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Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit

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Koordinierungsrat





ONLINE-EXTRA Nr. 239

Mai 2016

Auf dem derzeit in Leipzig stattfindenden 100. Katholikentag gibt es u.a. einen umfangreichen Programmpunkt mit dem Themenbereich christlich-jüdischer Dialog. Traditionell werden die Planung und Gestaltung dieses Themenbereichs für die Katholikentage seit Jahrzehnten vom Gesprächskreis "Juden und Christen" beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) vorgenommen. Seit vielen Jahren Mitglied des Gesprächskreises ist auch der Autor des heutigen ONLINE-EXTRA, der Regensburger Pastoraltheologe Heinz-Günther Schöttler. Wer ihn je in Vortrag oder Diskussion erlebt hat, weiß, dass er zu den engagiertesten und leidenschaftlichsten Persönlichkeiten gehört, die sich menschlich und theologisch im christlich-jüdischen Gespräch engagieren. Besonders bemerkenswert dabei ist fraglos, dass die Leidenschaftlichkeit seiner Person mit einer nicht minder leidenschaftlichen Theologie Hand in Hand geht, deren Zentrum und Anliegen kaum besser beschrieben werden kann, als wie es im programmatischen Titel seines jüngsten Buches zum Ausdruck kommt: "Re-Visionen christlicher Theologie aus der Begegnung mit dem Judentum".

Dieses Buch möchte den Neubeginn, den die Konzilserklärung "Nostra aetate" für die Beziehung des Christentums zum Judentum gesetzt hat, theologisch mutig weiterentwickeln. Dies geschieht aus der konkreten Begegnung mit dem Judentum heraus, worüber die Einleitung biographisch und theologisch eindrucksvoll Rechenschaft ablegt. "Theologie ist subjektiv und von der Biographie dessen, der sie treibt, nicht zu trennen", heißt es gleich zu Beginn dieser Einleitung, in der auch das Anliegen des gesamten Buches deutlich markiert wird, nämlich aufzuzeigen, "was bei aller Freude und bei allem Feiern anlässlich des fünfzigsten Jahrestages dieser Konzilserklärung nicht vergessen werden darf, dass theologisch noch viel zu tun ist, denn Nostra Aetate darf nur ein Anfang gewesen sein! Diesen Anfang auch und gerade fünfzig Jahre danach weiterzuschreiben, versuchen die sieben in diesem Buch versammelten Studien."

COMPASS freut sich, Ihnen mit dem heutigen ONLINE-EXTRA Nr. 239 die umfangreiche Einleitung Schöttlers zu seinem Buch im Wortlaut präsentieren zu können. Sie macht auf eindrucksvolle Weise sowohl den biografischen Kontext des Autor transparent als auch die entscheidenden Fragestellungen und Richtungsangaben, in die sich seine Theologie bewegt und die im Blick auf das Judentum ein leidenschaftliches Plädoyer für Partizipation statt Enterbung darstellt, deren Zielpunkt das gleichberechtigte wie gemeinsame Gotteslob von Juden und Christen ist.

COMPASS dankt Autor und Verlag für die Genehmigung zur Wiedergabe des Textes an dieser Stelle!

© 2016 Copyright bei Autor und Verlag
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 239


Re-Visionen christlicher Theologie aus der Begegnung mit dem Judentum


HEINZ-GÜNTHER SCHÖTTLER

Einleitung


- Theologie und Biographie
- „Eine bereichernde Komplementarität“ (Papst Franziskus)
- Ein Re-Visionsbericht
- Partizipation statt Enterbung oder Substitution
- Aus Verantwortung dem Glauben gegenüber
- Gemeinsames G’tteslob


Theologie ist subjektiv und von der Biographie dessen, der sie treibt, nicht zu trennen. Natürlich, die Stärke einer Theologie liegt immer auch in der Kraft ihrer Argumente, ob sie aber für Andere überzeugend und glaubwürdig sind, hängt nicht zuletzt davon ab, in welcher Interpretationsgemeinschaft sich die Rezipienten bewegen1, sind in diesem Referenzrahmen doch ‘fides et ratio’ die bestimmenden Kräfte, und sie sind es in dieser Reihenfolge.2 Die ‘kirchliche’ Zugehörigkeit und Sozialisation gibt entscheidende Koordinaten einer Interpretationsgemeinschaft vor, in deren Horizont Texte ausgelegt und Traditionen rezipiert werden, kurzum: Theologie getrieben wird. Theologie, die von sich behauptet, ‘objektiv’ zu sein, verschweigt lediglich ihre Voraussetzungen und Bedingtheiten, nicht zuletzt auch ihre biographische Bedingtheit. Also werde ich in dieser Einleitung auch die biographische Bedingtheit meiner Theologie aus der Begegnung mit dem Judentum transparent machen, und so wird gleichzeitig auch der Weg gewürdigt, den die Kirchen seit der Konzilserklärung Nostra Aetate gegangen sind.

In einer Erklärung der französischen Bischofskonferenz zu Nostra Aetate 4 aus dem Jahr 1973 heißt es: „Man muss in der Stellungnahme des Konzils eher einen Beginn als eine Endphase sehen. Sie ist ein Wendepunkt in der christlichen Haltung zum Judentum. Sie öffnet einen Weg und erlaubt uns, unsere Aufgabe genau zu ermessen. Die Konzilserklärung beruht auf der Rückkehr zu den biblischen Quellen. Sie stellt einen Bruch dar zur Haltung in der Vergangenheit.“3 Deshalb soll in dieser Einleitung auch aufgezeigt werden, was bei aller Freude und bei allem Feiern anlässlich des fünfzigsten Jahrestages dieser Konzilserklärung nicht vergessen werden darf, dass theologisch noch viel zu tun ist, denn Nostra Aetate darf nur ein Anfang gewesen sein! Diesen Anfang auch und gerade fünfzig Jahre danach weiterzuschreiben, versuchen die sieben in diesem Buch versammelten Studien.


