ONLINE-EXTRA Nr. 319
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364 jüdische Autoren und Autorinnen (285 Männern und 79 Frauen) aus über 20 Ländern mit den Geburtsjahren 1833 bis 1963. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie in Autobiographien Zeugnis über ihr Leben ablegten. Versammelt und vorgestellt sind sie und ihre Lebenszeugnisse nun in einem Buch, das sich als Schatzkammer erweist: hat man sie einmal betreten, kommt man aus dem Staunen und Entdecken kaum heraus.
Und dies hängt elementar damit zusammen, dass die Autorin, die Wiener Historikerin und Publizistin Evelyn Adunka, sich nicht nur auf die allseits bekannten und berühmten Namen jener Geburtsjahrgänge beschränkt (die man natürlich auch findet), sondern nahezu überwiegend jüdische Autoren und Autorinnen aufgenommen hat, die wohl nur noch kleinen Kreisen und Experten bekannt sind. Entstanden ist auf diese Weise ein Kompendium, eine Art lexikalisches Handbuch, das man immer wieder gerne zur Hand nimmt, darin stöbert und sich zu allerlei Entdeckungen anregen lässt.
Das im Wiener Verlag der Theodor Krämer Gesellschaft erschienene Buch mit dem Titel "Meine jüdischen Autobiographien" spricht im Untertitel sehr zutreffend von einer "Leseverführung". Und darüber hinaus ist dieses Buch freilich vor allem - wie die Autorin selbst es formuliert - "ein Denkmal für eine vielfach vergangene Kultur des intensiven Lesens und Schreibens". Wie gut, dass Eveyln Adunka uns diese "vergangene Kultur" wieder zugänglich gemacht hat!
Im heutigen Online-Extra finden Sie nach einem Auszug aus dem Vorwort der Autorin dann vor allem eine Leseprobe mit drei exemplarischen Einträgen aus dem Buch: neben der sicher bekannten, 1891 in Breslau geborenen Edith Stein, die weniger bekannten Israel Cohen (1879 in Manchester geboren) und Joseph Dünner (1809 in Fürth geboren). COMPASS dankt der Autorin und dem Verlag für die Genehmigung zur Wiedergabe der Auszüge an dieser Stelle!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 319
Aus dem Vorwort
Dieses Buch beschreibt in chronologischer Abfolge Autobiographien von 364 jüdischen Autoren und Autorinnen (285 Männern und 79 Frauen) aus über 20 Ländern von den Geburtsjahren 1833 bis 1963. Die Auswahl ist subjektiv und erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Sie beruht auf jahrelangen Lektüren und einer langen Sammlungstätigkeit.
Eine rasche Übersicht der besprochenen Bücher bietet eine alphabetische Liste der VerfasserInnen am Ende des Buches.
Aufgenommen wurden Autobiographien von Personen jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens der letzten beiden Jahrhunderte, die ihr Leben zusammenhängend und ausführlich beschreiben. Wichtig für die Auswahl war, dass nicht nur die berufliche Karriere, sondern auch das persönliche und private Leben beschrieben werden, und dass eine Auseinandersetzung mit der jüdischen Herkunft oder mit einem positiv gelebten religiösen oder kulturellen Judentum stattfindet.
Historisch lassen sich die vorgestellten Autobiographien in drei Gruppen einteilen. Bei den Geburtsjahrgängen im 19. Jahrhundert steht der Bruch mit den früheren Loyalitäten und religiösen Traditionen verbunden mit dem Generationenkonflikt und einem weitgehend noch ungebrochenen Fortschrittsglauben im Vordergrund. Bei den folgenden Generationen am Beginn des 20. Jahrhunderts steht nach dem Scheitern der Assimilation die Suche nach neuen Identitäten im Zionismus oder Sozialismus im Mittelpunk; mit dem Ersten Weltkrieg beginnt ein erstes Krisenbewusstsein. Die Autoren der dritten Gruppe sind von den beiden größten historischen Ereignissen der jüngeren jüdischen Geschichte, der Shoah und der Gründung des Staates Israel, geprägt und beschreiben damit ihre je eigenen Überlebensgeschichten und Positionierungen.
