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ONLINE-EXTRA Nr. 163

Juni 2012

Das Editorial zu dem vorliegenden, in zwei Teilen erscheinenden, bemerkenswerten Textes sei diesmal dem Autor Gabriel Berger selbst überlassen. Berger, 1944 als Sohn eines jüdischen Kommunisten im französischen Versteck geboren, in der DDR aufgewachsen, studierter Atomphysiker, als Dissident nach einjähriger Haft nach Berlin übergesiedelt, wo er Philosophie studierte (siehe die Autoreninfo am Ende der Seite), schreibt zum Hintergrund seines Beitrages:

"Mit Entsetzen registrierte die Weltöffentlichkeit die brutalen Angriffe polnischer Hooligans auf russische Fans, die zur Fußball-Europameisterschaft nach Warschau gekommen waren. In die Verurteilung brutaler Schlägergewalt mischten sich in den Medien Töne des Verständnisses für die Befindlichkeiten des leidgeprüften polnischen Volkes, das unter der russischen Fremdherrschaft, sowie unter dem von der Sowjetunion aufgezwungenen kommunistischen Regime gelitten habe. Der sowjetische Mord von Katyn an polnischen Offizieren zu Beginn des 2. Weltkrieges belastet bis heute das polnisch-russische Verhältnis. Doch alle historischen Hintergründe der polnisch-russischen Animositäten sind ungeeignet, die rohe Gewalt polnischer Schläger gegen friedliche russische Bürger, darunter Familien mit Kindern, zu erklären, schon gar nicht zu rechtfertigen.

In der polnischen Gesellschaft, besonders in gebildeten Kreisen, dominiert das makellose Selbstbild einer selbstlosen Heldennation, die unter der Losung „für unsere und eure Freiheit“ seit der dritten Teilung des Staates im Jahre 1795 zweithundert Jahre lang gegen die Fremdherrschaft gekämpft und gelitten habe, besonders unter der deutschen und russisch-sowjetischen Besatzung. Die dunklen Schatten des militanten Nationalismus, die dieses romantisch verklärte Bild trüben, werden meist sorgsam wegretuschiert. Aber gerade diese unaufgearbeitete dunkle Seite der polnischen Geschichte liefert ein Erklärungsmuster für die brutale nationalistische Gewalt und die rassistische Verhöhnung fremder Völker, die heute in Polen zum Alltag zählt.

Der nachfolgende Beitrag „Juden in Polen nach dem Holocaust“ soll nicht das polnische Volk diffamieren, sondern historische Hintergründe beleuchten, die in Polen meist verschwiegen oder als Verleumdung abgetan werden."

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!

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Online-Extra Nr. 163


Juden in Polen nach dem Holocaust

Teil 1


GABRIEL BERGER


1. Die Vorgeschichte – Juden in Polen vor 1945

Ende der sechziger Jahre wurde in jüdischen Kreisen Polens ein trauriger Witz erzählt: Welchen Unterschied gibt es zwischen dem heutigem und dem Vorkriegsantisemitismus? Und die Antwort auf diese Frage lautete: Im Prinzip keinen, aber vor dem Krieg war er obligatorisch.

Aus dieser Perspektive verwundert es nicht, dass im Jahre 1942 im von Deutschen besetzten Polen die Schriftstellerin Zofia Kossak in einem Flugblatt folgenden Inhalts an das Gewissen ihrer Landsleute appellierte:


„Erheben wir, Katholiken und Polen, unsere Stimme. Unsere Gefühle gegenüber Juden bleiben unverändert. Wir betrachten sie nach wie vor als die politischen, wirtschaftlichen und ideellen Feinde Polens! Darüber hinaus wissen wir, dass sie uns mehr als die Deutschen hassen, dass sie uns für ihr Unglück verantwortlich machen. Doch die Kenntnis dieser Gefühle befreit uns nicht von der Pflicht, die Verbrechen (an den Juden) zu verurteilen.
Verhalten wir uns nicht wie Pilatus. Wir haben keine Möglichkeiten, uns aktiv den von Deutschen begangenen Morden entgegenzustellen, doch unser Protest kommt aus der Tiefe unserer Herzen, die von Mitleid, Empörung und Grauen erregt werden. Wer sich unserem Protest nicht anschließt ist kein Katholik.“


Der Aufruf der Schriftstellerin zur Menschlichkeit gegenüber den vom Massenmord bedrohten Juden schloss eine Abrechnung mit ihnen zu einem späteren Zeitpunkt ausdrücklich nicht aus. Wir wissen, dass es Tausende Polen gegeben hat, die wie Wladyslaw Bartoszewski (zwischen 1995 und 2001polnischer Außenminister) unter Bedrohung des eigenen Lebens Juden geholfen haben. Auch Bartoszewski war in der Zeit deutscher Besatzung Mitglied der von Zofia Kossak gegründeten katholischen Widerstandsorganisation „Zegota“, die im Geist christlicher Nächstenliebe etwa 75.000 Juden rettete. Am treffendsten scheint jedoch die Aussage eines jüdischen Kindes unmittelbar nach Kriegsende die wahre Situation der Juden in Polen unter der deutschen Besatzung beschrieben zu haben. Auf die Frage, ob ihm die Polen geholfen hätten, antwortete der Junge: „Es gab solche, die mir geholfen haben. Sie wussten, dass ich ein Jude bin und haben es den Deutschen nicht gesagt.“

