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ONLINE-EXTRA Nr. 256

Juni 2017

Prof. Reinhard Schramm ist Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen mit ca. 800 Mitgliedern und Sitz in Erfurt. Im nachfolgenden Interview, das soeben ind er Juni-Ausgabe der JÜDISCHEN RUNDSCHAU erschienen ist, äußert er sich u.a. zu aktuellen politischen Themen wie den deutsch-israelischen Beziehungen oder dem "alten" bundesrepublikanischen wie auch dem "neuen" muslimisch geprägten Antisemitismus, wie er seitens Migranten und Flüchtlingen in den letzten Jahren sichtbar geworden ist. Dabei mag es bemerkenswert sein, dass Schramms Sichtweise - ohne die Probleme und Gefahren zu negieren - sich alles in allem durch eine unaufgeregte und nüchterne, ja, bisweilen optimistische Haltung auszeichnet.

Recht ausführlich kommen auch biographische Aspekte des 1944 als Sohn eines nicht-jüdischen Vaters und einer jüdischen Mutter geborenen Schramm zu Wort. Wenn er von seiner Jugend in der ehemaligen DDR erzählt, seinem Studium in Polen zu Zeiten des Sechs-Tage-Krieges in Israel bis hin zu seiner relativ späten Hinwendung zur Jüdischen Gemeinde, vermittelt er damit eine Reihe von Eindrücken, wie sie für die Sozialisation weiter Teile jüdischer Menschen in der DDR durchaus beispielhaft sein mögen.

COMPASS dankt Martin Jehle, der das Interview mit Schramm geführt hat, für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

© 2017 Copyright beim Autor
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 256


Der Optimist.

Reinhard Schramm über die Sorgen der Jüdischen Gemeinde, die Integration von Migranten und sein Leben.


Ein Interview von MARTIN JEHLE


Zur Person:

Reinhard Schramm wurde 1944 in Weißenfels (heute in Sachsen-Anhalt) als Sohn einer jüdischen Mutter geboren, mit der er die letzten Wochen bis zum Ende des Krieges in einem Versteck verbrachte. Nach dem Studium der Elektrotechnik in Polen verbrachte er sein berufliches Leben als Professor an der Technischen Universität Ilmenau und nach der Wiedervereinigung  als Leiter des dort angesiedelten Landespatentzentrums. Zur Jüdischen Gemeinde fand er Ende der 1980er Jahre in Erfurt. Für die jüdische Geschichte seiner Heimatstadt Weißenfels interessierte er sich schon seit seiner Jugend. So nahm Schramm schon früh Kontakt mit emigrierten Mitgliedern der einstigen Jüdischen Gemeinde auf, zu der Persönlichkeiten wie der spätere Richter im Eichmann-Prozess, Benjamin Halevi,  oder  der Chefredakteur der New York Times, Max Frankel, gehörten.  1990 veröffentlichte er das Buch "Ich will leben...": Die Juden von Weissenfels, das 2001 in einer erweiterten Fassung im Böhlau Verlag erschien. Schramm ist Mitglied der SPD und Fraktionsvorsitzender der SPD im Stadtrat von Ilmenau (Thüringen). Schramm ist verheiratet und hat drei Kinder.



Martn Jehle: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat im Mai bei seiner ersten Reise nach Israel im neuen Amt einen Kranz am Grab von Jassir Arafat in Ramallah niedergelegt. Halten Sie das für richtig?


Schramm: Steinmeier hatte zuvor die Gräber von Shimon Peres und Jitzchak Rabin besucht. Deshalb hat er das sicher im Sinne der Ausgewogenheit getan. Und um an die Akteure des Oslo-Friedensprozesses und an den gemeinsamen Erhalt des Friedensnobelpreises von Rabin, Peres  und Arafat zu erinnern, auch als Zeichen der Ermutigung für Frieden. Ich halte diese Geste eines deutschen Bundespräsidenten, bei allen Fehlern die Arafat hatte, für vertretbar.


