ONLINE-EXTRA Nr. 164
© 2012 Copyright beim Autor
Teil 2 des Beitrags von Gabriel Berger.
Teil 1 mit den Kapiteln 1-4 sowie das zum Text insgesamt dazugehörige Editorial finden Sie hier:
Online-Extra Nr. 163
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 164
5. Ende einer hoffnungsvollen Entwicklung und Massenauswanderung ab 1946 „Das von der Seuche des Rassismus und des Antisemitismus vom Nazi-Okkupanten infizierte polnische Bürgertum zeigte gegenüber den zurückkehrenden Juden (...) zuweilen einen zoologischen Antisemitismus. Hinzu kamen die Aktivitäten von faschistischen Diversionsbanden, die den Antisemitismus aus der Waffenkammer des Hitlerismus geerbt haben. Sie erzeugten Angstgefühle, die sich zur panischen Flucht steigerten.“ (1. S. 407) Bis zum Pogrom von Kielce erfolgte eine vorwiegend illegale Emigration durch Vermittlung zionistischer Parteien und Organisationen, besonders der überparteilichen Zionistischen Koordination (Hebräisch: Brichah). Die Ausreisewilligen wurden auf abenteuerlichen Kanälen aus Polen nach Palästina geschleust. Dabei wurde direkt nach dem Kriege der Weg über die Tschechoslowakei und die Sowjetunion nach Rumänien gewählt, später, wegen des extrem hohen Verhaftungsrisikos in der Sowjetunion, über die Tschechoslowakei und Ungarn nach Rumänien. Von dort gelangten viele der Emigranten auf Schiffen nach Haifa in Palästina. Die Ausreise erfolgte meist mit falschen Pässen, die von der Brichah oder anderen zionistischen Organisationen besorgt wurden. Nach dem Einrichten der Lager für Displaced Persons in Deutschland und Österreich wurden, wegen der höheren Sicherheit, vorwiegend diese als Schleusen nach Palästina gewählt, wobei die Schmuggelroute aus Polen entweder über die den emigrationswilligen Juden sehr wohl gesonnene Tschechoslowakei, oder über den Hafen von Stettin direkt nach Deutschland führte. „Jede Wahl und jede Untersuchung der dortigen Verhältnisse bestätigt, wie wenig der Kommunismus in unserer Gesellschaft Fuß gefasst hat. Aufgeklärte Bauern und eine gut geschulte Arbeiterklasse mit einem hohen Lebensstandard werden sich niemals dem Kommunismus verschreiben. Gefährdet sind verarmte, ungebildete Gemeinwesen, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem unsrigen aufweisen." Im Februar 1947, nachdem die Fluchtpsychose nach dem Pogrom von Kielce nachgelassen hatte, wurden in Polen die illegalen und halblegalen Ausreiseerleichterungen zurückgenommen. Auch änderte sich die Haltung der polnischen Behörden gegenüber den unkonventionellen Aktivitäten der Brichah vom Wohlwollen zur deutlichen Ablehnung. Von nun an dominierte die stark begrenzte legale Emigration nach Palästina, in die USA und in westeuropäische Staaten. Sie wurde besonders von den Organisationen HIAS (Hebrew Immigration Aid Society), der vom Joint beherrschten Emigrationsabteilung des CKZP und dem Pal-Amt (Emigrationsabteilung der Jüdischen Agentur für Palästina) unterstützt. Pal-Amt besorgte insbesondere fiktive Visen für lateinamerikanische Staaten, die aber meist nur zum Verlassen Polens berechtigten. Der weitere Weg nach Palästina oder in ein anderes Zielland verlief illegal. „Die Lage ist im Allgemeinen befriedigend. Es gibt noch vereinzelte antisemitische Ausschreitungen. Während des Osterfestes kam es in Bytom (Beuten), am 1. Mai in Bialystok zu antisemitischen Ausschreitungen, die mit Ritualmord motiviert wurden. Die Organe der Sicherheit reagieren sofort auf die Inzidente und lassen keine größeren Ausschreitungen zu. Ebenfalls zufriedenstellend reagieren die höheren Behörden der Polizei auf das ungebührliche Verhalten ihrer Funktionäre während der Ausschreitungen. In Warschau wurden während des Demonstrationszuges zum 1. Mai häufig antisemitische Rufe registriert. Das Sicherheitsgefühl der jüdischen Bevölkerung ist gut, obwohl sich in der zweiten Maihälfte Gerüchte über angebliche Ritualmorde verstärkt haben.