nicht davor zurück, seinen Lehrer eindringlich zu bitten, gemeinsam mit ihm nach Palästina zu gehen, um die Gründung der geplanten Hebräischen Universität in Jerusalem vorzubereiten: „Vereint wären wir eine Kraft, die das Geschehen lenken, mindestens stark beeinflussen könnte.“ Zumindest aber solle Buber seinen Willen, sich mit der Realität des jüdischen Volkes zu befassen, durch entschlossene Zuwendung zum Hebräischen kundtun, damit die zionistische Bewegung nicht auf das beschränkt bliebe, „was sie bisher war: literarisch“. Buber und die Prager Zionisten hätten vor dem Krieg mit ihrem Programm der spirituellen Erneuerung des Judentums eine „ungeheure Verantwortung“ auf sich genommen, die nun von ihnen fordere, „wenn wir schon nicht Bauern in Palästina werden können“, die „Verwirklichung“ wenigstens im Sprachlichen zu versuchen und nicht als „halben Weges stehen Gebliebene, Alte“ zurückzubleiben.

Von Robert Weltsch liegt kein Tagebuch vor, doch lässt sich seine Kriegserfahrung aufgrund von Briefen und journalistischen Zeugnissen rekonstruieren. Er meldete sich freiwillig und diente – nach militärischer Ausbildung in Salzburg – von 1915 an als österreichischer Soldat und Offizier im Prager Landwehr-Infanterieregime 8 an der galizischen Karpathenfront. Von Kriegsbegeisterung ist in seinen Briefen nichts zu spüren, im Gegenteil: Seine Korrespondenz ist von Beginn an von Skepsis und wachsender Desillusionierung bestimmt. Bereits im Dezember 1914 richtete er den Blick auf Palästina als das eigentliche Ziel jenseits dieses Krieges: „Aber obwohl ich selbst vom Krieg noch gar nicht gerochen habe, glaube ich doch, dass wir nachher nicht mehr imstande sein werden, in der alten Weise fortzuleben; dann werden wir doch noch reif für Palästina.“ Die Vorstellung, für die Anliegen Österreichs und Deutschlands zu kämpfen, behagte ihm in keiner Weise: Ja – er glaube an die Bedeutung der „deutschen Idee“ für die Juden, doch vom Geiste Fichtes und Kants sei im Militär nicht viel zu spüren, und er habe die Lust schon längst verloren. Wenn schon, würde er am liebsten „als türkischer Offizier in die verbündete Armee eintreten; eine zionistische Legion, die den Sinai zu gewinnen auszieht, in der mag es sich anders kämpfen, und auch anders sterben, wenn es sein muss“. In anderen Briefen träumt Weltsch davon, als „eine Art freier Wüstensohn“ nach Palästina zu gehen und seinen Zionismus auf diese Weise zu verwirklichen.

