ONLINE-EXTRA Nr. 5
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Online-Extra Nr. 5
Die Deutschen wollten immer nur das Gute. Die Inbesitznahme des 17. Juni im vergangenen Jahr und des 20. Juli in diesem Jahr durch eine gewaltige Medienmaschinerie haben das einmal mehr gezeigt. Beide Gedenktage waren in je unterschiedlicher Weise jahrzehntelang umstritten, faschistischer Putschversuch westdeutscher Revanchisten hier, hochverräterischer Attentatsversuch ehrloser Offiziere dort. Beide Gedenktage sind unversehens Glanzstücke einer selbstverliebten Erinnerungskultur geworden. Spätestens seit Sebastian Koch als Stauffenberg mit Hardy Krüger junior an seiner Seite in den deutschen Wohnzimmern über die Bildschirme flimmerte, ist der 20. Juli zu einem Gedenktag geworden, zu dem jeder gerne hingeht, wie unser Kanzler sagen würde. Der Herbst brachte uns mit Oliver Hirschbiegels "Der Untergang" einen neuen Höhepunkt. Der NPD-Mann Karl Richter, der in dem Film die Rolle des Adjutanten von Generalfeldmarschall Keitel spielt, sagt über den Film: "Ein völlig neues Hitler-Bild wird transportiert." Ein menschliches, meint er. Auch sonst menschelt es gewaltig in diesem Film. Es wimmelt von guten Deutschen, die aus der verfahrenen Situation das beste zu machen versuchen. Vernünftige Militärs, selbstlose Ärzte, illusionslose Väter verführter Hitlerjungen treten auf. Der SS-Arzt Ernst Günther Schenck, der einst für Experimente seine über Leichen ging, mutiert im "Untergang" zu einem selbstlosen Philanthropen, der rastlos überall zu helfen versucht. Hirschbiegel ist offensichtlich ein unkritischer Leser von Lebenserinnerungen. Auch die alten Legenden um Albert Speer, die dieser, kräftig unterstützt von Joachim Fest, jahrzehntelang zu verbreiten sich bemüht hat, werden erneut ins Bild gesetzt. Der Mann, der fast bis zum letzten Kriegstag die deutsche Rüstungsindustrie ständig zu neuen Höchstleistungen antrieb, was Abertausende von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern mit ihrem Leben bezahlten mußten, wird von Hirschbiegel zur Lichtgestalt, zur Stimme der Vernunft an Hitlers Seite stilisiert. Im kommenden Jahr wird die ARD mit einem Dreiteiler nachsetzen, dessen Produktion stolze zwölf Millionen Euro gekostet hat. Sebastian Koch, der dieses Jahr den Stauffenberg gegeben hat, wird dann als Speer zu bewundern sein. Der Regisseur Heinrich Breloer ist sich der Problematik der Aufgabe bewußt: "Wir alle schauen auf das Dritte Reich, ob wir es wollen oder nicht, durch die Brille Albert Speers." Und wenn es schon diesem Chefplaner des Dritten Reiches, der mehr als jeder andere zur Verlängerung des Zweiten Weltkriegs beigetragen hat und damit für Millionen von Toten verantwortlich ist, erlaubt ist, sich der Nachwelt als Verführter, als Opfer darzustellen, als einer, der zwar zu bequem war, in ein anderes Land zu emigrieren, wo er sich auf der untersten Stufe der Karriereleiter wiedergefunden hätte, aber doch stets unpolitischer Technokrat geblieben war, der im Zweifel Schlimmstes verhindert hatte, etwa die Ausführung des "Nero-Befehls" im März 1945, wie viel mehr muß es dann Durchschnittsdeutschen erlaubt sein, sich in der Opferrolle zu sehen. 1995, zum 50. Jahrestag des Kriegsendes, wurde deutschen Jugendlichen der Jahrgänge 1970-81 die Frage gestellt: "Waren die Deutschen eher Täter oder eher Opfer im Nationalsozialismus?" 