“ (1. S. 417) Trotz der bedrohlichen Situation in Polen hatten angesichts der Ungewissheit der Weiterreise nach Palästina, selbst nach dem Pogrom von Kielce, ca 80.000 von insgesamt 110.000 polnischen Insassen der Lager für Displaced Persons in Bayern und Österreich den Wunsch geäußert, nach der Beruhigung der Lage in ihre Heimat zurückzukehren. Doch nur wenige verwirklichten ihr Vorhaben. Die überwiegende Mehrheit fand in dem im Mai 1948 ausgerufenen Staat Israel eine neue Heimat. Im oben zitierten Bericht der PPR-Fraktion des CKZP heißt es weiter: „Die Existenz der Lager in Deutschland, Österreich, usw. schadet den Interessen Polens. Andererseits ist eine Massenrückkehr der Juden unerwünscht. Die Rückkehr sollte nur individuell ermöglicht werden, wobei eine geeignete Kontrolle der Remigranten gesichert sein muss. Wir vertreten den Standpunkt der freien Emigration der Juden und meinen, dass man diesen Tatbestand ausnützen sollte. Ein geringer Aufwand, wie die Ermöglichung der Emigration direkt nach Palästina und eine geschickte Ausnutzung einzelner Gruppierungen kann für uns eine sehr effektive Hilfe bei der Bekämpfung feindlicher Agenturen jeder Art, sowohl im Lande als auch im Ausland, bedeuten. Langfristig können wir auf diese Weise eine solide Position im nahen Osten gewinnen.“(1. S. 405) Mit diesem politischen Hintergedanken wurde im Frühjahr1948 in Polen vom Ministerium für Nationale Verteidigung ein militärisches Trainingslager für die Hagana, die Vorläuferorganisation der israelischen Armee, für etwa 1500 Teilnehmer zugelassen. Doch die politische und militärische Unterstützung für den neuentstandenen Staat wurde von der Sowjetunion aufgekündigt, als sich eine enge Zusammenarbeit Israels mit den USA und den westeuropäischen Staaten anbahnte. Die zionistische Bewegung, im Zeitraum 1945-47 von der Sowjetunion als ein Verbündeter im antiimperialistischen Kampf gegen die Kolonialmacht Großbritannien bewertet, wurde nun zu einem der am schärfsten bekämpften Gegner.
Der Pogrom von Kielce, jenes Ereignis, das bis heute für die Juden ein Symbol des aggressiven polnischen Nachkriegsantisemitismus geblieben ist, lief nach einem altbekannten Muster ab. Am 1. Juli 1946 verschwand ein polnischer Junge. Sofort verbreitete sich die Nachricht von dem angeblichen jüdischen Ritualmord. Als der Junge nach zwei Tagen wieder auftauchte, beschuldigte er, offensichtlich von jemandem angestachelt, er sei von Juden eingesperrt gehalten worden. Das war das Signal zum Pogrom, dem nach offiziellen Angaben 42 Personen zum Opfer fielen, etwa 100 wurden verwundet. An der Mord- und Plünderungsaktion nahmen neben zivilen Bewohnern der Stadt Polizisten und Soldaten teil.
Die Behörden, die der Loyalität der Polizei und Armee nicht sicher waren, sandten bewaffnete Einheiten der Staatssicherheit in das Gebiet, in dem sie weitere antijüdische Ausschreitungen erwarteten. Die in Kielce stationierte Armeeeinheit wurde abgezogen. Zur Abschreckung wurden am 11. Juli in einem Schnellverfahren neun am Pogrom beteiligte Personen zum Tode, drei weitere zu Haftstrafen verurteilt. Als Reaktion auf das Gerichtsurteil kam es in mehreren Städten zu Streikaktionen. In Lodz wurden Textilfabriken bestreikt, in Radom die Eisenbahnen. Belegschaften von Großbetrieben forderten Rache an Juden, drohten mit Massendemonstrationen. Im September wurden unter den Pilgern zur Schwarzen Madonna von Czestochowa (Tschenstochau) erneut Gerüchte über einen Ritualmord verbreitet. Doch die Behörden konnten die in der ganzen südostpolnischen Region und in Lodz erwarteten Pogrome abwenden. Unter dem Druck massiver Repression seitens des Staates kehrte die Lage im Lande zur „Normalität“ zurück.