MJ: Sie sind seit Ende 2012 Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, mit rund 800 Mitgliedern eine der kleineren jüdischen Gemeinden in Deutschland. Was hat Sie und die Gemeinde in jüngere Zeit sehr beschäftigt?


Schramm: Ein aktuelles Thema war die Vorbereitung des 75. Jahrestages der ersten Massendeportation von Juden aus Thüringen am 10. Mai. Als Jüdische Landesgemeinde Thüringen haben wir in Weimar an der damaligen Sammelstelle, der Viehauktionshalle, an der Gedenkveranstaltung teilgenommen. Diese war vor zwei Jahren abgebrannt. Seitdem war dieser Gedenkort in Gefahr. Es wird nicht die ganze Viehauktionshalle wiederhergestellt, aber nun wird zwischen dem Gleis mit der Rampe und dem Rest der Viehauktionshalle eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die 877 Juden, die von dort in den Tod gingen, eingerichtet. Die Erinnerungskultur in Thüringen hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt. Dieser Gedenkort an die Massendeportation hat insofern eine besondere Bedeutung - neben Gedenktafeln, Stolpersteinen und der Gedenkstätte Buchenwald - weil es der Ort ist, wo die Verfolgung der Thüringer Juden umgeschlagen ist in Massenmord. Seit 2015 haben wir uns als Jüdische Landesgemeinde - zusammen mit vielen anderen - dafür stark gemacht, dass dieser Gedenkort nun kommt.


MJ: Ist Israel in der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen ein großes Thema?


Schramm: Das Verhältnis Deutschlands zu Israel nimmt eine wachsende Bedeutung ein. Viele unserer Gemeindemitglieder, die ja fast alle aus dem Raum der früheren Sowjetunion kommen, haben Verwandte in Israel. Von daher gibt es da eine persönliche Beziehung aus neuerer Zeit, im Gegensatz zu denen wie mir, wo die erfolgreichen oder auch vergeblichen Bemühungen um eine Auswanderung nach Palästina bzw. Israel ein Aspekt der Familiengeschichte ist. Allen ist gemein, dass sie Israel als Lebensversicherung empfinden.


MJ: Wie werden die aktuellen Entwicklungen in den deutsch-israelischen Beziehungen wahrgenommen?


Schramm: Die deutsch-israelischen Beziehungen und die deutsche Nahost-Politik werden in der Gemeinde genau verfolgt. Das merke ich in Gesprächen. Das vergrößerte Interesse an Israel in jüngerer Zeit speist sich aus zwei Quellen: Zum einen der Eklat zwischen Gabriel und Netanjahu, zum anderen der wachsende Nationalismus in Europa. Als Juden wissen wir, dass dort wo der Nationalismus wächst, auch immer der Antisemitismus zunimmt. Die Angst vor zunehmenden Antisemitismus ist bei unseren Gemeindemitgliedern groß. Das Gefühl, dass Europa auf einem schlechten Weg ist, verbreitet sich gerade. Wenn sich dann noch die Beziehungen  zu Israel verschlechtern, schürt das Ängste. Manches von der Kritik an Israel mag berechtigt sein, aber bei Juden weckt die meist einseitige Kritikzuweisung an Israel die Angst, dass sich das Verhältnis zu Israel und damit auch zu Juden in Deutschland  dauerhaft verschlechtert.




JÜDISCHE RUNDSCHAU


Im Verlagshaus J.B.O. Jewish Berlin Online erscheint seit Juli 2014 die Monatszeitung Jüdische Rundschau. Sie ist eine unabhängige Zeitung und versteht sich als pro-israelisch. 



Kritik des Antisemitismus in all seinen Formen ist ein wesentlicher Teil der Zeitung, ebenso wie Texte zu jüdischer Kunst und Kultur, sowie zu Israel und Nahost, Geschichte, Wissen und Literatur. Besonderen Wert legen wir auf unsere Meinungs- und Politikseiten, die pointiert sind und versuchen, nicht um den heißen Brei herumzureden.

