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ONLINE-EXTRA Nr. 142

Juni 2011

Vor wenigen Tagen, am 31. Mai 2011, starb im niederländischen Hilversum einer der bedeutendsten jüdischen Psychoanalytiker des 20. Jahrhunderts: Hans Keilson. 1909 als Sohn eines jüdischen Textilhändlers in Bad Freienwalde geboren, floh der inzwischen studierte Mediziner 1936 vor den Nazis in die Niederlande und schloss sich hier, nach dem deutschen Überfall auf die Niederlande 1940, dem niederländischen Widerstand an. Dort im Untergrund kümmerte er sich als als Arzt und Psychoanalytiker intensiv um jüdische Kinder, die von ihren Eltern in niederländischen Familien zum Schutz vor der Deportation untergebracht wurden. Keilsons eigene Eltern wurden im Vernichtungslager Auschwitz ermordet. Nach dem Ende des Kriegs gehörte er zu den ersten, die sich der Behandlung schwer traumatisierter jüdischer Waisenkinder annahm. Seine mitunter niederschmetternden Erfahrungen und Einsichten, die er im Kontext dieser schwierigen Arbeit gewann, schlugen sich nieder u.a. in seiner 1979 veröffentlichten Studíe "Sequentielle Traumatisierung bei Kindern" und dem 1984 erschienen, berühmt gewordenen Essay "Wohin die Sprache nicht reicht".

Erst während der etwa letzten zehn Jahren rückte eine zweite Seite dieser eindrucksvollen Persönlichkeit stärker in das Blickpunkt der Öffentlichkeit, nämlich die literarische Ader von Hans Keilson. Bereits 1933 erschien sein erster, biographischer Roman "Das Leben geht weiter", in den 40er entstanden erste Gedichte und 1959 folgte sein erster Roman "Der Tod des Widersachers". Seitdem hat Keilson zahlreiche Romane, Erzählungen und Essays verfasst, zuletzt noch die kurz vor seinem Tode erschienene Autobiographie "Da steht mein Haus" (siehe die Rezension von Soraja Levin in Compass 01.06.2011).

2005 erschienen seine Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays erstmals gesammelt in zwei Bänden im S. Fischer Verlag. Aus diesem Anlass entstand seinerzeit nachfolgender Essay der Literaturwissenschaftlerin Eva M. Schulz-Jander, die in der Auseinandersetzung mit dem literarischen Werk von Keilson ein eindrucksvolles Porträt des Dichters, Denkers und Menschen Hans Keilson zeichnet: "Auf der Luftschaukel der Sprache". COMPASS veröffentlicht heute diesen Essay in Erinnerung, Würdigung und Verneigung vor einer großen Seele: Hans Keilson, geboren am 12. Dezember 1909 in Bad Freienwalde an der Oder, verstorben am 31. Mai 2011 in Hilversum. 

COMPASS dankt der Autorin für die Genehmigung zur Wiedergabe des Textes an dieser Stelle!


© 2011 Copyright bei der Autorin 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA




Online-Extra Nr. 142


Auf der Luftschaukel der Sprache

Hans Keilson in seinem literarischen Werk


EVA M. SCHULZ-JANDER

I

„Gehören die geistigen Begegnungen mit Zeitgenossen nicht zu den merkwürdigsten Erlebnissen, die man im Umgang mit Menschen haben kann! Diese Weise der Bekanntschaft, erstanden auf einem Gemeinsamen, das zum Erlebnis ward, erregt die Vorstellung, bewegt die Empfindung und trägt den Reiz einer sich dereinst vielleicht erfüllenden Verheißung in sich.Zugleich weitet sie das Persönliche ins Allgemeine, Umgreifende.“

So schreibt Hans Keilson in seinem  Essay über Klaus Mann, und so bin ich geneigt diese Buchbesprechung zu beginnen.  Die Begegnung, die zum Erlebnis wurde, fand im Sommer 1996 in Kassel statt, als Hans Keilson Franz-Rosenzweig-Gastprofessor der Universität war.  Der Hörsaal des Seminars „Vorurteil und Hass“ ist völlig überfüllt.  Die Studenten sitzen auf der Erde, auf den Fensterbänken.  Ein schmächtiger, älterer Herr sitzt vorn auf einem Tisch und baumelt mit den Beinen.  „So, Sie haben noch nie einen Juden gesehen.

