ONLINE-EXTRA Nr. 206
Wer denkt, bei der Kombination "Wein und Judentum" handele es sich um ein marginales Nischenthema, wird sich nach Lektüre der nachfolgenden Rezension und gegebenenfalls erst recht nach Lektüre des rezensierten Buches eines gehörig Besseren belehrt sehen. Das beginnt man bereits zu ahnen, wenn man sich vor Augen hält, dass Rebe, Traube und Wein Hunderte von Malen in praktisch allen Büchern der hebräischen Bibel erwähnt wird. Mehr noch, die Weinrebe war - wie der israelische Autor Asaph Goor schreibt - "im alten Israel sehr verbreitet und nahm einen Ehrenplatz in der Wirtschaft des Landes ein. Wein war ein Volksgetränk und wurde alltags wie an Festtagen getrunken. Frische und getrocknete Trauben wurden damals in allen Volksschichten verbraucht."
Demzufolge kann es kaum verwundern, dass die Bedeutung von Wein im Judentum seit Jahrhunderten Teil jüdisch-religiöser Diskurse ist. Darf Wein getrunken werden? Von wem? Und vor allem welcher Wein? Dies sind nur einige Fragen mit denen sich Rabbinen, Philosophen, Händler und jüdische Menschen in Deutschland und in der Welt auseinandersetzen. Der kürzlich im Berliner Neofiles Verlag erschienene Band "Wein und Judentum" versammelt nun Beiträge, die auf ein im Jahr 2012 in Mainz veranstaltetes, international besetztes Symposium zurückgehen. Dabei wurde versucht, die kulturgeschichtliche Bedeutung des Themas aus verschiedenen Blickwinkeln und in unterschiedlichen Epochen darzustellen und zu analysieren. Theologische, literarische, historische und sozialgeschichtliche Aspekte wurden dabei genauso in Betracht gezogen wie Gender-Fragen. (Für weitere Angaben siehe die Buchanzeige im oberen Abschnitt).
Der nachfolgende Text des im christlich-jüdischen Dialog bewanderten Weinkenners Hartmut May (siehe Autoreninfo am Ende) ist dabei nicht nur eine gewöhnliche Rezension, sondern vielmehr eine ausführliche Buchvorstellung. Während der erste und vor allem letzte Abschnitt ("Votum") die klassischen Erwartungen einer Rezension erfüllen, mithin also einen Überblick zum besprochenen Band und eine abschließende Wertung liefern, stellt May in den Hauptabschnitten seiner Buchvorstellung die einzelnen Beiträge des Buches relativ ausführlich vor. Auf diese Weise gewinnt man nicht nur einen ersten Eindruck von der Fülle und Bandbreite des Themas und somit des besprochenen Bandes, sondern erfährt zugleich schon eine Menge an teilweise überraschenden Details, die ohne Frage Lust auf "Mehr" machen und zur vollständigen Lektüre des Bandes animieren wollen.
COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!
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Online-Extra Nr. 206
Seit biblischen Zeiten ist das Judentum eng mit dem Wein verbunden. Unvermittelt, ohne Mythologie, wie von selbst verständlich, tritt der Wein in die biblische Geschichte ein, denn es entsprach dem Bedürfnis und der Fähigkeit des Menschen, dass er Weinberge anpflanzte und aus den Trauben Wein gewann. Und er war eine Gottesgabe, die den Menschen in seinem harten Dasein nach der Vertreibung aus dem Paradies trösten sollte. Indem der Wein gleich nach dem neuen Bund Gottes mit den Menschen auf den Plan tritt, kann es nicht verwundern, dass er in Kunst, Kultus und Ökonomie des Landes eine prominente Rolle spielt.
In dem kürzlich erschienenen Band „Wein und Judentum“ erfahren wir, dass sich die jüdische Forschung bereits seit 200 Jahren mit den antiken Quellen, besonders den biblischen Texten, zum Thema befasst. Standen in der wissenschaftlichen Forschung vor allem religiöse Gesichtspunkte der Fragen rund um Weinerzeugung und –genuss im Vordergrund, unternimmt „Wein und Judentum“ den Versuch, das Thema anhand kulturgeschichtlicher Texte einzuhegen. Die Beiträge des 246-Seiten-Bandes, herausgegeben 2014 im Berliner Neofelis-Verlag, gehen dabei auf ein international besetztes Symposion mit 14 Vorlesungen an der Johannes-Gutenburg-Universität Mainz, Lehrstuhl für Judaistik, im Herbst 2012 zurück.
In einem breit angelegten Panorama zeigen elf Wissenschaftler u. a. von US-amerikanischen und israelischen Universitäten auf, wie die rabbinische Literatur Einfluss auf die Weinkultur genommen hat, bis hin zum säkularen Umgang mit dem Getränk, das aufgrund seiner Doppelnatur sowohl Segen als auch Fluch bedeuten konnte. Dass im Talmud, einer Sammlung religiöser Texte, ein Satz wie der folgende auftaucht, „wer seinen Becher in einem Zug austrinkt ist ein Schlemmer, wer in zwei Zügen, hat Anstand, wer in drei, ist hochmütig“, wirft ein Schlaglicht auf eine weltweit einmalige, jüdische Weinkultur.
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Die in diesem Band versammelten Beiträge zum Thema Wein und Judentum gehen auf ein im Jahr 2012 in Mainz veranstaltetes Symposium zurück. Hier wurde versucht, die kulturgeschichtliche Bedeutung des Themas aus verschiedenen Blickwinkeln und in unterschiedlichen Epochen darzustellen und zu analysieren. Literarische, historische und sozialgeschichtliche Aspekte wurden dabei genauso in Betracht gezogen wie Gender-Fragen.