Von polnischen Historikern wird oft die Vermutung geäußert, beim Pogrom von Kielce habe es sich um eine gezielte Provokation, möglicherweise des KGB oder des UB, der polnischen Staatssicherheit, gehandelt, mit dem Ziel, diese verbrecherische Aktion der Londoner Exilregierung anzulasten. Vielleicht wird sich der wirkliche Tathergang nie aufklären lassen. Was aber als ein trauriges Faktum gesichert bleibt, ist die judenfeindliche Haltung eines großen Teils der polnischen Bevölkerung, der nach Anlässen für lautstarke Äußerungen geradezu suchte.
Mehr als ein Dutzend solcher Pogrome haben in Polen in den Jahren 1944 bis 1947 stattgefunden. Nimmt man die individuellen Gewaltakte hinzu, dann sind in diesem Zeitraum 1,5 bis 2 Tausend Juden ermordet worden. Doch der Pogrom von Kielce brachte das Fass zum Überlaufen. Er löste unter den Juden eine Panik aus, mit der Massenauswanderung als Folge.
So beurteilte das Kommissariat der Regierung für die Produktivisierung der jüdischen Bevölkerung in einem offiziellen Bericht an das Zentralkomitee der PPR die Ursachen für die Pogromhetze gegen die Juden:
Nach dem Pogrom von Kielce stieg die Anzahl der ausreisewilligen Juden lawinenartig an. Die Brichah fühlte sich außerstande sie alle illegal über die Grenzen zu schmuggeln. Vertreter des linken Flügels der Poalej Zion, Izhak Cukierman, ein ehemaliger Kämpfer des Warschauer Ghettoaufstandes, sowie Adolf Berman, während des Krieges engagierter Führer des jüdischen Widerstandes, erwirkten beim damaligen Verteidigungsminister Marian Spychalski eine zeitlich befristete Öffnung der polnischen Staatsgrenze zur Tschechoslowakei für alle ausreisewilligen Juden. Zugleich verhandelten Brichah und Joint erfolgreich mit den tschechoslowakischen Behörden über das Recht der jüdischen Auswanderer, auf dem Weg nach Österreich bzw. Bayern das tschechoslowakische Territorium zu überqueren. Als Ausreisedokumente wurden Bescheinigungen der zionistischen Parteien akzeptiert. Die Fahrtkosten für die etwa 70.000 Juden durch das tschechoslowakische Gebiet übernahm die tschechoslowakische Regierung. Außerdem wurde von der Brichah ein stilles Einvernehmen hoher Beamter des für die Umsiedlung der Deutschen verantwortlichen Staatlichen Amtes für Repatriation erreicht, jüdische Ausreisewillige als angeblich auf deutschen Westgebieten gerettete deutsche Juden nach Deutschland ausreisen zu lassen. Auf diesem Wege gelangten, gemischt unter die umgesiedelten Deutschen, weitere etwa 30.000 Juden nach Berlin, bzw. in die westlichen Besatzungszonen Deutschlands. Insgesamt haben im Zeitraum 1946-47 etwa 170.000 Juden Polen verlassen, nur wenige davon auf legalem Wege. Der Emigration stand eine hohe Anzahl von etwa 150.000 Rückkehrern aus der Sowjetunion gegenüber.
Das mit den Zionisten außerordentlich kooperative Verhalten polnischer Behörden hatte mehrere Ursachen. Man kann den kommunistischen PPR-Aktivisten durchaus bescheinigen, dass sie damals, bedingt durch ihre internationalistisch orientierte marxistische Ideologie, ehrlichen Herzens den Antisemitismus ablehnten. Nicht weniger eindeutig war nach dem Krieg die Haltung der sozialdemokratischen PPS. Beide Parteien, besonders aber die PPR, waren in die antijüdischen Ausschreitungen insofern involviert, als ein erheblicher Teil der Bevölkerung sich den Vorkriegsslogan „Judäo-Kommune“ zueigen gemacht hatte. Angriffe auf Juden wurden von den Tätern oft als Angriffe auf die kommunistisch orientierte Staatsgewalt interpretiert. Hier konnten die beiden staatstragenden Parteien nicht untätig bleiben. Die Pogromwelle brachte darüber hinaus Polen in negative Schlagzeilen westlicher Presse. Die weitgehende Liberalität gegenüber der jüdischen Minderheit sollte helfen, das Bild des neuen polnischen Regimes in der Weltöffentlichkeit im positiven Sinne zu beeinflussen, zumal den Westmächten die Londoner Exilregierung als die legale Vertretung des polnischen Staates galt. Das wird der Hauptgrund dafür gewesen sein, dass innerhalb des Zentralkomitees der Juden in Polen (CKZP) und der ihm unterstellten regionalen Komitees in dem begrenzten Zeitraum von 1944 bis etwa 1948 eine Pluralität beinahe westlichen Zuschnitts geduldet wurde.