Hier sitzt einer vor Ihnen, schauen Sie gut hin. Er stinkt nicht.“  Da wird es ganz still im Saal.  Keiner wagt so recht hinzuschauen.  Der kleine Jude da vorn, baumelt mit den Beinen und wartet.  Dann spricht er, als wäre nichts gewesen, von der Entstehung von Vorurteilen und ihrer Weitergabe in Bildern und Phantasien.  Hans Keilson hat seine mit bis zu 150 Studenten besetzten Seminare in Kassel wie eine psychoanalytische Sitzung mit einem Patienten geführt.  Jeder und Jede fühlten sich angesprochen.  Auf der Luftschaukel der Sprache sitzend hatte er die Sprache der Wissenschaft verlassen, ihre ausgrenzenden Mauern durchbrochen und dringt mit dieser Frage, die ihn zugleich in das Geschehen mit einbezieht, in die Erfahrung jedes Einzelnen ein.

Danach haben wir uns oft gesehen, haben miteinander gegessen, Kaffee getrunken, sind ins Theater gegangen und haben geredet – über gemeinsame Erfahrungen des Exils, über Sprachwurzellosigkeit, über Literatur und Musik; er ermunterte mich, eine Grenzgängerin  zu bleiben, beflügelte meine Vorstellung und setzte mein Denken in Bewegung.  Unsere Begegnungen  waren begleitet von „dem Reiz einer sich vielleicht erfüllenden Verheißung“. Meine Gedanken zu der zweibändigen Ausgabe seiner gesammelten Werke, mögen hierzu ein Anfang sein. 


II

Im Jahre 2005 erschien im S. Fischer Verlag die zweibändige Werkausgabe des schriftstellerischen Werkes von Hans Keilson, versehen mit einem erhellendem Nachwort der beiden Editoren, Heinrich Detering und Gerhard Kurz.  Die fast tausend Seiten enthalten Romane, Gedichte und Essays; jeder Text trägt ein Datum. Der früheste Text, „Hermann Hesse, Demian“ stammt aus dem Jahr 1928, geschrieben von dem 19-jährigen Schüler in Berlin, aus Anlass eines Schülerpreisausschreibens des Börsenvereins, der späteste, genau genommen sind es zwei, „Sieben Sterne…“ und „Playdoyer für eine Luftschaukel“ trägt die Jahreszahlen 1999/2003, geschrieben von dem Schriftsteller, Arzt und Psychotherapeuten in den Niederlanden aus Anlass seiner Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung.

So unterschiedlich wie die Textsorten sind die Berufe, die Hans Keilson ausgeübt hat: Turn-, Sport- und Schwimmlehrer, Musiker, als Trompeter und Geiger spielte er in den 30-er Jahren in verschiedenen Kapellen, schließlich Arzt und Psychotherapeut.  Allen lag ein Hindernis auf dem Weg.  Sport und Turnlehrer musste er sein, weil er in Berlin als Jude Anfang der 30er Jahre nicht mehr Arzt sein durfte; als Musiker spielte er unter falschen Namen, als es Juden längst verboten war, öffentlich aufzutreten; 1936 in die Niederlande emigriert, arbeitete er mit gefälschten Papieren im Untergrund als Sportlehrer und Arzt, nach dem Krieg wurde ihm das deutsche Examen nicht anerkannt, er musste das Examen nachholen; der Schriftsteller war verhindert fast ehe er begonnen hatte.  Der erste Roman: „Das Leben geht weiter“, 1933 im S. Fischer Verlag publiziert, wurde bald nach Erscheinen von der nationalsozialistischen Zensur verboten und eingestampft; das zweite Manuskript, begonnen in den Niederlanden, „Der Tod des Widersachers“ vergrub er im Garten als die deutschen Truppen die Niederlande besetzten und holte es erst Jahre später wieder hervor.

