ONLINE-EXTRA Nr. 216
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Nachdem der erste Textauszug aus dem jüngsten Buch des katholischen Theologen Hans Hermann Henrix - "Christus im Spiegel anderer Religionen" (LIT Verlag, 2014) - einige "Stimmen zur jüdischen Sicht des Christentums" behandelte und sich mit der Frage nach einer "jüdische(n) Theologie des Christentums" auseinandersetzte (siehe ONLINE-EXTRA Nr. 215), greift Henrix in dem nachfolgend wiedergegebenen zweiten Textauszug die im September 2000 erschienene Erklärung "Dabru Emet" (Redet Wahrheit), eine "jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum" auf.
Die von mehr als 170 Rabbinern und jüdischen Gelehrten unterschriebene, im Kern aus acht Leitsätzen bestehende Erklärung "Dabru Emet" sorgte seit ihrem Erscheinen für beträchliches Aufsehen in christlich-jüdischen Gesprächskreisen. Die im Kern aus acht Leitsätzen bestehende Erklärung stellt im Wesentlichen den Versuch dar, eine authentische zeitgenössische jüdische Reaktion auf das Christentum zu formulieren, insbesondere unter Berücksichtigung der teilweise dramatischen Veränderungen christlicher Theologie im Blick auf das Judentum nach dem Zweiten Weltkrieg und vor dem Hintergrund des Holocaust. Henrix referiert in dem nachfolgenden Textauszug die wesentlichen Aspekte dieser bis heute viel diskutierten Erklärung und ordnet sie in den Kontext seiner Fragestellung nach "Christus im Spiegel anderer Religonen" ein.
COMPASS dankt Autor und Verlag für die Genehmigung zur Wiedergabe der Auszüge an dieser Stelle!
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Online-Extra Nr. 216
2.4. „Dabru Emet“. Eine zeitgenössische jüdische Theologie des Christentums
Jakob J. Petuchowskis Votum gehört zu einer Vielzahl von Äußerungen im Zusammenhang mit dem christlich-jüdischen Dialog der Gegenwart, die eine authentische jüdische Reaktion auf das Christentum zu formulieren versuchten. Ihnen stand vor Augen, dass der Pluralismus der Gegenwart eine zeitgenössische jüdische Sicht des Christentums über die traditionelle Zweiteilung von „Israel und den Völkern“ hinaus evoziere.110 Viele Namen wären hier neben Petuchowski zu nennen, z.B. Schalom Ben-Chorin, Ernst L. Ehrlich, Emil L. Fackenheim, Albert H. Friedlander, Leon Klenicki, Nathan Peter Levinson, David Novak, u.a.111
2.4.1. „Dabru Emet“ – Ein Antwortversuch auf den Wandel in den christlich- jüdischen Beziehungen
Zu Beginn des neuen Jahrtausends haben die jüdischen Wortmeldungen von Einzelautoren eine korporative Verdichtung erfahren. Am 10. September 2000 erschien in zwei überregionalen Zeitungen Nordamerikas, in der New York Times und in der Baltimore Sun, eine Anzeige unter der Überschrift „Dabru Emet (Redet Wahrheit): Eine jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum“.112 Ihr kurzer Text begann mit einer knappen Einführung und enthielt im Hauptteil acht Leitsätze, welche kurz erläutert wurden. Mehr als 170 Rabbiner und Frauen und Männer der Gelehrsamkeit aus den verschiedenen Strömungen des amerikanischen Judentums hatten diese Anzeige gezeichnet. Die Autor/ innen der Stellungnahme sprachen in ihrem eigenen Namen und nicht im Namen der jüdischen Gemeinschaft. Sie setzten sich damit der kritischen Prüfung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft aus, wohl wissend, dass die ihnen aus der eigenen Gemeinschaft entgegentretende Kritik sehr scharf sein kann. Aber sie taten dies als eine Gruppe von Frauen und Männern jüdischer Gelehrsamkeit aus der akademischen Welt und dem synagogalen Leben und intendierten einen kritischen innerjüdischen Klärungsprozess. Sie betrachteten diesen als eine Frage von Gerechtigkeit gegenüber den Anderen und von Integrität eigener Identität. Des Klärungsprozesses wegen haben sie der kurzen Erklärung einen umfangreichen Diskussionsband zur Seite gestellt: „Christianity in Jewish Terms“ („Das Christentum in jüdischer Begrifflichkeit“).113 Dort wurde das Für und Wider zu den einzelnen Thesen sowohl innerjüdisch als auch im jüdischchristlichen Gesprächsgang erörtert.