Die vorgestellten Bücher geben damit nicht nur Einblicke in individuelle Lebensgeschichten, sondern entfalten auch ein vielgestaltiges, faszinierendes Panorama des jüdischen Lebens der Diaspora und Israels.
Die autobiographischen Zeugnisse über die Verfolgungen in der Shoah sind ein wichtiger Teilbestand jüdischer Autobiographien des vorigen Jahrhunderts. Sie sind in ihrer Menge unüberschaubar und eine eigene Literaturgattung. Bis auf wenige Ausnahmen wurden sie nicht berücksichtigt. Auf ein besonders lesenswertes, nicht zufällig auch weit verbreitetes Beispiel dieser Zeugnisse sei an dieser Stelle aber verwiesen: Alicia Appleman: Alicia. Überleben, um Zeugnis zu geben (1989, deutsch leider gekürzt). Es ist nicht nur ein genauer Bericht über die Grausamkeiten der Shoah in Polen, sondern beschreibt auch überaus eindrucksvoll viele Akte jüdischer Sensibilität, Humanität und mutigen Handelns.
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Zurückgreifend auf eine viele Jahre lange Lektüreerfahrung und Sammlungstätigkeit beschreibt die Autorin die Autobiographien nicht ausschließlich werkimmanent; sie hat auch begleitende Materialien (Rezensionen, Nachrufe, Lexikaeinträge, Biographien, Briefausgaben etc.), soweit vorhanden, eingesehen und eingearbeitet.
Das Buch zeigt damit die Vielfalt jüdischer Identität und jüdischer Schicksale und zahlreiche Beispiele gelungener Lebensbeschreibungen der unterschiedlichsten Orte und Milieus.
1879 Manchester; Israel Cohen 1891 Breslau: Edith Stein 1908 Fürth: Joseph Dünner
"Next door to the Synagogue is a Public Library, of which I became a frequent visitor as soon as I thought I looked old enough [...] I was an omnivorous reader of papers and periodicals of all kinds, which were then more numerous than they are today. [...] The proximity of the Library to the Synagogue had a certain advantage, for on the Day of Atonement and on other holy days dozens of worshippers would escape from the tedium of the reiterated confession of uncommitted transgression to study the latest developments in the world's affairs." (S.14)
Israel Cohen (1879 - 1961) wurde in Manchester als Sohn eines aus Polen gebürtigen Schneiders geboren. Sein Vater war eines der ersten Mitglieder der 1889 gebauten New Synagogue in der Cheetham Hill Road.
Er studierte am Jews' College (dem orthodoxen Rabbinerseminar) und an der Universität in London. Als Student erlebte er Solomon Schechter, den er als "alive, learned, and witty, a striking personality with a leonine head and shaggy beard" beschrieb.
Cohen schrieb für die Jewish World und den Manchester Guardian. Für beide berichtete er vom VII. Zionistenkongress 1905 in Basel. Von 1909 bis 1911 arbeitete er als englischer Sekretär der zionistischen Büros in Köln und Berlin. Gleichzeitig berichtete er für den Manchester Guardian und The Times.
Anlässlich des XI. Zionistenkongresses 1913 besuchte er zum ersten Mal Wien. Er schrieb über die Stadt: "I found it possessed of beauty and dignity, of charm and gaiety."
Von 1914 bis 1916 war er als feindlicher Ausländer im Lager Ruhleben interniert, worüber er in einem Buch berichtete. Nach dem Ersten Weltkrieg fuhr er im Auftrag der Zionistischen Weltorganisation nach Polen und Ungarn, um über die Lage der Juden zu berichten.