In seiner 1969 in Paris erschienenen Erzählung „Der Sieg“ beschrieb der polnisch-jüdische Schriftsteller Henryk Grynberg das Schicksal der Juden während der deutschen Besatzung auf der polnischen Seite wie folgt:


Sie überlebten, indem sie sich bei Bauern versteckten. Für Geld. Nie gaben sie das Geld vorweg und verweilten nicht zu lange bei einem Bauern. Zahlte man im Voraus, so hörte man, dann bemühte sich der Bauer, den Juden loszuwerden - und wurde ihn schließlich auch los, so gut er konnte. Gefährlich war es auch, zu lange bei einem Bauern zu bleiben, denn ein Bauer, der schon „etwas verdient hatte“, war bemüht, sich des Problems zu entledigen. So starb in Rudzienki die Schwester der Frydowa und ihr Ehemann, erschlagen von dem Menschen, der sie versteckt hatte. Fand man einen anständigen Bauern, konnte man auch bei ihm nicht lange bleiben, denn er hatte Angst. Nicht vor den Deutschen, denn es war sehr unwahrscheinlich, dass die Deutschen kommen würden, um Juden zu suchen. Er hatte Angst vor Denunzianten, vor den Nachbarn, die krank vor Neid waren, dass jemand Geld verdiente, indem er Juden versteckte. Deshalb sagten die Nusens, wenn sie die Hütte eines Bauern verließen, nie wohin sie gingen. Missfiel ihnen irgendetwas im Verhalten des Bauern, stahlen sie sich nachts ohne sein Wissen aus der Hütte heraus. Sie waren immer wachsam, glaubten niemandem.


Soweit die Meinung des Literaten Henryk Grynberg.

Es erscheint vor deutschen Zuhörern angebracht, das traditionell polnische Selbstverständnis der Juden klarzustellen, das sich von dem deutschen wesentlich unterschied. Es war seit der Zeit der Judenemanzipation, die die Epoche der Aufklärung ende des 18 Jahrhunderts gebracht hatte, spätestens aber seit Mitte des 19. Jahrhunderts, für die Juden in Deutschland typisch, dass sie sich als Deutsche jüdischer Konfession betrachteten. Die überwiegende Mehrheit der etwa 3,5 Millionen Juden innerhalb der polnischen Vorkriegsbevölkerung von 32 Millionen Menschen betrachtete sich dagegen als nicht der polnischen, sondern der jüdischen Nationalität zugehörig. Ihre Muttersprache war Jiddisch und selbst nach dem Krieg dominierte in Polen in jüdischen Schulen Jiddisch als Unterrichtssprache. Der Anteil der Juden an der Bevölkerung Polens betrug vor dem Krieg über 10 %. Doch in einigen Großstädten war dieser Anteil erheblich höher. Er betrug 1931 in Warschau 30%, in Lodz 33,5%, in Wilna 28%, in Krakau 26% und in Lemberg 32%. Zum Vergleich sei angemerkt, dass die Gesamtzahl der Juden in Deutschland etwa 600.000 und damit etwa 1% der Gesamtbevölkerung betrug, während allein in Warschau etwa 400.000 Juden lebten.

Der Konflikt zwischen der polnischen und der jüdischen Bevölkerung entsprang vor dem 2. Weltkrieg zum erheblichen Teil dem Rigorismus der polnischen Eliten, von denen seit dem neunzehnten Jahrhundert mehrheitlich ein religiös und national homogener Staat angestrebt wurde. Das alternative Modell, Pilsudskis föderales Staatskonzept mit weitgehender Autonomie für nationale Minderheiten, wurde weder von der Intelligenz noch von den Volksmassen unterstützt. „Pole“ und „Katholik“ wurden synonyme Begriffe, weshalb neben den Juden auch die Ukrainer, Weißrussen und Deutschen als nationale oder religiöse Fremdkörper betrachtet wurden. Und aus dem über 30%igen Anteil der nichtpolnischen Bevölkerung folgte das hohe Gewicht der nationalen Frage im 1918 wieder entstandenen polnischen Staat. Doch trotz der permanenten Konfliktsituation konnte es in Vorkriegspolen zu einer weitgehend autonomen Entwicklung der jüdischen Kultur und Selbstverwaltung, sowie des religiösen Lebens, kommen. Dies war aber weniger einem bewussten Agieren der Regierenden zuzuschreiben, als vielmehr deren mangelnder Konsequenz. Denn der Antisemitismus gehörte spätestens in den dreißiger Jahren in Polen zum guten Ton, und zwar sowohl in der regierenden Partei OZON (Lager der Nationalen Vereinigung), als auch in der äußerst starken rechten Opposition der Nationalen Partei, wie auch selbstverständlich in der ultranationalistischen Partei ONR mit ihrem klerikal-faschistischen Falanga-Flügel. Selbst einige Politiker der sozialdemokratischen PPS stimmten im Parlament der antisemitischen Forderung nach einer Massenauswanderung der Juden ausdrücklich zu. Dass alle etablierten Parteien mit antisemitischem Populismus Stimmenfang betreiben konnten, beschreibt deutlich die damals in der polnischen Bevölkerung vorherrschende Stimmung. Mit der Losung „Physischer Terror - nein; Wirtschaftsboykott - selbstverständlich“, wollte der Ministerpräsident Slawoj-Skladowski seine gegenüber der Pogromhetze extremer Gruppen gemäßigte Haltung demonstrieren.