Die Jüdische Rundschau freut sich über Textangebote, wenn Sie eine Idee haben, schreiben Sie uns einfach.

Die Zeitung erscheint monatlich. Abonnementpreis: frei Haus jährlich 39 Euro (für Studierende 32 Euro) einschließlich 7% MwSt.
Weitere Informationen:
http://juedischerundschau.de/



MJ: Sehen Sie als Quelle für wachsenden Antisemitismus auch die Flüchtlings- und Migrationskrise - Stichwort: mitgebrachter muslimischer Antisemitismus - seit September 2015?


Schramm: Diesen Antisemitismus gibt es. Juden sind Antisemitismus gewohnt. Dass es nun noch eine neue Art davon in Deutschland gibt, verändert die Situation quantitativ nachteilig. Aber Europa hat eine eigene antisemitische Tradition und hat zurzeit eine nationalistische Atmosphäre, von Ungarn bis Frankreich, die unabhängig von den Flüchtlingen und Migranten ist.


MJ: Was bereitet Ihnen denn mehr Sorgen: Ein in der alteingesessenen deutschen Bevölkerung verhafteter Antisemitismus, vielleicht auch christlich fundiert, oder der mitgebrachte Antisemitismus der vielen jungen Männer aus dem Nahen Osten, die im Zuge der Flüchtlings- und Migrationskrise nach Deutschland gekommen sind?


Schramm: Ersteres, der deutsche Antisemitismus bereit mir mehr Sorgen. Geschichtsvergessenheit gepaart mit Restbeständen an nationalsozialistischem Denken führt zu einer neuen Gefahr. Anderseits ist klar, dass die muslimischen  Flüchtlinge ihren Antisemitismus nicht an der Grenze nach Deutschland abgelegt haben. Bei denen, die hier bleiben, besteht die Chance, dass sie ihre antisemitischen Einstellungen aufgeben. Dafür darf aber die Gesellschaft, in die sie sich integrieren, nicht antisemitisch sein. Sie müssen spüren, dass der Antisemitismus in Deutschland abgelehnt wird. Dann werden sie auch ihren eigenen anzweifeln. Durch Integration und Bildung kann das funktionieren.


MJ: Ein hoffnungsvoller Blick, den Sie einnehmen. Die Gegenthese wäre, dass die "Neuen" die Gesellschaft auch prägen mit dem, was sie mitbringen, ihr ihren Stempel aufdrücken, öffentliche Räume dominieren werden, zum Beispiel in Ballungszentren …


Schramm: Der Staat merkt mittlerweile, dass es  ein Integrationsangebot geben muss, etwas, worin man hineinwachsen kann. Ich bin aber optimistisch, dass das gelingen wird. Ich denke, dass es gelingen kann, dass sich der mitgebrachte Antisemitismus nicht vererbt. Wir müssen uns auf die konzentrieren, die hier dauerhaft bleiben dürfen. Wenn wir nicht versagen, werden die sich integrieren, auch in die demokratischen Parteien. 


MJ: Sie betonen die Bringschuld von Staat und Gesellschaft. Glauben Sie, das wird von Anhängern bestimmter islamischer Richtungen angenommen?


Schramm: Die Kritik an fundamentalistischen Strömungen des Islams und innerhalb der Einwanderungsgesellschaft nimmt zu. Der Islam, wenn er zum Islamismus wird, ist eine Bedrohung für die gesamte Gesellschaft, nicht speziell nur für Juden. Das wird ja auch zunehmend erkannt.



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MJ: Sie stammen aus Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, eine einstige Industriestadt mit einer langen jüdischen Geschichte. Nach dem Krieg gehörten Sie mit ihrer Mutter zu den wenigen, die nicht umgekommen oder ausgewandert waren. Wie kam es dazu?