6. Israel als potentieller Verbündeter der Sowjetunion im Nahen Osten
Nach der Pogromwelle von 1946 wurden jedoch die Juden zu einer Belastung für die Herrschenden, die man gern los werden wollte. Dass durch die Duldung des Zionismus und die Unterstützung der jüdischen Emigration das sowjetische Projekt des Installierens eines verbündeten Staates im damals noch von den Britten und Franzosen beherrschten nahen Osten gefördert wurde, war ein erwünschter Nebeneffekt. Das mag einer der Gründe dafür gewesen sein, dass die Sowjetunion 1947 in der UNO für die Entstehung eines jüdischen Staates in Palästina stimmte. Doch das sowjetische Wunschdenken wurde schon damals durch die Realität widerlegt. Chaim Weizman, seit 1948 Präsident des Staates Israel, schrieb 1947, Bezug nehmend auf die Juden in Palästina, an den damaligen Präsidenten der USA Harry S. Truman:
Die größten Schwierigkeiten bei der Organisierung der Emigration aus Polen hatten die religiös orthodoxen Anhänger der Agudat Israel, da sie aus Prinzip keiner zionistischen Organisation angehörten. Sie wurden von der amerikanischen Organisation orthodoxer Rabbiner Waad Hahatzala unterstützt, mit deren Hilfe einige Tausend orthodoxe Juden, darunter ganze, jeweils mehrere Hundert Personen zählende Gruppen von Chassidim mit ihren Zadiks, nach Palästina emigrieren konnten.
Im Mai 1947 wurde von der PPR-Fraktion des CKZP ein folgender Bericht für das Zentralkomitee der PPR verfasst:
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7. Stalins Kampagne gegen Zionisten und „Kosmopoliten“ ab 1948 „Wir haben uns bemüht, das produktive Element im Lande zu behalten: Ärzte, Ingenieure, Elektriker, Metallfacharbeiter, Schlosser, Blechformer, Schleifer, Künstler, Wissenschaftler, Mitarbeiter von staatlichen Betrieben und Genossenschaften.“(1. S. 424) Dem „unproduktiven Element“ dagegen wurde ausnahmslos die Ausreise genehmigt. Von Ede 1949 bis Mitte 1951 verließen etwa 30.000 Juden das Land, womit sich die jüdische Bevölkerung Polens auf etwa 80.000 verringerte. Bereits ein Jahr zuvor wurden vom Ministerium für Öffentliche Ordnung alle zionistischen Parteien für aufgelöst erklärt. Von den über 70 jüdischen Zeitungen und Zeitschriften blieb nur die der PZPR unterstehende „Folks-Sztyme“ übrig. Jüdische Schulen wurden verstaatlicht und nur ganz wenige durften ihre jüdische Tradition behalten. Dem CKZP wurden die ihm unterstehenden Produktionsgenossenschaften und Gesundheitszentren entzogen. Nachdem dem CKZP darüber hinaus jede autonome Wirkungsmöglichkeit genommen wurde, fusionierte es mit dem Jüdischen Kulturverein, womit sich die jüdische Aktivität in Polen nur noch auf den eng gesteckten Rahmen von jüdischen Kulturhäusern und die zahlenmäßig schwachen Religionsgemeinden begrenzte. Damit endete 1950 die kurze Phase politischer, wirtschaftlicher und kultureller Selbstbestimmung der Juden im Nachkriegspolen. Wie gewohnt schlenderte Jakob am Wochenende durch das Zentrum von Warschau, ärmlich gekleidet, mit stark gekrümmtem Rücken und ängstlichem Blick. Da sah er einen eleganten Herrn aus einem chromblitzenden Mercedes aussteigen, im modischen Anzug, mit akkurat frisierten Haaren und stolz erhobenem Kopf. Er traute seinen Augen nicht. Es war Mojsche. Aus heutiger Sicht ist es interessant, dass die antijüdische Hysterie der 1968 unter Gomulka herrschenden „Betonköpfe“ einen durchaus rationalen Hintergrund hatte. Denn viele der im Partei- und Staatsapparat tätigen Personen jüdischer Herkunft, denen in der stalinistischen Zeit nicht unberechtigt eine geradezu fanatische Linientreue nachgesagt wurde, waren Ende der fünfziger und in den sechziger Jahren als enttäuschte Kommunisten am eifrigsten in der Destruktion eben dieses Apparates engagiert. Diese durchaus belegte Tatsache wird allerdings in Polen bis heute sehr gern übersehen.
