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ONLINE-EXTRA Nr. 344

Januar 2024

"Am zweiten Neujahrstag 5784 nach der Schöpfung stimmten wir im Morgengebet vor der geöffneten Heiligen Lade in das Bußgebet Awinu Malkenu (Unser Vater, unser König) ein. Was immer wir an diesem 5784. Geburtstag der Welt erkannten und bekannten, wir waren doch blind wie neugeborene Katzen. Wir ahnten nicht, welche fatale Bedeutung viele der folgenden 44 Bitten noch vor Ablauf der Feiertage annehmen würden. Unsere Weisen sagen diesem Gebet die Fähigkeit nach, Regen zu machen (bTa‘anit 25b), soviel steht fest, es kann Tränen machen."

Mit diesen Worten beginnt der Judaist und Rabbiner Daniel Krochmalnik seinen ebenso leidenschaftlichen wie stellenweise zornigen Zwischenruf, der einen tiefen Einblick in die Gemütslage sicher vieler Jüdinnen und Juden weltweit im Blick auf das Massaker der Hamas am 7. Oktober und dessen Folgen bis heute erlaubt.

Anhand des Bußgebets Awinu Malkenu, einem der wichtigsten Gebete im Judentum, zieht Krochmalnik etwas mehr als 100 Tage nach dem Massaker eine mitunter bittere Bilanz, insbesondere im Blick auf die Reaktionen der nicht-jüdischen Welt. Dabei bettet er seine Gedanken in die lange Tradition jüdischer Pogrome ein und setzt die Folgen rund um die grausamen Ereignisse des Hamas-Massakers in Beziehung zu einigen der zentralen Bitten des Bußgebets.

Damit gewinnt sein Text bei aller Emotionalität theologische wie politische, moralische wie ethische Relevanz - und erweist sich im Ergebnis gleichermaßen als Klage und Anklage.

COMPASS dankt dem Autor für die Erlaubnis zur Erstveröffentlichung seines Textes nachfolgend als ONLINE-EXTRA Nr. 344!

© 2024 Copyright beim Autor
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Online-Extra Nr. 344


Awinu Malkenu 5784
Im Zeichen des Hamass-Massakers vom 7. Oktober


DANIEL KROCHMALNIK



Am zweiten Neujahrstag 5784 nach der Schöpfung stimmten wir im Morgengebet vor der geöffneten Heiligen Lade in das Bußgebet Awinu Malkenu (Unser Vater, unser König) ein. Was immer wir an diesem 5784. Geburtstag der Welt erkannten und bekannten, wir waren doch blind wie neugeborene Katzen. Wir ahnten nicht, welche fatale Bedeutung viele der folgenden 44 Bitten noch vor Ablauf der Feiertage annehmen würden. Unsere Weisen sagen diesem Gebet die Fähigkeit nach, Regen zu machen (bTa‘anit 25b), soviel steht fest, es kann Tränen machen.

Unser Vater, unser König, wir haben vor Dir gesündigt

Das Awinu Malkenu gehört zu den beliebtesten Gebeten der herbstlichen Hochfeste, der Wechselgesang ist eine ihrer Erkennungsmelodien. Der Vorbeter und die Gemeinde singen es inbrünstig mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Wenn der Feiertag auf einen Sabbat fällt, da entfällt das Bußgebet, und es fehlt uns. In diesem Gebet konjugiert die Gemeinde in der 1. Person Mehrzahl, das Volk wird in Raum und Zeit zu einem Körper mit einem Herzen, einer Seele und einer Kraft.  Wir erinnern Gott an die Verdienste unserer Märtyrer, „die für Deinen heiligen Namen getötet wurden“, „die wegen Deiner Einzigkeit hingeschlachtet wurden“, „die der Folter durch  Feuer und Wasser entgegeneilten zur Heiligung Deines Namens“, und wir bitten inständig: „Räche vor unseren Augen das vergossene Blut Deiner Diener“. Niemand ahnte, dass unser langes Martyrologium noch vor Abschluss der Hohen Feiertage, 1200 Namen länger sein würde, von Märtyrern, denen alle vor- und unvorstellbaren Martern bevorstanden. Das Awinu Malkenu erlaubt uns, in der 1. Person der Mehrzahl zu „memmern“, wie das alte jiddische Verb heißt.