Theologie und Biographie

‘Das Judentum’ habe ich bewusst erst in meinem Theologiestudium wahrgenommen, meinte ich wenigsten damals im Herbst 1970, als ich zu studieren begann. In den entsprechenden Lehrveranstaltungen lernten wir u. a. mit Martin Noths (1902-1968) bekanntem, über Konfessionsgrenzen hinweg weitest verbreitetem und in viele Sprachen übersetztem Lehrbuch, dass die Geschichte Israels mit der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. d. Z. zu Ende gegangen sei.4 Der Bar-Kochba-Aufstand und seine Niederschlagung durch die Römer (132 135) sei nur noch ein „schauerliches Nachspiel der Geschichte Israels“ gewesen.5 Diese Aussage ist auch das letzte Wort von Martin Noths „Geschichte Israels“. Folgerichtig spricht er dem nachbiblischen Judentum seinen biblischen Würdenamen „Israel“ ab, denn zwischen dem Israel des Alten Testaments und dem heutigen Judentum bestehe kaum eine Kontinuität. Mit diesem problematischen Vor-‘Wissen’ hörten wir in den Vorlesungen über das Neue Testament von Talmud und Midrasch, vermittelt durch Paul Billerbecks umfangreiches und hermeneutisch nicht unproblematisches Kompendium. Talmud und Midrasch blieben uns aber nicht nur fremd, sondern sie waren für uns eine eigentümliche, teils absonderliche ‘Welt’.

Vor dem Hintergrund eines als Negativfolie rekonstruierten Judentums lasen wir die Evangelien, und o Wunder: Jesus war immer besser; er führte letztlich aus dem Judentum heraus und wurde zum Gründer einer neuen Religion, des Christentums eben, das so eigentlich aus dem Judentum zur Zeit Jesu kaum ableitbar sei. Hier war Immanuel Kant (1724-1804) wirkmächtig, der dem Judentum jede transzendente Perspektive absprach und meinte, es sei „eigentlich gar keine Religion“. Das Christentum sei, so der Königsberger Philosoph, „eine völlige Verlassung des Judenthums, worin es entsprang, auf einem ganz neuen Princip gegründet, eine gänzliche Revolution in Glaubenslehren“ (s. dazu Kap. 4.3.2). „Den Alten wurde gesagt, ICH aber sage euch!“ hörten wir den historischen Jesus adversativ zum Judentum (seiner Zeit) sprechen (vgl. Mt 5,21-48), und wir folgerten, dass dieser Jesus die Tora – wir sprachen vom jüdischen Gesetz – nicht nur überboten, sondern sie sogar abgeschafft habe. Das Christentum sei, so meinten wir, die Religion der Liebe und Freiheit, ‘das Judentum’ sei zur Gesetzesreligion erstarrt, theologisch und ethisch irgendwie minderwertig. Dafür beriefen wir uns mit den kirchlichen Gebrauchsübersetzungen etwa auf Mt 5,20, dass nämlich die Gerechtigkeit der Jünger Jesu ‘weit besser’, ‘weit größer’ sei als die der Pharisäer und Schriftgelehrten. Solche Stereotypen waren fest in die Theologie eingeschrieben und sind es im Katechismus der Katholischen Kirche von 1993 immer noch.6 Kurzum: ‘Das Judentum’ war für uns eine geschichtlich vergangene Größe; es erschien uns epigonenhaft, während wir allen Ernstes glaubten, in Jesus Christus habe sich das, was die Propheten ‘geweissagt’ hätten, unüberbietbar erfüllt, und so wurde das Christentum die ‘Vollendung’ des Judentums.

Im Jahr 1985 veröffentlichte die vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum „Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche“, die u. a. eine dezidierte Gegenrede auf die These Martin Noths enthalten: „Die Geschichte Israels ist mit dem Jahr 70 nicht zu Ende. Sie wird sich fortsetzen, besonders in seiner zahlreichen Diaspora, die es Israel erlaubt, das oft heldenhafte Zeugnis seiner Treue zum einzigen Gott in die ganze Welt zu tragen und ‘ihn im Angesicht der Lebenden zu verherrlichen’ (Tob 13,4) und dabei doch die Erinnerung an das Land der Väter im Herzen seiner Hoffnungen zu bewahren (Pessach-Seder). [...] Der Fortbestand Israels (wo doch so viele Völker des Altertums spurlos verschwunden sind) ist eine historische Tatsache und ein Zeichen im Plan Gottes, das Deutung erheischt.“7

Bis dahin war es ein weiter Weg. Das neue Verhältnis der Kirchen zum Judentum war weniger aus eigener Einsicht formuliert, sondern mehr im Erschrecken darüber, dass die Schoa in der Verantwortung eines ‘christlichen’ Landes überhaupt möglich war und getaufte, in ihrer Kinder- und Jugendzeit christlich katechetisierte Menschen die Täter waren oder geschwiegen hatten. Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) hat die Katholische Kirche offiziell einen Bruch mit ihrer Jahrhunderte langen fatalen Lehrtradition vollzogen, was das Verhältnis zum Judentum betrifft (vgl. Nostra Aetate 4). Heute, fünfzig Jahre später, könnte man den status quo kurz so umschreiben: Die Kirchen haben sich – hoffentlich – von einer Enterbungs- und Substitutionstheologie verabschiedet und den Paradigmenwechsel hin zur Anerkennung der bleibenden Erwählung Israels vollzogen, die Johannes Paul II. bei seinem Deutschlandbesuch am 17. November 1980 bei der Begegnung mit der Rabbinerkonferenz in Mainz mit Verweis auf Röm 11,29 in der Formel des „von Gott nie gekündigten Alten Bundes“8 ausgedrückt hat. Solche Rede war neu, waren doch in kirchlicher Rede Wendungen wie „wahres Israel“, „neues Israel“, „neues Volk Gottes“ oder „neuer Bund“ als theologische Selbstbezeichnungen immer noch selbstverständlich und unhinterfragt, und sie sind leider weiterhin im Gebrauch, weil seit frühen Zeiten der Kirche so ‘eingeübt’.9