Standen in der Forschung bislang vor allem religiöse Gesichtspunkte im Fokus, hebt Wein und Judentum im weiteren Sinne kulturgeschichtlich relevante Texte und Erscheinungen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Beiträge des vorliegenden Bandes reichen dabei zeitlich von der Spätantike, insbesondere von den bis heute grundlegenden erzählenden (aggadischen) Texten der rabbinischen Literatur, über das Mittelalter mit seinen zahllosen Zeugnissen – von magischen Praktiken bis hin zu Parodien – bis in die Neuzeit, in der Wein nicht nur in philosophischer Hinsicht bedacht wurde, sondern in der Juden auch als Weinhändler aktiv waren und der Umgang mit Wein im säkularen Kontext zu einem wichtigen kulturellen Faktor wurde. Immer wieder deutlich wird dabei die Ambivalenz des Getränkes, das eben Segen und Fluch bedeuten konnte und dessen Genuss zu unterschiedlichen Zeiten mit wechselnden Begründungen sanktioniert wurde.
Eine Bibliographie zum Thema „Wein und Judentum“, das auch heute wie ein Faden durch die Geschichte leitet, rundet den Band ab.
„Trinkt eine Frau vier Becher Wein, so fordert sie einen Esel auf der Straße auf.“
Gleich der Beitrag in dem Sammelband von der Judaistik-Professorin der FU Berlin, Tal Ilan, Spezialistin für den Bereich jüdischer Frauen in der Antike, beschäftigt sich mit dem Problemkreis „Frauen und Wein“, besonders im babylonischen Talmud. Sie fördert zu Tage, dass im Unterschied zum Tenach (Bibel) der Weingenuß – zumindest für arme – Frauen eingeschränkt wurde. In freier Würdigung von Hosea 4, 11, („Hurerei, Wein und Most nehmen den Verstand.“ – sind nicht auch Männer angesprochen?) wurde Wein mit Prostitution in Zusammenhang gebracht. Eine Einzelmeinung gesteht den Frauen während der Stillzeit ausnahmsweise Wein zu, weil dadurch die „Milchleistung“ erhöht werde.
Auch die Unterschiede zwischen dem Jerusalemer (Yerushalmi) und dem babylonischen Talmud (Bavli) legt Tal Ilan frei: die Jerusalemer Überlieferung lehnt Wein selbst für stillende Mütter ab. Eine Ausnahmebestimmung findet der babylonische Talmud: Wein zum Kochen oder Würzen von Speisen – falls die Frau daran „gewöhnt“ ist. Was Weinreichtum damals bedeutete ist aus der Erzählung von Yalta (Bavli) ersichtlich. Die erzürnte Frau zerschlug im Weinkeller des Ehemannes 400 Fässer.
Schließlich sind sich die Rabbiner von Jerusalem und Babylon völlig einig: Wein ist geeignet für Männer, aber nicht für Frauen. Wein passt zu Männern, sprich: ist geeignet ihnen Freude zu bereiten, zu Frauen passen Schuhe und Bänder, zu Kindern Nüsse. Dass zum Pessach-Fest, dem vielleicht wichtigsten Fest der Judenheit, auch von Frauen - und Kindern – vier Becher Weins zu trinken sind, darüber sind sich ausnahmsweise der Jerusalemer und der babylonische Talmud einig: weil auch Frauen an dem Wunder teilnahmen. Die palästinensische Baraita – eine Geschichte die zu den engeren Lehren des Talmud nicht dazugehört – spricht von der Gefahr, dass eine Frau nach dem Genuss von vier Bechern Wein sexuell so verwirrt sein könnte, dass sie sich einem Esel auf dem Markt anbieten könnte. Für Tal Ilan ist diese Sicht freilich Ausdruck „palästinensischer Prüderie“. Insgesamt jedenfalls gewährt Tal Illan neben der Übersicht auf die Entwicklung der Weinkultur – nach der babylonischen Eroberung – auch einen verstörenden Blick auf das Frauenbild jener Zeit.
„Gießen Sie den Wein in die Kehle der weisen Schüler“
Unter dieser Überschrift geht der Judaist Dr. Guiseppe Veltri von der Universität Halle der „Frage des Alkoholgehalts (italienischen) Weins in der rabbinischen Literatur“ nach. Unter Berufung auf Stücke einer Weisheitsschrift der Kairoer Geniza (Aufbewahrungsort heiliger bzw. religiöser Schriften) sowie auf talmudische Texte verdeutlicht der Autor, wie das rabbinische Judentum sich praktisch nur noch mit den problematischen Arealen im „Weinberg des Herrn“ befasst hat. Texte des Hohen Liedes, in der Kneipe gesungen, da ist Eros und Sex nicht mehr weit, Unsittlichkeit und Unzucht Tür und Tor durch den Wein geöffnet. Stehen die vielen Wein- und Liebeslieder in der Kairoer Geniza, die der Autor für damals weit verbreitet hält, nicht auch dafür? Da ist eine gute Alternative, den Wein direkt in die Kehlen der weisen Schüler zu gießen. Oder ist der Talmudtext als eine Satire zu werten, weil die Talmud-Schüler des Weines nötiger als des Altars bedürfen? Vermutlich nicht; denn die Weisen kommen zum bekannten Schluss, „der Betrunkene scheut sich nicht vor dem Herrn“, „der Trunkene lernt keine Erkenntnis.“
Das Auffinden von italienischen Weinamphoren im den Gewölben des ehemaligen Herodespalastes und in der Jerusalemer Altstadt geben noch heute Rätsel auf. Schon ältere Forscher, so Dr. Veltri, hätten das Problem nicht klären können. Konnte der Wein halachisch in Ordnung sein? Welchen Alkoholgehalt wies er auf und wieviel konnte man ohne Gefahr der Trunkenheit davon zu sich nehmen? Gab es überhaupt einen Markt für ausländische Weine in Palästina? In einer abschließenden Würdigung kommt Dr. Veltri zu dem Schluss, dass auch nachdem der Tempel den Kultus nicht mehr bestimmte, das Weinopfer nicht völlig wegfiel, indem es Bestandteil der Liturgie in der Synagoge wurde, womit auch die „Kehlen der weisen Schüler“ gemeint sein könnten – „eine ironische Metapher des Wechsels von der priesterlichen zur rabbinischen Macht.“
Noah zwischen Rausch, Verletzung und Schuld
Mit diesem Zusammenhang beschäftigt sich Dr. Susanne Plietzsch, Professorin für Jüdischen Studien an der Uni Leipzig und Leiterin des Zentrums für jüdische Kulturgeschichte an der Uni Salzburg. Über die Vielschichtigkeit der Person des Noah, als Stammvater der Menschheit und erstem Winzer der Geschichte nähert sich die Theologin der Ambivalenz des Weins, die sie auch schon in der Persönlichkeit Noahs angelegt sieht (Noah musste den Wein und seine Wirkungen aus seinem Leben vor der Sündflut – inmitten einer verderbten Bevölkerung - gekannt haben; Anmerkung d. V.).
