ONLINE-EXTRA Nr. 110
© 2010 Copyright bei Peter W. Metzler Verlag
Mit seinem Namen - neben dem Michail Gorbatschows - verbindet sich der Beginn der Perestroika und schließlich das Ende der UdSSR: Eduard Schewardnadse, von 1985 mit kurzer Unterbrechung bis zur Auflösung der UdSSR im Dezember 1991 Aussenminister der ehemaligen Sowjetunion. Gemeinsam mit dem damaligen Aussenminister der Bundesrepublik, Hans-Dietrich Genscher, wirkte er u.a. maßgeblich an der deutschen Wiedervereinigung mit. In seine Amtszeit aber fiel auch der Beginn der großen russisch-jüdischen Auswanderung, die nicht zuletzt in Deutschland das Gesicht der jüdischen Gemeinden nachhaltig veränderte. Und auch in Polen spielte er im Zuge der umwälzenden gesellschaftspolitischen Änderungen, die durch die polnische Gewerkschaft Solidarnosc angestoßen wurden, eine tragende Rolle. Dementsprechend schlugen sich diese Entwicklungen auch in seiner vor wenigen Jahren erschienenen Memoiren nieder, die unter dem Titel "Als der Eiserne Vorhang zerriss. Begegnungen und Erinnerungen" in deutscher Sprache von dem Verlag Peter W. Metzler veröffentlicht wurden.
In seinen lesenswerten Erinnerungen gibt es zwei Kapitel, die für COMPASS-Leser von besonderem Interesse sein dürften: In dem Kapitel "Unterstützung der Alija nach Israel" beschreibt und reflektiert Schewardnadse den Beginn des jüdischen Exodus aus der Sowjetunion, und das Kapitel "Eine polnische Trias: Walesa, Jaruzelski, Wojtyla" besteht fast zu neunzig Prozent aus Schewardnadses Reflektionen und Erinnerungen an die Rolle und Person des polnischen Papstes Johannes Paul II. im Kontext jener weltgeschichtlichen Veränderungen, an deren Ende der Eiserene Vorhang zerriß.
COMPASS freut sich, Ihnen heute diese beiden Kapitel als Online-Extra Nr. 110 online exklusiv präsentieren zu können und dankt dem Peter W. Metzler Verlag für die Genehmigung zur Wiedergabe dieser Texte!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 110
Unterstützung der Alija nach Israel
Während meiner Tätigkeit als Innenminister (1965–1972) im sowjetischen Georgien und später als Erster Sekretär der Kommunistischen Partei Georgiens (1972–1985) bin ich auf ein für die damalige Zeit schwieriges Problem gestoßen: die Auswanderung der Juden nach Israel. Die sowjetische Führung unternahm alles, um den Juden die Alija nach Israel zu erschweren, und sie tat das, obwohl deren Anwesenheit in Russland traditionell nicht gern gesehen wurde.
Bei diesem Vorhaben machte die sowjetische Führung genau das, was seinerzeit das Vereinigte Königreich unternahm, als es die an den Ufern Palästinas angekommenen Schiffe mit Juden zurückwies und ihnen nicht erlaubte, das Land zu betreten. Golda Meir beschreibt diese grausame Haltung in ihrer Autobiographie „Mein Leben“ (1975).
Damals unterstützte ich die Auswanderung von siebzehn Juden in ihre Heimat. Das war der Beginn der Auswanderungsbewegung aus der Sowjetunion nach Israel.
Jahre später wird Israels Premierminister Ehud Barak darauf hinweisen: „Wir werden nicht vergessen, dass Sie eine zentrale Rolle dabei gespielt haben, die Türen der Sowjetunion zu öffnen, um den Juden die Möglichkeit der Auswanderung nach Israel zu geben.“ (Abon Ziziaschwili: Juden und Georgien. Tiflis 2000, S. 308). Dasselbe sagte der amerikanische Außenminister George Shultz: „Ganz besonders Eduard Schewardnadse hat die Auswanderung der sowjetischen Juden in ihre historische Heimat unterstützt.“ (Abon Ziziaschwili, ebd.). Nach meiner Ernennung zum Außenminister der Sowjetunion wurde, nach einem Treffen mit Schimon Peres in Moskau, auf unsere Initiative hin ein Konsulat Israels eröffnet, was den Auswanderungsprozess entscheidend förderte.