Unser Vater, unser König, erneuere uns ein gutes Jahr!

Warum heißt es in dieser Zeile „erneuere“, und nicht, wie im 9. Segenspruch des Achtzehngebets: „segne“. In Jahr 5784 können wir dafür einen besonderen Grund anführen: Weil es für Israel schlimmer nicht hätte anfangen können. Gewiss, Israel hat schon viele lebensgefährliche Krisen überstanden und wir vertrauten blind auf seine Abwehrkräfte. Das Ceterum Censeo der Israelfeinde, dass Israel zerstört werden müsse, die Israelprügelorgien in den Vereinten Nationen, die dauernde Israelkritik der angeblichen Israelfreunde, das alles steckten wir lässig weg. Stattdessen schauten wir mit der ganzen Welt gebannt dem Ringkampf der israelischen Regierung und der Opposition um die Verfassung des Staates zu. Doch dann erhob sich ein Gespenst aus dunkler Vergangenheit, dass wir nur noch aus den Geschichtsbüchern kannten, ein Gespenst Namens „Pogrom“ und es wütete einen Tag lang. Tausende Israelis wurden vernichtet, verstümmelt, vergewaltigt, verschleppt, getroffen hat es aber Millionen Juden im Land und weltweit. Denn das Projekt „Judenstaat“ war die Antwort auf das Pogrom, das immer wieder wellenartig über die europäische Diaspora fegte, namentlich auf das Oster-Pogrom von Kischinew vom 19. bis zum 21. April 1903, mit rund 50 Toten, 500 Verletzen und Vergewaltigten, und 1500 geplünderten und gebrandschatzten Häusern. Der Nationaldichter Chajim Nachman Bialik suchte den Tatort auf und verfasste das Gedicht In der Stadt des Schächtens (1904), in dem Gott selbst den Juden zuruft, ihn nicht länger mit vergeblichen Buß- und Bittgebeten zu belästigen, und stattdessen zu den Waffen zu greifen und gegen das Verhängnis zu rebellieren:


„Erflehen von mir Vergebung ihrer Sünde.
Sündigt ein Schatten an den Wänden denn?
Ein Scherben, ein zerbrochener, ein toter Wurm?
Was flehen sie, was strecken sie die Hände?
Wo ist die Faust, der große Donner wo,
Der da abrechnen soll für die Geschlechter
Und niedermähen die Welt, einreißen Himmel,
Umstürzen meinen Stuhl und Ehrenthron.“
(Chaïm Nachman Bialik, Gedichte, 2. Bd., aus dem Jidischen von Ludwig Strauß, Berlin 1921, S. 35.)

Nun also wurde der feste Felsen, an dem die Pogrom-Wellen der ganzen Welt zerschellen sollten, von einem Pogrom heimgesucht, welches nach Anzahl der Toten 24 Mal schlimmer war als das Pogrom von Kischinew. Und die gut sechs Millionen Juden, die inzwischen in Israels leben, haben vor Augen geführt bekommen, dass Ihnen das gleiche Schicksal zugedacht ist, wie den sechs Millionen toten Juden Europas. Wir sind am Anfang des Jahres 5784 für einen Tag wieder in die Jahre der Verfolgung und Vernichtung zurückgefallen. Müssen wir da nicht auch zum Buß- und Bittgebet zur Erneuerung des guten Jahres zurückkehren?

Unser Vater, unser König, annulliere alle über uns verhängten schlimmen Verfolgungsdekrete!