Die Autor/innen führen in ihren Text mit der Feststellung ein: „In den vergangenen Jahren hat sich ein dramatischer und unvorhersehbarer Wandel in den christlich-jüdischen Beziehungen vollzogen. Während des fast zwei Jahrtausende andauernden jüdischen Exils haben Christen das Judentum zumeist als eine gescheiterte Religion oder bestenfalls als eine Vorläuferreligion charakterisiert, die dem Christentum den Weg bereitete und in ihm zur Erfüllung gekommen sei. In den Jahrzehnten nach dem Holocaust hat sich die Christenheit jedoch dramatisch verändert.“ Der Text weist dann auf eine wachsende Zahl kirchlicher Gremien sowohl aus der katholischen wie auch evangelischen Kirche hin, die in Stellungnahmen und Dokumenten Reue über die Misshandlung von jüdischen Menschen und gegenüber dem Judentum äußerten. Die Stellungnahmen machten zugleich deutlich, dass es der kritischen Überprüfung und Reform christlicher Lehre und Unterweisung bedarf. So müsse der unverändert gültige Bund Gottes mit dem jüdischen Volk anerkannt und der jüdische Beitrag zum christlichen Glauben gewürdigt werden. „Wir sind davon überzeugt, dass diese Veränderungen eine wohl bedachte jüdische Antwort verdienen. Als eine Gruppe jüdischer Gelehrter unterschiedlicher Strömungen – die nur für sich selbst spricht – ist es unsere Überzeugung, dass es für Juden an der Zeit ist, die christlichen Bemühungen um eine Würdigung des Judentums zur Kenntnis zu nehmen. Wir meinen, es ist für Juden an der Zeit, über das nachzudenken, was das Judentum heute zum Christentum zu sagen hat.“
Die Autor/innen haben die Überzeugung, dass es mit den Bemühungen in den Kirchen seit dem Ende der Schoa, in Umkehr und Erneuerung ein neues Verhältnis zum jüdischen Volk und Judentum zu gewinnen, gewichtige Gründe gibt, das historisch so berechtigte jüdische Misstrauen gegenüber den Kirchen und dem Christentum, gegen den christlichen Glauben und die kirchlichen Dialogangebote zu überprüfen. Es ist eine nach vorn gerichtete Stellungnahme. Die Überschrift „Dabru Emet - Redet Wahrheit!“ ist ein Signalwort und hat programmatischen Charakter.
Die acht Leitsätze werden jeweils kurz erläutert. Ihre Überschriften lauten: „(1) Juden und Christen beten den gleichen Gott an. (2) Juden und Christen stützen sich auf das gleiche Buch – die Bibel (das die Juden ‚Tenach’ und die Christen das ‚Alte Testament’ nennen). (3) Christen respektieren den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel. (4) Juden und Christen anerkennen die moralischen Prinzipien der Torah. (5) Der Nazismus war kein christliches Phänomen. (6) Der nach menschlichem Ermessen unüberwindbare Unterschied zwischen Juden und Christen wird nicht eher ausgeräumt werden, bis Gott die gesamte Welt erlöst haben wird, wie es die Schriften prophezeien. (7) Ein erneuertes Verhältnis zwischen Juden und Christen wird die jüdische Praxis nicht schwächen. (8) Juden und Christen müssen sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen“.
Die Thesen und ihre Erläuterungen heben die positiven, aufrichtenden und öffnenden Entwicklungen auf christlicher Seite hervor, ohne Ambivalenzen völlig auszublenden. Es kommt zu Aussagen, die den Charakter einer Gegenthese zu der einen oder anderen Position auf jüdischer Seite haben können. Sie nehmen z.B. die Äußerungen von Anerkenntnis und Bekenntnis von Schuld und Versagen durch die Kirchen ernst, wo andere meinen, es sei angesichts der Zeitspanne von fast zwei Jahrtausend gelebter Polemik und antijüdischer Bedrohung durch Christentum und Kirche zu früh, auf eine wirkliche und erfolgreiche Abkehr der Kirchen von den Wegen der Verachtung zu setzen. Die Komponente eines indirekten Einspruchs hat die in der Eröffnungsthese geäußerte Überzeugung, dass „auch Christen... den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Schöpfer von Himmel und Erde anbeten“ und „durch das Christentum in eine Beziehung zum Gott Israels getreten sind“ (vgl. 1. These von „Redet Wahrheit“).