Mich schmerzte es, dass Juden Georgien verließen. Schließlich lebten sie hier seit 2600 Jahren, und es konnte ihnen nichts Schlechtes zugeschrieben werden. Als zuverlässige Bürger waren sie gegenüber Georgien loyal. Weinend verließen sie Georgien, wo ihre Freunde, ihre Häuser und die Gräber ihrer Vorfahren zurückblieben. Aber nichts kann die Sehnsucht aufhalten… Auch jetzt, nach so vielen Jahren, sind die jüdischen Grabstätten in Georgien sehr gepflegt, die Häuser unangetastet. Die Bevölkerung bewahrt „die jüdischen Brüder“ in guter Erinnerung. Ich denke, das sagt sehr viel über den Charakter unseres Volkes aus.
Da stellt sich die Frage: Was bedingte in unserem Land den einzigartigen Charakter des Zusammenlebens? Es ist doch so, dass die Juden in anderen Ländern viel Leid ertragen mussten, nur deshalb, weil sie Juden waren. Die Geschichte der Juden in Georgien aber kennt keinen Antisemitismus und keine Pogrome. Ich denke, dass unsere Mentalität und der Konsens über grundlegende Prinzipien in den menschlichen Beziehungen dieses einzigartige historische Beispiel ermöglichte.
Den Staat Israel konnte ich erst im Juni 1995 offiziell besuchen. Premierminister war damals Itzhak Rabin und Außenminister Schimon Peres, den ich mehrmals zuvor getroffen hatte. Es fanden herzliche Begegnungen statt. Das war die Zeit, als die israelische Regierung die Entscheidung traf, den Palästinensern Zugeständnisse zu machen. Im Gegenzug erhielt die Regierung Friedensgarantien für ihren eigenen Staat. Itzhak Rabin erklärte mir bei unserem Treffen, dass diese Entscheidung für Israel schmerzhaft war, aber es wäre sinnlos, weiterhin Krieg zu führen. Während des Besuchs hatte ich mehrere Treffen mit Bürgern Israels, unter anderem mit Bürgern georgischer und russischer Herkunft. Die Treffen überzeugten mich davon, dass Rabins Sorge wegen des Vertrags die Vorahnung einer zum Opfer bestimmten Persönlichkeit war.
Besonders beeindruckend war mein Besuch in Aschkelon, wo zahlreiche georgische Juden lebten. Es verlief wie ein Wiedersehen von Verwandten. Das Applaudieren, die Begrüßungen und die Zurufe wollten nicht enden. Schließlich trugen die Aschkeloner mich auf Händen.
Kurze Zeit nach meinem ersten Besuch bestätigte es sich, dass Itzhak Rabins Sorge nicht ohne Grund gewesen war. Am 4. November 1995 wurde er niederträchtig ermordet. Natürlich war ich verpflichtet, sofort alle anderen Aufgaben zu verschieben und an der Trauerzeremonie teilzunehmen. Leider ist es so, dass in der Geschichte gerade die Menschen ermordet werden, die mutige Persönlichkeiten sind. Zu diesen Menschen gehörte Itzhak Rabin.
Bereits im Februar 1999 besuchten Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und Außenminister Ariel Scharon das unabhängige Georgien. Scharons Eltern hatten in Tiflis gelebt und dort geheiratet. Der Vater hatte an der Staatlichen Universität in Tiflis studiert. Seine Großmutter ist auf dem jüdischen Friedhof in Tiflis begraben. Er besuchte ihr Grab und sah, wie gut es gepflegt wird.
In Israel und im heutigen Gaza-Streifen waren im 5. Jahrhundert der georgische Philosoph Petre Iberi, der Vater der Areopagita, und der georgische Geistliche Joanne Lasi tätig. In Jerusalem gab und gibt es bis heute zwei georgische Klöster: das Kreuz-Kloster, in dem der georgische Dichter der östlichen Renaissance, Schota Rustaweli, als Mönch tätig war und wo sich sein Fresko befindet, sowie das Kloster der Lasen, das ein italienischer Archäologe entdeckte.
Meine Einstellung zu Juden ist nicht nur durch persönliche Sympathie bestimmt, sondern auch durch das Miteinander in der Geschichte Georgiens und durch meine nationale Mentalität und Erziehung. Im Jahr 1998 feierten wir gemeinsam das 26. Jahrhundertjubiläum eines freundschaftlichen Zusammenlebens.
EDUARD SCHEWARDNADSE
|
|
"Diesen Aufzeichnungen geht ein langes politisches Leben voraus, zumeist erfolgreich, manchmal aber auch erfolglos, ein Leben des Aufstiegs wie des Abstiegs, begleitet von Enttäuschungen und politischen Rücktritten. Mein Leben, jedenfalls das, welches das Interesse der Leserinnen und Leser wecken könnte, habe ich hier niedergeschrieben: Sie können über mich urteilen, schonungslos, ohne Kompromisse."