Hans Keilsons Leben und seine Erfahrungen, geboren ist er 1909, umfassen das ganze 20.Jahrhundert mit seinen Brüchen und Katastrophen. Die Texte, den unterschiedlichen Gattungen zugehörend, reflektieren es.  Alle, ob Lyrik, erzählende oder essayistische Prosa kreisen um die gleiche Frage „Was Menschen einander antun.“


Meine augen
Die welt

Zwei brüder1 


Und dennoch lese ich hinter dieser eher abstrakten Frage noch etwas anderes.  Eine tiefe Verletzung, die Wunde in seinem Fleisch, der Antisemitismus, ist gleichzeitig die des 20. Jahrhunderts, an ihm spürt Keilson der Frage nach dem „was Menschen einander antun können“ nach. Und noch ein Zweites lese ich hinter den Texten, das Bestreben, die eigenen Eltern dem Vergessen, dem schändlichen Tod zu entreißen. „Die Literatur ist das Gedächtnis der Menschheit. Wer schreibt erinnert sich, und wer liest hat an Erfahrungen teil. …Von Büchern gibt es schließlich Archivexemplare. Von Menschen nicht.“2


III

Zwei Erzählungen und zwei Romane enthält der erste Band.  Alle bis auf „Komödie in Moll“ sind Ich-Erzählungen. Diese mit Bedacht gewählte Romanform enthält zwei Möglichkeiten, die Keilsons Bestreben „dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben“3 entgegen kommen.  Erstens: diese Form bekräftigt die Authentizität des Erzählten; und zweitens erlaubt sie dem Ich-Erzähler die unauflösliche Vermengung von dinglicher Außenwelt und subjektiver Innenwelt überzeugend darzustellen, d.h. die Wirkung der erzählten Begebenheiten auf den Ich-Erzähler zum Thema des Romans zu machen.4  Alle Erzählungen, bis wieder auf „Komödie in Moll“, die im erzählerischen Werk Keilsons eine Ausnahmeform bleibt, und vielleicht seine literarischste ist, sind  durchbrochen von analytischen, reflektierenden und kommentierenden Passagen.

Lineares Erzählen, d.h. die Fiktion der vollständigen Repräsentation, hat nach Auschwitz seine Unschuld verloren und kann nur noch in ihrer Negation statt finden.  Maurice Blanchot spricht von einer „desaströsen Schreibweise“, Keilson drückt es in seiner Dankesrede in Darmstadt anders aus: “Das Wirkliche ist nicht  mehr so einfach zu erzählen, denn es ist das Problematische.  Das mehrschichtige Verhalten und Agieren des Menschen scheint mir in einem eindimensionalen, handlungsorientierten Erzählen nicht mehr gestaltbar zu sein ohne eine grundlegende essayistische Reflexion in corpore, die das Wirkliche erst erzählbar macht.“5  Keilsons Erzählen gestaltet sich aus einer Abwesenheit heraus, einer Leere, die der westlichen Zivilisation seit der Shoah innewohnt.  „Zu diesem Wirklichen meines Lebens gehört jedenfalls die Shoah und das spezifische Verhältnis von Verfolgern und Verfolgten, das zum Holocaust geführt hat.“6 



HANS KEILSON
Werke


    



Hans Keilsons Werke sind Porträts, Psychogramme und Bilder aus der Zeit der späten Weimarer Republik, des zerstörerischen Nationalsozialismus und des Exils. Wie kaum ein anderer Autor hat Hans Keilson auch in seinen aktuellsten Texten die seelischen, politischen und kulturellen Folgen der NS-Zeit analysiert und sprachlich vergegenwärtigt; ein literarisches Engagement, das bis heute anhält. In großem Kontrast zu den lauten Wirren des Jahrhunderts stehen die geradezu leisen, manchmal komischen, immer aber zutiefst menschlichen Darstellungen seiner Figuren und ihrer existentiellen und geschichtlichen Erfahrung. Ein großer Dichter in seiner Prosa, ein hellsichtiger Analytiker in seiner Dichtung.