Besonders die Rede vom ‘neuen Bund’ wurde und wird gerne so verstanden, als sei die Heilsgeschichte ‘sauber’ in zwei Hälften aufgeteilt, dass es also „zwei ‘Bünde’ gäbe, einen ‘alten’ und einen ‘neuen’, die aufeinander folgten. Als dann der Messias Jesus gekommen sei, sei der ‘alte Bund’ durch den ‘neuen Bund’ abgelöst worden. Norbert Lohfink hat diese ‘Normaltheologie’ so auf den Punkt gebracht: „Wenn wir Christen vom ‘neuen Bund’ reden, betrachten wir die heutigen Juden als die Nachkommen jener Juden, die einst den Weg in den ‘neuen Bund’ nicht gefunden haben. Da der ‘alte Bund’ jetzt nicht mehr existiert, sind sie in keinem Bund mehr, auch wenn sie natürlich selbst meinen, im alten oder nach ihrer Auffassung vielmehr einzigen ‘Bund’ zu sein.“10

Dieser kirchlichen Durchschnittsmeinung hat schon Martin Buber 1933 mit einem eindrücklichen Bild widersprochen. Am 14. Januar 1933, also wenige Tage vor der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, sagte er in einem öffentlichen „Zwiegespräch“ mit Karl Ludwig Schmidt11 im jüdischen Lehrhaus Stuttgart, dass er „von Zeit zu Zeit“ nach Worms fahre, weil ihn an die Stadt „eine Tradition meiner Ahnen bindet“. Dann sehe er den Dom, „eine sichtbar gewordene Harmonie der Glieder, eine Ganzheit, in der kein Teil aus der Vollkommenheit wankt“. Dann gehe er „zum jüdischen Friedhof hinüber: Der besteht aus schiefen, zerspellten, formlosen, richtungslosen Steinen. Ich stelle mich darein, blicke von diesem Friedhofgewirr zu der herrlichen Harmonie empor und mir ist, als sähe ich von Israel zur Kirche auf. Da unten hat man nicht ein Quentchen Gestalt; man hat nur die Steine und die Asche unter den Steinen.“ Und dann sagte Martin Buber:


„Ich habe da gestanden, war verbunden mit der Asche und quer durch sie mit den Urvätern. Das ist Erinnerung an das Geschehen mit Gott, die allen Juden gegeben ist. Davon kann mich die Vollkommenheit des christlichen Gottesraums nicht abbringen, nichts kann mich abbringen von der Gotteszeit Israels. Ich habe da gestanden und habe alles selber erfahren, mir ist all der Tod widerfahren: all die Asche, all die Zerspelltheit, all der lautlose Jammer ist mein; aber der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden. Ich liege am Boden, hingestürzt wie diese Steine. Aber gekündigt ist mir nicht. Der Dom ist, wie er ist. Der Friedhof ist, wie er ist. Aber gekündigt ist uns nicht worden.“12


Im Anschluss an das Wort des Papstes vom „nie gekündigten Alten Bund“ entspann sich eine heftige Debatte um die Frage, ob denn zwei ‘Gottesbünde’ bestünden: einer mit Israel und einer mit der Kirche, und um die damit zusammenhängende Frage, ob sich Gott denn zwei ‘Völker’ erwählt habe: die Synagoga und die Ecclesia, und wenn ja: in welcher Beziehung sie zueinander stünden? Oder sei das Gottesvolk gar gespalten? Soviel sei an dieser Stelle schon gesagt: Zwei ‘Bünde’ sind biblisch kaum zu begründen; es gibt nur einen Bund, zu dem Juden und Christen gehören, die Christen, insofern sie am Bund Gottes mit seinem Volk Israel partizipieren (dürfen). Diese für das Verhältnis zum Judentum so zentrale Frage wird in einem eigenen Abschnitt dieser Einleitung unter der Überschrift „Partizipation statt Enterbung oder Substitution“ behandelt werden, ebenso die damit zusammenhängenden Fragen, ob die Kirche die Würdenamen „Israel“ oder „Volk Gottes“ auf sich beziehen kann und darf.