48 % der Befragten votierten für Täter, 44 % für Opfer. Diese Begriffsverwirrung hat eine lange Vorgeschichte. Norbert Frei hat die "Vergangenheitspolitik" der ersten Jahre der Bundesrepublik eindrucksvoll dokumentiert, eine Politik, die ihre ganzen Energien darauf verwendete, eine Konfrontation mit der jüngsten Vergangenheit zu vermeiden. Die Entnazifizierung der Alliierten wurde rasch beendet, als Nationalsozialisten entlassene Beamte alsbald wieder eingestellt, verurteilte Kriegsverbrecher großzügig amnestiert. Eingebettet in diese Vergangenheitspolitik war ein Viktimisierungsdiskurs, der zu einer diametralen Veränderung der Perspektive führte. Aus der Sicht der Alliierten, die die Deutschen besiegt und damit befreit hatten, waren Opfer die dem SS-Staat Verfallenen, die ermordeten Juden, Russen, Polen und all die anderen Opfer der deutschen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzüge. Doch in den 50er Jahren waren nicht die Opfer der Deutschen, sondern vor allem die Deutschen als Opfer im kollektiven Gedächtnis präsent. Hatte es zunächst auf den Gedenktafeln, wo es sie gab, zumeist geheißen "Den Opfern 1933-1945", wobei unklar blieb, ob hier die hingemordete europäische Judenheit gemeint war oder ihre auf den Schlachtfeldern verbliebenen Henker, so setzten sich in der Konkurrenz der Opfergruppen sehr bald diejenigen durch, denen zur Legitimierung des neuen Staatswesens und seiner politischen Führung entscheidende Bedeutung zukam. Ganz oben auf der Prioritätenliste von Bundeskanzler Adenauer standen die Vertriebenen, die angeblich "zu Millionen umgekommen" waren, was bei allen Schrecknissen der Vertreibungsgeschichte, die keinesfalls bagatellisiert werden sollen, doch maßlos übertrieben war. 1953, im Jahr seiner ersten Wiederwahl, stellte Adenauer auf die Kriegsgefangenen ab. Die Bundesregierung finanzierte die Wanderausstellung "Wir mahnen", die das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen in den sowjetischen Lagern dokumentierte. Das Ausstellungsplakat zeigte einen kahlgeschorenen Kriegsgefangenen hinter Stacheldraht, ein Motiv, das sich auch auf einer zum Muttertag erstmals ausgegebenen Sonderbriefmarke wiederfand. Adenauer parallelisierte das sowjetische Vorgehen gegen die deutschen Kriegsgefangenen ganz ausdrücklich mit den Verbrechen des Dritten Reiches. Doch Mitte der 60er Jahre zerbricht der Konsens des kommunikativen Beschweigens der NS-Vergangenheit. 1963-65 findet in Frankfurt der Auschwitz-Prozeß statt, den der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer gegen alle Widerstände ins Werk setzt. 1965 wird in Dachau die erste KZ-Gedenkstätte eröffnet, und im selben Jahr verlängert nach einer leidenschaftlichen Debatte der Deutsche Bundestag die Verjährungsfrist für Mord, die dann später ganz aufgehoben wird. Es folgt eine Zeit der zunehmenden Konfrontation mit den Schrecken der NS-Zeit. "Holocaust", "Shoah" und "Schindlers Liste" heißen mediale Wegmarken jener Jahre. Eine Kultur der Vergangenheitsbewältigung griff Platz, der Martin Walser vor sechs Jahren spektakulär die Gefolgschaft aufkündigte. Die seiner Polemik gegen die Moralkeule Auschwitz folgende Debatte hatte eine bedeutsame Katalysatorfunktion für die Grenzverschiebung zugunsten eines Antisemitismus, wie er sich etwa in der Rede zum deutschen Nationalfeiertag 2003 des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann äußerte, damals immerhin Berichterstatter seiner Fraktion in Fragen der Zwangsarbeiterentschädigung. Hohmann blieb es vorbehalten, seinen Zuhörern die Erkenntnis zu präsentieren, man könne die Juden mit einiger Berechtigung als Tätervolk bezeichnen. Hier gibt es krude Querverbindungen zu einem linken Antizionismus, der sich in seinem Wunsch nach Schuldabwehr durch Täter-Opfer-Umkehr durch die Politik der israelischen Regierung seit dem Ausbruch der zweiten Intifada bestätigt sieht. Angesichts der jüngsten Debatten über die deutschen Bombenopfer und ein Zentrum gegen Vertreibungen diagnostizierte Norbert Frei kürzlich einen "erinnerungspolitischen Gezeitenwechsel". Diese Feststellung ist richtig, übersieht aber doch etwas wesentliches. Der Blick auf die Vergangenheit verschiebt sich nicht nur durch den wachsenden