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ONLINE-EXTRA Nr. 18

Oktober 2005

Wer die ideologische Formierung des NS-Staates verstehen will, kommt an Hitlers Chefideologen Alfred Rosenberg nicht vorbei. Nach bescheidenen Anfängen als völkischer Publizist und Agitator wurde er zum Weltanschauungsbeauftragten des totalitären Regimes.  Er war Herausgeber vieler wichtiger nationalsozialistischer Periodika wie zum Beispiel dem »Völkischen Beobachter« und befehligte eine Reihe von Organisationen, unter anderem den Kampfbund für deutsche Kultur, das Amt Rosenberg, die Nordische Gesellschaft, den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg. 1941, als mit dem Überfall auf die Sowjetunion der Kampf mit dem »jüdischbolschewistischen Weltfeind« begann, wurde er Reichsminister für die besetzten Ostgebiete. War er bis dahin vor allem Vordenker eines Weltanschauungsstaats gewesen, stand er nun auch als Politiker in vorderster Front. Der Krieg im Osten war von Anfang an ein ideologischer Vernichtungskrieg, zu dessen Legitimation ein Rosenberg gebraucht wurde. Im Rücken der Front vollzog sich der Mord an sechs Millionen Juden. Rosenberg hatte maßgeblichen Anteil an der Entstehung des antisemitischen Weltbilds der Nazis, spielte eine zentrale Rolle bei der öffentlichen Legitimierung der Vernichtungsmaßnahmen und war auch an ihrer Durchführung beteiligt. In Nürnberg wurde Rosenberg vor dem Internationalen Gerichtshof als Hauptkriegsverbrecher angeklagt, in allen Punkten der Anklage schuldig gesprochen und am 16. Oktober 1946 hingerichtet.

Ernst Piper, ein ausgewiesener Experte für das Dritte Reich, hat Archive auf der ganzen Welt aufgesucht und den Lebensweg dieser von der Forschung bislang vernachlässigten NS-Figur umfassend rekonstruiert. Seine Ergebnisse legt er nun in einer beeindruckenden Studie im Blessing-Verlag vor: "Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe" (siehe Anzeige weiter unten).

Exklusiv präsentiert COMPASS in einem Online-Vorabdruck zwei Kapitel aus diesem Buch: Das vorliegende Einleitungskapitel, das u.a. einen hervorragenden Überblick der bisherigen Forschungssituation zur Person Rosenbergs gibt, und das Kapitel V des Buches, "Vom Mythos zum 'Mythus'", in dem u.a. das rassistisch-antisemitische Weltbild Rosenbergs vorgestellt und analysiert sowie die Frage nach "Politische Religion oder Religionsersatz" diskutiert wird.

Diese beiden Texte erscheinen heute als Doppel-Ausgabe Nr. 18 und Nr.19 von ONLINE-EXTRA - exklusiv für COMPASS-Infodienst.

COMPASS dankt Autor und Verlag für die Genehmigung zur Wiedergabe der Texte an dieser Stelle!

© 2005 Copyright bei Autor und Verlag 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 18


Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe.

Einleitung
(Teil 1)

ERNST PIPER

Wer sich mit der Person Alfred Rosenbergs beschäftigt, stößt auf eigentümlich kontrastierende Urteile. In der zeitgenössischen Literatur galt er als ideologischer Kopf der nationalsozialistischen Bewegung, als Programmatiker, als Chefdenker. So hieß es zum Beispiel in dem 1934 im Pariser Exil erschienenen Buch „Naziführer sehen Dich an“: „Hitler befiehlt, was Rosenberg will.“1 Hitler galt als das Medium, mit dessen Hilfe Rosenberg die Bewegung dirigierte. Ähnliche Urteile kann man bei so unterschiedlichen Autoren wie Konrad Heiden und Otto Strasser und noch vielen anderen finden. Ein ganz anders geartetes Bild Alfred Rosenbergs zeigt sich in der Nachkriegsliteratur. Prägend hat hier, zumindest im deutschen Sprachraum, Joachim Fest gewirkt, der Rosenberg in seinem frühen Meisterwerk „Das Gesicht des Dritten Reiches“ als „vergessenen Gefolgsmann“ porträtierte:


„Die Tragödie Alfred Rosenbergs war, daß er an den Nationalsozialismus wirklich geglaubt hat. Die rechthaberische Gewißheit, mit der er sich als der Schriftgelehrte einer neuen irdischen Heilsbotschaft empfand, machte ihn innerhalb der Führungsspitze der NSDAP zu einem kuriosen und vielfach belächelten Einzelgänger – zum ‚Philosophen’ einer Bewegung, deren Philosophie am Ende nahezu immer die Macht war. Rosenberg selbst hat das freilich nie erkannt oder gar anerkannt und wurde gerade deshalb im Verlauf der Jahre, als der Machtgedanke die ideologischen Drapierungen zusehends überspielte, zum vergessenen Gefolgsmann: kaum noch ernst genommen, mutwillig übersehen und herumgestoßen, ein Requisit aus der ideologisch gestimmten Frühzeit, der Werbephase der Partei.“2


 Fest unterschied damals zwischen „Technikern und Praktikern der totalitären Herrschaft“ einerseits, das waren die mächtigen Männer wie Göring, Goebbels, Himmler und Bormann, und dem „Personal der totalitären Herrschaft“ andererseits. „Personal“ klingt nach Staffage. Tatsächlich bildete Fest hier eine höchst ungleichgewichtige Equipe, der so unterschiedliche Leute angehörten wie der unsägliche Papen, der überaus mächtige Speer, außerdem Ribbentrop, Heß und von Schirach sowie Typen wie „General von Icks“ und „Professor NSDAP“ und eben Alfred Rosenberg.

Fests Diktum hatte einen langen Nachhall. Bis heute fehlt eine umfassende Biographie Rosenbergs, obwohl andererseits dieser Umstand in der Literatur immer wieder beklagt worden ist.3 Den Lebensgang dieses „vergessenen Gefolgsmannes“ nachzuzeichnen, erschien nicht als lohnendes Unterfangen. Und der Ideologe war in der nach den Erfahrungen des Dritten Reiches dezidiert antiideologisch gestimmten Bundesrepublik kein Thema. Die erste bedeutende Arbeit über Alfred Rosenberg war die Dissertation von Reinhard Bollmus (1968, gedruckt 1970). Sie hatte das Amt Rosenberg zum Gegenstand, ähnlich wie schon eine amerikanische Dissertation einige Jahre zuvor. Doch die Titel der beiden Arbeiten hätten unterschiedlicher nicht sein können. Bollmus’ Arbeit hieß „Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem“, während Rothfeder für die seine den Titel „A Study of Alfred Rosenberg’s Organization for National Socialist Ideology“ gewählt hatte. Der eine hob auf die Position Rosenbergs in der nationalsozialistischen Polykratie ab, die bekannten Fragen, inwieweit Rosenberg sich wann gegen wen in welchem Umfang durchsetzen konnte. Dem anderen ging es um die praktische Implementierung der von Rosenberg vertretenen Ideologie. Beide fragten nach der Wirkung, verwendeten dabei aber höchst unterschiedliche Parameter. Und so sollte es bleiben. Die deutschen Autoren bewegten sich in den Bahnen der Institutionengeschichte. Jacobsen (1968), Lutzhöft (1971), Gimmel (1999) und Zellhuber (2005) verdanken wir material- und aufschlußreiche Arbeiten zum Außenpolitischen Amt, der Nordischen Gesellschaft, dem Kampfbund für deutsche Kultur und dem Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, während über andere Arbeitsfelder, wie z.B. den Völkischen Beobachter4 und den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, Darstellungen von vergleichbarer Qualität immer noch fehlen. Die genannten Arbeiten leisten bedeutende Beiträge zu unserem Wissen über die Zeit des Nationalsozialismus, aber wir erfahren nur wenig über das Denken jenes Mannes, der die untersuchten Institutionen geleitet hat. Dieser Frage haben sich dagegen Autoren wie Chandler (1968), Cecil (1972), Hutchinson (1977) und Whisker (1982) gewidmet, die sämtlich im angloamerikanischen Sprachraum beheimatet sind und hierzulande kaum Beachtung gefunden haben. Wenn wir einmal von dem gänzlich unbeachtlichen Beitrag von Molau (1993) absehen, haben sich erst Bärsch und Kroll (beide 1998) mit Rosenberg unter ideengeschichtlichen Vorzeichen auseinandergesetzt.