Schramm: Mein nicht-jüdischer Vater hatte meine Mutter und mich gerettet, weil er sich nicht scheiden ließ; am Ende waren meine Mutter und ich versteckt. Mein Vater starb nicht lange nach der Befreiung. Meine Mutter bereitete nach seinem Tod zunächst die Auswanderung mit einer Gruppe nach Palästina vor, was ihr aber nicht gelang. Grund war, dass ich krank wurde. Ich wurde dann von den Kinderärzten in Weißenfels gepflegt, die noch 1944 die Behandlung eines jüdischen Kleinkindes, Bernd Wolfson, mit vereiterter Ohrenentzündung abgelehnt hatten und das daran starb. Als ich dann wieder genesen war, brach in Israel der Unabhängigkeitskrieg aus. Da hatte meine Mutter Angst. So blieben wir in Weißenfels.


MJ: Wann wurde Ihnen unter den politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der DDR Ihr jüdischer Hintergrund bewusst?


Schramm: Das Bewusstwerden fand circa im Alter von 11, 12 Jahren statt. Jüdische Feiertage gab es zu Hause nicht. Ich kann mich nur daran erinnern, dass meine Mutter geweint hat. Das war an den Todestagen meiner Oma, vom Onkel und anderen. Auf der Seite meiner Mutter gab es keine Angehörigen mehr, zu den Verwandten väterlicherseits wollten wir keinen Kontakt, weil die uns in der Nazi-Zeit gemieden hatten. Eines Tages fand ich im Schlafzimmer meiner Mutter einen Schuhkarton, in dem sich Dokumente aus dem KZ, über Enteignungen und anderes befanden. Da habe ich gespürt, dass das etwas Unheimliches ist. In dem Zusammenhang fiel das Wort "Juden". Als Elfjähriger hatte das weder etwas Positives noch Negatives für mich. Ich wusste nur, dass rund um die Familiengeschichte eine fürchterliche Atmosphäre herrschen musste. Ich sah, dass meine Großmutter eine Nummer hatte und las auf einer Karte, wie man mit Post ins und aus dem KZ umzugehen hatte. In dem Karton lag aber auch eine Pistole. Heute weiß ich, dass mein Vater Vorkehrungen für einen gemeinsamen Suizid mit meiner Mutter getroffen hatte. Jedenfalls sprach ich meine Mutter auf den Karton und die Pistole an. Das hat meine Mutter erschrocken, weil der Besitz einer Pistole sicher eine Menge Ärger hätte auslösen können. Ich bekam dann die Ansage, darüber nicht zu sprechen. Meine Mutter und ich hatten zur Familie Wolfson und zu Frau Schloss Kontakt, die auch die Nazi-Zeit überlebt hatten und in Weißenfels geblieben waren. Bei diesen Leuten hatte meine Mutter ihren Kreis.


MJ: Wann hatten Sie das erste Mal Berührung mit einer jüdischen Gemeinde? Haben Sie in ihrer Jugend eine jüdische Erziehung und Bildung genossen?


Schramm: Die nächstgelegene Jüdische Gemeinde war die in Halle an der Saale, in Weißenfels gab es keine Gemeinde mehr. Meine Mutter und ich fuhren nicht nach Halle. Meine Mutter hatte mit sich selbst, ihrer Psyche und der Alltagsbewältigung zu tun, Arbeit, Kind etc. Ich erhielt folglich auch keine Bar Mitzwa und auch sonst keine jüdische Erziehung. Allerdings erzählte mir meine Mutter von den schönen jüdischen Feiertagen in ihrer Jugend. Sie wurde gläubige Sozialistin in der DDR. Für sie waren es die Russen, die mit ihrem gewaltigen Blutzoll unsere Befreiung ermöglicht haben. 


MJ: Wie war es denn in der Schule? Die meisten Schüler werden ja zum Konfirmationsunterricht gegangen sein.