Von 1917 bis 1939 arbeitete er für die Zionistische Weltorganisation in London, als "director of publicity" und ab 1922 als Generalsekretär.
Cohen war ein überaus produktiver und vielseitiger Schriftsteller. Sein Buch Jewish Life in Modern Times (1914 und "entireley revised and largely rewritten" 1929) ist ein fakten- und datenreiches Handbuch der politischen, sozialen, ökonomischen, religiösen und kulturellen Aspekte des jüdischen Lebens. Für The Journal of a Jewish Traveller (1925) reiste Cohen nach Ägypten, Palästina, Australien, Neuseeland, die Philippinen, China, Japan und Indien. Travels in Jewry (1952) beschreibt die jüdische Diaspora in elf Ländern in Mittel- ,Ost- und Westeuropa und in der Türkei. Das belletristische Buch A Ghetto Gallery (1931), illustriert von Jacob Kramer, sammelte Erzählungen und im ersten Teil Charaktere wie den Melamed, den Kantor, den Schammes, den Autor, den Schnorrer, den Wanderer, den Botschafter und den Heiratsvermittler.
1943 publizierte Cohen das Buch History of the Jews in Vilna, in der "Jewish Communities Series" der Jewish Publication Society of America. In dieser Serie erschien 1936 auch der Band Vienna von Rabbiner Max Grunwald. 1992 wurde Cohens Buch über Vilnamit einer Einleitung von Esther Hautzig neu aufgelegt. 1959 erschien seine Biographie über Theodor Herzl.
Cohens Autobiographie ist ein genauer Bericht über sein vielseitiges zionistisches Engagement. Er beschreibt auch seine Eindrücke aus Wien im Sommer 1925, das er als Delegierter des XlV.Zionistenkongresses wiedersah, und dramatische Begegnungen mit Siegfried Schmitz und Adolf Böhm im Frühjahr l938 nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten.
Sein Sohn Jonathan Cohen (1923 - 2006) war Philosoph und von 1957 bis 1990 Fellow am Queen's College in Oxford. Er hatte drei Söhne und zehn Enkelkinder.
Qu.: A Jewish Pilgrimage. The Autobiography of Israel Cohen. London: Vallentine, Mitchell 1956. 416 S.
"Was ich auf diesen Blättern niederschreiben will, soll keine Apologie des Judentums sein. Die 'Idee' des Judentums zu entwickeln und gegen Verfälschungen zu verteidigen, den Gehalt der jüdischen Religion darzulegen, die Geschichte des jüdischen Volkes zu schreiben - zu all dem sind Berufenere da. [...] Ich möchte nur schlicht berichten, was ich als jüdisches Menschentum erfahren habe [...]." (S.3)
Die Philosophin Edith Stein (1891 - 1942) beschloss 1933, am Beginn der nationalsozialistischen Verfolgung, die Erinnerungen an ihre Familie und besonders ihre Mutter niederzuschreiben. Dies erklärt das obige Zitat aus dem Vorwort.
Sie konnte ihre Erinnerungen nicht mehr vollenden. 1942 wurde sie in Echt in den Niederlanden verhaftet und eine Woche später in Auschwitz ermordet.
Edith Stein stammte aus einer kinderreichen Familie in Schlesien. Ihr Urgroßvater Joseph Burchard war Kantor und Vorbeter. Ihr mütterlicher Großvater Salomon Courant starb, als Edith fünf Jahre alt war, aber sie erinnerte sich noch an ihn: "Er war ein kleiner, lebhafter Mann. [...] Er war immer voller lustiger Einfälle und unerschöpflich im Erzählen von Witzen."