Hans Keilson
Werke in zwei Bänden
Romane und Erzählungen
Gedichte und Essays
Hg. von Heinrich Detering und Gerhard Kurz
ca. 1008 Seiten, gebunden im Schuber
ISBN 3-10-049516-0
Euro 64,90 (D); sFr 110,00

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Obwohl der erste Roman „Das Leben geht weiter“ vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten geschrieben wurde, trägt er schon ihre Spuren in sich.  1933 erschienen, 1934 verboten war es das letzte Buch eines Juden im alten S. Fischer Verlag.  Der Erzählanlass war eine Zurückweisung, eine Verletzung, war es die erste? Ein Analytiker am Berliner Psychoanalytischen Institut, dem der junge Medizinstudent sein „Leiden“ erzählte, wies ihn ab.  „Wütend ging ich nach Hause und schrieb die ersten Sätze.  So begann ich … meine Geschichte und die meiner Eltern in der kleinen Kreisstadt der Mark Brandenburg und später in Berlin zu erzählen, die Geschichte vom wirtschaftlichen Niedergang eines kleinen Selbstständigen, eingelassen in die politischen, sozialen und ökonomischen Wirren der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, der Weimarer Republik, der Inflation  und des aufkommenden Nationalismus.“7 Der Roman scheint noch zwischen der Ich- und Er-Erzählform zu schwanken.  Albrecht, der Sohn des kleinen Selbstständigen muss ohnmächtig zusehen, wie der Vater in den seelischen und finanziellen Ruin getrieben wird.  Er sieht die Zerstörung seiner Persönlichkeit durch ein anonymes System, dem Nachbarn, Geschäftspartner, ja auch Freunde folgen.  „Er hatte seinen Vater weinen gesehen.  Für Albrecht bedeutete dies mehr als ein paar Tränen,…“8 Das ambivalente Verhältnis zwischen erzählendem und erlebenden Ich verdeutlicht der Roman, indem die Erzählerstimme  namentlich von Albrecht, jedoch ohne Namen, von Vater, und Mutter spricht, (wessen Vater und Mutter? Albrechts, der das ausgegliederte Ich der Erzählerstimme ist?) Albrecht muss ebenso ohnmächtig  zusehen, wie sein bester Freund Fritz in den Selbstmord getrieben wird.  Der Vater unterliegt im Kampf, der Sohn beschließt am Ende des Romans politisch aktiv zu werden.  Das letzte Bild zeigt Vater und Sohn vereint am Fenster stehend, die Demonstranten auf der Straße grüßend.  Bereits dieser Roman enthält die großen Themen, die im „Tod des Widersachers“ zu voller Entfaltung kommen:  Ausgrenzung und Verfolgung, Täter und Opfer, das sind die Themen, die wir stets mit Keilsons Werk verbinden, aber müssen wir nicht auch die Vater-Sohn Beziehung und den Verlust eines Freundes hinzufügen?  Beides spielt eine entscheidende Rolle im folgenden großen Roman.

Viel ist schon über „Den Tod des Widersachers“ geschrieben worden“.  Seine abenteuerliche Entstehungsgeschichte ist inzwischen hinreichend bekannt, in den USA war es ein best-seller und Time Magazin setzte es 1962 auf die Liste der „ten best readings of the year“.  Seine Keimzelle ist das Gedicht „Bildnis eines Feindes“ aus dem Jahr 1937. 