Zu der These von der angeblichen Bedeutungslosigkeit Rosenbergs tritt noch der Umstand hinzu, daß viele Historiker in den letzten Jahrzehnten der Ereignisgeschichte mit großer Reserve gegenüberstanden. Der strukturalistische Angriff auf einen historiographischen Geschichtsbegriff untergrub vielfach das Vertrauen in die Valenz des Narrativen. Biographen hatten deshalb bis in die letzten Jahre hinein einen schweren Stand. Selbst Ian Kershaw sah sich veranlaßt, seine monumentale Arbeit, deren Nützlichkeit nun wirklich über jeden Zweifel erhaben ist, mit dem Hinweis zu rechtfertigen, er habe eine nicht auf Hitler zentrierte Biographie Hitlers geschrieben, der in gewisser Weise ein Mann ohne Eigenschaften gewesen sei.5 Sein Wirken erkläre sich durch die Reaktionen und Projektionen der Gesellschaft auf ihn. Die Gesellschaft habe Hitlers Erfolg entgegen gearbeitet. Wenn wir einmal von der Frage absehen, warum unter all den vielen völkischen Agitatoren gerade Adolf Hitler derjenige war, den Millionen Deutsche zum Objekt ihrer Reaktionen und Projektionen machten, warum sie nicht einem anderen Agitator entgegengearbeitet haben, so ist doch jedenfalls bei ihm ein solcher Zugriff möglich. Man denke nur an den Marsch zur Feldherrnhalle, die durch den gescheiterten Putschversuch sprunghaft gesteigerte Popularität der Nationalsozialisten und Hitlers rhetorische Glanznummern beim anschließenden Prozeß.

Wollte man ähnlich Alfred Rosenberg in den Blick nehmen, käme man nicht sehr weit. Er ging am 9. November 1923 nur einen Meter hinter Hitler, doch niemand nahm es zur Kenntnis; er gehörte auch nicht zu den Angeklagten im folgenden Prozeß. Zu beschreiben, wie die deutsche Gesellschaft auf sein Auftreten reagierte, wäre nicht möglich, denn Rosenberg trat nicht auf. Er wurde in der „Kampfzeit“ außerhalb von Parteitagen kaum je als Redner eingesetzt und suchte auch nicht, wie Hitler, in Salons den Kontakt zum Münchner Bürgertum. Seine Tribüne war der Schreibtisch. Er schrieb mehr als alle anderen Naziführer zusammen genommen, verfaßte Parteitagsführer, kommentierte das Programm und war Chefredakteur oder Herausgeber fast aller wichtigen Periodika, vom Völkischen Beobachter über den „Weltkampf“ bis zu den Nationalsozialistischen Monatsheften. Wenn er als „der bedeutendste Publizist der antijüdischen Bewegung“6 bezeichnet wurde, empfand er das zweifellos als Anerkennung seiner Leistung. Hitler wäre empört gewesen, hätte man ihn so charakterisiert. Er wollte nicht Publizist, sondern unter allen Umständen Politiker sein, das hatte er schon als junger Mann beschlossen. Rosenberg aber war, soweit er Politiker war, ein „Ideologe als Politiker“, wie Kroll es treffend formuliert hat.7

Die Mutation vom Ideologen zum Politiker, vor allem nach 1933, war eine große Herausforderung für Alfred Rosenberg, die er nur teilweise erfolgreich bestand. Immerhin gelang es ihm, sich bis zum Ende in den inneren Zirkeln der Macht zu halten, während es in Hitlers Entourage der frühen Jahre viele gab, die aus jeweils ganz unterschiedlichen Gründen gänzlich aus seinem Umfeld verschwanden: Feder, Ludendorff, Drexler, Esser, Heß, Röhm, Hanfstaengl, Gregor Strasser, Scheubner-Richter und in gewisser Weise auch Streicher. Wenige konnten so wie Rosenberg ihre Position halten; Schwarz, Amann, Ley und Ribbentrop wären zu nennen. Und nur ganz wenige wie Himmler und Goebbels und mit Einschränkungen Göring überflügelten ihn deutlich. Diejenigen, die wie Bormann und Speer erst später in Hitlers Umkreis traten und dann ebenfalls eine große Machtfülle gewannen, dürfen bei dieser Betrachtung natürlich nicht vergessen werden. Wenn man sich aber einmal vom Primat der Organisations- und Institutionengeschichte freimacht, wird man rasch erkennen, daß von den Menschen im Umkreis des großen Diktators nur Goebbels und Himmler Rosenberg an Wirkungsmacht gleichkamen. Max Weinreich, ein weiterer hierzulande kaum rezipierter angloamerikanischer Autor, sah in Rosenberg eine Schlüsselfigur für die Implementierung des Antisemitismus in die nationalsozialistische Weltanschauung,8 während Potthast, auf der selben Linie argumentierend, konstatiert: „Der ‚Vernunftantisemitismus’ war maßgeblich sein Werk.“9 Auch Kroll betont den weitreichenden Einfluß, den Rosenberg ausübte:


„Seine Gedankengänge waren nach 1933 in den verschiedensten Bereichen des öffentlichen Lebens präsent. Schulbücher, Lehr- und Unterrichtspläne, parteiinterne Leithefte und Schulungsbriefe der einzelnen nationalsozialistischen Organisationen – vor allem der SA und der SS –, aber auch populäre literarische Geschichtswerke wie zeitgenössische ‚Bestseller’ von Werner Beumelburg, Gustav Frenssen oder Hans Friedrich Blunck gaben das von Rosenberg verfochtene Welt- und Geschichtsbild wieder und wirkten als wichtige Multiplikationsfaktoren seiner Lehren.“10


Ähnlich hatte eine zeitgenössische Darstellung argumentiert:


„Der Einfluß Rosenbergs auf Erziehung und geistige Neuformung reicht bis in die feinsten Kanäle des gesamten kulturellen und politischen Lebens unseres Volkes.“11




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Ernst Piper:

Alfred Rosenberg
Hitlers Chefideologe


Karl Blessing Verlag 2005
832 Seiten, 34 Abb.
ISBN 3-89667-148-0
UR 26.00 (D) / CHF 45.60 €


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Eine düstere Karriere in einer düsteren Zeit:

Die erste umfassende Erforschung über den Vordenker der NSDAP
Wer die ideologische Formierung des NS-Staates verstehen will, kommt an Hitlers Chefideologen Alfred Rosenberg nicht vorbei. Nach bescheidenen Anfängen als völkischer Publizist und Agitator wurde er zum Weltanschauungsbeauftragten des totalitären Regimes. Ernst Piper, ein ausgewiesener Experte für das Dritte Reich, hat Archive auf der ganzen Welt aufgesucht und den Lebensweg dieser von der Forschung bislang vernachlässigten NS-Figur umfassend rekonstruiert.

Diese Biographie von Alfred Rosenberg erschließt umfangreiche Quellenbestände zum ersten Mal.


Alfred Rosenberg, Hitlers Weggefährte in dessen ersten Jahren in München, gilt gemeinhin als Chefideologe der NSDAP. Er war Herausgeber vieler wichtiger nationalsozialistischer Periodika wie zum Beispiel dem »Völkischen Beobachter« und befehligte eine Reihe von Organisationen, unter anderem den Kampfbund für deutsche Kultur, das Amt Rosenberg, die Nordische Gesellschaft, den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg. 1941, als mit dem Überfall auf die Sowjetunion der Kampf mit dem »jüdischbolschewistischen Weltfeind« begann, wurde er Reichsminister für die besetzten Ostgebiete. War er bis dahin vor allem Vordenker eines Weltanschauungsstaats gewesen, stand er nun auch als Politiker in vorderster Front. Der Krieg im Osten war von Anfang an ein ideologischer Vernichtungskrieg, zu dessen Legitimation ein Rosenberg gebraucht wurde. Im Rücken der Front vollzog sich der Mord an sechs Millionen Juden. Rosenberg hatte maßgeblichen Anteil an der Entstehung des antisemitischen Weltbilds der Nazis, spielte eine zentrale Rolle bei der öffentlichen Legitimierung der Vernichtungsmaßnahmen und war auch an ihrer Durchführung beteiligt. In Nürnberg wurde Rosenberg vor dem Internationalen Gerichtshof als Hauptkriegsverbrecher angeklagt, in allen Punkten der Anklage schuldig gesprochen und am 16. Oktober 1946 hingerichtet. Eine düstere Karriere in einer düsteren Zeit.



Für die Zeitgenossen war Alfred Rosenberg der „Parteipapst“12, wie es die respektlose Bella Fromm formulierte, oder Hitlers Erzieher13, der „einmalige(n) philosophische(n) Kopf in der unmittelbaren Gefolgschaft des Führers“14, „nächst dem Führer selbst der wichtigste Träger und Verkünder der nationalsozialistischen Weltanschauung“15 und in des „Führers“ eigenen Worten der „erste(n) geistige(n) Mitgestalter der Partei“16. Die Ankläger in Nürnberg hatten kein anderes Bild. Robert Kempner sprach von Rosenberg als „Hitlers Weltanschauungschef“ und „Präzeptor der nationalsozialistischen Weltanschauung“.17 Robert Jackson nannte ihn den „geistigen Priester der ‚Herrenrasse’, der die Lehre des Hasses schuf, die den Anstoß zur Vernichtung des Judentums gab.“18 Und Walter Brudno stellte fest, daß „Rosenberg eine besonders hervorragende Rolle bei der Schaffung und Verbreitung des doktrinären Unterbaus der Verschwörung gespielt hat...; er hat dies getan, indem er den Einfluß der Kirchen auf das deutsche Volk untergrub, indem er das Programm der mitleidlosen Judenverfolgung betrieb, und indem er das Erziehungssystem umgestaltete mit der Absicht, das deutsche Volk dem Willen der Verschwörer gefügig zu machen und das Volk für einen Angriffskrieg psychologisch vorzubereiten.“19 Die Nürnberger Richter, die andere Angeklagte zu Zeitstrafen verurteilten und einige sogar freisprachen, sprachen Alfred Rosenberg in allen vier Anklagepunkten schuldig und verurteilten ihn zum Tod durch den Strang. Sie wußten warum.