zeitlichen Abstand, das langsame Verschwinden der Zeitzeugen, Opfer wie Täter. Seit dem Mauerfall und der nachfolgenden Wiedervereinigung stehen wir auch in einer neuen Opferkonkurrenz. Der Antifaschismusmythos der DDR diente der Legitimation eines Regimes, dessen Unrechtscharakter von denjenigen, die die Träger der Aufklärung über die Verbrechen der NS-Zeit waren, vielfach bagatellisiert worden ist. "Man darf es Diktatur nennen", schrieb Richard Schröder kürzlich in der "Welt" und ließ dieser unbestreitbar richtigen Feststellung einen fatalen Untertitel folgen: "Den Opfern sind die Unterschiede zwischen den totalitären Systemen vor und nach 1945 egal." Dieser Satz stellt den politischen Konsens, der in Jahrzehnten in diesem Land erarbeitet worden ist, in seinem Kern in Frage. Gerade wenn man sieht, wie heute in den Gedenkstätten mit doppelter Vergangenheit, etwa in Torgau oder in Oranienburg, die rivalisierenden Opfergruppen, die Opfer des NS-Regimes und die Opfer des Stalinismus, erbittert um jeden Quadratmeter miteinander ringen, dann erscheint es besonders wichtig, die Dimensionen dessen, worum es geht, nicht aus den Augen zu verlieren. Dies ist umso wichtiger, weil im Zuge des europäischen Einigungsprozesses sich die EG um Staaten erweitert hat, deren Vergangenheitsbewältigung kaum begonnen hat. Die frühere lettische Außenministerin Sandra Kalniete erklärte dieses Jahr bei der Leipziger Buchmesse, Nazismus und Kommunismus seien gleich kriminell gewesen: "Es darf niemals eine Unterscheidung zwischen ihnen geben, nur weil eine Seite auf der Seite der Sieger gestanden hat." Wer das Okkupationsmuseum in Riga besucht, sieht dann doch eine deutliche Gewichtung. Über 80 % der Ausstellung sind der sowjetischen Okkupation gewidmet, die deutschen Untaten werden sehr knapp dargestellt und die lettische Mitwirkung reduziert sich auf ein paar irrgeleitete Individuen. Tatsächlich hatte die Lettische Legion fast 100.000 Mitglieder, derer jedes Jahr am "Tag des Soldaten" gedacht wird. Auch im benachbarten Estland erinnert man sich gerne der SS-Legionäre als Freiheitskämpfer, während der vor zwei Jahren von der Regierung eingeführte Holocaust-Gedenktag in einer Meinungsumfrage nur bei 7 % der Bevölkerung auf Zustimmung stieß, von 93 % aber abgelehnt wurde. Es besteht die Gefahr, daß dieser europäische Kontext dazu beiträgt, den Konsens, der hierzulande erreicht worden ist, in Frage zu stellen. Der Leitsatz in den Empfehlungen der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" hatte geheißen: "NS-Verbrechen dürfen nicht durch die Auseinandersetzung mit dem Geschehen der Nachkriegszeit relativiert werden, das Unrecht der Nachkriegszeit darf aber nicht mit dem Hinweis auf die NS-Verbrechen bagatellisiert werden." Der Antrag, den, nach sehr kontroversen Diskussionen über das Sächsische Gedenkstättengesetz, der CDU-Abgeordnete Günter Nooke vor einem Jahr im Bundestag eingebracht hat und der im April 2004 in erster Lesung diskutiert worden ist, fällt, auch in der nach internationalen Protesten revidierten Fassung, deutlich hinter diesen Konsens zurück. Staatsministerin Christina Weiss sprach deshalb in der Bundestagsdebatte zu Recht davon, daß Nooke und seine Mitstreiter einen Paradigmenwechsel in der Geschichtsbetrachtung und konsequenterweise auch in der Geschichtspolitik anstreben. Hier geht es nicht nur um eine Gleichrangigkeit der Opfer des SED-Regimes mit denen des Nationalsozialismus, sondern auch um die deutschen Zivilopfer. Nooke fordert ein integrales Konzept für die Gedenkstättenarbeit, für Sachverhalte, die historisch und in ihren Wirkungen, insbesondere auf deutschem Boden, höchst unter-schiedlich waren, sowie eine "zentrale finanzielle Verantwortung", will sagen, ein Direktions-recht für eine nach 2006 womöglich konservative