In deinem Angesicht bin ich die Falte
Eingekerbt um deinen Mund,
Wenn er spricht: du Judenhund.
Und du spuckst durch deiner Vorderzähne schwarze Spalte.
In deiner Stimme, wenn sie brüllt, bin ich das Zittern.9


Der Roman zeigt in reflektierenden und narrativen Passagen das Aufeinanderangewiesensein von Verfolger und Verfolgtem. Weder das Wort Jude noch der Name Hitler tauchen in dem Text auf.  Er ist eine der ungewöhnlichsten Analysen des Antisemitismus. „Wenn nach Auschwitz keine Erzählung mehr möglich ist, besteht doch die Pflicht zu sprechen.  Aber wie? Wie kann man vom ‚Unvorstellbarem’ sprechen?“ schrieb 1988 Sarah Kofman.10 Der Unmöglichkeit vom Unvorstellbaren zu sprechen begegnet Keilson durch eine kunstvolle Rahmenhandlung. Das Manuskript, in der Ich-Form geschrieben, wird einem Rahmen-Ich von einem holländischen Advokaten, der es in einem Garten vergraben hatte, ausgehändigt mit der Aufforderung, es zu lesen.  Es folgt das Buch, in dem eine zweite Ich-Erzählerstimme den Verstrickungen von Hassendem und Gehasstem in all ihren Verästelungen nachspürt und „vielleicht durch den Geist zu heilen“ versucht.  Am Ende bringt das Ich der Rahmenhandlung das Manuskript zurück.  Der Advokat versichert ihm, die Aufzeichnungen seien echt, der Verfasser ermordet.  Durch diesen Griff zur  gern benutzten Erzählweise der Fiktionsbrechung des 18. Jahrhunderts scheint Keilson eine Antwort auf Sarah Kofmans Frage gefunden zu haben, noch lange bevor sie diese stellte.

Der Roman ist ein kunstvolles Spiel zwischen Autobiographischem und Fiktionalem, zwischen Dokument und Phantasie, zwischen Fälschung (das Erzähler-Ich so berichtet der Advokat dem Leser-Ich war einer der erfolgreichsten Pass-Fälscher)  und Echtheit.  Vielfach gebrochen durch ein Leser-Ich und ein Erzähler-Ich, durch reflektierende Passagen, die sich dem Erzählfluss widersetzen, ringt der Roman mit der Unmöglichkeit mimetischen Erzählens, lotet die Grenzen des Erzählens aus.

Zwei Szenen des Romans sollen hier noch erwähnt werden, zum einem die Rucksackszene11 und zum zweiten die Verwüstung eines jüdischen Friedhofs.12 Die Rucksackszene weil sie eine der intimen Vater - Sohn Szenen ist, und zum anderen weil sie auf das Verschwundene, auf die unauslöschliche Leere hinweist.  Das Nicht-Erzählte gilt es hier zu lesen.  In der Szene packt der Vater für sich und die Mutter einen Rucksack.  Beide Eltern sind alt und kränklich.  Voller Stolz erzählt der Vater dem Sohn, was er alles in den Rucksack gepackt hat.  „Und ich begriff, dass der Stolz, mit dem er erzählt hatte, was er alles in dem Rucksack verstaut hatte, nur dazu diente, die Angst zu verbergen und niederzuhalten vor dem, was kam“.  Und etwas weiter im Text: „Es war nicht gut.  Ich hätte sie nicht gehen lassen sollen, aber ich konnte nicht verhindern, dass sie gingen, dass sie sich vorbereiteten.“  Die Geschichte der Eltern, beide Eltern Keilson wurden in Auschwitz-Birkenau ermordet, ist nicht erzählbar, sie entzieht sich der Sprache. Sie ist aufbewahrt in dem Bild des Rucksacks, „eine alte Erdkugel, der man immer wieder neues Leben eingeblasen hatte für eine Wanderung.“  So wie Georges Perec einen ganzen Roman ohne den Buchstaben „e“ schrieb, im Französischen ein Homonym zu „eux“ – „sie“, um die Lücke, die der Tod seiner Eltern gerissen hat, sprachlich deutlich zu machen, so erzählt Keilson hier von dem letzten Gang der Eltern, ohne von ihm zu erzählen.  Die Lücke ist das Sichtbarste im Stoff der Erinnerung.