Den Eindruck, das Kriegserlebnis könne zu einer moralischen Kraft werden, wie viele hofften, teilte Weltsch in keiner Weise. Noch aus Salzburg, „dieser gojischen Stadt“ voller Antisemitismus, schrieb er zu Pessach, kurz vor dem Aufbruch ins Feld, an Bergmann, das intellektuelle und moralische Niveau unter Soldaten und Offizieren sei unendlich niedrig, und jene, die schon an der Front gewesen seien, kehrten keineswegs geläutert zurück, sondern verdorben und frivol. An ein baldiges Ende des Krieges glaube er nicht, in seinen dunkelsten Stunden, so schrieb er, fürchte er vielmehr große Not, Seuchen, Hunger und verheerende Folgen für ganz Europa. Seiner Schwester Lise schrieb er Anfang Mai 1915, „das Unerwartetste und Unerhörteste“ sei nun Ereignis geworden: „Ich wurde heute zu meinem großen Missvergnügen und trotz verzweifelten Anstrengungen für tauglich zum Militärdienst und unentbehrlich für die Vaterlandsverteidigung befunden. Das ist geradezu eine Katastrophe […] So ist also alles zunichte […] Es ist schrecklich.“ Wenig später berichtete er Bergmann und dessen Frau über sein erstes Gefecht und sein Empfinden angesichts dieser Erfahrung: „Mein Gemütszustand ist nicht der allerbeste. Ich habe mir die Sache anders vorgestellt, grausiger als sie ist und doch in anderer Hinsicht wieder ernster, größer, in irgendeinem Sinne moralischer. Dabei sehe ich nicht, zu welchem Ende das führen kann.“ Die Tatsache, dass die Soldaten in den Schützengräben jubelten, wenn die Granaten der eigenen Haubitzen über sie hinwegflogen und in den russischen Stellungen einschlugen, kommentierte er mit der nachdenklichen Bemerkung: „Und doch sind auch dort Menschen, die zerfleischt werden – und jeder Sinn für Menschlichkeit ist geschwunden.“ Nicht zufällig begegnen bei Weltsch auch die eindringlichsten Reflexionen über das Grauen des Krieges und die Klage über die gefallenen jüdischen Soldaten, z.T. Mitglieder des Bar Kochba – „mir verstummen vor solchen Schrecknissen alle Tröstungen der Philosophie.“ Sollte er selbst überleben, was ein Wunder wäre, dann, so in einem Brief an Bergmanns Frau 1916 zu Yom Kippur, dann werde er eine große Verpflichtung fühlen – „werde ich sie erfüllen können?“ Und an Simchat Torah fügte er hinzu, das Kämpfen an Jom Kippur sei eine Entweihung unter vielen, jeden Kanonenschuss empfinde er als Beleidigung Gottes, als persönlichen Schmerz. Er müsse gestehen, dass er völlig ratlos sei und nicht mehr verstehen könne, was er anfänglich noch als Sinngebung versucht habe.

Auch Weltschs Briefe an Buber sind voller Ernüchterung und Resignation. Als Buber ihn trotz seines Feldeinsatzes für das Projekt seiner neuen Zeitschrift Der Jude zu gewinnen versuchte, erwiderte Weltsch im November 1915 zunächst, der Krieg sei für alle eine tiefe Enttäuschung und habe die erhofften Wirkungen auf die Gemüter völlig verfehlt. Er selbst habe bisher in seinem Dasein als Soldat „in einem Zustand müder Resignation dahingelebt, dabei in wildem Gejagtsein aus einer Aufregung in die nächste stürzend, bald abgestumpft“. Bubers Initiative habe ihn jedoch „förmlich aufgerüttelt und daran gemahnt, daß die für die Zukunft entscheidende Welt anderswo ist als dort wo ich jetzt lebe“. Tatsächlich schrieb Weltsch nun gelegentlich für die Zeitschrift, doch die Akzente, die er setzte, sind ganz andere als die bei Bergmann und Kohn. In einem kurzen Feldbrief unter dem Titel „Wenn Kinder sterben …“ beklagte er den Kriegstod junger jüdischer Soldaten, für den es keinen Trost gebe, nur die heilige Verpflichtung, das ungelebte Leben dieser großen Schar von Toten stellvertretend für sie zu leben.

Gegen Ende des Krieges trat auch für Weltsch Palästina als Ideal in den Vordergrund. Allerdings widersprach er dezidiert Bergmanns Artikel über den jüdischen Nationalismus nach dem Kriege und betonte, aus seiner Sicht habe es des Krieges, dessen „Tollheit“ er immer weniger verstünde, in keiner Weise bedurft, um den Zionismus zu einer lebendigen Kraft zu machen. 1921 schrieb er an seinen Freund, es sei viel dringender, sich wieder auf die alte Prager Gedankenwelt von 1913 einzulassen „und den ganzen politischen Traum der Kriegsjahre als bösen Traum zu behandeln. Aus dieser Kloake, die der Weltkrieg war, könnte für uns nichts entstehen, was nicht stinkt.“ Mit Blick auf eine jüdische Zukunft in Palästina ging es aus Weltschs Sicht nach dem Krieg vor allem um eine Frage: Wie konnte man verhindern, dass sich der Zionismus zu einem brutalen Imperialismus europäischer Prägung entwickelte?