Besonders in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre wurde im polnischen Parlament (sejm) als Ablenkung von der Unfähigkeit der Regierung, die Wirtschaftskrise im Lande zu bewältigen, endlos die sogenannte „jüdische Frage“ oder das „jüdische Problem“ diskutiert. Als denkbare Lösungen des aufgebauschten Problems favorisierten bürgerliche Parteien, im Gegensatz zum föderalistischen Integrationsmodell des 1922 von Antisemiten ermordeten Präsidenten Narutowicz und des 1935 verstorbenen Diktators Pilsudski, eine Massenemigration nach Madagaskar oder Palästina sowie eine Ausgrenzung der Juden nach dem Vorbild der nationalsozialistischen Nürnberger Rassengesetze. Der Senatspräsident Boguslaw Miedzinski, erhob noch im Jahre 1939 die Forderung, von den über drei Millionen damals in Polen lebenden Juden hätten alle, bis auf höchstens fünfzigtausend, das Land zu verlassen. Dass die genannten Lösungsvorschläge in einem unabhängigen Polen nicht zum Zuge kamen, ist vermutlich lediglich dem Überfall Nazideutschlands auf Polen zuzuschreiben, worauf die „jüdische Frage“ mit deutscher Konsequenz und Gründlichkeit ihrer „Endlösung“ zugeführt wurde.


2. Die totgeglaubten, unerwünschten Rückkehrer

Mit dem fast völligen Verschwinden des jüdischen Bevölkerungsteils schien nach dem Krieg in Polen zunächst auch das „jüdische Problem“ der Vergangenheit anzugehören. Doch die tot geglaubten tauchten aus dem Untergrund wieder auf: Über 20.000 Juden verließen auf dem polnischen Nachkriegsgebiet ihre Verstecke auf der „arischen“, das heißt polnischen, Seite außerhalb der Ghettos, mindestens ebenso viele kehrten von polnischen und sowjetischen Armeeeinheiten sowie Partisanengruppen zurück, ca. 10.000 wurden aus den Vernichtungslagern befreit. Und dann kamen die Transporte der Juden aus der Verbannung im sowjetischen Kasachstan sowie aus denjenigen Teilen Polens jenseits des Bug, die nach dem Krieg der Sowjetunion zugeschlagen wurden, insgesamt etwa 200.000 Menschen. Bis zu 4000 Juden täglich wurden im Mai und Juni 1946 in Zügen über die östliche Grenze nach Polen transportiert. Viele Tausende kehrten aus Frankreich, Belgien und Jugoslawien zurück. Sie alle unterzubringen und ihnen ein Auskommen zu sichern war in dem fast völlig zerstörten und verarmten Nachkriegspolen, in das zugleich Millionen Menschen polnischer Nationalität aus den Gebieten östlich des Bug strömten, eine schwer zu bewältigende Aufgabe, die Neid und Missgunst unter den Volksgruppen schürte.

In dem Nachkriegsjahr 1946 wurden von der Abteilung für Statistik des Zentralkomitees der Juden in Polen (CKZP) über 240.000 Personen registriert, die sich als Juden zu erkennen gaben. Von ihnen waren allerdings bis Januar 1946 ca. 50.000 aus Polen emigriert, hauptsächlich nach Palästina und in die Camps für „displaced persons“ in Österreich und Bayern, die de facto als Übergangslager für die von England stark begrenzte Einwanderung nach Palästina fungierten. Die Zahl der Juden auf dem polnischen Gebiet, die sich schon während des Krieges eine neue Identität als Polen geschaffen hatten und auch nach dem Krieg ihre wahre Identität verbargen, blieb unbekannt. Sie wurde auf weitere mindestens 10% der Gesamtzahl geschätzt. Nach offiziellen Angaben betrug die Zahl der Juden vor der Massenemigration nach dem Pogrom von Kielce im Juli 1946 etwa 210.000.

Die Lage der nach dem Krieg wieder aufgetauchten, zurückgekehrten oder umgesiedelten Juden war mehr als trostlos. Bis zu mehreren Dutzend Personen mussten einen Wohnraum teilen. Es fehlte an Nahrung, Kleidung, Medikamenten, Arbeit, Schulräumen. Etwa 1500 Waisenkinder mussten betreut werden. Außerdem gerieten die Juden zwischen die Fronten des Kampfes des bürgerlichen und des kommunistischen Lagers um die Macht. Als logische Fortsetzung ihrer Vorkriegspropaganda bezichtigte die bürgerlich-nationalistische Konfliktpartei die Juden pauschal der Unterstützung des kommunistischen Herrschaftssystems. Ein erheblicher Prozentsatz der polnischen Juden war bereits vor dem Krieg nichtkonfessionell und gehörte zu Mitgliedern und Sympathisanten linker Parteien, die als einzige den Antisemitismus bekämpft hatten. Deshalb wurde damals von der nationalistischen polnischen Rechten, die mit der Partei für Nationale Demokratie (Narodowa Demokracja) zeitweise die Mehrheit im Parlament stellte, das diffamierende Schlagwort von der „Judäo-Komune“ (zydokomuna) geprägt. Dieses bis zum heutigen Tag in Polen lebendige Vorurteil wird durch die 1946 lediglich etwa 3000 Mitglieder zählende Fraktion der kommunistischen PPR beim CKZP (Nach der Werbeaktion von1947 waren es etwa 7000), sowie durch Klagen innerhalb der Spitzengremien der PPR über die Schwäche ihres Einflusses auf die traditionell im Handel stark engagierten Juden widerlegt, denen nicht zu unrecht starke Aktivitäten auf dem Schwarzmarkt nachgesagt wurden.