Diese These erscheint nämlich wie eine Gegenthese zur Position, das Christentum sei eine Irrlehre und götzendienerisch. Auch ist den Autor/innen der Gebrauch der Bibel Israels als „Altes Testament“ in der Kirche und durch Christen nicht Anlass zum Vorwurf der Enteignung der jüdischen Grundurkunde, sondern Grund dankbarer Anerkennung, dass Christen sich darauf stützen. Und ihre Feststellung, dass Juden und Christen das gleiche Buch in vielen Punkten unterschiedlich interpretieren, mündet in dem Plädoyer, diese Unterschiede zu respektieren (vgl. 2. These von „Redet Wahrheit“). Mit breiter innerjüdischer – auch orthodoxer – Akzeptanz kann freilich die achte These von „Redet Wahrheit“ rechnen: „Juden und Christen müssen sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen.“ Dass das Dokument so endet, könnte dem einen oder anderen wie ein protokollarisch üblicher oder selbstverständlicher Ausklang erscheinen. Und doch vergegenwärtigt die letzte These von „Redet Wahrheit“ das, was man den jüdischen cantus firmus im Dialog nennen könnte: die Wahrheit will im Tun bewährt werden.
„Redet Wahrheit“ hat eine engagierte, ja bisweilen leidenschaftliche innerjüdische Auseinandersetzung um seine Aussagen ausgelöst.114 Dabei hat es Zuschärfungen um einzelne der acht Leitsätze gegeben. Besonders umstritten war die fünfte These „Der Nazismus war kein christliches Phänomen“. Es wurde die geschichtliche Stimmigkeit ebenso kritisch befragt wie die Möglichkeit, dass eine solche These Christen ermuntern könnte, jeden Zusammenhang von Nationalsozialismus und Christentum zu leugnen. Die These sei allzu plakativ und bedürfe der Differenzierung.115
HANS HERMANN HENRIX
Christus im Spiegel anderer Religionen
Christus im Spiegel anderer Religionen
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"Christus in anderen Religionen" möchte andere Religionen - besonders das Judentum, den Islam sowie den Hinduismus und Buddhismus - als "Resonanzräume" für die christliche Botschaft verstehen und sie als fremde Orte der Begegnung mit Christus würdigen.
2.4.2. Eine theozentrische Eröffnungsthese
Auch die theozentrische Eröffnungsthese wurde Gegenstand heftiger innerjüdischer Kontroverse. Die Kritik galt der Überschrift der These: „Juden und Christen beten den gleichen Gott an“. Ebenso rief die kurze Erläuterung innerjüdischen Einspruch hervor: „Vor dem Aufstieg des Christentums waren es allein die Juden, die den Gott Israels anbeteten. Aber auch Christen beten den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Schöpfer von Himmel und Erde an. Wenngleich der christliche Gottesdienst für Juden keine annehmbare religiöse Alternative darstellt, freuen wir uns als jüdische Theologen darüber, dass Abermillionen von Menschen durch das Christentum in eine Beziehung zum Gott Israels getreten sind.“ Diese Sätze machen die theologische Ernsthaftigkeit der Stellungnahme deutlich und das in einem doppelten Sinn: zum einen mit ihrer Sachaussage und zum anderen, dass es die Eröffnungsthese von „Redet Wahrheit“ ist. Diese These fungiert wie ein Eingangsportal und setzt ein positives Vorzeichen zu dem, was in den weiteren Thesen folgt. Und auf diesem Eingangsportal steht nichts Geringeres, als dass jüdischerseits das christliche Bekenntnis zum Gott Israels anerkannt wird. Das ist ein „Spitzensatz“ einer jüdischen Theologie des Christentums. Allen Unterschieden in der Identität und allen Gräben der Geschichte zum Trotz bekennen sich – so die Aussage von „Redet Wahrheit“ – Juden und Christen zu diesem einen und selben Gott; beide Gemeinschaften stehen ihm gemeinsam gegenüber. „Ein stärkeres Argument für die gegenseitige Verbundenheit kann es im Grunde nicht geben“, und deshalb sehe ich in dieser ersten These „die entscheidende Herausforderung der ganzen Erklärung.“116