Ähnlich verhält es sich bei Hans Kohn, für den der Erste Weltkrieg zu einer einschneidenden Erfahrung mit erheblichen Folgen für seine politischen Überzeugungen wurde. Sein Kriegstagebuch dokumentiert seine anfängliche enthusiastische Reaktion auf die Augustereignisse, die ganz offenbar stark von Buber beeinflusst war. Er meldete sich freiwillig und konnte es kaum abwarten, die Grundausbildung zu absolvieren, um endlich seine Soldatenpflicht zu erfüllen. Im September notierte er in seinem Tagebuch:


„Ich bin am 25. vorigen Monats eingerückt. Bis jetzt war es eine große Enttäuschung. Ich hatte den Krieg freudig begrüßt. […] Eine jungenhafte Freude war in mir. Der Gedanke des Krieges, die Idee, hatte verjüngende Kraft. Heute früh las ich die Worte in R. M. Rilkes Requiem: ‚Die großen Worte, aus den Zeiten, da / Geschehn noch sichtbar war, sind nicht für uns. / Wer spricht von Siegen. Überstehn ist alles.‘ – Das glaubte ich überwunden. Ich erwartete eine Offenbarung im hellenisch-bildnerischen Geist, den Atem von Jugendblut und Kraftbewusstsein. Luft und Bewegung, Wirklichkeit und Anschauung. Und vor allem: hier erwachte ‚Volk‘ zu einer höheren Einheit, und wenn es auch nicht mein Volk war, wenn ich nach Deutschland blickte, sah ich ehrfürchtig zu, fühlte mich mitgetragen, irgendwie mein Ich erweitert. Dann: endlich galt es: Pflichterfüllung, wo sie am schwersten fällt, Selbstopferung für ein Höheres, des Teiles für ein Ganzes.“

Kohn erblickte im Krieg die Möglichkeit zur Tat, zum Erlebnis, zur Überwindung der Verfangenseins im Bürgerlichen. Zugleich hegte er hohe Hoffnungen auf die Bedeutung des Krieges für das Judentum und den Zionismus. Wie viele jüdische Zeitgenossen war er davon überzeugt, ein Sieg Deutschlands und Österreichs sei um der Befreiung der Juden in Osteuropa und in Russland aus der zaristischen Despotie willen unbedingt notwendig. In seinem Tagebuch brachte er daher seine Hoffnung auf die Befreiung der europäischen Juden aus der Schmach der Unterdrückung zum Ausdruck und erblickte in der jüdischen Kriegsbeteiligung den Anbruch einer in nahezu messianischen Tönen ausgemalten nationalen Zukunft des jüdischen Volkes in einer eigenen nationalen Heimstätte.

Ende August 1914 rückte Kohn gemeinsam mit Robert Weltsch in ein überwiegend tschechischsprachiges Infanterieregiment der österreichisch-ungarischen Armee ein. Es folgte die Versetzung nach Salzburg zwecks Offiziersausbildung, im Februar 1915 dann die freiwillige Meldung zum Einsatz in den Karpaten. Das Hochgefühl war schon jetzt geschwunden – am 1. Februar notierte Kohn in sein Tagebuch ganz knapp: „Ich bin jetzt am Abend, wo ich alles klarer sehe, froh, daß ich mich gemeldet habe. Sonst würde ich mich immer schämen. Sicher, meine Begeisterung ist lange weg, aber es ist ja dies alles eine moralische Frage. Und ich hoffe, dass ich die Prüfung bestehen werde.“ Seine Aufgabe, das Kommando des 4. Zuges der 8. Kompanie, war jedoch nach wenigen Tagen beendet: Kohn geriet in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst im Januar 1920 – politisch dramatisch verwandelt – zurückkehren sollte. Er wurde zunächst nach Samarkand gebracht, von wo er zu flüchten versuchte, dann als „gefährlicher Gefangener“ nach Turkestan geschickt und schließlich in einem Gefangenenlager für Offiziere in Sibirien interniert und zu Isolationshaft in einem Strafpavillon verurteilt. Nach der Märzrevolution 1917 wurde er noch weiter östlich nach Novosibirsk und Ende 1918 nach Krasnojarsk verlegt. Im Juli 1919 wurde er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, musste jedoch bis zur erfolgreichen Bewerbung um die Staatsbürgerschaft der neu gegründeten Tschechoslowakei in Russland bleiben und arbeitete eine Weile in Irkutsk als Sekretär des zionistischen Zentralbureaus von Sibirien. Ende 1919 reiste er mit der Transsibirischen Eisenbahn über die Manschurei nach Wladiwostok, dann mit dem Dampfer nach Japan und schließlich auf langer Schiffsfahrt zurück nach Europa.