Ihre Mutter Auguste Courant war das vierte von 15 Geschwistern. 1871 heiratete sie Siegfried Stein, der bereits 1893 starb. Das Paar bekam elf Kinder; Edith war die jüngste Tochter. Siegfried Stein hatte ein Geschäft mit Holz- und Baumaterialien, ab 1882 in Lublinitz und ab 1890 in Breslau. Auguste arbeitete ebenfalls am Holzplatz. Die Familie führte ein traditionelles jüdisches Leben, aber es war kein orthodoxes Haus. An einer einzigen Stelle erwähnt Edith Stein einen gesetzestreuen Kollegen auf der Universität. Einmal war sie mit ihm an einem Samstag unterwegs; im Zusammenhang mit dem Verbot des Tragens kommentiert sie seinen Satz: "[...]nur auf der Straße darf man nichts tragen; im Hause ist es erlaubt.' [...] Das war eine der talmudischen Spitzfindigkeiten, die mich abstießen."
Edith Stein beschreibt, wie sie den Versöhnungstag (Jom Kippur) in der Familie erlebte. Dieser Tag war in der Familie noch aus einem weiteren Grund etwas Besonderes, denn Edith Stein war am Versöhnungstag 1891 geboren worden: Ihre Mutter "hat auf diese Tatsache großen Wert gelegt, und ich glaube, daß dies mehr als alles andere dazu beigetragen hat, ihr jüngstes Kind besonders teuer zu machen."
So sehr sie ihre Familie liebte, so verschweigt Stein dennoch nicht ihre innere Einsamkeit: "Trotz dieser innigen Verbundenheit war meine Mutter nicht meine Vertraute - so wenig wie sonst jemand."
Ihre Gymnasialjahre beschreibt Stein als eine glückliche Zeit, aber das Kapitel über ihre Studienzeit enthält das Bekenntnis: "Bei aller Hingabe an die Arbeit trug ich doch die Hoffnung auf eine große Liebe und glückliche Ehe im Herzen."
Ausführlich schildert Stein auch ihre Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, wo sie sich zum Lazarettdienst in Mährisch-Weißkirchen meldete. Von 1916 bis 1918 war sie Assistentin des jüdischen Philosophen Edmund Husserl (1859 - 1938). Über ihren verehrten großen Lehrer schreibt sie: "Es war nichts Auffallendes oder Überwältigendes in seiner äußeren Erscheinung. Ein vornehmer Professorentypus. Die Gestalt mittelgroß, die Haltung würdevoll, der Kopf schön und bedeutend. Die Sprache verriet sofort den geborenen Österreicher: Er stammte aus Mähren und hat in Wien studiert. Auch seine heitere Liebenswürdigkeit hatte etwas vom alten Wien."
1922 trat Edith Stein zum Katholizismus über, entscheidend beeinflusst wurde sie von Anna Reinach, der Witwe ihres Mentors und Lehrers Adolf Reinach, und von der Autobiographie von Theresa von Avila.
Beeindruckend fand sie den Philosophen Max Scheler, der wie sie zum Christentum übergetreten war: "Nie wieder ist mir an einem Menschen so rein das Phänomen der Genialität entgegengetreten. Aus seinen großen blauen Augen leuchtete der Glanz einer höheren Welt."
Sie berichtet aber auch von einer Diskussion mit dem jüdischen Philosophen Julius Guttmann in Breslau; er war "ein feiner, stiller Gelehrter und ein überaus gütiger Mensch".
Die bewegendste Stelle der Erinnerungen ist die Schilderung ihres Abschieds von ihrer Mutter 1933, nachdem sie ihr von ihrem Entschluss, ins Kloster zu gehen, berichtet hatte. Edith Stein begleitete sie in die Synagoge und es kam zum folgenden Dialog: "War die Predigt nicht schön?" "Ja" "Man kann also auch jüdisch fromm sein?" "Gewiß wenn man nichts anderes kennengelernt? Ich will nichts gegen ihn sagen. Er mag ein sehr guter Mensch gewesen sein. Aber warum hat er sich zu Gott gemacht?" Auguste Stein weinte; sie starb drei Jahre später und sah ihre jüngste Tochter nie wieder.