Die Eröffnungsthese hat bei christlichen Kommentatoren Zustimmung gefunden, weil sie dem christlichen Verständnis von der Identität des Gottes Israels und des sich durch den Sohn im Geist als Vater geoffenbart habenden Gottes entspricht. Sie ist allerdings auch auf z.T. scharfe jüdische Kritik gestoßen. So hat z.B. der anerkannte orthodoxe Gelehrte David Berger die erstaunliche Meinung geäußert, es mag zwar üblich sein zu betonen, dass Christen den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Schöpfer des Himmels und der Erde anbeten, aber „es ist wesentlich hinzuzufügen, dass die Verehrung Jesu von Nazareth als einer Manifestation oder Komponente jenes Gottes etwas konstituiert, das jüdische Halacha und Theologie awoda sara oder fremden Kult nennen – zumindest wenn es von einem Juden praktiziert wird“.117 Berger spielt mit dem Zusatz auf die talmudische Position an, nach der „Nichtjuden außerhalb Palästinas nicht als Götzendiener gelten. Sie halten sich nur an die Gebräuche der Väter“ (bHul 13b). Indirekt aber charakterisiert er damit die christliche Gottesverehrung als Götzendienst bzw. fremden Kult. Hier kommt David Berger der klassischen jüdischen Position nahe, für die das Christentum götzendienerisch ist. Berger wäre zu fragen, warum er eine bisher noch nicht angesprochene Vorstellung in der jüdischen Tradition nicht herangezogen hat.
Im Frühmittelalter benennen jüdische Autoren im innerjüdischen Diskurs nämlich ihren Eindruck, die christliche Verehrung Jesu Christi als wesensgleicher Sohn Gottes trage in Gott selbst ein nichtgöttliches Element ein, mit dem hebräischen Begriff schittuf. Halachisch, d.h. religionsgesetzlich ist der Begriff schittuf so etwas wie ein christentumsfreundlicher Begriff. Das Christentum sei jüdisch gesehen kein Götzendienst und keine Idolatrie, mit deren Anhänger man keinen Kontakt haben dürfe, sondern eben ein Schittuf: Es trage in Gott ein Mischelement der Zugesellung, der Assoziation, der Vergesellschaftung ein und verdunkle die klare Offenbarung vom einen-einzigen Gott.118 Der Schittuf-Begriff ist Reflex des jüdischen Unbehagens an der Menschwerdung Gottes, das sich im Dialog der Gegenwart freimütig äußert. Michael Wyschogrod, der „Redet Wahrheit“ ebenfalls und zwar wegen der Differenz in der Frage der „Göttlichkeit Jesu und der Aufhebung des mosaischen Gesetzes im Christentum“ ablehnte119, hat es einmal so zum Ausdruck gebracht: „Es gibt eine gute Begründung für die Schärfe der jüdischen Ablehnung der Menschwerdung. Wenn Gott in der Hebräischen Bibel dem Menschen auch noch so nahe kommt, wenn er auch noch so einbezogen wird in menschliche Hoffnungen und Ängste - so bleibt er doch der ewige Richter des Menschen, dessen Natur zwar im Bilde Gottes ist (vgl. Gen 1,26f.), der aber nicht mit Gott vermischt werden darf... In diesem Licht kann die Aussage, ein menschliches Wesen sei Gott gewesen, nur tiefste Beunruhigung in der jüdischen Seele auslösen”.120 Diesem jüdischen Unbehagen müsste im Dialog Rechnung getragen werden – und zwar nicht um die wechselseitigen Zurückweisungen zu verschärfen oder einen Konsens in einer Grundfrage aufzunötigen. Vielmehr geht es um das Abtasten der Möglichkeiten, in klarer Sicht der Andersheit des Grundverständnisses einen Respekt theologischer Qualität zu formulieren.