Neben der Hochschätzung des Weins in seiner häuslich-liturgischen Verwendung kommen die Rabbinen sogleich auf seine problematische Verwendung im Zusammenhang mit körperlicher Liebe zu sprechen. So wird in einer Passage des babylonischen Talmud die Meinung geäußert, die verbotene Frucht, die die ersten Menschen aßen, sei eine Weintraube gewesen. Noah hätte dies wissen sollen, und die Menschen vor Unheil und Leid bewahren können. Zwar trifft Noah in der nüchternen Erzählweise des Mose-Buches kein Vorwurf oder Tadel, aber die Talmud-Autoren sehen Noah für seine Tat – die selbstverschuldete Trunkenheit und seine Entblößung in seinem Zelt – gestraft, indem ihm trotz weiterer 350 Jahre Lebenszeit kein neuer Sohn geboren wird. Auch die Verfluchung seines Enkels Kanaan, obwohl doch der Sohn Ham einen unziemlichen Blick auf den Vater Noah wirft, gibt den Talmud-Rabbinern allerhand Stoff zur Spekulation oder sollte man sagen Auslegung. Eine Darstellung im Midrasch Tanhuma geht sogar noch weiter und lässt – vielleicht auch ein wenig als Entlastung für Noah – den Satan auftreten, der Noahs Weinberg über Nacht mit dem Blut eines Schafes, eines Löwen, eines Schweins und eines Affen gedüngt haben soll. So finden sich denn die hervorstechenden Charakter-Eigenschaften dieser Tiere im Wein.
Dass frühjüdische Autoren Noah möglichst „schuldlos“ aus der Affäre entkommen lassen, während die rabbinischen Autoren ihn in schwerster sexueller Verstrickung erkennen, sieht Dr. Plietzsch als Folge des Verlusts des Tempels, nach dem sich der jüdische Diskurs in seinem Blick von der gesamten Menschheit zu einem innerjüdischen verengt habe. Die kritische Noahinterpretation wäre demnach im Kontext des zeitbedingten Bedürfnisses nach Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden zu sehen.
„Zehn plus Zehn plus Fünfzig gleich Siebzig“
Farina Marx (M.A.) von der Universität Düsseldorf geht unter dieser Überschrift der Frage nach, wie in der rabbinischen Literatur Geheimnisse mit Hilfe des Weins entdeckt werden. Den wenigsten Weinfreunden war bekannt, dass die auch unter Nichtjuden sprichwörtlich gewordene Passage, „Wein hinein, Geheimnis heraus“, sich ursprünglich im babylonischen Talmud findet. Frau Marx führt dabei in das Gebiet der Gematria ein, die Wortdeutung aufgrund des Zahlenwertes der hebräischen Buchstaben. Dabei verrät sie, dass „Wein hinein, Geheimnis heraus“ – verwandt mit dem lateinischen „in vino veritas“ - aus dem babylonischen Talmud stammt. Tatsächlich beschäftigten sich Rabbiner der vierten und fünften Generation nach der Zerstörung des zweiten Tempels mit dem Problem, dass Wein und Geheimnis gematrisch den gleichen Zahlenwert aufweisen. Es wird von dem Versuch berichtet, den Wein als Medium zu nutzen, um junge Menschen zur Zukunft des Volkes zu befragen. Eine zweite in dem Zusammenhang angegebene Talmud-Stelle hebt die Fähigkeit des Weins hervor, Menschen nicht nur Geheimnisse zu entlocken, sondern sie auch zu besänftigen, womit sie eine „Eigenschaft Gottes“ erlangten, denn Gott wurde trotz des Zulassens der Vernichtung der Staatlichkeit und des Tempels immer noch als ein sanftmütiger Herrscher gesehen. Aus einer älteren (dritte Generation) von Gelehrten stammte das Diktum, der Wein solle in einem Haus „wie Wasser fließen“, erst dann sei ein Haus mit göttlichem Segen versehen.
In der Toraauslegung anderer Interpreten findet sich aber auch das genau gegenteilige Verständnis von „Wein hinein, Geheimnis heraus.“ Hier wird das "Hinausgehen" des Geheimnisses negativ verstanden in dem Sinne, dass unter Weinkonsum keine Weisheits-Geheimnisse gebildet werden können. Die Erzählung will den Weinkonsum einschränken. Selbstverständlich wird auch das Verbot des Weingenusses bei Durchführung kultischer Handlungen referiert: Wer Wein getrunken hat, soll nicht beten.
Wein in der jüdischen Magie des Mittelalters
Mit dem Beitrag von Dr. Bill Rebiger, FU Berlin, wendet sich „Wein und Judentum“ von Sujets der Antike solchen des Mittelalters und der frühen Neuzeit zu. Auch dieser Autor greift tief in die Geheimnisse der jüdischen Kultur und den Wissensbestand der Rabbiner hinein. Dass der Schabbat mit einem Becher Wein begrüßt und am Tag darauf verabschiedet wird, bei Hochzeiten zwei Becher Wein zu trinken sind, beim Pesach-Fest vier Becher und an Purim sogar Trunkenheit erwünscht ist (es ist so viel Wein zu trinken, bis man zwischen dem Lobpreis Mordechais und der Verfluchung Hamans nicht zu unterscheiden vermag), war allgemein bekannt, dass aber von diesen Ritualen magische Praktiken abgeleitet wurden, dürfte weithin unbekannt sein.