Schramm: Ja, es gab die Christenlehre. Da wollte ich in der 2. oder 3. Klasse hin, denn da gingen ja alle hin. Meine Mutter sagte mir: "Reinhard, ich glaube nicht, dass es einen Gott gibt. Wo war er denn?" Da habe ich gespürt, was sie meinte, nämlich, dass Gott unsere Familie verlassen hatte. Meine Mutter war nicht rachsüchtig, nicht verbittert, nur traurig. Ich hatte das Gefühl, dass die Idee mit der Christenlehre ihr nicht gefiel. Ich hab dann die Unterschrift meiner Mutter geübt und mich mit gefälschter Unterschrift angemeldet. Es kam dann so, dass ich in der Christenlehre kleine Bilder von Jesus, die meine Mitschüler hatten, als Märchenbilder bezeichnete und auch eins haben wollte. Empört davon, dass ich die Abbildung Jesus als Märchenbild bezeichnete, suchte die Lehrerin meine Mutter auf. Ich hatte mächtig Angst wegen der gefälschten Unterschrift. Aber es kam anders: Die Lehrerin begann damit, dass sie meiner Mutter sagte, sie habe Angst um das Seelenheil von Reinhard. Daraufhin antwortet meine Mutter nur: „Ich kümmere mich ab morgen allein um das Seelenheil meines Sohnes." Damit war das Thema erledigt.


MJ: Wann hatten Sie denn in der DDR das erste Mal bewusst Berührung mit jüdischer Geschichte?


Schramm: Aus Anlass des Eichmann-Prozesses 1961. Wir wohnten inzwischen in Ilmenau. Da war ich 17 Jahre alt und fertigte eine FDJ-Wandzeitung an. Darin habe ich die Judenverfolgung und auch das Schicksal meiner Familie dargestellt.
Ich begann Material und Zeitzeugenberichte zu sammeln, das in den 80er Jahren zur Basis meines Buches „Ich will leben“ über unsere Weißenfelser Gemeinde werden sollte.

1985 suchte ich dann Hermann Simon, der später Direktor des Centrum Judaicums wurde, in Berlin auf. Ich hatte beruflich mit Datenbanken zu tun und sprach Simon an, ob wir nicht eine Datenbank zum jüdischen Erbe in der DDR aufbauen wollen. Erst danach habe ich 1987 in Erfurt die Jüdische Gemeinde unter ihrem Vorsitzenden Raphael Scharf-Katz aufgesucht; meine Mutter wollte im Alter wieder Kontakt zur Jüdischen Gemeinde haben. Meine Beschneidung wurde nach der politischen Wende nachgeholt.


MJ: Sie gingen in den 1960er Jahren zum Studium aus der DDR nach Polen, recht ungewöhnlich damals.


Schramm: Man hatte die Chance in einem der sozialistischen Länder zu studieren. Ich entschied mich für Elektrotechnik in Polen. Polen war nicht so weit wie die Sowjetunion und mich interessierten die Polen. Ihr Schicksal erschien mir dem jüdischen Schicksal nahe. Das letzte Schuljahr verbrachte ich in Vorbereitung für das Auslandsstudium an der Arbeiter- und Bauernfakultät in Halle an der Saale. Dort gab es eine hervorragende naturwissenschaftliche Ausbildung. Das erste Jahr in Polen verbrachte ich in einem Sprachkurs in Lodz. Als mir einer sagte, dass mit den Juden hätte die Nazis gut gemacht, wollte ich  eigentlich wieder nach Hause.


MJ: Es kam aber anders …


Schramm: Ich wollte aber nicht aufgeben. Also nahm ich nach dem Vorbereitungsjahr das Studium in Danzig auf. Dort lernte ich meine spätere Frau Barbara und auch die jüdische Familie Lewy kennen. In Danzig gab es zwar Juden, aber keine Synagoge. Als 1967 der 6-Tage-Krieg zwischen Israel und seinen Nachbarn ausbrach, sprang die Öffentlichkeit in Polen ganz stark auf die anti-israelische Propaganda der Sowjetunion auf. Aus dem Antizionismus wurde Antisemitismus. Die Tochter der Familie Lewy, Regina, mit der ich befreundet war, sagte nur zu mir: „Gott sei Dank muss das mein Vater nicht mehr erleben." 