Als ich 1980 ein Promotionsstudium im Fach Altes Testament begann, blieb ‘das Judentum’ immer noch eine vergangene Größe. Juden kannte ich persönlich keine. Durch die Promotion aber wuchs das Interesse, besonders an dem Thema, für das sich Christen, wenn sie an ‘das Judentum’ denken, aus eigennützigem Interesse immer besonders interessieren: die Messiasfrage. Der jüdische Messias, so dachte ich mit vielen anderen damals, müsste doch letztendlich der christliche Christus sein, genauer: der Parusie-Christus, und so dichteten wir, wie es üblich war und immer noch ist, dem Judentum eine Messias-Vorstellung13 an, die aus Versatzstücken der Christologie der frühen Konzilien gebastelt war. Dabei wurde der jüdische Messias mit dem wiederkommenden Christus (Parusie-Christus) identifiziert, wobei der Autor dieses Buches eingestehen muss, dass er dies mit Verweis auf jüdische Autoren relativ unkritisch damals auch getan hat.14 Für die mit der Messias-Frage verbundene Frage nach dem historischen Jesus berief man sich gerne auf jüdische Autoren wie Theodor Klausner (1874-1958) oder Schalom Ben-Chorin (1913-1999).15 Anders Zwi Werblowsky16 , der aus jüdischer Perspektive fragt, ob „der Messiasglaube im Judentum tatsächlich [...] auf dieselbe Weise zentral [ist], wie er es im Christentum ist, dass man die beiden als gleichartige, sich widersprechende Größen gegenüberstellen kann?“17 Den meisten Christen gehe, so Zwi Werblowsky, nur schwer ein, dass Jesus für Juden nicht viel bedeutet: „Denn an Christus glaubt man oder, wie die traditionelle christliche Karikatur es zeichnet, man verwirft ihn. Als hätten die Juden zweitausend Jahre nichts anderes zu tun gehabt, als Christus zu verwerfen. Die Juden haben zweitausend Jahre lang versucht, auf ihre Weise Gott zu lieben und Gott zu dienen. Und an Christus dachten sie überhaupt nur, wenn es christlicherseits zu den großen P’s kam: Polemik und Pogrome. Jesus als theologisches Problem für das innerjüdische Denken darzustellen, ist ein Missgriff.“18

In der Zwischenzeit war ich Pfarrer geworden und lehrte Homiletik am Priesterseminar. Das studierte Theologiegebäude wurde mir – Gott sei Dank! – immer fraglicher, und ich fing an, intensiv jüdische Fachliteratur zu lesen, besonders jüdische Bibelkommentare, versuchte, Mischna, Talmudim und Midraschim als mir fremde Literaturformen besser zu verstehen, und las Bücher, die mich in die jüdische Traditionsliteratur und die jüdische Theologie einführten. Juden kannte ich persönlich immer noch nicht! Dass das nicht so weitergehen konnte, spürte ich immer stärker. Gleichzeitig arbeitete ich an einer Habilitationsschrift, in die ich meine bisherige theologische Biographie einbringen wollte: Wie kann die als Altes Testament rezipierte Bibel Israels so in christlicher Predigt vorkommen, dass sie als Glaubensurkunde des Volkes Israels nicht verkommt? Denn in der durchschnittlichen Sonntagspredigt wird die Christologie häufig leider selbstredend als Überbietung des Judentums entworfen, so dass das Alte Testament christologisch überstrahlt und in den Schatten gestellt wird. Schaut man auf die durchschnittliche Predigt, dann ist diese – rhetorisch freundlich, natürlich! – immer noch allzu oft von Stereotypen durchzogen, die das jüdische Volk und den jüdischen Glauben theologisch abwerten. Das Christentum wird von nicht wenigen immer noch als Religion der Liebe dem Judentum als Gesetzesreligion antagonistisch gegenübergestellt. Dass Tora Gnade ist, ist nicht im Blick. Eine „relational eigenwertige Auslegung des Alten Testamentes“ (Erich Zenger)19 wird in der Verkündigung kaum praktiziert. Die derzeit gültige Leseordnung der Katholischen Kirche für die Sonn  und Feiertage fördert durch die Bevorzugung des traditionell verstandenen Modells „Verheißung und Erfüllung“ und durch die typologische Entwertung des Alten Testaments nicht nur einseitig dessen christologische / christozentrische Auslegung, sondern auch das alte Stereotyp, in dem der jüdische Glauben als Negativfolie dazu dient, christliche Denkfiguren umso positiver, umso heller behaupten zu können20 , wobei in den Predigten schwebend bleibt, wer gemeint ist: der jüdische Glauben zur Zeit Jesu oder der jüdische Glauben heute. Eine Reform der derzeitigen Leseordnung steht dringend an und könnte von der Leseordnung der Synagoge viel lernen.21

Mir wurde immer deutlicher: Diese Hermeneutik der christlichen Theologie kann dem jüdischen Glauben deshalb nicht gerecht werden, weil sie ihn von einem konstruierten Außen her betrachtet, eben nicht authentisch wahrnimmt, sondern von einem christlichen Standpunkt aus, und der ist, wie Zwi Werblowsky aus jüdischer Sicht sagt, ein Missverständnis: „Was den Juden das Gespräch mit den Christen verbaut hat, war nicht nur die unglückselige Historie des christlichen Antisemitismus, sondern auch die Tatsache, dass der Jude, wenn er den Christen verstehen wollte, auf einen Christen stieß, dessen christliches Selbstverständnis immer schon a priori ein Missverständnis der jüdischen Position enthielt.“22 Christliche Theologie lässt sich nicht treiben, ohne authentische Stimmen zu Wort kommen zu lassen, wenn es um den jüdischen Glauben und seine Praxis geht, auf die ein Christ immer stößt, wenn er Theologie treibt, soll der Satz von Johannes Paul II., dass „Jesus Jude war und es immer geblieben ist“23 , hermeneutische Bedeutung haben. Entsprechendes ist auch von Paulus zu sagen: Der Völkerapostel ist eben nicht ‘der erste Christ’, sondern er war Jude und ist es nach seinem Selbstverständnis immer geblieben.24