Schon Ende 1948 startete Stalin die Kampagne gegen Zionisten und „Kosmopoliten“. In der gleichen Zeit endete in Polen das Wohlwollen gegenüber den zionistischen Parteien. Ihr Einfluss auf die jüdischen Komitees wurde administrativ zurückgedrängt. Hebräische Schulen wurden nach und nach geschlossen, ebenso die Kibbuzim. Im November 1948 wurde das jüdische Emigrationsamt Pal-Amt von den Behörden geschlossen. Instruktoren der Hagana wurden zu unerwünschten Personen. Pläne der Regierung zur Verstaatlichung aller jüdischer Produktions-, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sowie zum Verbot des Joint und aller zionistischer Organisationen und Parteien drangen an die Öffentlichkeit. Dieser Trend sowie auf der anderen Seite die zionistische Propaganda für den Staat Israel steigerten erneut den Drang der jüdischen Bevölkerung zur Emigration. Zur gleichen Zeit forcierte die polnischen Regierung und die PZPR (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) die politische Gleichschaltung aller Parteien im Lande und setzte das Verbot aller politischen Gruppierungen durch, die sich dem Primat der PZPR nicht beugen wollten.
In dieser Lage beschloss das Zentralkomitee der PZPR, unerwünschten und entbehrlichen Personen innerhalb der jüdischen Bevölkerung die Emigration zu ermöglichen. Als solche wurden in einem internen Papier genannt: Zionisten, Privatunternehmer, Grundstücksbesitzer, Rechtsanwälte, Rentner, Kriegsversehrte, Rabbiner, Mitglieder jüdischer Religionsgemeinschaften. Am 13.11.1949 wurde in der Presse eine Verlautbarung der polnischen Regierung veröffentlicht, wonach es polnischen Staatsbürgern jüdischer Nationalität möglich sei, für den Staat Israel zu optieren. Da eine Präzisierung der für die Emigration vorgesehenen Gruppe der Bevölkerung fehlte, kam es zu einer Flut von Anträgen beim CKZP und dem zuständigen Ministerium für Öffentliche Ordnung. Die offiziellen Ausreisen erfolgten auf der Basis des sogenannten „Reisedokuments“ (dokument podrozy), das unter Bruch des Völkerrechts zum Verlassen Polens ohne ein Recht auf Rückkehr berechtigte. Die Massenauswanderung legte die Arbeit jüdischer Einrichtungen lahm und riss zugleich Lücken unter Fachkräften in ganz Polen auf, weshalb von Behörden das Recht auf Auswanderung für bestimmte Berufsgruppen restriktiv gehandhabt wurde. Im Bericht einer Sonderkommission des Ministeriums für Öffentliche Ordnung heißt es:
8. Jüdische Auswanderungswellen 1956 und 1968
Einige Jahre später, 1955 bis 1957 führte das politische Tauwetter in der Sowjetunion auch zur Belebung der Aktivität der jüdischen Volksgruppe in Polen, die durch die Repatriation aus der UdSSR wesentlich verstärkt wurde. Es wurde aber damals in Flügelkämpfen innerhalb der Herrschenden PZPR der Antisemitismus als Mittel der Diffamierung politischer Widersacher benutzt, was den antisemitisch gesinnten Teil der Bevölkerung zur offenen Feindseligkeit inspirierte. Etwa 70.000 Juden, darunter die meisten der gerade aus der Sowjetunion zugewanderten, nutzten die Liberalität der neuen Staats- und Parteiführung unter Gomolka, um im Zeitraum von 1956 bis 1960 Polen zu verlassen, vorwiegend mit Israel als Auswanderungsziel.