MJ: In Polen lebten seinerzeit noch einige zehntausend Juden. Wie spürten Sie den politischen Widerhall des 6-Tage-Krieges im Juni 1967.


Schramm: Als Studenten, wir waren nur fünf, aus der DDR wurde wir vom Generalkonsulat in Danzig betreut, was sich nur zwei Minuten von der Technischen Hochschule entfernt befand. Da wurden wir zu Nationalfeiertagen und auch mal zwischendurch zu politischen Veranstaltungen eingeladen. Zu der Zeit war ich Kandidat für eine Mitgliedschaft in der SED. In der Zeit gab es wieder ein Treffen mit uns Studenten, in der Israel scharf kritisiert wurde und das Land als "Speerspitze des Imperialismus" bezeichnet wurde. Da meldete ich mich zu Wort und sagte sinngemäß, dass die DDR doch erstmal diplomatische Beziehungen zu Israel aufnehmen solle, bevor sie auf das Land schimpft, denn das wäre die richtige Schlussfolgerung aus der komplizierten Situation …


MJ: ... mussten Sie wegen dieser offenen Äußerung  keine Sorgen haben?


Schramm: Ich hatte keine Angst. Es gab für mich in meinem Leben in der DDR ein paar Mal Augenblicke, wo ich aus familiärer Prägung heraus eine - wenn man so will - abweichende Meinung kundtat. Für mich war es notwendig, den Staat Israel mit meinem Wort zu schützen, sei es auch in so einem kleinen Rahmen. Das war für das DDR-Konsulat vielleicht verblüffend.


MJ: Passierte dann etwas?


Schramm: Nein, aber hinterher habe ich erfahren, dass darüber beraten wurde, was mit mir zu tun sei. Streichung oder Verlängerung der Kandidatenzeit. Aber das sahen die Regeln der Partei gar nicht vor. Es gab keine Konsequenzen. Dagegen erinnere ich mich an einen anderen Studenten, der mit einem Witz die polnische Polizei verärgert hatte und dafür prompt nach Hause geschickt wurde. Ich will nicht sagen, dass ich als Jude Narrenfreiheit hatte, aber man schien beim Thema Israel Nachsicht walten zu lassen.


MJ: Haben Sie die Auswanderungswelle polnischer Juden im Nachgang des 6-Tage-Krieges wahrgenommen? 


Schramm: Ja, Regina Lewy ist später nach Israel gegangen. Sie wird dort heute noch leben. Die Auswanderung der Juden, es waren ja nur wenige Überlebende, hat mich sehr getroffen. Der traditionelle Antisemitismus war in Polen nach dem Krieg nicht verschwunden, und er wurde nicht aufgearbeitet. Die Polen haben sich primär selbst als Opfer gesehen. Dass Polen in der Zwischenkriegszeit von Antisemitismus geprägt war, wurde ausgeblendet. Es gab keine Solidarität, keinen Widerstand aus der polnischen Bevölkerung gegen die antisemitischen Maßnahmen des Staates.   


MJ: Sie erwähnten, dass Sie Kandidat für die Aufnahme in die SED waren, was später auch geschah. Sie haben in der DDR ein erfolgreiches Berufsleben absolviert und nach der politischen Wende fortgesetzt. Wie bewerten Sie es heute, dass sie zur DDR gestanden haben?


Schramm: Ich war der Meinung, der Sozialismus lässt sich menschlich gestalten. In der DDR ist das nicht gelungen. Auch mein Sohn Marek, der wegen gescheiterten Fluchtversuchs inhaftiert wurde, hat mir die Augen geöffnet. 


MJ: Herr Professor Schramm, vielen Dank für das offene Gespräch!




DER INTERVIEWER

MARTIN JEHLE

Martin Jehle, geb. 1982 in Berlin, Jurist, gelegentliche journalistische Tätigkeit.

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Kontakt zum Interviewer und/oder COMPASS:

redaktion@compass-infodienst.de

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