Hans Kohns persönliche und politische Entwicklung während der Jahre der Kriegsgefangenschaft, die sein späteres Werk als Theoretiker des Nationalismus sowie die biografischen Brüche und den allmählichen Wandel seiner Auffassung des Zionismus bis in die 1930er und 1940er Jahre bestimmen sollten, lässt sich vor allem in seinen Korrespondenzen aufspüren. In seinen Briefen und Postkarten an Weltsch klingt die Einsamkeit dieser Zeit an, seine Sehnsucht „nach einer einzigen bewegten oder heiteren Stunde, nach dem Anblick städtischen oder dörfischen Lebens, nach einem Atemzug unter Bäumen, im Grün, in Feldern, nach Freunden und Mädchen, nach Musik“, so im Mai 1917. „Ich hoffe“, schrieb er am 12. Januar 1918, „daß das alles, daß vor allem dieser albtraumhafte Krieg, bald ein Ende nehmen wird.“

Kohn versuchte sich mit intensiven Studien des biblischen und modernen Hebräisch, mit Übersetzungen aus dem Russischen und mit der Lektüre von Romanen und Lyrik, Nationalökonomie, Soziologie, Philosophie und jüdischer Geschichte über die Isolation hinwegzuhelfen. Er schrieb Artikel für Bubers Der Jude und schuf eine kleine Lager-Universität, in der er zionistische Vorträge hielt. Er blieb demnach in der Ferne Sibiriens seiner Bindung an den Kulturzionismus Buber’scher Prägung treu, doch es lassen sich auch ganz neue Akzente finden. Sichtbar wird vor allem so etwas wie eine universale Weitung und ethische Zuspitzung seiner zionistischen Überzeugungen. Er kritisierte zunehmend die enge nationale Perspektive des politischen Zionismus und fordert in Briefen an Weltsch, der Zionismus müsse sich dessen bewusst werden, dass vom jüdischen Nationalismus nicht nur eine Befreiung des jüdischen Volkes, sondern Impulse für die geistigen und sozialen Probleme der von Chauvinismus und Gewalt heimgesuchten Menschheit insgesamt ausgehen müsse. „Heute sehe ich das Menschenelend schärfer, fühle wuchtiger die Bande, die uns mit allem Menschlichen verknüpfen“ (August 1918). Am eindrucksvollsten kommt diese erneut fast religiös anmutende Überzeugung, der jüdische Nationalismus nach der Zäsur des präzedenzlosen Krieges stehe vor der Aufgabe, durch eine bewusst moralische Haltung zum Vorbild aller Nationalbewegungen zu werden und sich entschieden dem kosmopolitischen Element des Nationalismus zuzuwenden, in einem Brief an Buber vom 21.11.1917 zur Sprache: Er sei politisch bewusster und zugleich radikaler geworden, das „gewaltige Chaos der russischen Revolution“ habe auf ihn gewirkt, und er setze seine Hoffnung darauf, dass auch im Westen nun die Menschen „ernster, innerlicher, verantwortungsfreudiger“ geworden seien und nach den Schrecken des Krieges Schritte auf dem Weg zu einer „neuen Menschheit“ unternähmen, zum „neuen Sonnenreich unserer Propheten, dem Zusammenleben der Menschen in Gerechtigkeit, Wahrheit und Friede“:


„Immer fester wird in mir die Überzeugung, daß wieder der Völker Heil von Zion ausgehen wird, wenn es uns gelingt, den neuen Sabbat anbrechen zu lassen, über den keine Hawdalah mehr gemacht wird. Ich glaube fest, daß ‚das Werdende größer ist als alle (auch meine) Auffassungen.‘ Wir können nichts dazu tun, als uns zu bereiten, uns und unsern Kreis, der uns nach chassidischer Meinung zugewiesen ist; und das tue ich, mit ganzer Seele, ganz anders als je zu Hause, weil ich in manchem ein anderer geworden bin.“

Es sind insbesondere drei Elemente, die während der russischen Kriegsgefangenschaft neu ins Denken Kohns traten. Ausgerechnet in der Zeit, in der 1917 mit der Balfour Declaration die Aussichten auf die Schaffung einer jüdischen Heimstätte gestiegen waren, erlebte Kohn seine „anarchistische Phase“, las Bakunin und Kropotkin und entwickelte, wie er 1919 an Weltsch schrieb, eine heftige Aversion gegen die Idee des souveränen Nationalstaats: Er sei „Anarchist, vor allem absoluter Staatsgegner“ – ein Selbstverständnis, das er nach dem Krieg weiterentwickelte und das ihn zum Gegner eines jüdischen Staates werden ließ. Dazu trat eine Hinwendung zu sozialistischen Ideen, die er mit seinem prophetischen Judentum zu verbinden trachtete. Entscheidend ist allerdings seine pazifistische Wendung während der Gefangenschaft, die ihn in eine Reihe mit Intellektuellen jüdischer Herkunft wie Arnold Zweig oder Ernst Toller stellte. „Seit dem Ersten Weltkrieg“, erinnerte sich Kohn in seiner Autobiografie, „stand ich der Macht, dem Bürokratismus und allem Säbelrasseln skeptisch gegenüber. Ich hasste die Auswüchse des Nationalstolzes und der Selbstgerechtigkeit und fürchtete das verhärtende, unmenschliche Wesen des Krieges.“ Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft engagierte er sich in der Organisation War Resisters International mit Sitz in London und wurde schließlich deren Repräsentant in Palästina. In einem Artikel aus dem Jahre 1928 zum Thema „Judentum und Gewalt“ deutete er den Pazifismus als eine dem Judentum eingeschriebene „instinktive und bis zur Heftigkeit gesteigerte Abneigung gegen rohe Gewalt, Mord und Krieg“.


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3. Auf der Suche nach einem nicht-chauvinistischen Nationalismus

Nach dem Ersten Weltkrieg trat für Bergmann, Weltsch und Kohn vor allem die Inspiration durch Bubers Interpretation des jüdischen Nationalismus im Kontext der zunehmend gewaltsamen Spannungen mit der arabischen Bevölkerung in Palästina in den Vordergrund. Bereits während des Krieges hatten sich in Bubers Schriften die Akzente mit Blick auf das Wesen des Nationalismus verschoben, insofern er nun dessen destruktiven Charakter benannte und den Beitrag des jüdischen Nationalismus als Gegenpart zum europäischen Chauvinismus im Sinne einer Vorreiterbewegung für den Weltfrieden und für übernationale Ideale interpretierte. Nach 1918 lautete Bubers zentrale Botschaft, der Zionismus könne nur dann Legitimität beanspruchen, wenn er sich nicht in den Bahnen des Nationalismus der europäischen Völker bewege, sondern unter Verzicht auf Gewalt und unter Verständigung mit der arabischen Bevölkerung auf eine langfristige, behutsame jüdische Besiedlung Palästinas und eine gemeinsame „Heimstätte“ zweier Völker ziele. Im Gefolge der frischen Erfahrungen des verheerenden europäischen Krieges betrachtete der Philosoph die Rückkehr des jüdischen Volkes zu einem politisch-nationalen Dasein zugleich als einzigartige Gelegenheit des Judentums, jene geistigen und moralischen Prinzipien zu bewähren, die es über Jahrhunderte inmitten der in der Diaspora herrschenden und erlittenen nationalistischen Gewalt bewahrt habe. In seinen Reden der 1920er Jahre wurde Buber nicht müde, zu mahnen, die Sendung Israels als des auserwählten Volkes müsse als gelebter „hebräischer Humanismus“ und als Widerspruch gegen die Methoden des „Herrschaftsnationalismus“ verstanden werden.