Das könnte z.B. für die christliche Theologie ein stärkeres Eingehen auf den jüdischen schittuf-Einwurf bedeuten. Sie wird den jüdischen Einwurf nicht auflösen können. Aber sie kann sich für das Anliegen dieses Einwurfs durchaus empfänglich zeigen, indem sie mit besonderer Aufmerksamkeit die Gefahr meidet, die Gott-Mensch-Einheit in Christus mit Begriffen der Verschmelzung, Symbiose oder Vermischung auszulegen. Damit bewegte sie sich eindeutiger, als dies immer geschieht, auf der Linie des Konzils von Chalcedon und seiner Lehre von dem einen Christus, „in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar..., wobei nirgends wegen der Einung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist“ (DH 302).121 Dass das christliche Dogma keine Vermischung der Kreatur mit Gott meint, ist in mancher christologischen Darstellung verdunkelt und im jüdisch-christlichen Dialog zu klären, wenn er sich der Gottesfrage zuwendet.
Das jüdische Nachdenken über die Offenbarung Gottes hat bei allem Festhalten an der Grunddifferenz zum christlichen Gedanken der Inkarnation zu geradezu „inkarnatorischen“ Aussagen über das Verhältnis von Gott zum jüdischen Volk geführt. Michael Wyschogrod beharrt bei all seinem Unbehagen gegenüber dem christlichen Inkarnationsgedanken darauf, dass die „göttliche Gegenwart in der geschaffenen Ordnung ... in einem Volk aus Fleisch und Blut verkörpert werden“; Gott „entschied sich, in die endliche Welt einzugehen, damit die in ihr lebenden Menschen eine Beziehung zu ihrem Schöpfer haben“; „die körperliche Erwählung Israels ist mit der Historizität des Judentums eng verbunden.“122 Im Kommentarband „Christianity in Jewish Terms“ zu „Redet Wahrheit“ haben Elliot R. Wolfson und Randi Rashkover als jüdischer Kollege bzw. jüdische Kollegin Wyschogrod zugestimmt und einen philosophischen Begriff der Inkarnation in Anspruch genommen, der eigens von einem bildlichen Körper Gottes spricht, um die Beziehung zur transzendenten Wirklichkeit als einer konkreten Form für denkbar zu halten.123 Im Blick auf die Ansätze einer jüdischen Theologie des Christentums, wie sie sich in „Redet Wahrheit“ geäußert haben, kann man von struktureller Selbigkeit im christlichen und jüdischen Gottesverständnis sprechen.124 Solche Strukturverwandtschaften und ihre deutliche Bejahung tragen dazu bei, in der christlichen Theologie die frühere Rede von einem im Vergleich zu Altem Testament und jüdischer Tradition ganz anderen Gott in Neuem Testament und Kirche obsolet zu machen.
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2.4.3. Respekt vor der Treue zur jeweils unterschiedlich verstandenen Offenbarung
Die sechste These von „Redet Wahrheit“ hat eine doppelte kritische Adresse: „Der nach menschlichem Ermessen unüberwindbare Unterschied zwischen Juden und Christen wird nicht eher ausgeräumt werden, bis Gott die gesamte Welt erlöst haben wird, wie es die Schriften prophezeien.“ In der Erläuterung dieser These kommt es dann zu erstaunlichen Parallelen in der Einschätzung des Dienstes gegenüber Gott bei Christen „durch Jesus Christus und die christliche Tradition“ und bei Juden „durch die Torah und die jüdische Tradition“, woraus gefolgert wird: „So wie Juden die Treue der Christen gegenüber ihrer Offenbarung anerkennen, so erwarten auch wir von Christen, dass sie unsere Treue unserer Offenbarung gegenüber respektieren“.
So sehr Christen die an sie gerichtete Adresse zu hören haben, so sehr bedeutet der erste Teil dieses Doppelsatzes die jüdische Anerkenntnis, dass im Christentum etwas von Gott her geschehen ist. Das hat den Charakter eines qualitativ Neuen. Es fordert nämlich im innerjüdischen Ringen den Respekt gegenüber Christinnen und Christen und zwar, weil sie ihrer Glaubenstradition gegenüber treu sind. Das ist ein neuer Klang. Das gute jüdische Wort eines Respekts gegenüber christlichen Frauen und Männern hat oft deren Menschlichkeit im Blick und dies manchmal abseits ihres Christseins. Hier aber wird die christliche Menschlichkeit nicht unter Absehung vom Christsein, sondern infolge des Christseins respektiert. Das ist menschliche Begegnung in theologischreligiöser Bewusstheit. Wo in christlicher Theologie als Frucht des Dialogs das christliche Lob Gottes ein Wort der Rühmung Israels seiner Treue wegen bei sich hat, da hat im innerjüdischen Ringen unserer Tage das von „Redet Wahrheit“ angeregte Lob Gottes ein Wort der Rühmung christlicher Treue bei sich. Wenn Christinnen und Christen jüdischen Respekt nicht trotz ihrer Treue zu ihrer Glaubenstradition, sondern aufgrund dieser Treue verdienen, dann erscheint eine solche Feststellung wie eine zentrale Aussage „einer jüdischen Theologie des Christentums“.