Es ist allerdings ebenso belegt, dass überproportional viele kommunistische Funktionäre und Armeeoffiziere jüdischer Herkunft waren. Diese Personen als Juden einzustufen ist aber insofern nicht ganz stichhaltig, als sie sich aus ideologischen Gründen nicht nur von der jüdischen Religion, sondern auch von der jüdischen Tradition vollständig losgesagt hatten. Nicht selten verschwiegen sie sogar vor den Kindern ihre jüdische Herkunft. Die PPR konnte sich oftmals eher auf solche „Juden“ als auf Polen verlassen, weil sie nicht der Zusammenarbeit mit dem antikommunistischen bürgerlichen Untergrund in der Kriegszeit und danach verdächtigt wurden und weil sie meist im Gegensatz zur Mehrheit der Polen ein wohlwollendes Verhältnis zur Sowjetunion als dem Befreier vom Nazismus hatten. Für die in der Gegend von Przemysl in der Nähe der sowjetischen Grenze gegen das Nachkriegsregime kämpfende Nationale Untergrundarmee (NSZ) galt es nicht zuletzt deshalb als eine nationale Tat, jüdische Repatrianten wahllos aus den Zügen zu zerren und zu erschießen. Als Kriterium galt den militanten Nationalisten die „jüdische Physiognomie“. Etwa 200 Opfer, Marek Edelmann, einer der Führer des Warschauer Ghetto-Aufstandes, sprach sogar von 1500 Opfern, forderte diese sogenannte „Zugaktion“. Sie wurde, ebenso wie die Pogrome, von vielen Juden zu unrecht der bürgerlichen Londoner Exilregierung angelastet, wodurch sie in der Tat zu potentiellen Verbündeten des von Stalin in Polen eingesetzten kommunistischen Regimes wurden.

Zugleich ließ der sehr einflussreiche, traditionell mit den Nationalisten verbündete, katholische Klerus selbst nach dem Holocaust nicht von seinem Brauch ab, die Juden von der Kanzel herunter als Gottesmörder und Verderber christlicher Tugenden zu brandmarken. Unter diesem Einfluss kam es in der polnischen Bevölkerung des Öfteren zu den für die Juden verhängnisvollen Ritualmordvorwürfen. Dabei wurde den Juden unterstellt, sie verwendeten Blut von christlichen Kindern unter anderem für ihr ungesäuertes Pessachgebäck Matze. Seit dem Mittelalter gehörten Vorwürfe dieser Art im christlichen Europa zu den häufigsten Begründungen für Pogrome.

Von den meisten überlebenden Juden wurden nach dem Krieg die Heimatorte als Friedhöfe ihrer nahen Verwandten gemieden. Nur etwa 1% von den in Polen wieder aufgetauchten Juden nahmen die psychische Belastung auf sich, nach dem Holocaust in ihre Heimatorte zurückzukehren. Viele von ihnen wurden zu wehrlosen Opfern von kriminellen Banden und neuen Eigentümern ihrer Häuser oder Geschäfte. Ein Vertreter des Zentralkomitees der polnischen Juden (CKZP) berichtete am 12.03.1945:


„Im Stadtgebiet von Siedlce leben zurzeit 200 Juden, gegenüber 14.000 im Jahre 1939. Seit Dezember vergangenen Jahres wurden zwanzig Juden, darunter einige Kinder, auf bestialische Weise ermordet. Die Aktion hat einen organisierten Massencharakter angenommen. Die Staatssicherheit (Uzad Bezpieczenstwa) sucht nicht die Schuldigen und bestraft niemanden. Gerüchte breiten sich aus, es sei dringend erforderlich, die Juden zu beseitigen.“(1. S 402).




Gabriel Berger


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3. Ansiedlung von Juden in ehemals deutschen Gebieten

Die neuen, kommunistisch orientierten Behörden hatten ein großes Interesse an der Eindämmung der polnisch-jüdischen Konflikte, die den ohnehin feindlich gesinnten westlichen Ländern zusätzliche Argumente gegen die von der Sowjetunion in Polen installierte Herrschaftsform lieferten. Nicht zuletzt deshalb, aber auch um die an Polen angegliederten deutschen Ostgebiete nach der Vertreibung der Deutschen schnell zu besiedeln, schickten die Behörden einen Großteil der aus der Sowjetunion oder aus West- und Südeuropa zurückkehrenden Juden eben dorthin. Zudem ging es nach internen Richtlinien der in Polen vorherrschenden kommunistischen Partei (PPR) auch darum, mit den jüdischen Siedlern, die gegenüber dem neuen System eher aufgeschlossen waren, ein Gegengewicht zu den mehrheitlich feindlich gesinnten polnischen Umsiedlern aus den von der Sowjetunion besetzten ukrainischen, weißrussischen und litauischen Gebieten zu schaffen. Die Anzahl der Juden in Niederschlesien überstieg schon bald 90.000. Etwa ein Viertel von ihnen bewohnte die Hauptstadt Niederschlesiens Breslau (Wroclaw), womit die Stadt zum größten Zentrum der Juden im Nachkriegspolen wurde. Zweitgrößtes Ansiedlungszentrum in den neuen Westgebieten wurde Stettin (Szczecin). Eine größere Zahl von zurückgekehrten Juden wurde des Weiteren auf alle polnischen Großstädte verteilt, besonders auf Lodz, Krakau und Warschau.