Das Jahr 5784 heißt nach dem hebräischen Zahlenkürzel: TaSchPaD. Im Kalendarium der Judenverfolgungen gibt es viele solche Kürzel, so z. B. die Verfolgungsdekrete TaTNU (1096 n.) im 1. Kreuzzug, die Verfolgungsdekrete QaT (1348/49 n.) im Schwarzen Tod, die Verfolgungsdekrete TaChWaTat (1648 - 49 n.) der Kosaken-Massaker. Und nun also das Verfolgungsdekret TaSchPaD am Fest der Torafreude  5784.  Warum steht hier das Wort „alle“? Vielleicht, weil sich in jeder Verfolgung alle anderen wiederholen. Man hat die Opfer in TaSchPaD in Stücke gehauen wie in TaTNU, man hat sie bei lebendigem Leib verbrannt wie in QaT, man hat den Schwangeren die Frucht aus dem Leib gerissen, wie in TaCHWaTat. Als ob es im kollektiven Gedächtnis einen Pogrom-Speicher gäbe, eine verborgene Tradition der Judenmörder, die, wo sich die Gelegenheit dazu bietet, schon wissen, was zu tun ist. Ein Beispiel: Im Verfolgungsjahr NaT (1298 n.) wüteten in Süddeutschland die „Judenschläger“ von König Rintfleisch, einem Metzger, der sich vom Himmel berufen fühlte, sämtliche Juden zu verbrennen. Das Nürnberger Memorbuch verzeichnet 3441 Märtyrer aus rund 140 „Blutstädten“ (Ez 24, 6). Einen Sommer lang wurden die wehr- und schutzlosen Juden zu den Scheiterhaufen geschleppt und meist bei lebendigem Leib verbrannt. Der Fortschritt aus dem dunklen Mittelalter bestand in diesem Punkt in der Verbesserung der Leistung. Mitte des 20. Jahrhundert brach ein Landsmann von König Rintfleisch, SS-Hauptscharführer Otto Moll, Herr der Verbrennungsöfen und -gruben von Auschwitz-Birkenau, alle Judenmordrekorde und wurde dafür mit dem Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse mit Schwertern belohnt. Die Häftlinge nannten ihn „Schweinemetzger“, es machte ihm Spaß, jüdische Babys lebend in das siedende Fett der offenen Leichenverbrennungsgruben zu werfen. Die Schlächter der Hamass knüpfen bewusst an diese Tradition an, weswegen wir sie zur Wiedererkennung mit Doppel-s schreiben. Die Terroristen haben jüdische Babys vor den Augen ihrer Eltern in erhitzte Backöfen gesteckt und sie bei lebendigem Leib verbrannt. In einem Punkt hat auch die Hamass ihre Vortäter übertroffen: die Biedermänner Heinrich Himmlers tarnten ihre Massenmorde, die Schlächter der Hamass zeichneten ihr Gemetzel mit Body-Cams auf, zur Befriedigung der Heimatfront und zur Erbauung der wachsenden weltweiten Hamass-Fan-Gemeinde. Die Mittel werden moderner, doch das Ergebnis ist die ewige Wiederkehr des immer Gleichen, in den Worten des „Patriarchen von Jerusalem“ aus Lessings Nathan der Weise: „Tut nichts! der Jude wird verbrannt.“  Unter dem Schock der Nachrichten wiederholte der Staatspräsident Herzog hilflos: „Das sind Tiere!“ Wie es scheint, glaubt der Gute an Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“. Doch die Lust am Judenbrennen ist ein unausrottbarer  menschlicher Makel. Manchmal versteckt es sich in harmlosen Bräuchen. An vielen Orten dieser Welt wird zu Ostern ein „Judasbrennen“ gefeiert. Eine große Judas-Puppe wird zum Gaudium der Gemeinde in effigie zum Tode verurteilt und verbrannt. Zur Wiedererkennung trägt die Judas-Puppe eine große Hakennase und ein Geldköfferchen. Aber man muss kein Folklorist sein und in entlegenem Brauchtum schnüffeln. Das den Juden schon in dieser Welt zugedachte Fege- und Höllenfeuer steht in den Heiligen Büchern und Überlieferungen, eine Munition, die bei Bedarf scharfgemacht werden kann. Der polnische Meistererzähler Stanislaw Lem hat in seinem Essay Provokation (1980) die Endlösung der Judenfrage als verkitschte Neuinszenierung des Jüngsten Gerichtes entlarvt. Demnach wären die 33 000 nackten Juden in der Schlucht von Babi Jar eine Säkularisierung des Weltgerichts im Tale Jehoschafat (Joel 4, 12.14). Eine solche Wiederbelebung religiöser Vorstellungen hatten die Schlächter der Hamass nicht nötig, sie deklarierten ihr Massaker ohne Umschweife  als göttliches Weltgericht, als „Sintflut“ (tufan), im Namen Allahs „des Erbarmers und des Barmherzigen“.  Der Begriff „Dekret“ (Gesera) in der Gebetszeile ist übrigens zweideutig: er kann sowohl das königliche wie das göttliche Verfolgungsdekret bedeuten. Daher die dringende Bitte – Awinu Malkenu … .