2.4.4. Ein Resümee
Aufgabe dieses Abschnitts war es, den Kontext des Themas „Christus im Spiegel des Judentums“ zu vergegenwärtigen. Als dieser Kontext wurde das Christentum im Spiegel des Judentums diskutiert. Stimmen des gegenwärtigen Judentums erinnerten daran, dass der Schatten einer langen Geschichte von Entfremdung, Polemik und Feindseligkeit zwar präsent ist, und dennoch wird von einzelnen Gelehrten eine jüdische Dimension im Christentum wahrgenommen und wertgeschätzt. Die Forderung, dieses näher zu bedenken und zu prüfen, führte zum Programmwort von einer jüdischen Theologie des Christentums bei Jakob J. Petuchowski. Ein historischer Längsschnitt ging der geschichtlichen Voraussetzung eines solchen zeitgenössischen Projekts nach. So wurde die Vielfalt, aber auch die Entwicklung der jüdischen Einschätzung des Christentums skizziert. Das Judenchristentum galt den Rabbinen als Abfallbewegung. Die Entwicklung des Christentums zu einem „Heidenchristentum“ schlug sich in der rabbinischen Einschätzung als Götzendienst nieder. Bei der Befragung der mittelalterlichen jüdischen Autoritäten stach Jehuda Hallevi insofern hervor, als er die Präsenz jüdischer Elemente im Christentum anerkennen konnte. Und Maimonides, der zunächst das Christentum als Götzendienst zurückwies, würdigte später die christliche Anerkennung der Bibel Israels als Wort Gottes, was die Christinnen und Christen in seiner Vorstellung praktische Monotheisten sein ließ. Christentum in diesem jüdischen Spiegel zeigte also eine Komponente „Judentum im Christentum“. Von den weiter vorgestellten jüdischen Autoritäten der Geschichte vertiefte in der Zeit der Aufklärung Jakob Emden diese Sicht von „Judentum im Christentum“, insofern er das Christentum eine Wohltat nannte, weil es die Verbindlichkeit der Tora betonte und der Welt den Glauben an den Gott Israels verkündete. Dieser Ansatz fand in Positionen einer Reihe von jüdischen Gelehrten der Neuzeit und Gegenwart eine Vertiefung. Ihrem Selbstverständnis nach bemühten sie sich um die vertiefte Klärung der Beziehung von Judentum und Christentum als Einzelautoren. Mit dem Projekt von „Dabru Emet“ kam es zu einer korporativen Verdichtung in der Bemühung um eine jüdische Theologie des Christentums, die sich in einer Reihe von Thesen entfaltete und innerjüdisch Zustimmung wie auch Zurückweisung fand. Die öffentliche Kontroverse um „Dabru Emet“ innerhalb des Judentums ist freilich zur Ruhe gekommen.
Die Diskussion um „Dabru Emet“ war wie das Dokument selbst auf das Christentum fokussiert und galt besonders der gegenwärtigen und zukünftigen Beziehung von Judentum und Christentum. Zu ihrem weiteren Umfeld gehört aber eine wissenschaftliche Diskussion, die ihre ganze Aufmerksamkeit der Anfangsstrecke der Beziehung von Judentum und Christentum widmet und darin den Ort Jesu im Judentum besser zu verstehen sucht. Die drei Stichworte dieser Diskussion sind: „the third (re-)quest“ bzw. die dritte Phase der Jesusforschung; „the parting of the way“ bzw. das Auseinandergehen der Wege und „new perspective on Paul“ bzw. der neuen Perspektive zu Paulus. Die Vergegenwärtigung dieser Forschungslandschaft wird im nächsten Kapitel zum Thema „Christus im Spiegel des Judentums“ hinführen, das dann im Mittelpunkt der Erwägungen stehen wird.