So habe ich seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts den Dialog mit Jüdinnen und Juden gesucht. Eine homiletische Lehrtätigkeit am Abraham Geiger Kolleg in Berlin / Potsdam kam dazu, und ich habe seitdem eine überraschende Entdeckung gemacht: Meine Theologie und ihre hermeneutischen Voraussetzungen haben sich in einem intensiven Dialog mit Jüdinnen und Juden auf der persönlichen wie theologisch-diskursiven Ebene verändert. Ich habe den jüdischen Glauben nicht zuletzt auch deshalb als Bereicherung für meinen christlichen Glauben kennengelernt, weil ich ihm authentisch begegnet bin, auf Augenhöhe. „Ohne eine wirkliche und ganz konkrete Kultur der Begegnung, die zu authentischen Beziehungen führt und die frei ist von Vorurteilen und gegenseitigem Misstrauen, würden die Bemühungen auf intellektuellem Gebiet kaum etwas nutzen“, sagte Papst Franziskus im Oktober 2013 in einer Ansprache an die Delegation der Jüdischen Gemeinde Roms.25 Meine Theologie hat dem jüdischen Glauben gegenüber jede ‘besserwisserische’ Attitüde verloren, die für christliche Theologie leider immer noch kennzeichnend ist, wenn es etwa um Fragen der Soteriologie oder der Eschatologie geht. Ich brauche Jesus Christus nicht mehr als ‘Erlöser auch der Juden’ zu glauben und meine, dass der Jude Paulus von Tarsus in Röm 11,25ff auch so zu verstehen ist.26 Und noch etwas habe ich gelernt: Das Judentum gibt es nicht; vielmehr hat es – mit Walter Homolka formuliert – „viele Gesichter“27 .

Christlich-jüdischer Dialog ist nicht harmlos; er verändert und hinterlässt Spuren – bis hinein in die Theologie. Alles andere wäre unverbindliches Gespräch, freundliche Plauderei. Weil er mich so unendlich bereichert, ist mir der christlich-jüdische Dialog so wichtig geworden, mehr noch: notwendig geworden. Ich habe allen Grund, den jüdischen Freundinnen und Freunden, die sich auf den Dialog eingelassen haben und immer wieder einlassen, was nicht selbstverständlich ist, Dank zu sagen! Nochmals: Ein wirklicher christlich-jüdischer Dialog ist nicht harmlos. Eine grundsätzliche Konsequenz ist, den jüdischen Weg als einen Weg vor Gott wahrzunehmen, der im Vergleich mit dem eigenen christlichen Weg in keiner Weise insuffizient oder defizitär ist. Das Verhältnis des Christentums zum Judentum ist ein im Vergleich zu allen anderen Religionen unvergleichliches (vgl. Nostra Aetate 4,1). Johannes Paul II. hat immer wieder betont, dass Christentum und Judentum „auf der Ebene ihrer je eigenen religiösen Identität eng und beziehungsvoll miteinander verbunden sind“28. Und die deutschen Bischöfe schreiben in ihren Leitlinien für das Gebet bei Treffen von Christen, Juden und Muslimen unmissverständlich: „Christen stehen von Gott her in einer einzigartigen Beziehung zu den Juden, die für sie nicht Angehörige einer anderen Religion sind, da sie mit Gott in einem ungekündigten Bund stehen, der auch für uns Christen unaufgebbare Basis unseres Glaubens bleibt.“29 Insofern diese Beziehung zur Identität des Christentums gehört und dieses seine Beziehung zum Judentum in der Vergangenheit nicht recht bestimmt und gelebt hat, hat das Christentum jahrhundertelang in Selbstentfremdung gelebt und Theologie betrieben. Dass das christlich-jüdische Verhältnis unter dem Pontifikat von Benedikt XVI. (2005-2013) eine ernsthafte Trübung erfahren hat30, bleibt hoffentlich Episode.31



Heinz-Günther Schöttler:
Re-Visionen christlicher Theologie
aus der Begegnung mit dem Judentum

Ergon Verlag
Würzburg 2016
592 Seiten mit mehreren Abbildungen
ISBN 978-3-95650-117-3
Euro 68,-

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Dieses Buches möchte den Neubeginn, den die Konzilserklärung "Nostra aetate" für die Beziehung des Christentums zum Judentum gesetzt hat, theologisch mutig weiterentwickeln. Dies geschieht aus der konkreten Begegnung mit dem Judentum heraus, worüber die Einleitung biographisch und theologisch Rechenschaft ablegt.

Es folgen eine neue Deutung der im Christentum so zentralen Sinnfigur "Verheißung und Erfüllung" und eine biblische Erinnerung für die Frage nach der 'Gottheit' Jesu Christi. Dann wird nach der innerbiblischen theologischen 'Karriere' der Gestalt des Mose und ihrem Verhältnis zur Gestalt Jesu sowie nach der speziellen Tora-Rezeption im Christentum gefragt. Von der 'schwebenden' Syntax in Röm 11,25-27 ausgehend, wird die Wahrheitsfrage im christlich-jüdischen Dialog neu gestellt. Beobachtungen zur Kanongestalt der Bibel Israels bzw. des Alten Testaments und des Neuen Testaments münden in einen Vorschlag für die anstehende Neukonzeption der Leseordnung der katholischen Kirche. Und schließlich wird im Blick auf die Koran-Rezitation und die Tora-Lesung im jüdischen Gottesdienst beschrieben, was sich eigentlich ereignet, wenn im christlichen Gottesdienst aus der Bibel vorgelesen wird. Das Konzil konnte sich für die neue Verhältnisbestimmung zum Judentum nicht auf kirchliche Traditionen berufen, sondern musste diese aus einer Relecture einschlägiger Bibelstellen heraus entwickeln. So ist das 4. Kapitel von "Nostra aetate" ein Zeugnis dafür, dass die Heilige Schrift über der Kirche steht. Der starke biblische Bezug der sieben Studien dieses Buches ist dieser Hermeneutik geschuldet.