Unser Vater, unser König, annulliere alle Berechnungen unserer Feinde!


Wenn Israel eine Sünde bekennen muss, dann die der sträflichen Unterschätzung des Feindes. Niemand ahnte, wie lange und genau er seinen Angriff berechnet, wie schlau er die hochentwickelten Rechner getäuscht, wie arglistig er das Synagogenjahr eingeplant hatte – obwohl es doch nicht das erste Mal war, dass unser Kalender als Fahrplan unsere Vernichtung diente. Wir wiegten uns in Sicherheit, bauten Laubhüten und begrüßten unter dem Laubdach die himmlischen Gäste. Am Tag schüttelten wir die Feststräuße zu flehentlichen Bittrufen: „HERR, hilf doch!“ und ahnten nicht, wie dringend wir dieser Hilfe bedurften. Die funkelnden Sterne blinkten durch das schüttere Laubwerk der Hütten, die Nachtwachen hatten ihre Waffen an das Pfahlwerk gelehnt und es sich bequem gemacht. In den paradiesisch gelegenen Dörfern des Südens kuschelten die Familien in ihren schnuckeligen Häuschen. Nur in der Wüste tanzten einige hundert unermüdliche jugendliche Nachtschwärmer bis in Morgengrauen. Sie sahen als erste die dunklen Gleiter am westlichen Himmel heranschweben, Vorboten einer grauenhaften Unterwelt …  

Unser Vater, unser König, hebe auf die Beratschlagung unserer Feinde!


Was unsere Feinde beratschlagen, das wissen wir allerdings nur zu genau. Es steht schon in den Psalmen geschrieben: „Gegen dein Volk planen sie eine geheime Verschwörung, sie beraten gegen deine Schützlinge. Sie sprechen, auf, wir wollen sie ausrotten als Nation, Israels Name soll aus dem Gedächtnis gelöscht werden“ (83, 3-5). Sogar die Namen der zehn feindlichen Völker im Osten, im Norden, im Westen und Süden des Landes verzeichnet der Psalmist, darunter Amaleq und Peleschet. Gut, Amaleq mag der Name eines mythischen Volkes sein, aber Peleschet, das ist Philistäa, das ist Palästina. Doch wir ahnten nicht, dass Psalm 83 aktuell ist, dass die Bne Amalek und die Bne Peleschet wie in biblischen Zeiten über Israel herfallen würden. Und noch etwas steht gleich anschließend in diesem Psalm: „Sie beraten mit einstimmigen Herzen. Sie beschließen ein Bündnis gegen dich“ – gemeint ist Gott! Gott, das ist eine Größe, die unsere klugen Generäle nicht in Rechnung stellen, nicht auf unserer Seite und auch nicht auf der Gegenseite. Unsere Feinde verstehen sich aber nicht als Gastarbeiter, sie sehen sich als Gotteskrieger. Tagsüber schufteten sie für Billiglohn auf unseren Baustellen und kundschaften uns nebenbei aus, nachts bauten sie in ihren Gebieten ihre Unterwelt aus, richteten tief unter der Erde Schächte und Kammern für Geiseln ein. Von ihrem Propheten besitzen sie die Kunde, die die Hamass auch in ihrer Gründungsurkunde zitiert. “Die Stunde wird nicht schlagen, bis die Muslime die Juden bekämpfen und töten, sodass die Juden sich hinter Steinen und Bäume verstecken. Die Steine oder Bäume sagen jedoch: O, Muslim! O, Diener Gottes, ein Jude versteckt sich hinter mir. Komm und töte ihn!“ (Charta der Hamass, §7). Nachdem die besagte Stunde geschlagen hatte, vollzogen sie wörtlich die koranischen Höllenstrafen: „Und an jenem Tag wirst Du die Schuldigen an Ketten zusammengekoppelt sehen. Ihre Gewänder werden von Pech sein, und das Feuer wird ihre Gesichter einhüllen.“ (Koran 14: 50 -51). Die Befehle zu den anderen Gräueltaten, die sie verübten, stehen gleichfalls wörtlich in diesem heiligen Buch: „so haut ein auf ihre Hälse und haut ihnen jeden Finger ab“ (8:12); „und ihre Wohnstätte wird sein  das Feuer“ (3: 151). Sinn und Zweck der Folter verrät ein Vers der Sure Kriegsbeute, das Ziel ist Terror und Horror! „Rüstet gegen (die Ungläubigen) eine Streitmacht auf, so groß wie ihr nur könnt, damit in Schrecken zu setzen, Allahs Feind und euren Feind und andere außer ihnen, die ihr nicht kennt.“ (8: 60). Der Anfang dieses Verses: „Rüstet auf!“  (Wa’Aiddu) ist die Subscriptio im Emblem der Muslimbruderschaft, der Muttergesellschaft der Hamass, im Icon darüber sind zwei gekreuzte Krummschwerter unter einem aufgeschlagenen Koran. Vermutlich studieren unsere Generäle nicht den Koran, hätten sie doch wenigstens das Emblem des Feindes entziffert, dort steht seine Absicht schwarz auf weiß. Die Unkenntnis der Denkweise des Feindes ist ein militärisches Versäumnis. Sagt doch schon Meister Tsun Zu in seiner Kunst des Krieges: „wer aber über die Lage des Feindes im Unwissen verbleibt, ein solcher Mensch hat nichts von einem General“ (XIII, 2). Aber, wer vermag schon sämtliche Tunnel im Herzen der Feinde  auszuleuchten, wer will sich schon dauernd im Labyrinth seiner Wahnvorstellungen aufhalten. Darum müssen wir nach aller militärischen Vorsicht letztlich auf unseren Vater, unseren König, vertrauen.