Die Erzählung von der Schändung eines jüdischen Friedhofes durch eine Jugendbande wird uns in einem mehrfach zersplitterten Spiegel erzählt; Mitglieder dieser Jugendbande erzählen der Erzählstimme, wie sie versucht haben „die Toten umzubringen“.  Durch die vielen Erzählstimmen, die sich plötzlich in die Erzählung einschalten, einander auch widersprechen, reicht dieses eine Geschehen ins Allgemeine hinein, auf der narrativen Ebene erfährt es einen gewissen „blow-up“ Effekt, auf der strukturellen lässt die Vielstimmigkeit die Frage von Fiktion und Realität noch einmal aufkeimen.  „Der Tod des Widersachers“ ist unter anderem auch ein Text, der bis an die Grenze des Sagbaren geht.

„Wohin die Sprache nicht reicht“ heißt eine Essaysammlung von Hans Keilson.  Hier werden die gleichen Themen wie im Roman essayistisch beleuchtet.  In dem Essay, das der Sammlung den Titel gegeben hat, beschreibt er die Grenzen der Sprache, vor dem Unsagbaren versagt die Sprache und mündet im Schweigen.  Lange bevor er als Therapeut diese Erfahrung mit einem aus Bergen-Belsen zurückgekehrten 12-jährigen Jungen machte, erahnte er die Existenz dieser Grenze in der Literatur, im „Tod des Widersachers“.  Wie so oft ist die Literatur der Theorie ein Stück voraus.


EVA M. SCHULZ-JANDER

Von Kassel nach Haifa

Die Geschichte des glücklichen Juden Hans Mosbacher




euregioverlag
Kassel 2008
160 S.; mit 45 schw.-w. Abb., kartoniert
14,90 Euro


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Diese Geschichte über das Leben Hans Mosbachers, der als Jude 1937 aus Kassel vertrieben wurde und mit seiner Familie nach Palästina ging, erlaubt einen Einblick in das zerstörte deutsche Judentum, exemplarisch dargestellt an der Lebensgeschichte eines typischen Vertreters des selbstbewussten jüdischen Bürgertums vor 1933 in Deutschland, eines Mannes, der sich durch vielseitige Interessensgebiete und Tätigkeitsfelder, vor allem aber durch Humor und Lebenswitz auszeichnete.

Dieses Buch unterscheidet sich von den vielen Vertreibungsgeschichten, denn es erzählt keine Opfergeschichte, sondern die eines Lebenskünstlers. Eva Schulz-Jander lässt uns durch ihre Erzählung am Leben Hans Mosbachers teilhaben. Wir lernen einen Menschen kennen, der sich die Fähigkeit zum Glücklichsein bewahrt hat. Doch blicken wir gleichzeitig auf die aussterbende Welt des früheren deutschen Judentums. Denn so sehr diese bemerkenswerte Chronik diesem lebensfrohen Menschen ein sprachliches Denkmal setzt und dem gängigen Erinnerungsdiskurs widerspricht, so macht sie uns gleichzeitig schmerzlich bewusst, wie viel wir verloren haben.

Aus dem Vorwort von Bertram Hilgen,
Oberbürgermeister der Stadt Kassel. 