So ist im Havdala-Ritual unter einer bestimmten Beschwörung die „Öffnung des Herzens“ zu erreichen – die Fähigkeit Erlerntes nicht mehr zu vergessen. Beim rituellen Weintrinken zum Seder-Mahl kann das Schwert des Allmächtigen herbeigerufen werden sowie die Pest oder andere Schadgeister bekämpft werden. Auch das absichtsvolle Verschütten von Wein bei der Havdala-Zeremonie und Hochzeiten soll Schutzwirkung entfalten. Neben palästinensischen Metallamuletten gehören babylonische Zauberschalen und Fragmente der Kairoer Geniza (Aufbewahrungsort heiliger bzw. religiöser Schriften) zu den wichtigsten Zeugnissen für die Spätantike bis zur islamischen Eroberung. So findet sich in der Kairoer Geniza der Hinweis auf eine Salbe aus Wasser und Wein, die unter Aufsagen von Zaubersprüchen dazu verhilft, Diebesgut wieder aufzufinden – Wahrsagekunst mit Wein.
Wein als „materia magica“ fand in unterschiedlichen Praktiken statt: durch Trinken, Besprechen und Trinken, Besprechen und anschließendem Einreiben, Waschen und Schreiben. Nicht nur bei Krankheiten wurde Wein-Zauber angewandt, es war auch Liebes-Zauber unter Zuhilfenahme von Wein bekannt. 30 verschiedene Bezeichnungen für Weindiversitäten waren im Talmud benannt. Selbst für Mittel- und Oberschichtfamilien wurde der Ruin durch teure Weinimporte befürchtet.
Während konsekrierter Wein aus christlicher Hand Juden streng verboten war, gab es Christen, die auf die Heilwirkung jüdischen Weins vertrauten. Freilich fand Wein als Heilmittel auch Verwendung ohne Zuhilfenahme magischer oder zauberischer Praktiken, etwa bei Augen- oder Magenleiden, Melancholie, und ganz regulär unter Beifügung von Heilkräutern etc. Auch Lösezauber gegen Impotenz waren bekannt.
Schließlich verdankt sich einem Talmud-Zitat auch die Einteilung der Trunkenheit in verschiedene Grade. Während Beschwippstheit, die Leichtigkeit des Seins, etwa an Purim unbedingt erwünscht war, wurde Volltrunkenheit natürlich abgelehnt. Wer noch vor dem „König sprechen“ konnte, also die Zunge noch im Zaum zu halten vermochte, galt noch nicht als betrunken. Nur für den Fall, dass die Gegenwart des Königs keinen Einfluss mehr ausübte, galt als Zeichen, dass jemand völlig betrunken war.
Wein in der Kabbala und im Chassidismus
Dr. Elke Morlok, zuletzt Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Jüdische Philosophie und Geistesgeschichte an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, räumt mit der Erwartung auf, dass in der wein-durchtränkten Kultur des jüdischen Volkes der Wein auch in Kabbala und Chassidismus eine besondere Rolle spielen würde. Bereits in ihren einleitenden Zitaten aus dem Zohar, dem Hauptwerk der Kabbala, wird Wein nur seiner roten Farbe wegen – als Symbol für Gericht - zitiert und die göttliche Liebe über den Wein gestellt: „deine Liebe ist lieblicher als Wein“. Die göttliche Liebe versetzt den Menschen demnach in einen noch freudigeren – ekstatischen – Zustand als der Wein. Kein Wunder, dass hier der Ausdruck des „Tora-Trinkens“ benutzt wird. Wein symbolisiert allerdings die kommende Welt und es ist bezeichnenderweise ein lange eingelagerter Wein, der die Gerechten im kommenden Paradies beglücken soll. Für die diesseitige Welt bleibt der Wein jedoch in der Kabbala ambivalent. So angenehm die Freude, Glanz und Ausgelassenheit im Weingenuss beginnen mag, das Ende ist nur vorstellbar in Traurigkeit und Sorge. Deswegen genießen andere Flüssigkeiten, wie Milch, Honig, Öl und Wasser den Vorzug.
Die Beschäftigung der Kabbala mit der christlichen Eucharistie-Feier liefert einen Hinweis zu ihrer Entstehungszeit. Die Transsubstantation von Brot und Wein wird eindeutig abgelehnt. Auch ist der Messias weder eine historische noch eine eschatologische Gestalt; wie Wein wird er versiegelt, da nur er weiß, wie die Tora als eine Kette göttlicher Namen gelesen wird. Der Gebrauch des Weines im Abendmahl der Christen wird als Missbrauch gesehen, der dabei gebrauchte Wein mit dem „Becher des Zornes Gottes“ verglichen, aus dem nach Jeremia 25 alle Völker trinken müssen. Schließlich wird Wein im Zusammenhang mit dem Ursprung des Bösen vermutet, sein Genuss mit Nacht und Dämonen assoziiert. Versöhnlich klingt, dass während ausgesprochener Trauerzeiten – um den Verlust des Tempels etc. – kein Wein getrunken werden soll, außer man fastet.
Wein war vermutlich nicht die Triebkraft für die ekstatischen Gesänge und Tänze der Chassiden. Auch hier trifft Dr. Morlok eine ambivalente Haltung zum Wein an. Zwar sagt Rabbi Pinchas Shapira aus Koretz: „Der Talmud erklärt, dass Weingenuss in Maßen zur Entfaltung des Gehirns führt. Wer völlig abstinent lebt, wird selten von Weisheit besessen.“ Und ein weiterer Gelehrter der Zeit zitiert: „der Talmud erklärt, dass bis zum Alter von 40 Jahren wir mehr Befriedigung im Essen finden, doch nach 40 im Trinken. ? erinnere dich daran, dass der Dienst an Gott wie Wein ist, und Wein ist am besten, wenn er alt ist.“ Auch von Baal Shem Tov ist eine Anekdote mit Wein überliefert: In der Walachei wurde ihm Wein in einem sehr kleinen Glas gereicht. Da das Getränk ihm mundete, fragte er, warum das Glas so klein sei. Da wurde er auf die Stärke des Weins aufmerksam gemacht. Er erklärte, dass er dies nicht fürchte und bekam ein großen Glas gefüllt. Er trank es ganz und spürte sofort die Wirkung; die Haare standen ihm zu Berge und sein Gesicht rötete sich. Doch der Baal Shem Tov fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und war sofort wieder normal. In einer zweiten Anekdote wird Baal Shem Tov selbst zitiert: „Dieser Wein ist so köstlich, dass es sich lohnen würde, noch einmal krank zu werden für eine Stunde, um ein zweites Glas zu bekommen.“ Es kann resümiert werden, dass Wein mit all seinen Farben, Zahlenwerten und in seinem häuslichen und rituellen Gebrauch nur eine Rolle spielte als Gleichnis zwischen Gottesnähe und –ferne, Gnade und Gericht, göttlicher und dämonischer Seite.