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Unser Vater, unser König, beseitige alle unsere Bedränger und Widersacher.

In dieser Zeile ist es wiederum das Wörtchen alle, das uns heute besonders anspricht. Alle - das sind erst einmal alle Nachbarstaaten Israels mit oder ohne Friedensvertrag. Aus einigen regnet es ohne Unterlass Raketen, aus anderen hagelt es ununterbrochen Verurteilungen. Für alle scheint der Angriff auf Israel so etwas wie die Wahrnehmung eines Naturrechts oder natürlichen Widerstandsrechts, die Verteidigung Israels scheint aber allen ein Bruch des humanitären Völkerrechts, gar ein Völkermord.  Alle - das sind in der weiteren Umgebung - Allahs 56 Staaten, die arabischen, persischen, türkischen, pakistanischen, afghanischen, indonesischen und nordafrikanischen, und ihre wachsenden Einwanderer-Enklaven im Westen. Alle - das sind aber nicht nur alle Helfer Allahs, es sind auch die atheistischen Kommunisten und Postkommunisten wie China und Russland, es sind linke Parteien und Regierungen weltweit. Die Palästinenser erscheinen als die neuen „Verdammten dieser Erde“, Israel als das neue „Apartheid-Regime“, die globale „Intifada“ als die neue Weltrevolution. Eine gar nicht so neue Internationale zeichnet sich ab: Antisemiten aller Länder vereinigt euch! Schon die Nationalsozialisten haben diesen Hebel in den internationalen Beziehungen erfolgreich erprobt. Hätte Hitler die „slawische“ Rasse nicht fast genauso gehasst wie die „jüdische“, dann hätte er damit den 2. Weltkrieg womöglich gewonnen. Alle – das sind sehr weit entfernte Rand-Staaten wie Island, Irland, Schottland, Australien, Kanada, Süd-Afrika, von denen man annehmen könnte, dass sie mit dem Territorialstreit um Palästina gar nichts zu schaffen haben. Umgekehrt proportional zu ihrer Entfernung, scheint aber die Stärke ihres antiisraelischen Affekts. Ist es nicht seltsam, dass der Stadtrat von Reykjavik nichts Besseres zu tun hat, als antiisraelische Resolutionen zu verabschieden? Alle - das sind aber vor allem die Vereinten Nationen und alle ihre Glied-Organisationen, die sich nur in einem einig sind, nämlich in der einmütigen Verurteilung Israels. Die wenigen Gliedstaaten, die in der Vollversammlung nicht gegen Israel stimmen oder sich klug enthalten wie Deutschland, sind rasch an den Fingern einer Hand abgezählt: Guatemala, Liberia, Mikronesien, Österreich, Paraguay, Nauru, Papua Neu Guinea, Tschechien. Halt, Liberia, der einzige Staat Afrikas, der nicht automatisch gegen Israel gestimmt, hat sein Votum wieder zurückgezogen, so bleiben nur noch sieben. Oh, Mikronesien! Ich will dich unbedingt kennenlernen, du mutiges kleines Land! Hättest Du nicht ein pazifisches Inselchen für uns Juden, eines das nicht vom steigenden Meeresspiegel bedroht ist? Ich bin jedenfalls stolz auf einen Freund wie Mikronesien, zusammen sind wir stark! Aber