Die letzte Auswanderungswelle, die auf den Sechstagekrieg von 1967 und die 1968 von der polnischen Staatsführung unter dem Schlagwort der „Zionistischen Verschwörung“ entfachte antisemitische Hysterie folgte, trieb schließlich mit bis zu 25.000 Menschen fast die Gesamtheit der noch in Polen verbliebenen Menschen jüdischer Herkunft aus dem Land. Dabei handelte es sich im Wesentlichen um Personen, die so weit in die polnische Gesellschaft assimiliert waren, dass sie sich nicht mehr als Juden, sondern als Polen jüdischer Abstammung definierten. Deshalb war das Ziel der letzten jüdischen Massenauswanderung aus Polen meistens nicht Israel, sondern vorwiegend Schweden, Dänemark und die USA. Zahlreiche damals aus Polen emigrierte Juden siedelten sich nach einer Zwischenstation in Israel oder Skandinavien in der Bundesrepublik an. Hauptinitiatoren der damaligen antisemitischen Pogromhetze, die Monate lang alle Medien beherrschte, waren der krankhaft ehrgeizige Innenminister Moczar, der sich durch die Welle des Chauvinismus auf die Position Nr. 1 in Polen befördern wollte, sowie der Vorsitzende der katholischen Vereinigung „PAX“ Boleslaw Piasecki, vor dem Krieg Führer der klerikal-faschistischen Falangisten. Kein Wunder, dass die damals in Polen angewandten Mittel der antijüdischen Hetze bis in die kleinsten Details einem Drehbuch des Goebbelsschen Propagandaministeriums zu entstammen scheinen.
Im Jahre 1968 wurde in Polen ein Witz erzählt:
„Mojsche bist du es?“ rief er ihm zu.
„Mensch Jakob, dich gibt es auch noch“, antwortete der elegante Herr, sichtlich gerührt. „Wir haben uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, ich glaube schon zwanzig Jahre. Wie geht es dir?“
„Wie es mir geht“, sagte Jakob traurig, „das kannst du sehen. Aber dir geht es, wie ich sehe, prächtig. Wie hast du das bloß geschafft?“
„Ach weißt du“, begann Mojsche zu erzählen, „damals im Krieg, da hat mich doch ein Pole im Keller versteckt.“
„Ja, ja, das weiß ich noch. Na und?“ sagte Jakob ungeduldig.
„Und damit erpresse ich ihn heute.“
Nach der letzten Emigrationswelle verblieb in Polen eine unbedeutende Anzahl von etwa viertausend Juden. Die tausendjährige Geschichte der Juden in Polen war im Wesentlichen beendet, nicht aber die Geschichte des polnischen Antisemitismus. Er lebt auch heute noch ohne die Juden weiter. In Ermangelung des konkreten Objektes wird er immer mehr zu einem realitätsfremden Ritual und nähert sich damit beständig einer in Polen verbreiteten Idealisierung des angeblich harmlosen, volkstümlichen Vorurteils gegenüber Juden, einem, im Gegensatz zum brutalen deutschen, vergleichsweise milden, eben polnischen Antisemitismus.
Doch während es in Deutschland nach dem Holocaust zu einer Anstandsregel geworden ist, sich zumindest in der Öffentlichkeit mit judenfeindlichen Äußerungen zurückzuhalten, gibt es in Polen einen bis in die heutige Zeit hinein durchaus salonfähigen Antisemitismus, dessen Vertreter sich selbst als Humanisten und Demokraten verstehen können, auch dann, wenn verächtliche oder herablassende Äußerungen über Juden zu ihrem intellektuellen Standardrepertoire zählen. So ermahnte der Beichtvater des (damaligen) Präsidenten Walesa Jankowski in einer Predigt seine Landsleute, Polen nicht den Amerikanern und Zionisten in die Hände zu spielen. Die Juden werden von vielen sich progressiv wähnenden polnischen Intellektuellen als ein folkloristisches Element Vorkriegspolens überaus geschätzt, das aber heute zum Glück in Israel oder New York und nicht in Warschau oder Krakau fortexistiert. Diese romantisierend-nostalgische Haltung schließt im realen Leben meist ein spontanes Kippen der Gefühle zwischen Philo- und Antisemitismus ein und ist oft mit der Behauptung verbunden, es habe in Polen, außer in der kommunistischen Zeit, nie einen Antisemitismus gegeben.
Doch es gibt in der heutigen nachkommunistischen Wirklichkeit Polens Zeichen, die Hoffnungen auf bessere Zeiten im polnisch-jüdischen Verhältnis aufkommen lassen. Man hört immer öfter von Fällen selbstbewussten Auftretens von Juden in Polen, die über vierzig Jahre lang ihre Identität verheimlicht hatten. Sie wussten warum.