Zur profanen jüdischen Wein-Dichtung im Mittelalter
Dr. Andreas Lehnhardt, Professor für Judaistik an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, gleichzeitig Herausgeber von „Wein und Judentum“, stellt unter der Überschrift „Im Kelche ein Wunder“ jüdische Lieder von Wein und Leidenschaft vor, die für die Zeit der jüdischen Diaspora eine völlige Neuerung darstellen. Allgemein vermuten die Forscher, dass die profanen Dichtungen den Zweck verfolgten, die jüdische Poesie mit der Dichtkunst anderer monotheistischer Religionen, insbesondere christlicher Autoren, gleichzustellen. Die in Spanien, der Provence und in der Kairoer Geniza aufgefundenen Texte von Wein- und Liebesliedern lassen bislang eine präzise Datierung der Entstehung nicht zu. Dr. Lehnhardt ist überzeugt, dass gegen diese profanen Lieder schwerste religiöse Bedenken geltend gemacht wurden.
Das Aufkommen profaner Dichtungen wird mit dem kulturellen Umfeld im islamisch dominierten Spanien gesehen. Das sefardische Judentum habe einen weniger streng halachischen (religionsgesetzlichen) Umgang in der Frage der Verwendung und des Genusses von nichtjüdischem Wein entwickelt. (Eine mögliche Ursache könnte das Anwachsen der jüdischen Gemeinschaft in Spanien auf über 40000 Familien und den häufigen Aufstieg in hohe Stellen und Ämter, die Möglichkeit des Erwerbs von Grundbesitz und eigenen jüdischen Weinbaus sein; Anmerkung d.V.) Obwohl das Beispiel eines Liedtextes zum „Wettstreit zwischen dem Weinstock und den Bäumen“, aus der Jotam-Fabel in Richter 9, ein biblisches Motiv aufnimmt, kann es doch als profane Dichtung anerkannt werden, wiewohl die Bäume als Widerstreitende eine ganze Palette von kritischen Einwänden gegen den Wein vorbringen, u. a. auch den Rausch des Noah. Einschränkend macht Dr. Lehnhardt geltend, dass viele Lieder zu Familienfesten oder zu Freundschaftsfeiern gedichtet sein könnten.
Auch ein höfisches Umfeld könnte die Entstehung teilweise begünstigt haben: „Im Kelche ein Wunder, und ein Geheimnis – in ihm wie das Zeichen und das Wunder. - Trinkt von diesem Wein ein Armer, wird er – erhöht wie ein König über sein Land ?“ Bei allen Liedern fehlt der Hinweis auf den vorgeschriebenen Segensspruch. Wie im höfischen Minnesang lässt sich eine Bewegung von West nach Ost beobachten, so dass eine Vielzahl von profanen Wein- und Liebesliedern, ausgehend vom Sefarad, in der Provence und Italien nachgewiesen werden konnten. So tauchen endlich auch in jiddischer Sprache verfasste Gedichte und Lieder auf, Dr. Lehnhardt zitiert den berühmten „Wettkampf zwischen Wein und Wasser“: „ ? ich kann vertreiben große Schmerzen. Ich erfreu den Menschen ihr Herzen. – Lass ab von deinen Reden – sprach das Wasser stark, - gedenk an deine große Sünd, bei – Noah in der Arch.“ Alle Dichtungen zeichnet aus, dass sie den Wein nicht überhöhen oder als Symbol – wie in der Kabbala – deuten. Er bleibt was er ist: vergorener Traubensaft, der aufgrund seines alkoholischen Gehaltes Freude bereiten, oder auch Kummer verursachen kann. Die halachische Problematik, wie etwa die Frage des richtigen Umgangs mit Nichtjuden, tritt in den Hintergrund.
Das Sefer Habakbuk Hanavi
Über die Purim-Parodie von Levi Ben Gershon, einem französischen Mathematiker, Philosoph, Astronom und Bibelkommentator aus dem 13. Jahrhundert, berichtet Miriam Beddig, derzeit als MA am Jüdischen Museum in Berlin tätig. Möglicherweise eröffnet diese Parodie die Tradition von Purim-Spielen, wie sie heute noch üblich sind und zur Erheiterung an den fröhlichen Festtagen beitragen sollten.