Alle gegen einen oder einige wenige sind am Ende stärker. Was haben alle Völker, die Umot HaOlam, die UMO, ständig gegen Israel zu lärmen, wie der Psalm sagt (2, 1), was haben alle gegen den schmalen Streifen am östlichen Mittelmeer, denn auch Israel ist nur ein Streifen, den man auf einem Globus nur mit Mühe einzeichnen kann? Darauf liefert die Geschichte des Antisemitismus eine Antwort: die Beschuldigung der Juden entschuldet und entschuldigt alle anderen. Israel ist der Jude unter den Völkern. Wenn die Welt über Israel zu Gericht sitzt, dann sind alle anderen Sünden vergeben und vergessen. In der aktuellen Lage - vergessen der russische Angriffskrieg in der Ukraine, vergessen das deutsche Haushaltsloch, vergessen die französische Rentenreform, vergessen die britische Migrantenkrise, vergessen sogar die Klimakrise. Fridays for future, hat sich flugs in ein Future for Free Palestine gewandelt. (Wir wünschen Greta ein gutes Arbeitsklima mit den Yahya’s vom Hamass und den Mahmuds vom Fataj. Vergiss Deinen Schleier nicht und - den Keuschheitsgürtel). Friedrich Hollaenders Couplet mit dem Refrain: „An allem sind die Juden schuld!/ Die Juden sind an allem schuld!“ hat nach Auschwitz seine Aktualität noch nicht eingebüßt, im Gegenteil. Das Volk, das der Welt die Propheten, das Sündenbock-Ritual (Lev 16), den leidenden Gottesknecht (Jes 53), die Klagelieder, den Schmerzensmann, den Gekreuzigten geschenkt hat, steht wieder einmal, man mag es kaum glauben, vor dem Weltgericht. Die Opfer des perfekten Völkermordes, werden diesmal von Rand-Staaten wie Süd-Afrika und Irland des Völkermordes angeklagt. Man vergesse nicht, auch Hitler hat seinen Völkermord an den Juden mit Erfolg als präventiven Völkermord verkauft. Er behauptete am 30. Januar 1939 vor den Abgeordneten des Reichstages, dass die Juden die europäischen Völker in einen weiteren Weltkrieg stürzen wollten, und „prophezeite“ - „die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“.  Minutenlange Begeisterungsstürme in der Berliner Krolloper! Auf der Oberfläche einer Kugel gibt es an sich keinen Mittelpunkt und keinen Rand, doch diese Gleichwertigkeit aller Punkte gilt nicht auf unserer Weltkugel. Gott höchstpersönlich hat sein besonderes Augenmerk auf das Fleckchen Erde zwischen dem Fluss (Jordan) und dem (Mittel)meer gerichtet, er hat sich Jerusalem, den Nabel der Welt, zum Wohnsitz auserkoren und, wenn in Golgotha dreimal der Hahn kräht, dann läuten in Reykjavik die Glocken. Das Heilige Land ist bis heute Epizentrum geblieben, eine Erschütterung dort haben Auswirkungen bis zu den entferntesten Inseln wie Mikronesien. Der 3. Gaza-Krieg hat das Zeug zum 3. Weltkrieg. Mourir-pour Gaza? Viele Völker oder wenigstens deren Führer bejahen diese Frage. Awinu Malkenu behüte und bewahre uns!

Unser Vater, unser König, stopfe die Mäuler unserer Widersacher und Ankläger.