9. Nachtrag zu diesen Betrachtungen
Als ich 1995 diesen Vortrag vor einem vorwiegend polnischen Publikum im Kölner Osteuropa-Klub „Ignis“ hielt, hagelte es im Anschluss Proteste aus dem Publikum. Mit meiner, im Wesentlichen auf polnische Quellen gestützten, Darstellung der polnisch-jüdischen Beziehungen traf ich den polnischen Stolz und das Selbstverständnis von Angehörigen der „Opfer- und Heldennation“, die keinerlei Bedarf sah, mit sich selbst ins Gericht zu gehen, weil sie angeblich keine Täter hervorgebracht hatte. Was ich da vortrug konnten folglich nur Lügen und Verleumdungen sein.
Kurioserweise wurde ich nach meinem Vortrag besonders heftig von einem polnischen Ehepaar in Frage gestellt, das wegen der jüdischen Abstammung 1968 Polen verlassen hatte. Damals wurden Juden oder vermeintliche Juden, in Polen zur Auswanderung gezwungen, was ein Akt offenen staatlichen Antisemitismus gewesen ist. Aber ausgerechnet den beiden galt ich als ein Lügner und Nestbeschmutzer. Ähnlich reagierte Frau Dr. G., eine polnische Politologin, von der ich das Buch, das mir als wichtigste Faktenbasis für meinen Vortrag gedient hatte, 1994 als Geschenk zum Geburtstag erhalten hatte. Gelesen hatte sie es nicht.
Während die Mehrheit der Polen das bequeme, makellose Selbstbild der polnischen Nation pflegte, waren die meisten Fakten über die Kollaboration zahlreicher Polen mit der deutschen Besatzung bei der Ermordung der Juden und über die Nachkriegspogrome in Polen einigen polnischen Historikern wohl bekannt. Das belegt ja die Hauptquelle für meinen Vortrag, das in Polen 1993 erschienene historische Werk „Die neuste Geschichte der Juden in Polen (bis 1950)“. Doch dieses Buch fand in Polen kein breites Publikum. Die darin beschriebenen, durch Dokumente belegten, für die polnische Gesellschaft schockierenden und beschämenden Fakten verblieben ein Geheimwissen des engen Kreises von Spezialisten und drangen nicht nach außen.
So konnte das heldenhafte, untadelige Selbstbild der Polen in der Zeit des 2. Weltkrieges noch einige Jahre überdauern, bis zu der verheerenden Enthüllung von Jan Tomasz Gross in seinem 2001 erschienen Buch „Nachbarn“. Darin beschrieb er, wie während der Nazibesatzung alle Juden des Dorfes Jedwabne von seiner polnischen Bevölkerung, also von den Nachbarn, zusammengetrieben und ermordet wurden. Dieses Mal ließ sich das Erdbeben in Polen nicht verhindern, weil die Publikation des seit 1969 in den USA lebenden polnisch-jüdischen Historikers Gross von einer breiten PR-Kampagne begleitet wurde und das ganze polnische Volk in helle Aufregung versetzte. Doch Gross hatte mit seinen Landsleuten keine Gnade. Sein 2008 erschienenes nächstes Buch „Angst“ verursachte in Polen ein noch stärkeres Beben. 2011 folgte mit dem Essay „Die goldene Ernte“ sicher nicht das letzte Nachbeben.
1. Jerzy Tomaszewski, Najnowsze dzieje zydow w Posce, Wydawnictwo Naukowe PWN, Warschawa,1993 (Deutsch: Die neuste Geschichte der Juden in Polen)
2. Henryk Grynberg, Zwyciestwo, Paris 1969, Verlag Instytut Literacki
Untergrundausgabe in Polen 1981 (Deutsch: Der Sieg)
3. Czeslaw Milosz, Verführtes Denken, Suhrkamp Taschenbuchverlag, Berlin 1980
4. Jan T. Gross, Nachbarn. Der Mord an Juden von Jedwabne, Verlag C.H.Beck, München 2001
5. Jan T. Gross, Angst. Antisemitismus in Polen unmittelbar nach dem Krieg, Verlag Znak, Krakau 2008
6. Jan T. Gross, Zlote zniwa: rzecz o tym, co sie dzialo na obrzezach zaglady Zydów, Verlag. Znak, Krakau 2011 (polnisch: Goldene Ernte. Bericht darüber, was am Rande der Vernichtung der Juden geschah.)