Der Autor der Purim-Parodie nimmt sich die Ester-Geschichte mit gutem Humor und beißendem Spott vor. Mit anderen Namen versehen lässt er eine unverkennbare Verschwörungsgeschichte ablaufen, die dem Ester-Geschehen auf ein Haar ähnelt. Die verwendeten Namen haben eine Bedeutung: König Carmi (Weinberg), Beri (Brunnen – das meint Wasser) und Habakbuk (für den Propheten Habakuk, der eine frevelhafte Weltnation mit dem göttlichen Gericht bedrohte: wörtlich „Flasche“). Dass auch in den Sprechtexten Bibeltexte zu neuem Bedeutungsinhalt auf geschickte Art komponiert wurden, sodass ein Erkennungseffekt auftrat, zeugt von einer bemerkenswerten Freiheit – oder Ferne – zum eher ängstlich-beflissenen Rabbinertum jener Zeit. Es kommt zum Krieg zwischen Carmi und Beri, zwischen Wein und Wasser, und natürlich hat Carmi die größte Anhängerzahl. Bei Gefahr des Abfalls der Massen und Hinwendung zu Beri, hält Carmi eine flammende Lobrede auf den Wein, der „den Menschen das Herz erfreut“ (Psalm 104,15), der die Kleidung so schön rot färbt (Genesis 49,11), der kostenlos ist und den Menschen in ein angenehmes Wärmegefühl einhüllt, während Wasser „keine Decke im Frost“ ist (Hiob 24,7). Nicht nur werden Motive des Ester-Buches aufgenommen, sondern auch bekannte Formulierungen. Auch das Los-Werfen (Purim=Lose, weil der Tag des Übergriffs gegen die Juden per Los bestimmt wurde) wird thematisiert. Die Autorin sieht in dieser Parodie „eine einzige Lobrede auf den Weingenuss, wie er im Zusammenhang mit dem Purim-Fest gepflegt wurde. Offensichtlich konnte das Buch, trotz unzweifelhaft subversiver, der offiziellen Religion zuwiderlaufender Elemente, der erbaulichen Unterhaltung an diesem ausgelassenen Freudenfest dienen.“
Der Weinkonsum bei Juden des Nahen Ostens im späten Mittelalter und darüber hinaus
Mit dieser interessanten Thematik befasst sich Dr. Abraham David, Chef-Forscher der National-Bibliothek in Jerusalem. Im gesamten nahen Osten kam es mit der Etablierung der islamischen Orthodoxie zu einem strikten Weinverbot für Muslime. Dr. David geht davon aus, dass dies im 9. Jahrhundert erfolgte. Damit waren auch die in diesem Bereich schon immer wohnenden oder neu angesiedelten Juden betroffen, denen Weingenuss nur noch im Rahmen religiöser Zwecke gestattet wurde. Wein war für Juden und Christen für diese Zwecke limitiert. Nach muslimischen und jüdischen Quellen des späten Mittelalters und des 15. Jahrhundert wird deutlich, dass den Muslimen der Weingenuss der sogenannten Ungläubigen wegen eines negativen Einflusses auf Muslime Probleme bereitet. Zunächst wird eine Steuer auf den nichtmuslimischen Weinkonsum erhoben. Später wird nach Weinvorräten gefahndet, die vernichtet werden. Als Begründung wurde dafür herangezogen, Christen und Juden würden Wein an Muslime verkaufen. Tatsächlich berichtete ein deutscher Pilger im 15. Jahrhundert aus Ägypten, dass Muslime mit Juden zusammen Wein tränken. In verschiedenen Responsen wird der Verkauf und gemeinsame Konsum an und mit Muslimen bestätigt.
Heikel für Christen und Juden wurde, dass die muslimischen Geistlichen bei Naturkatastrophen und anderen Übeln den Weinkonsumenten die Schuld dafür zuwiesen. Ein junger Araber, der seine Mutter erstochen hatte, berief sich wegen der Tat auf Trunkenheit durch Wein. Die Tat wurde Christen und Juden zugerechnet, weil sie allein Wein produzieren würden. Im Jahr 1521, als der übliche Regen ausfiel und eine Trockenheit das Land erfasste, wurde dieser Umstand der „jüdischen Sünde des Weintrinkens“ zugerechnet. Auch diese Episode führte zur Visitation der Weinkeller und Zerstörung der Vorräte. Jeder Weinhersteller wurde mit einer hohen Kopfsteuer veranlagt. Die jüdischen Geistlichen reagierten, indem sie selbst den Weinverkauf konzessionierten und den Verkauf an Muslime verboten.
Der in Ägypten besonders beliebte Wein aus Kreta (Kandia) wurde nach den Dr. David überprüften Quellen zum großen Teil durch jüdische Winzer erzeugt. Der ebenfalls in Kreta erzeugte Malvasia wurde außer nach Ägypten auch in die Türkei exportiert. Der Kairoer Geniza verdankt sich ein Kashruth-Dokument über kretischen Wein, der in versiegelten Fässern nach Ägypten eingeführt wurde. Schließlich weist Dr. David Weinherstellung in Ägypten nach. Zwei Methoden waren geläufig: Erstens, die Herstellung von Traubenhonig (ohne Alkohol) durch Einkochen; zweitens die Vergärung von Rosinen. Zwar soll der Rosinenwein „tausend mal besser als Malvasia“ gemundet haben, seine rituelle Verwendung bedurfte aufgrund der halachischen Vorschriften jedoch einer langen Diskussion.
„Dieser alte Rheinwein mundet nur noch, wie die Philosophie, unseren Veteranen, die von der Realität einen anschaulichen Begriff haben“
Dr. Uta Lohmann, von der Universität Duisburg-Essen, beschäftigt sich im Rahmen eines DFG-Projekts der Uni Hamburg mit der Wechselwirkung zwischen Haskala (Erkenntnis; jüd. Aufklärung) und Neuhumanismus. Über ein Zitat aus Hosea 14,18 – „Die welche einst in seinem Schatten gesessen, mögen zu ihm zurückkehren. Sie mögen gedeihen wie Korn und blühen wie der Weinstock, seine Frucht sei wie vom Lewanon“ – und einen Talmud-Kommentar „der wahrhaft die vollendete Schönheit der Sittenlehre“ darstellt, führt Dr. Lohmann direkt in die deutsche „Aufklärung“, die bei Licht besehen eine deutsch-jüdische gewesen ist.