Diese Zeile klingt wie eine Wiederholung der vorigen. Doch wir mussten in den vergangenen Monaten dazulernen, dass es eine besondere Kategorie von Gegnern gibt, die uns nicht mit blanken Dolchen an die Kehle wollen, sondern, um es mit Shakespeare zu sagen, mit „Worten wie Dolche“. Nun waren wir also bereit, in einen gerechten Krieg ziehen, wie es niemals einen gerechteren gegeben hat. Unser Gesetz nennt einen solchen Krieg „Pflichtkrieg“, er ist geboten, „zur Errettung Israels aus der Hand eines Bedrängers, der sie überfällt.“  (Maimonides, Hilchot Melachim 5, 1). Wir dachten, die schiere Größe des Hamass-Massakers mit 1200 Todesopfern, rund 10 000 Verletzten und weit über 10 000 Raketen auf israelisches Staatsgebiet, nicht zu vergessen die 230 Geiseln in den Verliesen Gazas, gäben das unzweifelhafte Recht zur Selbstverteidigung, wären Legitimation genug zurückzuschlagen.  Die freie Welt würde Israel nach dem 7. Oktober verstehen und beistehen, so wie sie Amerika nach den Anschlägen vom 11. September 2001, so wie sie Frankreich nach dem Bataclan-Massaker am 13. November 2015 und dem Charlie-Hebdo-Attentat vom 2. September 2020 in uneingeschränkter Solidarität beigestanden hat; sie würde die Zerschlagung der Hamass billigen, so wie sie die Zerschlagung des Islamischen Staates gebilligt hat. Weit gefehlt! Groß war die Verwunderung, als am 8. Oktober aus den Hauptstädten der westlichen Welt spontane Sympathie-Kundgebungen für die Hamass gemeldet wurden, die sich in den folgenden Wochen zu riesigen Hass-Märschen unter den Farben Palästinas auswuchsen, als die westlichen Politiker Schlange vor den Mikrofonen standen, um Israel zum Waffenstillstand mit den Massenmördern zu drängen. Selbst der Papst, der einer Kirche vorsteht, die 1500 Jahre die Lehre vom bellum iustum vertreten hat, bezeichnete in diesem Fall Aktion und Reaktion gleichermaßen als „Terror“ und stellte damit den Massenmord der Hamass und die israelische Selbstverteidigung auf die gleiche Stufe. Er scheint sich wieder auf einen jesuanischen Pazifismus des anderen Backens besonnen zu haben. Zu den Massakern in Nigeria, wo die gleiche „Pathologie der Religion“ an Weihnachten 200 unschuldige Christen hingeschlachtet hat, ist der Vatikan weitgehend stumm geblieben. Am lautesten wurde Israel für die Massaker der Hamass auf den Campi der Elite-Universitäten des amerikanischen Verbündeten verurteilt. An diesen Hochburgen der Antidiskriminierung, wo man inzwischen schon beim vierten Ersatz für das N-Wort angelangt ist und schon der leiseste Verstoß gegen die speech codes der Political Correctness die akademische Karriere kosten kann, spielten sich nach dem 7. Oktober regelrechte Orgien des Israel- und Judenhasses ab, ohne Beanstandung der Universitätsleitungen, der Fakultäten, der Kuratorien oder der Diversitätsmanagements. Als Ausbund arroganter Ignoranz erwies sich die ehemalige Präsidentin der ehrwürdigen Harvard Universität. Nach Wochen der Untätigkeit und ersten Spendenrückrufen antwortete sie im US-Kongress auf die eindeutige Frage, ob der Aufruf zum Völkermord an den Juden gegen die Richtlinien zu Mobbing (Bullying) und Belästigung (Harassment) der Universität verstieße, wiederholt ausweichend: „It depends on the context“. Dieses Wort hat schon Flügel bekommen und wird künftigen Generationen als Lehrbeispiel für den moralischen Bankrott des woken Westens dienen. Gewiss, im Kontext der Islamischen Universität Gaza oder der Azhar-Universität Kairo wäre ein solcher Aufruf völlig in Ordnung gewesen, aber im Kontext von Harvard? Nichtsdestotrotz erhielt die Präsidentin die einstimmige Unterstützung der Fakultät und des Kuratoriums ihrer Universität, sowie die des Elder Statesman, Barack Obama. Schließlich musste sie wegen Plagiatsvorwürfen gehen - wie doch Antisemitismus und unlauterer Wettbewerb zusammenpassen. Der Verrat der Intellektuellen ist nichts Neues, keine totalitäre Torheit und Tollheit, hatte nicht ihre akademischen Barden: Heidegger begrüßte den Nationalsozialismus, Sartre den Stalinismus und Maoismus, Noam Chomsky den Vietcong, der schwule Foucault sogar den Khomeinismus, warum also nicht auch akademische Sympathiekundgebungen für die Salafisten, die gar nicht wissen, womit sie sich das verdient haben. Wenn aber das antirassistische Immunsystem der intellektuellen Eliten in Bezug auf die Juden, die klassischen Opfer des Rassismus, versagt, was soll man da vom polternden Pogrom-Mob in New York, London oder Sidney erwarten; er kann sich nur bestätigt und ermutigt fühlen.