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„Eine bereichernde Komplementarität“ (Papst Franziskus)

Die nicht erst heute nur noch aus Menschen „aus den Völkern“ bestehende Ecclesia – was Paulus oder die Matthäus-Gemeinde sich nicht hätten vorstellen können! – braucht die Synagoga, um von ihr zu lernen, mit ihr zu lernen. So jedenfalls lese und verstehe ich Mt 28,19a: „Lasst alle Völker mitlernen / nehmt alle Völker als Schüler an...“ Diese Stelle beschreibt für mich als ‘Heidenchrist’ den Grund, um den Dialog mit jüdischen Menschen zu bitten und mich in diesem Dialog zu engagieren. Die Vatikanische Bibelkommission hat in ihrem Dokument „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ aus dem Jahr 2001 dieses Mitlernen so formuliert: „Die Christen können und müssen zugeben, dass die jüdische Lesung der Bibel eine mögliche Leseweise darstellt, die sich organisch aus der jüdischen Heiligen Schrift der Zeit des Zweiten Tempels ergibt, in Analogie zur christlichen Leseweise, die sich parallel entwickelte. Jede dieser beiden Leseweisen bleibt der jeweiligen Glaubenssicht treu, deren Frucht und Ausdruck sie ist. So ist die eine nicht auf die andere rückführbar. Auf dem konkreten Feld der Exegese können die Christen gleichwohl viel von der jüdischen Exegese lernen, die seit mehr als zweitausend Jahren ausgeübt worden ist, und sie haben in der Tat im Laufe der Geschichte auch viel von ihr gelernt. Ihrerseits können sie hoffen, dass die Juden auch aus christlichen exegetischen Untersuchungen werden Gewinn ziehen können.“32

Papst Franziskus schreibt dies substantiell fort, wenn er in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium von 2013 von einer „bereichernden Komplementarität“ spricht: „Gott wirkt weiterhin im Volk des Alten Bundes und lässt Schätze der Weisheit entstehen, die aus der Begegnung mit dem göttlichen Wort entspringen. Darum ist es auch für die Kirche eine Bereicherung, wenn sie die Werte des Judentums aufnimmt. Obwohl einige christliche Überzeugungen für das Judentum unannehmbar sind und die Kirche nicht darauf verzichten kann, Jesus als den Herrn und Messias zu verkünden, besteht eine bereichernde Komplementarität, die uns erlaubt, die Texte der hebräischen Bibel gemeinsam zu lesen und uns gegenseitig zu helfen, die Reichtümer des Wortes Gottes zu ergründen sowie viele ethische Überzeugungen und die gemeinsame Sorge um die Gerechtigkeit und die Entwicklung der Völker miteinander zu teilen.“33

Diese wegweisenden Aussagen der Bibelkommission und von Papst Franziskus realisieren bereits neuere religionsgeschichtliche und  soziologische Forschungen, dass Christentum sowie rabbinisches und mittelalterliches Judentum in komplementären Prozessen entstanden und, wenn man denn eine familiäre Metapher gebrauchen will, ‘Geschwister’ sind, wobei das Christentum wohl als das ältere ‘Geschwister’ anzusehen ist.34 Was der doppelte Ausgang der Hebräischen Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte in Christentum und Judentum theologisch bedeuten, muss das Christentum erst noch bewusst wahrnehmen und reflektieren. Im Bewusstsein, als ‘Geschwister’ zusammenzugehören, können Juden und Christen dann auch über Strittiges streiten35. „Jeder Streit um des Himmels willen [= aus lauterem Herzen] hat bleibenden Wert“, heißt es in den Sprüchen der Väter.36 In dieser Gesinnung ist der Streit ein anderer als in der Vergangenheit, in der Christen Juden nur als solche wahrgenommen haben, die dem Christusglauben gegenüber ‘verstockt’ seien.


Ein kurzer ‘Re-Visionsbericht’

Eine geheime, weil nicht eingestandene Angst durchzieht die christliche Theologie, wenn die Lehre von ‘Jesus, dem Christus’ (Christologie) oft so rechthaberisch und überheblich daherkommt, so dass der jüdische Glauben als insuffizient und defizitär dasteht, als ein Glauben, der nur ‘Präludium’ zum christlichen Glauben sei und dem Entscheidendes fehle, was nur Jesus Christus ergänzen könne.37 Bereits Paulus sah sich veranlasst, die Nicht-Juden in den Gemeinden davor zu warnen, gegenüber den Juden, die sich nicht zu Jesus Christus bekennen, „sich selbst für klug zu halten“ (Röm 11,25). Das ist bis heute als Warnung vor christlichem Dünkel und theologischem Überheblichkeitsgefühl zu verstehen (vgl. auch Röm 11,13.18). Es ist die geheime Angst, dass, wenn Juden in ihrem Glauben das Heil finden: neben der Kirche und nicht ‘per Christum’ (so ist Röm 11,25 36 zu lesen)38 , die Einzigartigkeit Jesu Christi beschädigt werden und das proprium christianum, dass Jesus Christus der universale und absolute Heilsmittler sei39 , verlorengehen könnte bzw. aufgegeben würde. Aber kann man die Absolutheit und Universalität des Heilswillens Gottes ohne kritische theologisch-hermeneutische Differenzierung in Jesus Christus einfach heilsexklusivistisch abbilden?40 Dass der jüdische Glaube zentrale theologische Sinnfiguren wie ‘Erlösung’ und ‘Vergebung’ teils aus gleichen Quellen theozentrisch konstruiert, und das heißt: nicht christologisch, wird als Bedrohung der eigenen Identität empfunden. Eine in diesem Zusammenhang plausible religionspsychologische These sagt, dass der Abgrenzungsbedarf zwischen Religionsgemeinschaften steigt, je näher sie sich sind: je größer die Unterschiede, desto kleiner das Abgrenzungsbedürfnis; je höher die Differenz, desto geringer die Exklusion. Eine Identität, die sich aus Abgrenzung speist, hat die Theologie  und Kirchengeschichte von ihren Anfängen an bestimmt. Solche ‘identity against’ ist – entwicklungspsychologisch gesehen – für die pubertäre Phase signifikant und als Durchgangsstadium in der Persönlichkeitsentwicklung hin zum Erwachsenwerden notwendig und akzeptabel, d. h.: im Prozess der Trennung der Wege in zwei verschiedenen Religionen, nämlich in Christentum und rabbinisches Judentum, als Anfangspolemik verständlich. Ist das Christentum ‘erwachsen’ geworden?