BÜCHER von Hans Hermann Henrix
ANMERKUNGEN
110 Vgl. Geoffrey Wigoder, Jewish-Christian Relations since the Second World War, Manchester/ New York 1988, 69ff.
111 Schalom Ben-Chorin, Ist im Christentum etwas von Gott her geschehen? Ein Versuch jüdischer Theologie des Christentums: Concilium 24 (1988) 123-129; Hanspeter Heinz/Hans Hermann Henrix (Hg.), „Was uns trennt, ist die Geschichte“. Ernst Ludwig Ehrlich – Vermittler zwischen Juden und Christen, München/Zürich/Wien 2008; Emil L. Fackenheim, Was ist Judentum?, Berlin 1999; Albert H. Friedlander, Ein Streifen Gold. Auf Wegen zur Versöhnung, München 1989; Leon Klenicki, Toward a Theological Encounter: Jewish understandings of Christianity, Mahwah 1991, Novak 1989 u.a.
112 Text: Nationalprojekt jüdischer Gelehrter, „Dabru Emet“. Eine jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum vom 11. September 2000, in: KuJ II, 974-976, 974. (Der Text ist in autorisierter deutscher Übersetzung online hier zu lesen: http://www.jcrelations.net/Dabru_Emet__-_Redet_Wahrheit.2419.0.html?L=2).
113 Frymer-Kensky 2000.
114 Siehe für den deutschsprachigen Bereich nur: Weinrich/Kampling 2003; die Beiträge von Hans Hermann Henrix, Michael A. Signer und Leon Klenicki in: Hans Hermann Henrix (Hg.), Fenster zur Welt. Fünfzig Jahre Akademiearbeit in Aachen, Aachen 2003, 284-321; Hanspeter Heinz, Wie Juden das heutige Christentum sehen. Zur jüdischen Erklärung „Dabru emet“: FR NF 10 (2003) 2-15; Erwin Dirscherl/Werner Trutwin (Hg.), Redet Wahrheit – Dabru Emet. Jüdischchristliches Gespräch über Gott, Messias und Dekalog, Münster 2004; Madragule Badi 2006, 41- 48; Hubert Frankemölle (Hg.), Juden und Christen im Gespräch über „Dabru emet – Redet Wahrheit“, Paderborn-Frankfurt 2005; Eva Schönemann, Bund und Tora. Kategorien einer im christlich- jüdischen Dialog verantworteten Christologie, Göttingen 2006, 41-55; Wohlmuth 2007, 119– 137 (= Jesusinterpretation im jüdisch-christlichen Gespräch seit Dabru emet); Erich Zenger, Gott hat niemand je geschaut (Joh 1,18). Die christliche Gottesrede im Angesicht des Judentums: Bibel und Kirche 65 (2010) 87-93.
115 James Rudin, Redet Wahrheit – eine jüdische Gegenstimme, in: http://www.jcrelations.net/Redet_ Wahrheit_-_eine_j__dische_Gegenstimme.1288.0.html?id=876, ähnlich Edna Brocke, Dabru Emet – eine Bewertung aus jüdischer Sicht, in: http://www.jcrelations.net/Dabru_Emet_- _eine_Bewertung_aus_j__discher_Sicht.2293.0.html?id=895 (jeweils abgerufen: 1. Mai 2014).
116 So mit Michael Weinrich, Sind wir schon so weit? Ein protestantischer Blick auf Dabru emet, in: Weinrich/Kampling 2003, 31-42, 38.
117 David Berger, Dabru Emet: Some Reservations about a Jewish Statement on Christians and Christianity – October 28, 2002, in: http://www.ccjr.us/dialogika-resources/documents-andstatements/ analysis/286-dabru-emet-berger (abgerufen: 2. Mai 2014). Vgl. auch K. Hannah Holtschneider, Dabru Emet – Redet die Wahrheit. Zur Zukunft des christlich-jüdischen Dialogs: Orientierung 68 (2004) 150-154.