Bundesregierung. Wie könnte ein "integrales Konzept" aussehen? Nooke läßt uns darüber nicht im Unklaren. An erster Stelle stehen die "Opfer der beiden deutschen Diktaturen". Es folgen die Opfer von Krieg und Vertreibung, die zivilen Opfer der alliierten Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs, schließlich die friedliche Revolution und Wiederherstellung der staatlichen Einheit. Vom Holocaust, diesem monströsesten Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts, das in der Memorialkultur der alten Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten einen zentralen Platz eingenommen hat, ist an keiner Stelle die Rede. Nooke wünscht sich statt dessen ein Zentrum gegen Vertreibungen, ein Mahnmal für die Bombenopfer und ein neues Nationaldenkmal auf der Berliner Schloßfreiheit für die friedlichen Revolutionäre des Jahres 1989. Auch andere haben Wünsche. Klaus Wowereit möchte einen Geschichtspfad quer durch Berlin, der alles mit allem verbindet, Hubertus Knabe, Direktor der Stasiopfer-Gedenkstätte Hohenschönhausen, wünscht sich ein zentrales Kommunismus-Museum, und eine beachtliche Gruppe von Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen hat eine Initiative für ein zentrales Dokumentationszentrum zur Geschichte der Berliner Mauer am Brandenburger Tor ergriffen. Während der wirtschaftliche Aufschwung noch ein fragiles Pflänzchen ist, steht der Gedenkstandort Deutschland in voller Blüte. Es gibt, unter anderem, bereits eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum Berliner Mauer in der Bernauer Straße. An zentraler Stelle steht das Checkpoint-Charlie-Museum. Diese private, äußerst gewinnträchtige Einrichtung wird von Alexandra Hildebrandt, der Witwe des Gründers, betrieben. Die gebürtige Ukrainerin läßt mitteilen, sie habe gar nichts gegen Juden, aber wichtig ist ihr: "Die zweite deutsche Diktatur war nicht harmloser als die erste." Kürzlich ließ Frau Hildebrandt auf zwei angemieteten Nachbargrundstücken 1065 Holzkreuze mit Namenstafeln errichten. Prompt titelte die "Welt": "1065 Holzkreuze, 2700 Betonstelen". Die Holzkreuze stehen für die 1065 Opfer des 40jährigen Grenzregimes der DDR. Das ist schlimm genug. Aber das Stelenfeld des nahen Holocaust-Mahnmals soll an die Ermordung von fast sechs Millionen Juden erinnern. Es ist traurig genug, daß man heute wieder daran erinnern muß, daß das ein Verbrechen von ganz anderer Dimension war. "Wir bauen ein monströses Holocaust-Mahnmal", sagt Frau Hildebrandt. "Wir haben so viele Konzentrationslager, muß das noch sein?" Ihre Holzkreuze, die vom "größten Gästebuch der Welt" überragt werden, sind monströs allenfalls in ihrer Geschmacklosigkeit. Und entlarvend ist die aufgeregte Diskussion, die diese Installation ausgelöst hat. Hinterlassenschaften des DDR-Regimes gibt es naturgemäß nur im kleineren Teil Deutschlands. Dennoch ist die stalinistische Vergangenheit der DDR keine Regionalgeschichte, dies schon deshalb nicht, weil die deutsche Teilung eine unmittelbare Folge von Hitlers Größenwahn war. Dies darf aber nicht zu einer Einebnung der Schuldfrage führen. Die Erinnerung an den Holocaust steht heute vor der doppelten Herausforderung der Historisierung und der Relativierung. Und die Lust der Deutschen, sich nach Jahrzehnten voller Schuldgefühle endlich einmal nicht als Täter, sondern als Opfer zu sehen, ist groß. Sechzig Jahre nach Kriegsende ist der antifaschistische Grundkonsens, den die alte Bundesrepublik nach langen und schwierigen Jahren schließlich gefunden hatte, akut bedroht. Eine Rede wie die, die Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 gehalten hat, wäre heute ein unerwarteter Glücksfall.
Der Autor
geb. 1952 in München; Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie; Promotion in Geschichte; Historiker und Publizist.