Doch gerade diese Konflikteindämmungsstrategie förderte in den Ballungszentren der Juden einen aggressiven Antisemitismus. Er war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass marxistisch orientierte jüdische Gruppierungen, besonders aus Anlass des 1. Mai, auf Transparenten und durch zahlenmäßig starke Präsenz demonstrativ ihre Unterstützung für das kommunistische System in Polen und für die Sowjetunion bekundeten und sich dabei ausdrücklich als Juden zu erkennen gaben. Hier trafen sie besonders die Achillesferse der von der Sowjetunion aus dem Osten vertriebenen Polen, die die These vom der „Judäo-Kommune“ bestätigt sahen, obwohl sich, wie unter anderen der Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz berichtete, die Unterstützer und Mitläufer des neuen Regimes in überwiegender Mehrheit aus Kreisen der polnischen Intelligenz rekrutierten. Zu den Vorurteilen der Ostpolen kam die antijüdische Gesinnung der Kollaborateure mit deutschen Besatzern hinzu, die aus Angst vor Verfolgung und Racheakten in großer Zahl aus Zentralpolen in die Anonymität in den neubesiedelten Westgebieten geflohen waren.

Um die staatliche Administration organisatorisch aber auch finanziell von der Hilfe für die jüdische Bevölkerung Polens zu entlasten, wurde bereits im November 1944 von der provisorischen kommunistischen Regierung PKWN (Polnisches Komitee für Nationale Befreiung) das Zentralkomitee der Juden in Polen (CKZP) berufen. Das PKWN wurde seinerseits von den sowjetischen Truppen auf ihrem Vormarsch gegen die Wehrmacht in der ostpolnischen Stadt Lublin im Juli 1944 installiert. Das CKZP war, trotz der auf Teilgebieten durchgesetzten Dominanz der kommunistischen PPR, ein auf der zentralen wie allen regionalen Ebenen weitgehend selbstverwaltetes Organ, das selbst für die westliche Öffentlichkeit als eine durchaus glaubwürdige Vertretung der polnischen Juden galt. Aus diesem Grunde wurden dem CKZP von amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisationen, insbesondere vom American Joint Distribution Committee (Kurzbezeichnung: Joint), großzügige finanzielle Hilfen und Sachspenden gewährt, die 1947 zu über 90% den Etat der Organisation abdeckten. Zusätzliche Hilfen aus dem Ausland flossen direkt an damals gegründete jüdische politische Parteien, sowie an religiöse Organisationen. Der Gesamtumfang der Auslandshilfe für jüdische Organisationen in Polen betrug 1944 bis 1950 ca. 100 Millionen Dollar, nach damaliger Währung (entspricht etwa 1 Milliarde Dollar heute). Diese Mittel dienten nur zu etwa 30% der unmittelbaren Linderung der Not, nämlich zur Beschaffung von Lebensmitteln, Kleidung und Medikamenten. Vorwiegend wurden sie investiert und zwar in neugegründeten jüdischen Industrie- und Handwerksgenossenschaften, in Kibbuzim, in jüdischen Schulen, Gesundheitszentren, Waisenhäusern, Altersheimen, Kulturhäusern, Klubs, Bibliotheken, Armenküchen, in Einrichtungen die zum Teil auch von Nichtjuden genutzt werden konnten. Somit dienten sie nicht nur dem Wiederaufbau des jüdischen Lebens in Polen, sondern dem ganzen Land. Auch darin war die Großzügigkeit der Behörden gegenüber jüdischen Organisationen begründet. In der polnischen Bevölkerung weckte aber die Auslandshilfe den fatalen Eindruck einer wirtschaftlichen und sozialen Bevorzugung der jüdischen Volksgruppe. Der daraus resultierende Neid folgte allerdings wesentlich aus der politischen Doktrin des kalten Krieges, die zur Ablehnung der von den USA auch Polen angebotenen Marshall-Plan-Hilfe führte.

Beeindruckend war das vom CKZP in allen jüdischen Zentren eingerichtete jüdische Schulsystem, vorwiegend mit Jiddisch als Unterrichtssprache. Es umfasste 1946 25 Schulen unterschiedlicher Stufen, die von insgesamt mehr als 3200 Kindern besucht wurden. Parallel dazu entstanden 13 zionistische, hebräischsprachige Schulen, mit etwa 1100 Schülern. (1. S 464)

Die bis auf die jüdische Fraktion der kommunistischen PPR und den linkssozialistischen Bund zionistisch Orientierten jüdischen Parteien betrieben, über ihr Engagement zugunsten eines jüdischen Lebens in Polen hinaus, mit einem großen Aufwand die Vorbereitung der jüdischen Bevölkerung, besonders der Jugend, auf die Übersiedlung nach Palästina. Hierzu dienten unter anderem die zeitweise über 50 Kibbuzim mit mehreren Tausend Mitgliedern in ganz Polen, in denen zukünftigen Palästina-Einwanderern landwirtschaftliche und handwerkliche Fertigkeiten vermittelt wurden. Die meisten Kibbuzim unterstanden der Föderation links-zionistischer Jugendorganisationen Hehaluc. Die kommunistische PPR und der nichtzionistische sozialistische Bund bemühten sich dagegen, möglichst viele Juden in der Industrie zu beschäftigen, wobei die PPR mehr auf die inzwischen verstaatlichten Großbetriebe, der Bund mehr auf Genossenschaften orientiert war. Diese als „Produktivsierung“ der Juden bezeichnete Aktivität der Zionisten wie Nichtzionisten berief sich auf die bereits im 19. Jahrhunderts vom linken Zionisten Ber Borochov geäußerte These von der „umgekehrten sozialen Pyramide“ der jüdischen Bevölkerung, im Gegensatz zu „normalen“ Bevölkerungsstrukturen. Charakteristisch für die Juden war danach ein starker, vorwiegend städtischer Mittelstand sowie relativ viele Unternehmer, dagegen eine sehr schwache Arbeiterschaft und nur wenige Bauern. Die Aktivitäten in fast allen jüdischen Gruppierungen waren darauf ausgerichtet, diesen „Defekt“ durch ein Umkehren der Pyramide zu beheben. Allerdings stießen die Bemühungen der PPR, durch administrative Vorgabe von Quoten möglichst viele Juden in der verstaatlichten Großindustrie zu beschäftigen, auf einen zweiseitigen Widerstand: Polnische Arbeiter weigerten sich häufig, mit Juden zusammenzuarbeiten und Juden wurden durch die im Vergleich zu Genossenschaften und privaten Kleinbetrieben in Staatsbetrieben sehr niedrigen Löhne demotiviert. Sehr erfolgreich dagegen war bis zur jüdischen Massenauswanderung die Entwicklung des Systems der Berufsbildung für die jüdische Jugend.