Der dritte erzählende Text des ersten Bandes, „Komödie in Moll“ 1947 in Amsterdam erschienen, ist, wie der Titel es ankündigt, eine tragikomische  Geschichte.  Ist sie der Versuch vor dem Unvorstellbarem nicht ganz zu verstummen und eine Würdigung, nicht Idealisierung, derer, die ihm und anderen während der deutschen Besatzung Unterschlupf gewährten in den Niederlanden?  Unsentimental, mit  subtilem Humor erzählt Keilson die Geschichte vom Wim und Marie, einem jungen Ehepaar, das einem Juden, Nico,  während der Besatzungszeit bei sich aufnimmt, dieser jedoch stirbt an der Grippe. Allein schon dieser Grippetod eines Juden inmitten der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie ist ein Skandalon.  Nun stellt sich auch noch die burleske Frage, was mit dem Leichnam zu tun sei.  Wie kann jemand bestattet werden, der gar nicht leben durfte?  Am Ende geht alles glimpflich aus, Wim und Marie werden nicht denunziert, die Polizei schützt sie.

Ohne falsche Harmonisierung oder Glorifizierung, zollt die Erzählung den Helfern der Gejagten und Verfolgten Tribut. Auch in dieser Geschichte wird nicht das erzählt, was erzählt wird. Die Shoah ist nur in ihrer Wirkung auf die Menschen der Erzählung erzählbar, als ob eine Glaswand sich zwischen die Wirklichkeit und ihre Erzählbarkeit geschoben hätte.  Es wird viel von den Schwierigkeiten des Alltags, des Alltags der Retter und des Verfolgten berichtet. Wie versorgt man einen Kranken, den es gar nicht geben darf? Was sagen wir der Putzfrau oder dem Briefträger? Nico, allein in seinem Versteck, wird verfolgt von Bildern, Bilder überfüllter Züge, er hört Menschen schreien, sieht ihre Gesichter, er schmeckt das Gas, diese Bilder verfolgen ihn und lassen ihn für Momente seine Retter in ihrer gemütlichen Behaglichkeit hassen.   Am Ende kehren Wim und Marie zurück in ihr Haus, verrichten die gleichen Handgriffe, sagen die gleichen Sätze wie immer, aber alles ist anders:  „Ihnen beiden schien es, als wenn die Tür anders geschlossen war als je zuvor.“  Ihre Begegnung mit Nico hat sie verändert, nichts ist mehr wie zuvor, auch für die Welt ist nichts mehr wie es war, nach dem Grauen von Auschwitz hat sich die Welt verändert, auch für uns schließen sich die Türen anders als davor.

Die letzte kurze Erzählung „Dissonanzen Quartett“ von 1968 klingt wie ein Abschied von der erzählenden Prosa, fortan schreibt Keilson Gedichte, Essays, wissenschaftliche Prosa.  Die letzte kleine, aber dichte Vater-Sohn Geschichte reflektiert noch einmal auf der Metaebene die menschenzerstörende Zeit der Judenverfolgung und ihre Auswirkungen auf das Leben eines Einzelnen. Auch sie schwankt zwischen Autobiographie und Fiktion.  Ein Vater verlässt seine jüdische Frau und die gemeinsamen  Kinder und liefert sie somit dem Tod aus.  Der Sohn überlebt in Kansas, ändert seinen Namen und Beruf, kann aber seiner Herkunft nicht entkommen.  Die Trauer begleitet ihn und begegnet ihm überall „Beim Schließen der Lifttüren, wenn die Ampeln auf Rot springen, beim Anblick der See.“   Der Sohn erkennt ebenfalls, dass sein Schicksal und das seiner Familie eingebettet sind in das einer ganzen Epoche; er kann den Vater nicht hassen, er verurteilt ihn nicht.  Dieser Versuch, sich Klarheit über Unerklärbares zu verschaffen, den prekären Pfad des Nicht-Akzeptierens ohne zu Verurteilen zu beschreiten, können wir wohl als Übergang von der erzählenden zur essayistischen Prosa deuten.