Edith Stein trat in den Kölner Karmel ein und wurde 1934 als Schwester Teresia Benedicta a Cruce eingekleidet. 1933 bat sie in einem versiegelten Brief, der ohne Folgen blieb, Papst Pius XI. um ein Wort zum Schutz der Juden. Dass sie unter dem katholischen Antisemitismus gelitten haben muss, geht auch aus dem Satz aus einem Brief im August 1932 an Sigismund Waitz, den späteren Erzbischof von Salzburg, über dessen Bücher über Paulus hervor: "Etwas schmerzlich berührten mich hier wie schon im I. Band gelegentliche Bemerkungen über das Judentum. Wenn man im Judentum geboren und aufgewachsen ist, kennt man seine hohen menschlichen und sittlichen Erbwerte, die dem Außenstehenden meist verborgen bleiben, und empfindet die Urteile, die sich nur an die nach außen stark hervortretenden Verfallserscheinungen halten, als hart und ungerecht."
Eine weitere berührende Stelle der Erinnerungen ist Ediths liebevolle Charakterisierung ihrer Schwester Erna. Sie wurde Ärztin und heiratete 1920 den Arzt Hans Biberstein, auch die Trauung beschreibt Edith ausführlich. Sie verfasste aus diesem Anlass ein Festgedicht, das im Anhang des Buches abgedruckt ist. Ernas Tochter Susanne M. Batzdorff veröffentlichte 1998 ihre Erinnerungen; die deutsche Ausgabe Edith Stein - meine Tante. Das iüdische Erbe einer katholischen Heiligen erschien 2000. Edith Stein verlor, wie Batzdorff schreibt, mit 13 Jahren ihren kindlichen Glauben. Sie besuchte laut ihrer Nichte nur ihrer Mutter zuliebe die liberale 1872 von Edwin Oppler erbaute Neue Synagoge; sie "galt als die schönste Synagoge neben der Berliner in der Oranienburger Straße. Mit ihrer prachtvollen Erscheinung schien sie Ehrerbietung und Respekt geradezu zu fordern." Als Atheistin trat sie zum Katholizismus über: Sie "hatte nur wenig Kenntnisse vom Judentum und scheint trotz ihrer Neigung, den Dingen auf den Grund zu gehen, niemals Interesse daran gehabt zu haben, diese Wissenslücke zu füllen." In einem berührenden Gedicht schreibt Batzdorff: "Du hast Bücher hinterlassen [...]. Aber keine Erklärungen über das wie und warum Deines Lebens."
Edith Steins Schwester Rosa trat ebenfalls zum Katholizismus über; auch sie wurde nach Auschwitz deportiert und in einer Gaskammer ermordet.
1987 wurde Schwester Teresia Benedicta a Cruce seliggesprochen, 1998 folgte die Heiligsprechung. 1999 wurde sie zur Patronin Europas ernannt.
Es gibt einige Biographien, Edith-Stein-Gesellschaften und ein Edith-Stein-Zentrum in Breslau in der ehemaligen Wohnung der Familie. Die Gesamtausgabe ihrer Schriften wurde 2020 mit dem 28. Band abgeschlossen. In Wien wurden das Zentrum der Katholischen Hochschulgemeinde in der Ebendorferstraße und eine Pfarre in Aspern nach Edith Stein benannt. Der Edith-Stein-Kreis in Göttingen vergibt seit 1995 den Edith-Stein-Preis.
Qu.: Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere autobiographische Beiträge. Neu bearbeitet und eingeleitet von Maria Amata Neyer OCD unter Mitarbeit von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz. (Gesamtausgabe Band 1). Freiburg, Basel, Wien: Herder Verlag 2002. 393 S.