Ernst Nolte blieb es vorbehalten, die Bedeutung der Ideologie für den Nationalsozialismus grundsätzlich in Frage zu stellen. So sprach er schon zu Beginn seines großen Werkes „Der Faschismus in seiner Epoche“ vom unideologischen Charakter des Faschismus, der in dieser Hinsicht inkommensurabel mit dem Marxismus sei.20 Die Absurdität dieser These wird noch dadurch gesteigert, daß Nolte sich dabei ausgerechnet auf Rosenberg berief. Dessen „Mythus des 20. Jahrhunderts“, das „Grundbuch der nationalsozialistischen Weltanschauung“, trage „unverkennbar die Züge der protestantisch-liberalen Herkunft des Verfassers“.21 Daß der Aberwitz dieser Behauptung damals nicht aufgefallen ist, ist wohl nur mit dem Erscheinungsjahr 1963 dieser Faschismus-Analyse zu erklären, das in eine Hochphase des Kalten Krieges fiel. Über Rosenberg kann man vieles sagen, aber eines war er ganz gewiß zu keiner Zeit seines Lebens: liberal. Nolte, der von der Idee besessen ist, den Nationalsozialismus zu einer liberalen antikommunistischen Bewegung zu verklären, wiederholte seine These vom liberalen Rosenberg Jahrzehnte später in "Der europäische Bürgerkrieg", dem dritten Band seiner „Trilogie“:


„... Hitler und Alfred Rosenberg und Heinrich Himmler waren nicht ursprünglich Ideologen, sondern Künstler, liberale Angehörige freier Berufe, Kleinbürger, die durch ungeheure Ereignisse beunruhigt und verstört waren, die nach Antworten suchten und über die Schwäche der Regierungen erzürnt waren. Daß sie Deutschland in die Mitte ihres Empfindens und Denkens stellten, gefährdete zwar die nächste historische Aufgabe, wenn diese in der Überwindung der Nationalstaatsidee und in einer europäischen Einigung bestand, aber das war in einem Zeitalter nicht verwunderlich, das immer noch ein Zeitalter des Nationalismus war. Daß sie sich trotzdem als europäische Bürger betrachteten, war vielleicht nicht konsequent und blieb keine unangetastete Maxime, doch sie standen damit auf der Seite eines historischen Rechts, das dieser übernationalen Klasse noch eine bedeutende Zukunft vorbehielt. Aber entscheidend war erst, daß sie aus ihrer Urerfahrung und Grundemotion die Forderung ableiteten, ebenso konsequent und unerbittlich zu sein wie der Feind, ja noch konsequenter und unerbittlicher. Erst dadurch wurden sie zu Ideologen, und bloß deshalb griffen sie jene Differenzen als schädlich an, auf denen die Geschichte Europas bis dahin beruht hatte.“22


Die Groteskheit dieser Darstellung ist offensichtlich. Keiner der Genannten war ein Künstler, keiner auch gehörte den artes liberales an, denn Rosenberg hatte Architektur, Himmler Landwirtschaft und Hitler gar nicht studiert. Auch europäische Bürger waren sie, vielleicht mit der partiellen Ausnahme Rosenbergs, nicht, jedenfalls in keiner sinnvollen Bedeutung des Wortes. Daß der ideologisch motivierte Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion auf einen bloßen Reflex auf die Bedrohung durch den Sowjetkommunismus reduziert wird, mit der Vernichtung der europäischen Judenheit als „Nebenprodukt“, so Noltes Kernthese, will ich an dieser Stelle nicht diskutieren, wohl aber die Negation des Apriori des Ideologischen ausdrücklich bestreiten.