Ähnlich dachten auch seine Prager Weggefährten. Am konsequentesten betonte Hans Kohn die moralischen Schlussfolgerungen, die der Zionismus aus Bubers Überlegungen zu ziehen habe. Sein Erlebnis des Krieges prägte seine kosmopolitische Vision eines „Staates“, der keine Herrschaft mehr ausübe, in dem die Würde und sittliche Größe einer Nation unabhängig seien „von dem Spiele der Interessengegensätze, von dem eitlen Wahn der politischen Unabhängigkeit“. Die Folgen seiner Erkenntnisse formulierte er im Rahmen seiner federführenden Rolle im Verein Brit Schalom, der für ein binationales arabisch-jüdisches Gemeinwesen eintrat, in dem zwei kulturell autonome Nationalitäten sich unter Aufsicht der Völkergemeinschaft streng paritätisch die Herrschaft teilen sollten. Die Grundorientierung war eine pazifistische: Die jüdischen Einwanderer sollten Palästina nicht als auf Majorität zielende Invasoren betreten, sondern das Land behutsam, auf friedlichem Wege besiedeln und durch kultivierende Arbeit und den gemeinsamen Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft die arabische Bevölkerung für sich gewinnen. In Anlehnung an Elemente des Schweizer Föderalismus und der Minderheitenpolitik der Habsburger Monarchie entwarf Kohn eine kühne Vision der zukünftigen Entwicklung Palästinas:


„Geschichtlich und geographisch ist Palästina ein Land des Friedens. […] Dies soll auch in seiner äußeren Stellung zum Ausdruck kommen, es soll ein neutrales Land unter dem Schutz des Völkerbundes werden, eine Stätte nationalen und internationalen Friedens, die durch Geschichte und Lage in naher Zukunft auch der Sitz des Völkerbundes sein sollte. […] Ein im inneren Leben friedliches, prosperierendes und in seiner kulturellen Mehrfältigkeit autonomes Palästina, das auch nach außen stets neutral, unverletzlich und unbewaffnet, Frieden wahrt und ausstrahlt, kann die erste große Tat des Völkerbundes auf seinem mühsamen Wege zu seiner wahren Form und Aufgabe werden.“

Die gewaltsamen Konflikte, die 1921 und in weit höherem Ausmaß dann 1929 die Hoffnungen auf ein friedliches Zusammenleben von Juden und Arabern in Palästina zerstörten, bedeuteten für Bergmann, Kohn und Weltsch eine ungeheure Zerreißprobe, weil sie ihre ursprünglichen Motive aus Prager Zeiten als utopisch oder gar illusorisch zu entlarven drohten. Kohn zog daraus die radikalsten Schlussfolgerungen und setzte sich in diesem Zusammenhang kritisch mit Martin Buber auseinander, da sich dieser aus seiner Sicht nicht konsequent genug für die Bewahrung der Reinheit der zionistischen Idee einsetzte. 1929 distanzierte sich Kohn ausdrücklich vom Zionismus, einschließlich des Brit Schalom, und wanderte 1933 in die USA aus. Seine Deutung des Denkens Bubers, die er 1930 in einer Biografie vorlegte, spielte offenbar in diesem Prozess der Neuorientierung eine entscheidende Rolle. In einem Brief an Weltsch gestand Kohn, dieses Buch sei in Wirklichkeit „eine Autobiographie, viel mehr als eine Biographie von Buber. Denn sie zeigt meinen und unseren Weg, meine und unsere Jugend, von der ich in diesem Buch endgültig Abschied genommen habe, die ich in diesem Buch geprüft und gerichtet habe“. In dem Buch setzte er sich relativ diskret, wenn auch unüberhörbar mit den Grundlagen von Bubers politischer Ethik auseinander, die – auch mit Blick auf die Situation in Palästina – bewusst nicht rigoristisch argumentieren wollte, sondern davon ausging, verantwortliches Handeln in einer unerlösten Welt sei unter Umständen zu begrenzten Kompromissen mit der konkreten politischen Situation gezwungen.