118 Zum Verständnis des schittuf-Begriffs siehe die Arbeiten von Clemens Thoma: Christliche Theologie, Aschaffenburg 1978, 190; ders., Die jüdische Liturgie und die Kirche, in: Hans Hermann Henrix (Hg.), Jüdische Liturgie. Geschichte - Struktur - Wesen (QD 86), Freiburg 1979, 122-136, 128ff; ders., Theologie ohne Judenfeindschaft. Eine Problemanzeige für die Systematische Theologie, in: Martin Stöhr (Hg.), Jüdische Existenz und die Erneuerung der christlichen Theologie (Abhandlungen zum christlich-jüdischen Dialog 11), München 1981, 13-31, 23ff.; ders., Artikel „Schittuf”, in: Petuchowski/Thoma 1989, 359-362 oder Thoma 1994, 106ff. Siehe auch: Edward Kessler, Artikel „Shittuf“, in: Kessler/Wenborn 2005, 404; Michael A. Signer, Brücken bauen. Aufsätze und Vorträge zum jüdisch-christlichen Verhältnis. Herausgegeben von Rainer Kampling, Hans Hermann Henrix und Peter von der Osten-Sacken (Studien zu Kirche und Israel 29), Berlin 2013, 201-210 (= Trinität, Einheit, Idolatrie? Mittelalterliche und moderne Perspektiven zu schittuf).
119 Michael Wyschogrod, A Letter, in: Jewish-Christian Dialogue: Jon D.Levenson & Critics: Commentary (April 2002), 8-21, 16; vgl. auch ders., A Theological Difference: Commentary 04.01.05 (http://www.commentarymagazine.com/article/a-theological-difference/ [abgerufen: 2. Mai 2014]).
120 Michael Wyschogrod, Ein neues Stadium im jüdisch-christlichen Dialog: Freiburger Rundbrief XXXIV (1982) 22-26, 26; ähnlich ders., Christologie ohne Antijudaismus?: KuI 7 (1992) 6-9 und: Wyschogrod 1995 sowie ders., Gott und Volk Israel. Dimensionen jüdischen Glaubens, Stuttgart 2001, 185-188.
121 Vgl. als Beispiele christologischer Reflexion im Anschluss an diese Argumentationslage und das Konzil von Chalcedon nur: Hans Hermann Henrix, „Israel ist seinem Wesen nach formale Christologie“. Die Bedeutung H.U. von Balthasars für F.-W. Marquardts Christologie: BThZ 10 (1993) 135-153, 148ff. und Wohlmuth 1996, 55ff.
122 Zitate aus Wyschogrod 2001, 23 und 158.
123 Elliot R. Wolfson, Judaism and Incarnation: The Imaginal Body of God und Randi Rashkover, The Christian Doctrine of the Incarnation, in: Frymer-Kensky 2000, 239-254, bes. 240 und 254- 261, 254.
124 So hat es Clemens Thoma bereits vor dem Erscheinen von „Dabru Emet“ getan, als er meinte, die Christen haben „strukturell dieselbe Gottessicht wie die Juden. Der Glaube an die göttliche Dreifaltigkeit drückt tendenziell dasselbe aus, was das gegenseitige Bundesverhältnis und die gegenseitige Zusammenfindung von Gott, Israel und Tora meint“, so: Thoma 1994, 106-111 (Zitat: 108). Ähnlich: Reinhard Neudecker, Die vielen Gesichter des einen Gottes. Christen und Juden im Gespräch, München 1989. Eine analoge Herausarbeitung von Strukturverwandtschaften zwischen jüdischer Tradition und christlichem Trinitäts- und Inkarnationsverständnis versuchte mehrere Jahre vor „Dabru Emet“ Barbara J. Redman, die der Lubawitscher Bewegung angehört: One God. Toward a Rapprochement of Orthodox Judaism and Christiantiy: JES 31 (1994) 307- 331.
Der Autor
Kontakt zum Autor und/oder Compass:
Prof. Dr. phil. h.c., Dipl.-Theol., langjähriger Direktor der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen. Seit 1977 Mitglied des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Von 1985 bis 1987 war Henrix katholischer Vorsitzender des Deutschen KoordinierungsRates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit.
Seit 1979 ist er Mitglied der Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz „Fragen des Judentum“ bzw. der Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, und von 1990 bis 2013 gehörte er der vatikanischen Delegation bei den offiziellen Treffen des Internationalen Verbindungskomitees zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem jüdischen Volk an. Seit 2009 Honorarprofessor der Universität Salzburg.
Homepage:
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