Diesmal, anders als 1963, war der Widerspruch gegen Nolte vehement. Seine Thesen, 1980 weithin unbemerkt erstmals vorgetragen, führten zu einer Debatte, die unter dem Namen „Historikerstreit“ in die Historiographie eingegangen ist, wobei Nolte in seinem Widerspruch gegen den von mir gewählten Untertitel der Dokumentation dieser Debatte seine Position noch einmal deutlich gemacht hat.23 Nolte war im übrigen, meines Erachtens zu Recht, der Auffassung, daß er dieselben Positionen wie in „Der europäische Bürgerkrieg“ schon 1963 vertreten habe. Nicht er habe sich verändert. Richtig sei vielmehr, daß er sich „heute in stärkerem Gegensatz zu vorherrschenden Zeitströmungen befinde“.24

Vieles spricht in der Tat dafür, insoweit hat Nolte recht, daß die Ursachen für den politischen Erfolg der nationalsozialistischen Bewegung in der Zeit nach 1914 zu suchen sind, daß die ganz anders geartete politische Konstellation in Deutschland und Europa nach dem Ersten Weltkrieg Voraussetzung für die Wirksamkeit der nationalsozialistischen Propaganda war. Ebenso viel spricht aber auch dafür, daß die ideologische Fundierung der Bewegung ihre Wurzeln in dem davor liegenden Zeitraum hat. Nolte verkehrt die Prioritäten, wenn er schreibt: „Den Antisemitismus der Nationalsozialisten von ihrem Antibolschewismus ablösen zu wollen, ist töricht.“25 Wenn man diesen Satz umdreht, dann gewinnt er Sinn: Den Antibolschewismus der Nationalsozialisten von ihrem Antisemitismus ablösen zu wollen, ist töricht.

Yehuda Bauer, der im Gegensatz zu Nolte nicht die Intention hat, den Nationalsozialismus zum Faschismus zu diminuieren, hat in seinem souveränen Alterswerk „Die dunkle Seite der Geschichte“ eindringlich dargetan, daß die antisemitische Ideologie eine zentrale Determinante der Shoah gewesen ist.26 Die Vernichtung der europäischen Judenheit war eben kein „Nebenprodukt“, dem ein anderes „Prius“ (Nolte) vorausging, auch wenn Hitler, Rosenberg und die anderen 1919, als sie bereits die Entfernung der Juden forderten, dabei noch nicht die Gaskammern von Auschwitz-Birkenau vor Augen hatten.

Rosenberg hat entscheidend dazu beigetragen, Hitler das Bild vom jüdischen Charakter der russischen Revolution zu vermitteln. In diesem Punkt sind die so unterschiedlichen Biographen Joachim Fest und Ian Kershaw sich einig, auch wenn letzterer Rosenbergs Einfluß höher zu bewerten geneigt ist als ersterer.27 Beide, Hitler und Rosenberg glaubten an ein jüdisch-bolschewistisches Weltherrschaftsstreben, weswegen der Kampf gegen die Sowjetunion immer auch Kampf gegen das Weltjudentum war. Und beide wollten beweisen, daß sie recht hatten, jeder auf seine Weise, der eine, indem er die staatlichen Machtmittel eroberte, ein von Diktatoren gerne gewählter Weg zur Durchsetzung ihrer Wahrheiten, der andere, indem er danach strebte, ein möglichst lückenloses Dogmengebäude zu errichten, dessen überwältigende Plausibilität ernsthaften Widerspruch auf die Dauer nicht zuließ; auch dies ein Weg, der von totalitären Regimen jedweder Couleur regelmäßig beschritten wird und ebenso regelmäßig auf Dauer nicht zum Erfolg führt. Wo der Zwang zur Zustimmung entfällt, entfällt auch die Zustimmung. Deshalb bedarf das Meinungsmonopol zu seiner Durchsetzung früher oder später stets des Gewaltmonopols.

Die Person Alfred Rosenbergs ist, diesseits und jenseits des Interesses an seinem Lebensgang, in hohem Maße geeignet, den ideologischen Charakter des nationalsozialistischen Regimes paradigmatisch zu zeigen. Wenn man unter Ideologie die Gesamtheit der von einer Bewegung hervorgebrachten Denksysteme, Wertungen und geistigen Grundeinstellungen versteht, war er selbst zweifellos ein Ideologe. Und wenn man sich seine Weltsicht zu eigen machen und von klangvollen Titeln auf reale Macht schließen wollte, könnte man ihn sogar einen Chefideologen nennen. Der Glaube an die Macht der Ideen war der primäre Antrieb für sein Wirken, ein Wirken, unter dessen Folgen Millionen von Menschen zu leiden hatten.