Konfrontierte Kohn Buber hier mit dem vorsichtigen Hinweis auf die Gefahr, dass eine solche Ethik zum Arrangement mit dem Unrecht führen könne, so klangen seine privaten Äußerungen weit drastischer, zorniger und verzweifelter. Interessanterweise spielte er dabei auch kritisch auf Bubers politische Positionierung während des Ersten Weltkriegs an: „Bubers Verhalten“, schrieb er am 30. September 1929 in sein Tagebuch, „ist zweideutig wie 1914. Er nimmt sich und seine eigene Lehre nicht Ernst, nennt dieses Ernstnehmen einseitigen Doktrinarismus [ja sind denn seine Lehren zweideutig gemeint?] und macht in tiefdunklen Kompromissen. Das verurteilt zwar nicht seine Lehre, wohl aber ihn.“ Kohns Briefe aus diesen Monaten zeugen von seinem bitteren Empfinden, die meisten Zionisten erstrebten jetzt einen „Judenstaat“, sogar die gemäßigten Zionisten wie Weltsch wollten „den Arabern soviel als nur möglich wegnehmen, ohne jede andere Grenze als die, die der erbitterte Widerstand der Araber setzt“. Damit aber trieben sie sie zur Gewalt und machten auf lange Sicht jeden Frieden unmöglich, ja provozierten einen Krieg, in dem „die Araber im Recht“ wären.

In seinem berühmten Brief an Berthold Feiwel, in dem er seinen Rücktritt von allen zionistischen Funktionen begründete, schrieb Kohn am 21. November 1929, der Zionismus als ursprünglich auf Pazifismus, Liberalismus und Humanismus zielende „sittliche geistige Bewegung“, wie ihn der „Bar Kochba“ erträumt habe, habe versagt und sich kolonialen Neigungen unterworfen. Gelinge es nicht, möglichst sofort einen Frieden mit den Arabern herbeizuführen, so sei es besser, sich einzugestehen, „daß der Zionismus durch unsere Schuld nicht in dem Sinne verwirklichbar ist, in dem allein er verwirklicht zu werden verdient.“ Ein jüdisches Palästina, das so aussehe wie alle anderen Staaten der Erde, „das wohl etwas Pazifismus und etwas Humanismus kompromißhaft“ einschließe, sich aber ansonsten den Strategien der Machtpolitik unterwerfe, werde „nur eine Episode sein in der Geschichte des Judentums, das Werk einer Generation voll Sehnsüchte und Hoffnungen, die von den folgenden Generationen betrogen und Lüge gestraft werden“.

Robert Weltsch fühlte ähnlich, sah sich aber nicht imstande, sich genauso konsequent vom Zionismus zu distanzieren, vor allem weil er unmittelbar den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland vor Augen hatte und sich zunehmend der Notwendigkeit einer Zuflucht der europäischen Juden bewusst wurde. Es ist aufschlussreich, dass Weltsch in einem sehr düsteren Brief an Hugo Bergmann vom 19. August 1938 über die Situation in Europa und Palästina auf die Erfahrung des Ersten Weltkriegs als eine Grunderfahrung des 20. Jahrhunderts zu sprechen kam – Zeichen dafür, wie tief er davon geprägt war:


„Gerade in Palästina wird ja für uns mehr als je in den nächsten Jahren ein Kampfplatz sein, mehr vielleicht als anderswo in der Welt, und keine Idylle. Es ist ein Zustand eingetreten, den wir uns eigentlich nie haben vorstellen können, nämlich dass es kein Entrinnen gibt, dass die Welt verschlossen ist und man um sein eigenes Leben und seinen Platz kämpfen muss, etwas was nach unserer Meinung eigentlich nur im Altertum oder in barbarischen Zeiten so war, aber was wir alle uns doch vor 1914 niemals als eine aktuelle Wirklichkeit vorstellen konnten, und noch 1930 nicht. Noch Hans Kohn hatte das Gefühl, wenn es ihm nicht passt, kann er von Palästina abreisen. Aber in wenigen Jahren wird auch das nicht mehr möglich sein, den niemand wird einen aufnehmen, da alle Kanäle verstopft sein werden, alles überfüllt, von überall wahrscheinlich ein Zurückfluten, Menschenmassen werden wieder untergehen, wie immer in der Geschichte, was wir unter Kaiser Franz Josef nicht wussten. Unvorstellbar, diese ungeheuren Leiden und Untergänge, bei denen immer wieder ein Rest übrigbleibt, der irgendwie das Leben und die Kultur fortsetzt.“