IV

Seit den achtziger Jahren konzentriert Keilson sich vor allem auf das essayistische Schreiben, dem der autobiographische Erzählstrang aber selten fehlt.  Die Klammer, die die Texte über zwanzig Jahre hinweg zusammenhält, die eher wissenschaftlichen wie „Jüdische Kriegswaisen und ihre Kinder“, wie die mehr persönlichen wie –„In der Fremde zuhause“, -- ist das Bestreben, die Sprache vor dem Verstummen zu bewahren, der Versuch eine Sprache zu finden, wohlwissend, dass es einen Ort gibt, den die Sprache nicht erreichen kann, und letztlich ist es der Versuch zu heilen, in dem Wissen, dass es Wunden gibt, die nie geheilt werden können. „Vergiß nie dass Du Arzt bist“, waren die letzten Worte Wortes des Vaters an seinen Sohn.  Hans Keilson hat es nie vergessen.

Sein Ton hat sich wenig verändert, dieser präzise, moderate samtene Klang seiner Sprache, so mag der Jazz Trompeter Keilson  geklungen haben. Wer seine Stimme gehört hat, wird es nie vergessen.  Auf einer Tagung in Hofgeismar, zu der ich ihn eingeladen hatte, hörte ich ihn zum ersten Mal das Gedicht „Dawidy“ sprechen.  Es war mehr als ein Sprechen, ich spürte das prekäre Sprachwagnis der Worte, das Ringen um jedes einzelne Wort, die sich am Rande des Schweigens zu bewegen schienen.  Hans Keilson baute aus den ausgelöschten Spuren ein Luftgebäude aus Worten. 


mein Vater
hieß Max, trug später den verordneten Namen Israel,
mit Würde.
Hat nicht viel erzählt, hab ihn zu wenig befragt.
Keine Spuren mehr im Rauchfang der Lüfte –
Sprachloser Himmel …


Es war ein Bewahren jenseits der Zerstörung, jenseits der Kontingenz der Zeit.  Worüber man nicht sprechen kann, darüber sollte man immer wieder versuchen zu sprechen.  Hans Keilsons Gesammelte Werke sind ein Zeugnis hierfür.  Als Zeugnis unserer Zeit, mögen sie, so ist zu hoffen, viele Leser finden.


ANMERKUNGEN



1 Totale Optik, 1967 /1970, Hans Keilson, „Gedichte und Essays, Frankfurt, 2005, Bd. 2, S. 35

2 „Nachwort zur Neuausgabe von ‚Das Leben geht weiter’“, 1984,Bd. 1, S. 586

3 Dankesrede von Hans Keilson, gehalten in Darmstadt am 05. November 2005 aus Anlass der Verleihung des Johann-Heinrich-MerckPreises.

4 Siehe: Frank K. Stanzel, „Typische Formen des Romans“, Göttingen 1972, S. 25-39

5 Dankesrede in Darmstadt

6 Dankesrede in Darmstadt

7 Keilson, Bd. 1, S. 583

8 Ibid S. 47

9 Ibid., Bd 2, S. 20

10 Sara Kofman, Erstickte Worte, Wien, 1988, S. 53

11 Keilson, Bd. 2, „Tod des Widersachers“, Kapitel 12, S. 518-528

12 Ibid. Kapitel 10, S. 471-517


Die Autorin

EVA M. SCHULZ-JANDER



Dr. phil., wurde in Breslau geboren und immigrierte mit ihren Eltern in die USA. In Houston, Montpellier und Berkeley studierte sie Romanistik, Germanistik und Philosophie und promovierte 1965 über Paul Valéry. Seit 1967 lebt sie in Deutschland.

Sie ist Geschäftsführerin der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Kassel und Mitglied im Präsidium des Deutschen Koordinierungsrats (DKR) sowie Dozentin an der Volkshochschule Region Kassel.




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Eva Schulz-Jander steht gerne
für Vorträge oder Lesungen zur Verfügung.
Anfragen richten Sie bitte an:
redaktion@compass-infodienst.de
Betreff: Schulz-Jander Einladung


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