Abkürzungen und Namen von Parteien und Organisationen
Abkürzung |
Voller Name; Gründungsjahr |
Erläuterung |
Polnische Parteien vor und nach dem Krieg |
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OZON |
Lager der Nationalen Vereinigung; gegründet 1937 |
Konservativ-nationalistische überparteiliche Sammlungsbewegung der Regierung |
„eNDecja“ |
National-Demokratische Partei; gegründet 1897 |
Nationalistische Partei vor dem Krieg; errang 1922 die Mehrheit polnischer Wähler |
SN |
Nationale Partei; Abspaltung von der ND 1934 |
Hauptpartei der Bewegung der Nationaldemokraten nach ihrer Spaltung |
ONR |
Nationalradikales Lager; Abspaltung von der ND 1934 |
Ultranationalistische Partei; sozlial-demagogisch, militant antisemitisch |
|
Falanga |
klerikal-faschistischer Flügel der ONR |
PPS |
Polnische Sozialistische Partei; gegründet 1892 |
Vor und nach dem Krieg bis zum Vereinigungsparteitag 1948 |
PPR |
Polnische Arbeiterpartei; gegründet 1944 |
Kommunistische Partei; nach dem Krieg, bis zum Vereinigungsparteitag von 1948 |
PZPR |
Polnische Vereinigte Arbeiterpartei; gegründet 1948 |
Ging 1948 aus der Vereinigung von PPR und PPS hervor (analog zur SED) |
Jüdische Parteien nach dem Krieg |
||
PPR |
Jüdische Fraktion der PPR |
jüdische Marxisten-Leninisten |
Bund |
Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland; gegr. 1897 |
Linkssozialistische, antizionistische Partei, kämpfte für eine jüdische Autonomie |
|
Paolej Zion; gegründet 1906 |
Sozialistische zionistische Partei |
|
Hashomer Hazair; gegründet 1916 |
Extrem linke zionistische Partei |
|
Ichud |
liberal-sozialdemokratische zionistische Partei; stärkste jüdische Partei in Polen nach dem Krieg |
|
Mizrachi |
Religiös-zionistische Partei |
|
Agudas Israel; gegründet 1916 |
Orthodox-religiöse Partei; nach 1944 illegal |
|
Jüdische Demokratische Partei |
National-religiöse Partei; nach 1944 illegal |
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Zionisten-Revisionisten |
Militante jüdische Nationalisten; wendeten gegen die Engländer Terrormittel an; illegal |
Ponische Nachkriegsorganisationen |
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PKWN |
Polnisches Kommitee für Nationale Befreiung |
Von sowjetischen Truppen 1944 installierte kommunistische Übergangsregierung |
UB |
Amt für Sicherheit |
Polnische Staatssicherheit |
NSZ |
Nationale Untergrundarmee |
Faschistische Partisanengruppe in Ostpolen; kämpfte während des Krieges gegen die Deutschen, danach gegen das kommunistische Regime. |
Der Autor
Kontakt zum Autor und/oder COMPASS:
... wurde 1944 als Sohn eines aus Nazideutschland geflüchteten jüdischen Kommunisten im französischen Versteck geboren. Sein Vater ging 1948 freiwillig nach Polen, um dort den Sozialismus aufzubauen. Der polnische Antisemitismus zwang ihn jedoch 1957, seine Teilnahme am sozialistischen Experiment in die DDR zu verlegen.
Gabriel Berger besuchte in Leipzig die Oberschule und studierte in Dresden Physik. Danach war er in der Kernforschung tätig. Nach der erneuten antisemitischen Welle in Polen und dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings im Jahre 1968 verlor der junge Physiker den Glauben an eine Demokratisierung des realen Sozialismus. 1975 stellte er einen Antrag auf Übersiedlung in die Bundesrepublik. 1976 wurde er unter dem Vorwurf der „Staatsverleumdung“ verhaftet. Nach einjähriger Haft übersiedelte er nach Westberlin. Dort arbeitete er zunächst im kerntechnischen Bereich, später als Informatiker. In den achtziger Jahren studierte er Philosophie und veröffentlichte Beiträge in Zeitungen und im Rundfunk. Inzwischen ist er Rentner und als Buchautor tätig.
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