Unser Vater, unser König, lösche aus Seuche und Schwert und Hunger und Gefangenschaft und Verderben und Sünde und Abtrünnigkeit aus der Mitte Deiner Bundeskinder.


Warum kommen wir mit allen diesen Anliegen zu „unserem Vater, unserem König“ im Himmel, warum nicht zu den zuständigen Organisationen: der Weltgesundheits-Organisation, dem Roten Kreuz, dem Internationalen Strafgerichtshof, Amnesty International (AI)? Weil diese internationalen Organisationen nicht für Israel da sind, sondern gegen Israel Partei ergriffen haben. Will sich Israel bei ihnen mit unwiderleglichen Beweisen beschweren, dann stößt es überwiegend auf taube Ohren und verschlossene Tore. Sie sind vielmehr die Lautsprecher der globalen Verurteilung Israels. Deshalb bleibt nur eine Adresse übrig, unter verstärktem Polizeischutz beten wir Awinu Malkenu.

Wie einsam ist doch Israel, wie allein sitzt es in seinem Schmerz. Völlig zurecht hat sich der israelische UNO-Botschafter Gilad Erdan den Gelben Stern ans Revers geheftet. Wenn auch sein Kritiker, der Leiter der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem Dani Dayan Recht haben dürfte, Blauweiß, sind die Farben der Hoffnung der wahren Unterdrückten dieser Erde: z. B. der Frauen und Mädchen in islamischen Gesellschaften. Die dominanten muslimischen Männchen protzen mit ihren phallischen Minaretten und Raketen, bezahlen müssen - leider - die Frauen und Kinder.



Der Autor

DANIEL KROCHMALNIK

Rabbiner Prof. em. Dr. Dr. h. c., geb. 1956 in München. Schulzeit an der École Maimonides und Abitur in Paris. Studium der Mathematik, Philosophie und Judaistik in München. 1988 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über die Philosophie und Religionskritik von Baruch Spinoza. Ab 1990 Assistent im Fach Jüdische Philosophie und Geistesgeschichte an Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg. 1999 Habilitation an Ruprechts-Karls-Universität Heidelberg mit einer Arbeit über die Religionsphilosophie Moses Mendelssohns im Zeitalter der Aufklärung. Von 2003 bis 2018 Inhaber des Lehrstuhls Jüdische Religionslehre, - pädagokik und - didaktik an der Hochschule für Jüdische Studien. 2009 Verleihung des Doktors der Theologie ehrenhalber der Fakultät Katholische Theologie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. 2018 Ernennung zum Professor für Religion und Philosophie (Altertum und Mittelalter) an der School of Jewish Theology der Universität Potsdam und Geschäftsführender Direktor.  2022 Emeritierung. Erwerb des Rabbinats-Diplom des Jewish Theological Seminary Budapest. Forschungsschwerpunkte: Jüdische Theologie und Aufklärung. Rund 200 wissenschaftliche Aufsätze und 12 wissenschaftliche Werke, darunter die Bücher Schriftauslegung im Judentum. Neuer Stuttgarter Kommentar. Altes Testament, 3 Bände, 2000 – 03; Im Garten der Schrift. Wie Juden die Bibel lesen, 2006. Herausgeber der Jubiläumsausgabe der Gesammelten Schriften Moses Mendelssohns (JbbA) und der Elie Wiesel Werke (EWW). Verheiratet, Vater von zwei Kindern.



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