"Daß ein Mohammedaner, ein Buddhist, ein sogenannter Heide zuweilen aus echter religiöser Überzeugung das Christentum annimmt, konnte ich begreifen. [...] Aber ein Jude, dem die Möglichkeit gegeben ist, sich über seine historische und religiöse Herkunft zu unterrichten und der das Judentum mit anderen Religionen vergleichen kann, muß, wie mir scheint, taub und blind sein, um glauben zu können, daß die Gottesvorstellung und Ethik des Christentums oder des Islams oder einer anderen Religion der Gotteslehre und ethischen Verpflichtung des jüdischen Volkes überlegen seien." (S.49f.)
Joseph Dunner (1908 - 1978) wurde als Sohn von Samuel Dünner und dessen Frau Ella in Fürth geboren. Sein Großonkel war der Oberrabbiner der Niederlande Joseph Zwi Halevi Dünner.
1913 übersiedelte die Familie nach Köln, 1914 nach Berlin, wo sein Vater in einer Textilfirma und ab 1918 für den Berliner Magistrat arbeitete. Samuel Dünner war ein engagierter Zionist und Sozialdemokrat. Joseph Dünner war Mitglied der Jugendbewegung Blau-Weiß; in den Heimarbeiten wurden die Tagebücher von Theodor Herzl, die Schriften von Martin Buber, Thomas Mann, Leonhard Frank und Gustav Landauer gelesen. Von 1923 an lebte er zwei Jahre lang auf einem Lehrgut in Brandenburg. Nach seinem Abitur 1927 erhielt er von einem Onkel eine achtwöchige Reise nach Palästina geschenkt. Nach seiner Rückkehr trat er dem Verband freisozialistischer Studenten bei. Er schrieb für die Rote Fahne und besuchte 1929 die Sowjetunion, eine Reise, die ihn, wie er schreibt, desillusionierte.
Dunner studierte in Berlin und Frankfurt am Main und promovierte 1934 bei Edgar Salin in Basel über das europäische Gewerkschaftswesen. Mit einer Einladung des Brookings Institutes in Washington gelangte er in die USA. Ab 1943 lehrte er an der School for Overseas Administration der Harvard University.
Im Mai 1945 wurde er mit der Leitung der Pressesektion der Psychological Warfare Division der amerikanischen Armee in München betraut. Nach seiner Rückkehr in die USA unterrichtete er Politikwissenschaften an der Yeshiva University.
1950 publizierte er das Buch The Republic of Israel, its History and its Promise. In den "Acknowledgements" dankte er > Rabbiner Stephen S. Wise und seinem Vater Samuel Dünner, "one of the pioneers of European Zionism and collaborator of Theodor Herzl's Die Welt." 1967 gab er das Handbook of World History heraus.
Dunner beschreibt nicht nur seine Aufgaben im Aufbau eines demokratischen Pressewesens, sondern auch seine Erfahrungen mit den DPs, wobei er betont: "Ich habe nie jenen westjüdischen Snobismus mitgemacht, der gewisse deutsche Juden dazu verleitet hat, mitleidig auf die angeblich weniger kultivierten Ostjuden herabzusehen. Ich kannte die Literatur des Ostjudentums, und ich wußte etwas von der Standhaftigkeit und menschlichen Größe, mit der russische und polnische Juden die jüdische Tradition bewahrt hatten."
Sein Buch ist nicht nur eine gelungene Autobiographie, sondern auch ein wichtiges Zeugnis zur deutschen Nachkriegsgeschichte.
Qu.: Joseph Dunner: Zu Protokoll gegeben. Mein Leben als Deutscher und Jude. München: Kurt Desch Verlag 1971. 256 S.
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Die Autorin
Dr., Historikerin und Publizistin in Wien. Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung (ÖGE), Redaktionsmitglied der Zeitschrift Zwischenwelt der Theodor Kramer Gesellschaft. Zahlreiche Publikationen und Bücher zur jüdischen Geschichte, Literatur und Exilliteratur, vor allem zu Wien und Mitteleuropa. Preis der Stadt Wien für Publizistik 2019.
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