Mit Naphtali Herz Wessely nennt sie einen herausragenden Vertreter dieser Bewegung, der sich in einem Kommentar wie folgt vernehmen lässt: „Ich kam in meinen Garten und nahm von dort eine Weinranke und eine Beerentraube und presste sie in einen Kelch des Heils. Trinkt vom lieblichen Wein, den ich gemischt habe! Wenn es auch kein alter Wein ist – denn die Einsicht der Alten ist angenehmer als er -, wird mein Most nicht verfehlen, das Herz eines Mannes meinesgleichen und die zu erfreuen, die in meinem Alter sind. ?“ Aus dem längeren Auszug wird deutlich: Der Wein gleicht dem Kommentar in der Wirkungsweise; denn „wie der Wein schafft der Kommentar Tugend und Sittlichkeit nicht, aber er stärkt sie durch Einsicht.“
Dass Sokrates schon gerne Wein trank, nahmen sich die Berliner Aufklärer in ihren Zirkeln und geselligen Vereinen gern zum Vorbild, auch dass er die „Philosophie vom Himmel heruntergeholt, sie in den Städten angesiedelt, sie in die Häuser hineingeführt und sie gezwungen, nach dem Leben zu forschen.“ Dr. Lohmann: „Allgemein kann der Wein als Symbol sowohl für Klarheit, Verständnis und Erkenntnis als auch für Geselligkeit gelten. In ihm spiegelt sich eine Lebenshaltung die den sinnlichen Freuden nicht abgeneigt ist, wie denn auch die Popularphilosophen der Berliner Aufklärung Vernunft und Sinnlichkeit in eine ?gleichgewichtige Beziehung? zueinander setzten.“ Hier verrät die Autorin, dass das von ihr als Überschrift gewählte Zitat von dem Kaufmann David Friedländer stammt, und zwar aus einem Brief an den Berliner Autor und Verleger Friedrich Nicolai, der mit Moses Mendelsohn, Salomon Maimon und Gotthold Ephraim Lessing den Mittelpunkt der Berliner Aufklärung bildete. Friedländers Brief verrät, dass der Kaufmann auch über beste Beziehungen zu jüdischen Weinhändlern längs des Rheins verfügte. Friedländer hatte die Kontakte zu den Berliner Aufklärern gesucht, denn ihm war es leid um die vielfältigen Vorurteile der christlichen Gesellschaft gegen das Judentum. Gleichzeitige mühte er sich um eine Reform des jüdischen Lebens und hatte maßgeblichen Anteil an der Verbesserung der Situation der jüdischen Bevölkerung in Preußen, etwa durch Abschaffung des „Judenporzellans“ etc. In diesem Zusammenhang lag ihm daran, jüdische Kultur in den Aufklärungsdiskurs zu integrieren.
Zu recht spricht die Autorin allerdings von der „deutschen Spätaufklärung“, denn antijüdische Ressentiments nahmen im Zeitlauf eher zu als ab. Dabei erwies sich der Königsberger Philosoph Immanuel Kant immer mehr als Gegenspieler des Berliner Kreises. Bei dem von Dr. Lohmann apostrophierten Satz aus einem philosophischen Werk der Zeit „gegen Kants vertrackten, grammatikalisch oft uneindeutigen Stil voller neu erfundener Wörter“ ist man versucht, an die Goethesche Sentenz im Faust – „denn eben wo Begriffe fehlen, stellt ein Wörtlein rasch sich ein“ - zu denken. Im dritten Band des „Der Philosoph für die Welt“ greift Friedländer selbst zur Feder und liefert Beiträge, die aus Übersetzungen aus Talmud und Midrasch bestanden. Einem seiner Beiträge gab Friedländer den Titel „Der Wein in irdenen Gefäßen“. Die Erzählung berichtet davon, wie Wein in goldenen Gefäßen verdirbt, in unscheinbaren, wenig glänzenden Gefäßen aber zu wahrer Schönheit reift. Moral: Auch Tugend und Kenntnisse gedeihen in wenig glänzenden Körpern – ein Gleichnis auf das Judentum.
Trotz aller Bemühungen der Berliner Aufklärung lief die Zeit des toleranten Lernens ab, zugunsten von romantischer Verklärung, antijüdischer Agitation und Judenmission. Von vielen Diskursen wurden Juden ausgeschlossen und dies hatte David Friedländer erfühlt, als er 1801 an Nicolai die Botschaft richtete: „Dieser alte Rheinwein ? mundet nur noch unseren Veteranen“. Die herzliche Verbundenheit Friedländers zu Kant, der auch Kant mit vorzüglichen Weinen versorgt hatte, förderte bei diesem leider nicht die Erkenntnis, von dem ihm bekannten Positivbeispielen auf das gesamte Judentum schließen zu können. Kant analysierte: „Weiber, Geistliche und Juden betrinken gewöhnlich sich nicht, wenigstens vermeiden sie allen Schein davon, weil sie bürgerlich schwach sind und Zurückhaltung nöthig haben (wozu durchaus Nüchternheit erfordert wird).“ Kant schob die Juden lieber ins bürgerliche Abseits ab, als einzugestehen, dass sie vielleicht besser mit dem Weinkonsum umgehen konnten als er.
Wie der Wein in Mitteleuropa jüdisch wurde
Der Historiographie des Weinhandels widmet sich der Beitrag von Kevin G. Goldberg, Professor an der Kennesaw State University in Georgia/USA. Unter der – auf den ersten Blick - etwas zynisch gewählten Überschrift vermisst er vor dem Hintergrund der jüdischen Verdienste um Weinanbau, Produktion, Konsum und Handel die entsprechende Würdigung. Am Beispiel der französischen Weingeschichtsschreibung sieht er die „Kunstweinfrage“, die sich mit dem Aufkommen der Önologie durch Säureabbau, Gallisieren (Flüssigzuckerzusatz) etc. stellte, absichtsvoll verdrängt. Die Debatten um diese Frage zwischen Erzeugern, Händlern und Kunden, zeigen nach seiner Meinung, dass „moderner Wein in genau demselben Milieu und unter Verwendung derselben Sprache geschaffen wurde wie jene, die benutzt wurde, um die Juden am Eintritt in die nationalen Kulturen, besonders in Europa, zu hindern.
Wie er herausgefunden hat, war der Begriff „jüdische Spezifität“ auch im europäischen Weinhandel präsent. Der Begriff lieferte Weinhändlern eine „unmittelbar erkennbare Sprache“ ohne sie als Antisemiten auszuweisen. Obwohl die Integration jüdischer Handelsleute in den Weinhandel sich kaum anders vollzog wie in die vielgestaltigen übrigen Bereiche, hat Goldberg mit dem jüdischen Weinhandel eine „Spezifität“ gefunden, die nach den Zwangsenteignungen der Juden in Deutschland durch die Nationalsozialisten kaum noch bekannt ist. Seiner Recherche ist zu danken, dass wieder Kenntnis von den großen Weinhandelshäusern in Berlin, Frankfurt oder Breslau besteht. Möglicherweis ist aufgrund der Verdrängungsprozesse im Nachkriegsdeutschland selbst in den Weinbaugemeinden nicht mehr präsent, dass etwa in Bingen/Rhein 60 der 112 Weinhändler am Ort jüdisch waren. Goldberg zählt weiter auf: Landau/Pfalz 52 von 102, In den Städten wie Landau, Mainz, Bingen, Kitzingen bauten jüdische Händler selbst Wein an, kelterten und verkauften an die Endverbraucher aus nah und fern. Beeindruckend auch die Zahlen der Weinkommissionäre im Rheingau.