4. Jüdischer Pluralismus in gleichgeschalteter polnischer Gesellschaft

Unter dem Dach des Zentralkomitees der Juden CKZP wurde in der kurzen Periode von 1945 bis 1950 in Polen eine erstaunliche Breite des jüdischen Lebens möglich und das trotz der stalinistischen Tendenz zur politischen Gleichschaltung. Die bunte Vielfalt der im Nachkriegspolen wirkenden jüdischen Parteien und Organisationen widerspiegelte jedoch nach dem Verlust von etwa drei Millionen Menschen nur in einem sehr bescheidenen Rahmen das politische und religiöse Spektrum unter den polnischen Juden vor dem Kriege. Beeindruckend war insbesondere die breite Palette von jüdischen Zeitungen und Verlagen, die den jüdischen Parteien und Organisationen unterstanden. Alle zionistischen und religiösen Parteien standen im ständigen Kontakt mit ihren in Palästina oder in westlichen Ländern angesiedelten Zentralen und wurden von ihnen materiell sowie in der Schulung von Funktionären unterstützt.

Innerhalb der kommunistischen PPR agierte ganz offiziell eine jüdische Fraktion, die vom Beginn des Bestehens des CKZP an bemüht war, dieses Gremium zu dominieren. Der jüdischen Fraktion der PPR besonders nah stand der Bund, eine 1897 im zaristischen Russland gegründete, außerordentlich traditionsreiche und einst sehr starke, linke jüdische Partei, die vor dem Krieg ein Verbündeter der sozialdemokratischen PPS (Polnische Sozialistische Partei) gewesen ist. Charakteristisch für den Bund war neben der Ausrichtung auf einen Genossenschaftssozialismus die konsequente Ablehnung des Zionismus. Der Bund setzte sich für den Status einer nationalen Autonomie für die Juden innerhalb des polnischen Staates ein. Er baute vor dem Krieg ein System von religionsfreien Schulen mit Jiddisch als der Hauptsprache auf. Während des Krieges war der Bund neben den linkszionistischen Parteien Hashomer Hazair und Poalej Zion maßgeblich an der Organisierung des militärischen Widerstandes der Juden gegen ihre Ausrottung durch die Nazis beteiligt, insbesondere während des Warschauer Ghetto-Aufstandes. Der Bund lehnte auch nach dem Krieg die Emigration der Juden nach Palästina kategorisch ab und propagierte, ebenso wie die jüdische Fraktion der PPR, statt dessen den Aufbau einer Heimstätte für die Juden in Polen. Wie schon vor dem Krieg betrachtete der Bund atheistische Schulen mit Jiddisch als der Unterrichtssprache und den Erhalt der jiddischen Kultur als Hauptaufgaben zur Festigung der jüdischen nationalen Identität. Die auf einen polnischen Patriotismus der Juden orientierte marxistische Grundhaltung der Bundisten machte sie zu idealen Verbündeten der kommunistischen PPR, von Konflikten über die Strukturen der Industrialisierung abgesehen. Die Nähe zur PPR schmälerte allerdings wesentlich den Einfluss des einst politisch pragmatischen und eher gemäßigten Bund, dessen traditioneller Anhängerkreis von der kommunistischen PPR aufgesogen wurde, bis schließlich, nach der 1948 erfolgten Vereinigung der PPR mit der sozialdemokratischen PPS, der Bund vollständig in der kommunistisch dominierten Partei PZPR (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) aufging.

Zu den marxistischen, allerdings zionistisch ausgerichteten Parteien zählten auch die 1906 entstandene Poalej Zion, mit zeitweise starken Differenzen zwischen dem linken und dem rechten Flügel, sowie der 1916 gegründete Haschomer Hazair. Gemeinsames Ziel beider Parteien war es, ihre Anhänger auf die Emigration nach Palästina vorzubereiten, um dort je nach politischem Standort eine sozialistisch oder eine kommunistisch strukturierte Gesellschaft aufzubauen.

Im Gegensatz zur linken Fraktion der Poalej Zion, die eine Doppelstrategie der Schaffung von zwei jüdischen Heimstädten, in Polen und in Palästina vertrat, orientierten sich alle anderen zionistischen Parteien, darunter der rechte, gewerkschaftlich ausgerichtete Flügel der Poalej Zion und der Haschomer Hazair, ausschließlich auf die Emigration nach Palästina. Die links-sozialistischen Zionisten der Haschomer Hazair und des linken Flügels der Poalej Zion erstrebten die Schaffung des Staates Israel unter der Schirmherrschaft der UdSSR, der rechte Flügel der Poalej Zion dagegen setzte auf die Zusammenarbeit mit den USA und den europäischen Westmächten.