In den Kapiteln 9-11 seines Römerbriefes erinnert Paulus an das unverbrüchliche Versprechen Gottes an Israel und verweist auf die bleibende Herausforderung, eine Christologie im Horizont der Theozentrik des jüdischen Glaubens zu entwerfen. In Röm 11,25-36, dem Schlussabschnitt von Röm 9-11, in dem Paulus von der eschatologischen Zukunft Israels spricht, nennt er Christus nicht mehr! Bis Röm 10,17 hatte der Apostel mit der Hoffnungsfigur gearbeitet, dass sich die nicht wie er auf Christus vertrauenden Juden aufgrund seines Werbens zu Christus hinwenden würden. Diese ‘Hoffnung’ gibt Paulus ab Röm 10,18 auf und nennt (Jesus) Christus in seiner Argumentation erst gar nicht mehr. Der „Retter aus Zion“ für „ganz Israel“ (Röm 11,26) ist kein christologischer ‘Joker’, der am Ende der Zeit doch noch gezogen wird, nämlich der ‘Parusie-Christus’, der auch die Juden rettet. „Der Retter aus Zion“ für „ganz Israel“ ist kein anderer als YHWH. So bleiben die Aussagen des Paulus und der christlich-jüdische Dialog heilsame Korrektive zu einer Haltung, die auch das Heil der Juden in Jesus dem Christus fixieren möchte. Das begrenzt den traditionell christologisch begründeten Wahrheitsanspruch des Christentums, nimmt ihm aber seinen rechthaberischen und exkludierenden Gestus, dem das Christentum in seiner Geschichte immer wieder, auch zu seinem eigenen Schaden, erlegen ist und immer noch erliegt.

Für Paulus sieht das, was uns heute nach einer langen Differenzierungsgeschichte zwischen Christentum und Judentum kaum denkbar erscheinen will, anders aus, dass nämlich zwei theologische Begründungsmuster nebeneinander stehen: ein strikt theozentrisches und ein christologisch vermitteltes. Für den Juden Paulus gibt es zwischen diesen beiden Begründungsmustern keine religionsstrukturelle Abgrenzung; es sind zwei Begründungsmuster, die zwei mögliche Strömungen innerhalb des Judentums seiner Zeit widerspiegeln und nicht – wie heute – zwei verschiedene Religionssysteme kennzeichnen. Von daher kann Paulus beide theologischen Begründungsmuster nebeneinander gebrauchen, ohne deswegen den Raum seiner in sich pluralen jüdischen Interpretationsgemeinschaft, kurzum: seinen Wahrheitsraum zu verlassen. Diese, wie ich es nennen möchte, ‘paulinische Weite des Anfangs’ gilt es wiederzugewinnen.

Steht also im Verhältnis des Christentums zum Judentum nicht Glauben gegen Unglauben, nicht Wahrheit gegen Unwahrheit, sondern Glauben neben Glauben, Wahrheit neben Wahrheit41, dann bedeutet das „Nein“ der Juden zu Christus bzw. zum Christusdogma Treue zum Wort Gottes, Treue zu Seinen Verheißungen (vgl. in Röm 9,4), wie Juden das Wort Gottes ‘hören’. Juden missionieren zu wollen oder insgeheim zu hoffen, dass sie ‘um ihres Heiles willen’ sich zu Christus bekennen, hieße, sie zur Untreue gegenüber Gott aufzurufen, wie sie ihn ‘hören’. Zu meinen, Juden missionieren zu müssen, stellt auch für Christen die Treue Gottes, dass er zu seinem einmal gegebenen Wort steht (vgl. bes. 1 Kor 1,18 20), grundsätzlich in Frage. Eine solche Theologie beschädigt das eigene christliche Vertrauen in Gott und sein Wort! Dass im Verhältnis des Christentums zum Judentum Wahrheit neben Wahrheit, Glauben neben Glauben steht, gehört zur Identität des christlichen Glaubens. Zum jüdischen ‘Nein’ zum Christus-Dogma ‘Ja’ sagen zu können42, ist die Voraussetzung dafür, dass christliche Theologie den ihr in Jahrhunderten eingeprägten judenfeindlichen Gestus wirklich überwinden und die Beziehung zum vielfältigen Judentum für die eigene christliche Identität als bereichernd erfahren kann.