In seiner Rezension von Fests Speer-Biographie hat Hans Mommsen mit unverkennbarer Befriedigung festgestellt:


„Bei Hitler hebt man zunehmend hervor, dass er im Grund eine ‚Unperson’ war und letztlich nur als Vollstrecker von allgemeinen gesellschaftlichen Triebkräften erklärt werden kann. Dies trifft für seine Satrapen, deren Physiognomie Fest am Beispiel Speers darstellen möchte, in noch stärkerem Umfang zu. Hinter deren Unfähigkeit zu positiver Gestaltung, ihrem Absinken in eine Korruption ohnegleichen und ihre in unaufhebbarem Widerspruch zwischen Ideologie und Realität stehende Lebensführung läßt die individuelle Biografie bedeutungslos erscheinen oder gänzlich zurücktreten.“28


Diese Auffassung halte ich für ganz falsch. Die Vorstellung, wir hätten ein klareres Bild des nationalsozialistischen Terrorregimes, wenn wir von der Persönlichkeit der Hauptakteure absehen würden, erscheint mir wenig hilfreich. Man muß nur Hermann Göring und Alfred Rosenberg betrachten, die zufällig beide am 12. Januar 1893 zur Welt kamen, um zu sehen, welches hohe Maß an Individualität auch auf der Ebene der Satrapen möglich war. (Robert Ley und Albert Speer würden ein anderes hübsches Gegensatzpaar ergeben.) Der Lebemann Göring und der „Moralathlet“ (Ernst Röhm) Rosenberg sanken in höchst unterschiedlichem Maße in die Korruption ab. Und während der eine die ethischen Maßstäbe eines besonders erfolgreichen Räuberhauptmanns pflegte, versuchte der andere bis zum letzten Atemzug, Ideologie und Realität in Einklang zu bringen, was seiner politischen Wirksamkeit oft genug eher hinderlich als förderlich war. Als einziger der in Nürnberg zum Tode Verurteilten verweigerte Rosenberg noch im Angesicht des Schafotts jeden geistlichen Beistand, denn die Kirche hatte er schließlich immer bekämpft. Von Göring, der sich der Hinrichtung durch Selbstmord entzog, ist der Ausspruch überliefert „Wenigstens zwölf Jahre gut gelebt.“ Rosenberg interessierte das gute Leben nur mäßig. Er arbeitete in seiner Gefängniszelle an einem Verfassungsentwurf für Nachkriegsdeutschland, wobei es für seine Illusionsfähigkeit spricht, daß er daran glaubte, man werde beim Aufbau dieses Nachkriegsdeutschland auf seine Mitarbeit nicht verzichten können.

Für die antisemitische Ausrichtung der nationalsozialistischen Bewegung, die programmatische Fundierung des Erlösungsantisemitismus war Alfred Rosenberg der wichtigste Kopf in Hitlers Mannschaft gewesen. Lebensraum im Osten und die Entfernung der Juden, die beiden wichtigsten Ziele in Hitlers Weltsicht,29 verbanden sich gerade in den vom Ostminister verwalteten Territorien. Rosenberg war dort zum einen administrativ in die Judenvernichtung involviert, zum anderen verfolgte er seine Aufgabe weiter, das deutsche Volk auf das Mordprogramm einzustimmen. Den Aufzeichnungen, die Rosenberg im Nürnberger Gefängnis angefertigt hatte und die zu seinen Lebzeiten nicht mehr veröffentlicht wurden, gab ein treuer Anhänger später den Titel „Großdeutschland. Traum und Tragödie“,30 während zwei kritische Publizisten den selben Text unter dem Titel „Portrait eines Menschheitsverbrechers“ veröffentlichten31. Diese Polarität von Innensicht und Außensicht ist emblematisch für das Wirken des Mannes, der mit seinen Ideen einmal Europa beherrschen wollte.



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ANMERKUNGEN



1 Naziführer sehen dich an, 1934, S. 80. Der Satz wird dort einem zeitgenössischen Hitlerbiographen zugeschrieben. Vgl. ebd., S. 86.

2 Fest, 1980, S. 225.

3 Nur zwei von vielen möglichen Beispielen: Loock, 1970, S. 150 Anm. 1; Kroll, 2001, S. 159 Anm. 1.

4 Die Geschichte des Völkischen Beobachters ebenso wie des Eher Verlags gehört zu den immer noch beachtlichen Desiderata, die es den etwa 50.000 Publikationen zum Trotz auch zur NS-Geschichte noch immer gibt. Auch die immer wieder zitierte zeitgenössische Darstellung (Dresler, Adolf, Geschichte des Völkischen Beobachters und des Zentralverlages der NSDAP, München 1937) ist nur ein Beispiel dafür, daß auch Historiker voneinander abschreiben. Das Buch gibt es gar nicht. Im Zentralkatalog der Bayerischen Staatsbibliothek findet sich folgender Eintrag: "Laut Mitteilung des Verfassers vom 1.6.1964 waren bereits drei oder vier Probeexemplare hergestellt, als Verlagsdirektor Amann das Erscheinen des Buches verhinderte mit der Begründung: 'Wenn einer die Geschichte des Völkischen Beobachters schreibt, dann bin ich das und kein anderer.' (Bei den Akten der Erwerbungsabteilung)."