Bemerkenswert war die vom Haschomer Hazair sehr aktiv betriebene Gründung hebräischsprachiger Schulen, die der kommunistischen PPR aus ideologischen Gründen ein Dorn im Auge waren. In diesen Schulen wurde den Kindern ein extrem linker, zionistischer Patriotismus vermittelt, der in jüdischen Kreisen der PPR als Fanatismus eingestuft wurde. Eine der Säulen der Aktivität von Haschomer Hazair war die Organisierung der Emigration von Jugendlichen und Kindern nach Palästina, später nach Israel. In Palästina bildeten die Mitglieder der dem Haschomer Hazair unterstehenden Kibbuzim den harten Kern der Hagana, der späteren israelischen Armee. Auch die Jugendorganisation Dror der Partei Poalej Zion war in der Kibbuzbewegung und der Schulung für den Militärdienst in der Hagana sehr aktiv.

Die stärkste und unter den Juden einflussreichste Partei war der Ichud, der zionistisch und liberal-sozialdemokratisch orientiert war. Die Politik des Ichud war ausgesprochen pragmatisch. Er setzte sich für die Schaffung eines jüdischen Staates in Israel ein, verhielt sich aber zugleich kooperativ gegenüber den kommunistisch orientierten polnischen Behörden. Auch der Ichud organisierte Kibbuzim zur Vorbereitung auf die Emigration nach Palästina. Seine Mitglieder und Sympathisanten rekrutierten sich vorwiegend aus Angehörigen des Vorkriegsmittelstandes. Es waren ehemalige Unternehmer, Kaufleute, Angehörige der Intelligenz und der freien Berufe, Beamte, Offiziere, Studenten. Der Ichud war die einzige bürgerliche jüdische Partei, die in Polen legal wirken konnte. Es war eine liberale Sammelbewegung ohne ein konkretes Parteiprogramm. Ihre Anhänger setzten mehrheitlich auf die Zusammenarbeit mit den USA und Großbritannien beim Aufbau des jüdischen Staates, eine kleinere Gruppe befürwortete die Nähe zur Sowjetunion. Der Ichud integrierte auch die kleine illegale Gruppierung der militanten revisionistischen Zionisten die den jüdischen Staat Israel um jeden Preis, auch durch Terroranschläge gegen die britischen Besatzer Palästinas, erzwingen wollten, ebenso die streng gläubigen Anhänger eines jüdischen Religionsstaates in Palästina.

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die kommunistische PPR innerhalb des CKZP wesentlich problemloser mit den pragmatischen und sehr elastischen Politikern des bürgerlichen Ichud zusammenarbeiten konnte, als mit den ideologischen Konkurrenten aus den zionistisch-marxistischen Parteien.

Der Ichud war neben den rein religiösen Parteien Mizrachi und Agudas Isroel offizielles Mitglied der jüdischen religiösen Kongregation. Nur knapp 50% der Juden in Polen bekannten sich damals zur jüdischen Religion. Die Versuche des CKZP unter seinem Dach auch die jüdische religiöse Kongregation zu vereinen stießen aufgrund des atheistischen Charakters des CKZP auf ein Misstrauen innerhalb der beiden religiösen Parteien. Erst nach dem dramatischen Schwund des religiösen Anteils unter den Juden, bedingt durch die Massenemigration, trat die religiöse Kongregation 1948 dem CKZP bei, womit für kurze Zeit eine einheitliche Vertretung der polnischen Juden in allen Lebens- und Religionsfragen geschaffen wurde.

Die 1916 gegründete religiöse Partei Agudas Israel und die Jüdische Demokratische Partei erreichten im Nachkriegspolen nie einen legalen Status. Grund hierfür war deren offene Zurückweisung des Zentralkomitees der Juden als Sprecher der polnischen Juden und insbesondere die Ablehnung der Dominanz der pro kommunistische PPR-Fraktion im CKZP. Agudas Israel verurteilte besonders die rein atheistische Aktivität des CKZP, der die religiösen jüdischen Traditionen ignorierte, und sprach deshalb dem Gremium die geistig-moralische Kompetenz ab, die Juden zu repräsentieren. Ebenso lehnte Agudas Israel eine Zusammenarbeit mit den mehrheitlich atheistisch orientierten Zionisten ab. Für die Demokratische Partei hingegen war das vom CKZP forcierte Konzept der Produktivisierung der Juden unannehmbar, weil es über eine Proletarisierung des Mittelstandes zur Zerstörung des nationalen Charakters der jüdischen Volksgruppe führe. Erfolglos blieben die Versuche beider Parteien, Religionsgemeinden als Organisationsstrukturen der jüdischen Bevölkerung zu reaktivieren.

Die trotz aller Beschränkungen weitgehende Pluralität der jüdischen Bewegung konnte innerhalb des zunehmend totalitär ausgerichteten Staates nur ein vorübergehender Zustand sein. Auch konnte sich bis auf die Mitglieder und Anhänger der PPR sowie die Bundisten kaum jemand große Illusionen über die Wirklichkeit in Polen machen: Man lebte in einem Land, in dessen Bevölkerung massiv antijüdische Stimmungen vertreten wurden, die zu explosiven Ausbrüchen neigten. Vielleicht hätten die Juden kleinere Feindseligkeiten als den schicksalhaften Status Quo hinnehmen können, mit dem zu leben sie seit Jahrhunderten gelernt hatten. Die Pogrome des Jahres 1946 in Krakau, Parczew, Kielce änderten aber schlagartig die Situation. Sie weckten bei den wenigen überlebenden Juden die Angst vor einer Wiederholung der Massenvernichtung, der sie soeben entgangen waren.