Weltsch selbst emigrierte im letzten Augenblick – 1938 – nach Palästina, hielt es dort jedoch nicht länger aus als bis 1946. Nach dem Krieg verlegte er seine Wirksamkeit nach London, wo er zeitlebens ein Gegner des Staates Israel blieb, wie Kohn, aber im Gegensatz zu Buber und Bergmann, die sich mit der neuen Wirklichkeit eines jüdischen Staates arrangierten, jedoch innerhalb der israelischen Gesellschaft zur mahnenden Stimme wurden.

Der Zwiespalt, der sich im Denkweg Bubers und seiner drei Prager Weggefährten widerspiegelt, lässt sich als Ausdruck der Tragödie einer Strömung des deutschsprachigen Zionismus verstehen, die letztlich an den politischen Entwicklungen in Europa und im Nahen Osten zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Shoah gescheitert sind. Die von der Katastrophe von 1914 motivierte idealistische Vision eines humanistischen Nationalismus sah sich dem Dilemma einer historischen Eigendynamik ausgesetzt, die sich als mächtiger erwies als ihre Friedensvisionen. Ob ihre Hoffnung, Palästina zu einem Modell der Koexistenz zweier Völker mit einem nationalen Anspruch gleichen Rechts zu machen, unter anderen historischen Umständen zu verwirklichen gewesen wäre, bleibt Spekulation, ebenso wie die Frage, ob Bubers Forderung, das jüdische Volk dürfe um seiner prophetisch-messianischen Rolle willen nicht den „Weg der Völker“ einschlagen, größere politische Tragfähigkeit hätte entfalten können, hätten die zionistische Besiedlung Palästinas und die Gründung des Staates Israel nicht inmitten übersteigerter, gewaltsamer Nationalismen und eines präzedenzlosen Völkermordes stattgefunden, die aus der europäischen Diaspora einen Ort der Vernichtung machten.

Robert Weltsch konstatierte 1972, in der Rückschau auf die Geschichte des deutschen Zionismus, die Ideale der Prager Zionisten und des Brit Schalom seien an der historischen Wirklichkeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gescheitert. Der Traum der dem Ersten Weltkrieg Entkommenen von der Möglichkeit, einen schöpferischen Nationalismus mit dem friedlichen Zusammenleben mit anderen freien Völkern zu vereinen, habe sich als Illusion erwiesen:


„Die Weltgeschichte hat eine andere Wendung genommen. Armaggedon hat triumphiert. Das jüdische Volk wurde in eine unausdenkbare Katastrophe gerissen. Ein Nationalismus teuflischer Herkunft hat die ganze Welt zerfetzt und das Böse entfesselt. Die brutale Macht schien zu regieren. Diese zynische Einsicht hat das Denken und Handeln der Generation geformt.“



Der Autor

CHRISTIAN WIESE

Prof. Dr., Jhg. 1961, Studium der ev. Theologie und der Judaistik in Tübingen, Bonn, Jerusalem und Heidelberg, Promotion 1997. 2007 Professor für jüdische Geschichte und Direktor des Centre for German-Jewish Studies an der University of Sussex. Vorher wissenschaftlicher Assistent an der Universität Erfurt, Gastprofessuren in Montreal, Dublin und am Dartmouth College, New Hampshire. Seit 2011 Inhaber der Martin-Buber-Professur für jüdische Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt/M.

Sein Forschungsgebiet ist die moderne jüdische Geschichte und Philosophie, die Geschichte des Zionismus sowie die Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehungen in der Neuzeit.

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