Eduard Schewardnadse
"Wer über die Geschichte jener Jahre schreiben will, den entscheidenden 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, der wird an dem Buch von Eduard Schewardnadse nicht vorbeigehen können. Der Leser erfährt viel Neues und er erkennt manches Bekanntes in einem neuen Licht. Eduard Schewardnadses Buch ist sein politisches Testament."
Hans-Dietrich Genscher
Eine polnische Trias: Walesa, Jaruzelski, Wojtyla
Ohne die Lösung der Probleme zwischen Deutschland und seinen Nachbarn konnte in Europa kein Frieden hergestellt werden, ohne Freiheit für Osteuropa konnte die Welt nicht friedlicher werden. Hierbei stellte Polen das Hauptproblem dar, wo unter der Führung der „Solidarnosc“ durch Lech Walesa die Demokratiebewegung seit dem Sommer 1980 immer stärker wurde. Nach sowjetischer Gewohnheit sah man in Moskau in ihr eine maßgebliche Ursache für Destabilisierung.
In dieser angespannten Lage stand General Wojciech Jaruzelski an der Spitze der Politik in Polen. Meine Einschätzung ist die folgende: Er ist ein polnischer Patriot, eine mutige und kluge Persönlichkeit. „Solidarnosc“ wurde in ganz Polen unterstützt, und insofern war das politische Schicksal Jaruzelskis bereits entschieden. Bei uns gab es jedoch Personen, die Polen nicht aufgeben wollten und den Armeeeinmarsch nicht ausschlossen.
Zwei- oder dreimal war ich in Polen bei Jaruzelski, der uns bat, die Armee in Polen nicht einmarschieren zu lassen. Gegen einen Armeeeinmarsch war außer mir auch Michail Gorbatschow. Ich bin zu Papst Johannes Paul II., der aus Polen stammte, nach Rom gereist. Auch General Jaruzelski traf den Papst. Man musste berücksichtigen, dass Johannes Paul II. einen sehr großen Einfluss auf Polen hatte, nur sein Wort konnte einen Bürgerkrieg verhindern. Das Ergebnis von Jaruzelskis und meiner Reise zum Vatikan war, dass der Papst unseren Vorschlägen zustimmte. Er flog 1987 nach Polen und vermied dadurch die Gefahr einer schicksalhaften Auseinandersetzung. Jaruzelski trat friedlich ab, Polen wurde vom kommunistischen Zwangsregime befreit und ein demokratisches Land.
Andere Länder des sozialistischen Lagers folgten Polen. Die Entwicklungen verliefen dort ebenfalls weitgehend friedlich.
[...]
Ich komme auf die außergewöhnliche Persönlichkeit des Papstes zurück. Johannes Paul II. hatte nicht nur bei der friedlichen Lösung des polnischen Problems eine herausragende Rolle gespielt, sondern auch bei den Entscheidungen über andere schwierige Fragen in Europa und der ganzen Welt. Ich kannte ihn gut: Als Außenminister traf ich ihn drei Mal, einmal gemeinsam mit Michail Gorbatschow am 1. Dezember 1989. Wir führten lange und interessante Gespräche.
Ich war verwundert, dass der römische Papst über die damals in der Sowjetunion stattfindenden Entwicklungen hervorragend informiert war. Er kannte auch Details, die man nicht durch die Presse und andere Medien erhalten konnte. Er begrüßte Gorbatschows Initiativen und persönlichen Einsatz. Er betonte, dass viel Mut und Tapferkeit notwendig seien, um ein diktatorisches Regime in eine Demokratie zu verwandeln und eine neue friedliche Ordnung aufzubauen. Er meinte, dass die Perestroika und die Demokratisierung der Sowjetunion Vorgänge seien, die anderen diktatorischen Staaten einen Anstoß geben sollten, den gleichen Entwicklungsweg einzuschlagen.
Es war zweifellos sehr wichtig, dass der Papst seine Informationen über die in der Sowjetunion ablaufenden Prozesse unmittelbar von den Initiatoren und Organisatoren dieser Entwicklungen erhielt.
Ich hatte den Eindruck gewonnen, dass sich der Papst 1989 intensiv und ausführlich auf die Begegnung mit der sowjetischen Führung vorbereitet hatte und vieles, was er von uns erfuhr, für ihn keine besondere Neuigkeit war. Ich erinnere mich, dass ich nach einem Treffen sagte: „Der römische Papst ist Weltbürger Nummer 1!“
Nachdem ich 1992 nach Georgien zurückgekehrt war, wünschte ich mir, dass der Papst meine Heimat besuchen würde. Der Wunsch ging am 8. November 1999 in Erfüllung. Georgiens Katholikos-Patriarch Ilia II. unterstützte mich bei dem Bemühen.