... weiter zu Teil 2




Quellen


1. Jerzy Tomaszewski, Najnowsze dzieje zydow w Posce, Wydawnictwo Naukowe PWN, Warschawa,1993 (Deutsch: Die neuste Geschichte der Juden in Polen)

2. Henryk Grynberg, Zwyciestwo, Paris 1969, Verlag Instytut Literacki
Untergrundausgabe in Polen 1981 (Deutsch: Der Sieg)

3. Czeslaw Milosz, Verführtes Denken, Suhrkamp Taschenbuchverlag, Berlin 1980

4. Jan T. Gross, Nachbarn. Der Mord an Juden von Jedwabne, Verlag C.H.Beck, München 2001

5. Jan T. Gross, Angst. Antisemitismus in Polen unmittelbar nach dem Krieg, Verlag Znak, Krakau 2008

6. Jan T. Gross, Zlote zniwa: rzecz o tym, co sie dzialo na obrzezach zaglady Zydów, Verlag. Znak, Krakau 2011 (polnisch: Goldene Ernte. Bericht darüber, was am Rande der Vernichtung der Juden geschah.)



 Abkürzungen und Namen von Parteien und Organisationen

Abkürzung

Voller Name; Gründungsjahr

Erläuterung

Polnische Parteien vor und nach dem Krieg

OZON

Lager der Nationalen Vereinigung; gegründet 1937

Konservativ-nationalistische überparteiliche Sammlungsbewegung der Regierung

„eNDecja“

National-Demokratische Partei; gegründet 1897

Nationalistische Partei vor dem Krieg; errang 1922 die Mehrheit polnischer Wähler

SN

Nationale Partei; Abspaltung von der ND 1934

Hauptpartei der Bewegung der Nationaldemokraten nach ihrer Spaltung

ONR

Nationalradikales Lager; Abspaltung von der ND 1934

Ultranationalistische Partei; sozlial-demagogisch, militant antisemitisch

 

Falanga

klerikal-faschistischer Flügel der ONR

PPS

Polnische Sozialistische Partei; gegründet 1892

Vor und nach dem Krieg bis zum Vereinigungsparteitag 1948

PPR

Polnische Arbeiterpartei; gegründet 1944

Kommunistische Partei; nach dem Krieg, bis zum Vereinigungsparteitag von 1948

PZPR

Polnische Vereinigte Arbeiterpartei; gegründet 1948

Ging 1948 aus der Vereinigung von PPR und PPS hervor (analog zur SED)

Jüdische Parteien nach dem Krieg

PPR

Jüdische Fraktion der PPR

jüdische Marxisten-Leninisten

Bund

Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland; gegr. 1897

Linkssozialistische, antizionistische Partei, kämpfte für eine jüdische Autonomie

 

Paolej Zion; gegründet 1906

Sozialistische zionistische Partei

 

Hashomer Hazair; gegründet 1916

Extrem linke zionistische Partei

 

Ichud

liberal-sozialdemokratische zionistische Partei; stärkste jüdische Partei in Polen nach dem Krieg

 

Mizrachi

Religiös-zionistische Partei

 

Agudas Israel; gegründet 1916

Orthodox-religiöse Partei; nach 1944 illegal

 

Jüdische Demokratische Partei

National-religiöse Partei; nach 1944 illegal

 

Zionisten-Revisionisten

Militante jüdische Nationalisten; wendeten gegen die Engländer Terrormittel an; illegal

Ponische Nachkriegsorganisationen

PKWN

Polnisches Kommitee für Nationale Befreiung

Von sowjetischen Truppen 1944 installierte kommunistische Übergangsregierung

UB

Amt für Sicherheit

Polnische Staatssicherheit

NSZ

Nationale Untergrundarmee

Faschistische Partisanengruppe in Ostpolen; kämpfte während des Krieges gegen die Deutschen, danach gegen das kommunistische Regime.


 


Der Autor

GABRIEL BERGER

... wurde 1944 als Sohn eines aus Nazideutschland geflüchteten jüdischen Kommunisten im französischen Versteck geboren. Sein Vater ging 1948 freiwillig nach Polen, um dort den Sozialismus aufzubauen. Der polnische Antisemitismus zwang ihn jedoch 1957, seine Teilnahme am sozialistischen Experiment in die DDR zu verlegen.

Gabriel Berger besuchte in Leipzig die Oberschule und studierte in Dresden Physik. Danach war er in der Kernforschung tätig. Nach der erneuten antisemitischen Welle in Polen und dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings im Jahre 1968 verlor der junge Physiker den Glauben an eine Demokratisierung des realen Sozialismus. 1975 stellte er einen Antrag auf Übersiedlung in die Bundesrepublik. 1976 wurde er unter dem Vorwurf der „Staatsverleumdung“ verhaftet. Nach einjähriger Haft übersiedelte er nach Westberlin. Dort arbeitete er zunächst im kerntechnischen Bereich, später als Informatiker. In den achtziger Jahren studierte er Philosophie und veröffentlichte Beiträge in Zeitungen und im Rundfunk. Inzwischen ist er Rentner und als Buchautor tätig.

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