Auch in Österreich brachten die Antisemiten die Kunstweinfrage mit Judentum in Verbindung, d.h. es gab eine hohe Zahl von Beschuldigungen und Prozessen gegen jüdische Erzeuger und Händler, schon vor dem Ersten Weltkrieg – und das alles zum „Schutz der Landbevölkerung“. Der österreichischen Politik gelang es, die jüdische Beteiligung am Weinhandel als Gegenpol zum Naturwein darzustellen. Besonders kräftig war die vorgeschobene Diskussion aber in Deutschland, wo sich die Deutsch-Soziale Partei unter Führung von Theodor Fritsch und Max Liebermann von Sonnenberg einen Namen machte und einen satirischen Witz in Anlehnung an Psalm 137,1 erfand: „An den Wasserflüssen zu Babylon saßen sie und weinten, an den Weinflüssen Deutschlands sitzen sie und wässern“. Als ob solcherart Praxis nicht seit Jahrhunderten völlig ohne jüdische Beteiligung vorgekommen wäre.
Aus der höheren Zahl von Weinfälschungs-Prozessen folgert Goldberg, dass Deutschland sich damals einen internationalen Ruf als Land der Weinpanscher erworben hatte. Der vor kurzem ausgerufene „economic turn“ (ökonomische Wende) in den Geschichtswissenschaften sollte nach Goldbergs Überzeugung unbedingt für die jüdische Geschichtsforschung gelten, denn allzu oft waren ökonomische Sachverhalte durch eine antisemitisch beeinflusste Blickweise der historischen Forschung verstellt. Deshalb fordert er gründliche Untersuchungen über alle Manipulationen in Weinerzeugung und –handel.
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Nach biblischen Zeugnissen war das antike Israel – nach Menge und Güte seiner Weine und einer differenzierten Weinkultur in der religiösen und profanen Praxis - eines der klassischen Weinländer, wohlmöglich noch vor Griechenland und Rom. Die reichhaltige Quellen- und Dokumentenauswahl in „Wein und Judentum“ stützt sich vor allem auf rabbinische Texte nach dem Verlust des ersten und zweiten Tempels, als sich ein ambivalentes Verhältnis zum Wein in der Geistlichkeit und Bevölkerung anbahnte. Zudem riefen die Gefahren des Lebens in der Diaspora nach dem „nüchternen“ Beobachter der umgebenden Völkerwelt.
Über die Erläuterung von Texten des frühen und späten Mittelalters, der frühen Neuzeit bis zur Aufklärung und der antisemitischen Agitation gegen jüdische Weinerzeuger und –händler, liefert die Sammlung der 14 Vorlesungen ein breites und zugleich hoch interessantes Spektrum der jüdischen Weinkultur und deren Entwicklung. Die in einer gewissen Chronologie angeordneten Beiträge zeigen auf, wie positive Aspekte der Weinkultur, der lockerere Umgang mit Wein, mit zunehmender Sicherheit der Juden an ihren Wohnplätzen wieder zunimmt. Der den Band abschließende Beitrag von Kevin D. Goldberg zeigt auf, dass noch viel neue Forschungsarbeit zu leisten ist, weil eingefahrene Sichtweisen aus der antisemitischen Epoche in Europa die Geschichtswissenschaft beeinflusst haben.
Die Bereicherung, die „Wein und Judentum“, herausgegeben von Dr. Andreas Lehnhardt, allen an Weinkultur und Judentum Interessierten in Europa, besonders in Deutschland und Österreich bietet, ist ungemein erfreulich: Eine reichere Quellensammlung zu Theorie und Praxis jüdischer Weinkultur ist bisher nicht erschlossen worden, zumal die Beiträge des Buches von biblischen und rabbinischen Texten, über magische Praktiken im Volksleben, über verschiedenste Literaturformen, über philosophische Inhalte bis hin zum jüdischen Weinhandel – der vor 1933 ein sehr bedeutender gewesen sein muss - variierend berichten. Dabei gewinnt der Leser einen Überblick, der den Erkenntnissen neuester wissenschaftlicher Forschung – in allgemein verständlicher Sprache formuliert - entspricht. Die Lektüre von „Wein und Judentum“ bleibt wegen der thematischen Aufschlüsselung einerseits und andererseits wegen der Fülle der interessanten Detailschilderungen und Textproben immer spannend – ein erfreulicher Befund, der für ein akademisch orientiertes „Sachbuch“ eher selten erhoben werden kann.
Und schließlich werden dem nichtjüdischen Leser en passant wesentliche Details über „das Volk des Buches“ und sein religiöses, gesellschaftliches, ökonomisches und politisches Leben zu den unterschiedlichen Zeitepochen – von der Antike bis zur Gegenwart - berichtet.
Auch für nur an der Weinkultur interessierte Menschen ist „Wein und Judentum“ notwendig zu lesen, werden doch „ewige Fragen“ des Weinkonsums abgehandelt, wovon die Qualitätsfrage aus Verbrauchersicht nur eine, aber eine aktuelle ist. Man denke etwa an die Glykolskandale 1985/86 in Österreich und Italien und so manche bedenkliche Praxis und Entwicklung des modernen Weinbaus und der Weinherstellung in Europa und weltweit. Die in allen „Kapiteln“ anklingende jüdische „Anschauung“ des Weins als „Gottesgabe“ und „Naturprodukt“ mag den noch in den Anfängen befindlichen biologischen Anbau- und Vermarktungsbestrebungen auch in der Weinerzeugung der Gegenwart Auftrieb verleihen.
Der Autor
Jhg. 1949, ist von Hause aus Dipl.-Verwaltungswirt und leitete viele Jahre die Schuldnerberatungsstelle des Lahn-Dill-Kreises (Hessen).
Seit über einem Vierteljahrhundert ist er Vorstandsmitglied der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Dillenburg.
Als begeisterter Weinkenner und -liebhaber beschäftigt er sich lange schon - theoretisch wie auch praktisch - mit dem Thema Wein in all seinen Facetten und hat darüber auch publiziert, zuletzt etwa:
"Der Wein in der Bibel".
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