Die Visite von Johannes Paul II. in Tiflis dauerte zwei Tage. Er fühlte sich gesundheitlich angeschlagen, dennoch war unser Dialog lebendig und interessant. Wir sprachen viel über die besonders wichtigen und interessanten Weltthemen, darunter auch über die Geschichte der russisch-polnischen Beziehungen.
Der Papst ist mir wegen seiner beeindruckenden Eigenschaften in Erinnerung geblieben. Welche Eigenschaften hatte er? Er war eine sehr intellektuelle Persönlichkeit und kannte sich umfassend, und nicht nur im Vatikan, aus. Er zeichnete sich durch genaue Kenntnis der alten und neuen Geschichte Georgiens aus. Er interessierte sich auch für die Lage in den Nachbarländern. Mit großer Aufmerksamkeit hörte er meinen Ausführungen über den schwierigen Prozess der Auswanderung von Juden aus Georgien und der Sowjetunion nach Israel zu.
Der Papst setzte sich für ein friedliches Miteinander aller Religionen ein. Als er hörte, dass ich einen breiten Dialog über die Fragen der Beziehungen der Staaten und Religionen angedacht hatte, zeigte er sich zufrieden. Leider waren ein zweiter Besuch und seine Teilnahme an dem geplanten Treffen nicht mehr zu realisieren. Dennoch sprachen wir ausführlich über mein Vorhaben, und Johannes Paul II. gab mir viele freundliche und weise Ratschläge, die zum Erfolg des Dialogs beitrugen. Er verschwieg nicht, dass er darunter litt, nicht in die orthodoxen Länder reisen zu können, unter anderem auch nicht nach Russland.
Wenn wir berücksichtigen, dass es in Russland keinen Papstbesuch gegeben hat und auch in fast keinem anderen orthodoxen Land, dann war für uns Georgier dies ein großartiges und besonderes Ereignis. Georgien bewies damit noch einmal seine jahrhundertelangen Bestrebungen, in der europäischen Zivilisation seinen historischen Platz wiederzugewinnen. Es war, als ob der Traum Sulchan-Saba Orbelianis, des hervorragenden georgischen Gelehrten des 18. Jahrhunderts, in Erfüllung gegangen wäre, Georgien wieder als einen christlichen Teil Europas wahrzunehmen. Es ist bekannt, dass sich die Georgier im Jahr 1054 nicht dem Schisma angeschlossen hatten, dem Bruch zwischen Konstantinopel und Rom, was die Isolierung des Landes vom europäischen Raum zur Folge hatte.
Johannes Paul II. kannte nicht nur die Geschichte Georgiens, sondern auch die Geschichte der Orthodoxie. Er drückte sein Bedauern darüber aus, dass im 18. Jahrhundert die Reise Sulchan-Saba Orbelianis nach Rom erfolglos geblieben war.
Zwei Tage nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. (2. April 2005) druckte eine führende französische Zeitschrift unser gemeinsames Foto ab, aufgenommen im Tifliser Flughafen bei der Ankunft des Papstes in Georgien. Das Foto rief meine Erinnerungen wach und berührte mich zutiefst.
Es ist wichtig, dass die von Johannes Paul II. hinterlassenen Traditionen vom neuen Papst Benedikt XVI. würdig weitergeführt werden. Die Tatsache, dass er aus Deutschland stammt und sehr gebildet ist, wird seinen Handlungsspielraum noch erweitern. Ich habe es herzlich begrüßt, dass 2006 in unserem Nachbarland, der Türkei, ein sehr erfolgreicher Besuch von Benedikt XVI. stattgefunden hat.
Probe-Abonnement
Infodienst
! 5 Augaben kostenfrei und unverbindlich !
Bestellen Sie jetzt Ihr Probeabo:
Der Autor
... geboren am 25. Januar 1928 in Mamati in Westgeorgien, als Funktionär in der Georgischen SSR in verschiedenen politischen Gremien tätig, wurde 1964 Innenminister, 1972 Erster Sekretär der KP der Georgischen SSR. 1985 zum Außenminister der Sowjetunion ernannt, unterstützte Eduard Schewardnadse die Perestroika und leitete eine neue Außenpolitik ein. Maßgeblich wirkte er 1989/1990 mit dem Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Hans-Dietrich Genscher, an der deutschen Wiedervereinigung mit. Im Dezember 1990 trat Eduard Schewardnadse vom Amt des Außenministers der Sowjetunion zurück und wurde erneut vom 20. November bis 21. Dezember 1991 Außenminister, bis zur Auflösung der UdSSR. 1992 wurde er erst Vorsitzender des Staatsrates in Georgien, später Staatspräsident bis zum Rücktritt im November 2003.