5 In gewisser Weise war er der Mann ohne Eigenschaften. Die Geschichte Hitlers ist auch die Geschichte seiner Unterschätzung – Ein Gespräch mit Ian Kershaw, dem Verfasser der neuen großen Hitler-Biographie, FAZ vom 1.10.1998. Vgl. Brumlik, Micha, Adolf Hitler – Angelpunkt der Weltgeschichte, NZZ vom 22.5.1999.

6 Gengler, 1943.

7 Kroll, 2001.

8 Weinreich, 1999, S. 23.

9 Potthast, 2002, S. 167.

10 Kroll, 1998, S. 102. Ein Beispiel dafür ist der württembergische Ministerpräsident und Kultusminister Mergenthaler, der versuchte, durch einen von Rosenbergs Ideen geprägten Weltanschauungsunterricht den schulischen Religionsunterricht zu verdrängen; Stolle, Michael, Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultusminister, in: Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, Hg. Michael Kißener/Joachim Scholtyseck, Konstanz 1997, S. 468 f.

11 Rüdiger, 1942, S. 7.

12 Fromm, 1994, S. 155.

13 Viereck, 1961, S. 252 ff. Das Buch erschien erstmals 1941.

14 Payr, Bernhard, Alfred Rosenbergs „Gestaltung der Idee“, VB vom 5.4.1936.

15 Mitteldeutsche Zeitung vom 16.8.1934.

16 Schreiben Hitlers an Rosenberg zu dessen 50. Geburtstag, 11.1.1943; CDJC LXII-9.

17 Kempner, Robert M.W., Ankläger einer Epoche, In Zusammenarbeit mit Jörg Friedrich, Frankfurt/M. u.a. 1983, S. 251 und S. 262.

18 IMG, Bd. 19, 1947, S. 460.

19 IMG, Bd. 5, 1947, S. 53.

20 Nolte, 1984, S. 61.

21 Ebd.

22 Nolte, 1989, S. 543 f.

23 „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987. Die Kenntlichmachung meiner Herausgeberschaft scheiterte an einem Einspruch von Jürgen Habermas, der erklärte, niemand solle sich über den Streit erheben. Gegen den Abdruck meines Vorwortes, bis auf die darin enthaltene Danksagung, gab es Einsprüche mehrerer Autoren, vor allem solcher, die Andreas Hillgruber nahestanden. Das Vorwort ist aber enthalten in der amerikanischen Ausgabe der Dokumentation: Piper, Ernst, Afterword to the Historikerstreit, in: Forever in the Shadow of Hitler? Original Documents of the Historikerstreit, the Controversy concerning the Singularity of the Holocaust, New Jersey 1993, S. 272 ff. Auch auf Deutsch ist es später erschienen: Piper, Ernst, Der Historikerstreit, in: Lust an der Geschichte, Hg. Ulrich Wank, München 1992, S. 435 ff.

24 Nolte, Ernst, Das Vergehen der Vergangenheit. Antwort an meine Kritiker im sogenannten Historikerstreit, Berlin 21988, S. 154. Das Zitat stammt aus einem hier wiedergegebenen Brief an meinen Vater Klaus Piper, im Buch „Herr Y.“, der Nolte die Ablehnung des Manuskripts von „Der europäische Bürgerkrieg“ mitgeteilt hatte, eine Entscheidung, zu der ich damals maßgeblich beitragen konnte.

25 Nolte, 1993, S. 394.

26 Bauer, 2001, z.B. S. 24, 49, 67, 106, 115, 141 f.

27 Fest, 1973, S. 202; Kershaw, 2000 a, S. 40.

28 Mommsen, Hans, Keine Katharsis blieb aus. Joachim Fests sorgfältige Biographie von Albert Speer, Frankfurter Rundschau vom 13.10.1999.

29 Vgl. z.B. Holz, Klaus, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001, S. 361.

30 Härtle, 1970.

31 Lang/Schenck, 1947.


Der Autor

ERNST PIPER


geb. 1952 in München;
Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie; Promotion in Geschichte; Historiker und Publizist.



Internet:
www.ernst-piper.de

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