Ein Wahrheitsanspruch ist immer relational, d. h. zum Subjekt, das eine Aussage mit Wahrheitsanspruch macht, in Beziehung zu setzen. Ein Wahrheitsanspruch ist deshalb immer von begrenzter Reichweite. Es genügt, diese Begrenztheit zu übersehen, um aus der (geglaubten) Wahrheit einen Irrtum, eine Ideologie zu machen.43 Die Einsicht in ihre Begrenztheit verändert die geglaubte Wahrheit auch inhaltlich. Und noch etwas: ‘Wahrheit’ ist nicht statisch, nicht formelhaft in Sätze zu fassen; ‘Wahrheit’ ist lebendig wie das Leben selbst, denn ‘wahr’ ist, was sich im Leben als vertrauenswert und lebensdienlich erweist, wie nicht nur die Etymologie des deutschen Wortes „wahr“ belegt. Das seit dem 8. Jh. belegte Wort leitet sich von dem indoeuropäischen Wurzelnomen *wer her, das „Vertrauen, Treue, Zustimmung“ bezeichnet. Damit trägt das deutsche Wort „wahr“ (bzw. „Wahrheit“) in sich, was biblisch damit gemeint ist: Gott lässt sich in seiner Geschichte mit dem Menschen wahrnehmen, und so entdeckt sich die Wahrheit in dem, was sich im Blick auf Gott im Leben bewahrheitet, d. h.: bewährt hat und immer wieder neu bewährt. Dieses Verständnis setzt Wahrheit in Beziehung zu Gott und entdeckt sie in Gottes Geschichte mit dem Menschen – bis in die Lebensgeschichte des Einzelnen hinein. Dies kommt dem biblischen Verständnis von Wahrheit (hebr.: / ’æmæt bzw. / ’æmûnah – „Zuverlässigkeit, Beständigkeit, Treue“) sehr nahe – in Unterscheidung zum abstrakten philosophischen Wahrheitsbegriff der Antike, der ‘Wahrheit’ als das immer gleich bleibende, über allem stehende Sein begreift. Danach wäre der verschleiernde Vorhang der Phänomene denkerisch einfach beiseite zu schieben, um zu erkennen, was das griechische Wort für Wahrheit etymologisch vielleicht insinuiert: – „Un-Verborgenheit“ (des Seins).44 ‘Wahrheit’ im biblischen Verständnis gehört also in die Kategorie dessen, was zunächst erfahren und getan (vgl. Joh 3,21) und dann auch reflektiert wird.

Im jüdischen Glauben tritt dem Christentum eine Wahrheit gegenüber, deren theo-logischen Grund das Christentum von seinem Selbstverständnis her, also auf der Ebene seiner eigenen christlichen Identität, auch glaubt. Von daher ist der Wahrheitsanspruch des Christentums im Blick auf das Judentum auf jeden Fall im Plural zu deklinieren! Wie kamen und kommen Christen eigentlich dazu, sich dem Judentum gegenüber heilsgeschichtlich progressiv zu inszenieren, sich also in ein vorteiliges Nachher zu setzen und die volle Wahrheit, die Wahrheit für sich zu reklamieren, teilt Gott doch in seiner Offenbarung nicht bestimmte Wahrheiten mit, die er heilsgeschichtlich ‘später’ durch neue Wahrheiten ergänzen oder überbieten würde. In seiner Gottrede teilt sich Gott vielmehr selbst mit, gibt sich selbst: Das ist weder zu mindern noch steigerbar!

Was geschieht, wenn Menschen meinen bzw. glauben, Wahrheit absolut feststellen und ‘ihre’ Wahrheit über Andere absolut setzen zu können, zeigt die Geschichte in vielen Beispielen auf tragische Weise, besonders wenn Religionen Andere auf ‘ihre’ Wahrheit verpflichten, sie ihnen gar aufzwingen wollen, und so zur Ideologie verkommen. Religionen, die sich auf eine Offenbarung berufen (können), sind besonders gefährdet, die Offenbarung in historisch-unkritischer Weise instruktiv-fundamentalistisch zu verstehen und hermeneutisch-ungebrochen die eigenen theologischen Sinnfiguren und  gebäude mit der Offenbarung zu verwechseln und als Weisung Gottes auszugeben: ‘tragedies of errors’, für die hohe Amts  und Würdenträger von Offenbarungsreligionen besonders anfällig sind.45

Bonaventura (13. Jh.) spricht von einer „violentia rationis“, von der Macht bzw. Gewalt der Vernunft. Werde nämlich der Glauben im Herzen des Menschen von der Macht der Vernunft beherrscht, werde er leicht zu einer Größe der Gewalt, insofern sich die geglaubte Wahrheit subjektiv als so zwingend darstelle, dass diese Anderen, Andersglaubenden um deren vermeintlichen Heiles wegen aufgezwungen werde. Von daher ist eine ‘steile’ Christologie mehr als nur rhetorisch-atemberaubendes Wortgeklingel; sie ist, wie Papst Benedikt XVI. im Anschluss an Bonaventura herausstellt, Ausdruck einer „Selbstherrlichkeit der Vernunft, die sich zum obersten und letzten Richter über alles macht. Diese Art von Vernunftgebrauch ist freilich im Bereich des Glaubens unmöglich“46, weil sie, so der Papst im Anschluss an Ps 95,9, Gott auf die Probe stelle. Christen sollten also theologisch-selbstkritisch fragen, wie das Gewaltpotential, das ihrem christologisch begründeten Wahrheitsanspruch innewohnen kann, zu regulieren und begrenzen wäre. Und was dabei an unlösbaren theologischen Problemen bleibt, sollten sie getrost der unergründlichen Weisheit Gottes anheimstellen, wie es Paulus tut, der seinen theologischen Diskurs abbricht, Röm 9 11 Fragment sein lässt und Gottes unerforschlichen und unergründlichen Ratschluss lobt und preist (vgl. Röm 11,33 36).

Es ist ja gerade ein Problem christlicher Theologie vorzugeben, mehr ergründen zu können und zu wissen, als Menschen ergründen und wissen können. In der Mischna heißt es: „Jeder, der über vier Dinge nachgrübelt, für den wäre es besser, er wäre erst gar nicht zur Welt gekommen: Was ist oben? Was ist unten? Was war vorher? Was wird nachher sein?“47 Franz Rosenzweig (1886-1929) schreibt dazu48: „[W]ie wir der Grenzen unseres Wissens zu achten haben, so auch, und nicht minder, der Grenzen unseres Nichtwissens. Jenseits all unsres Wissens wohnt Gott. Aber ehe unser Nichtwissen anfängt, schenkt sich dir, deinem Anruf, deinem Aufstieg, deiner Bereitschaft, deiner Schau, deinem Leben – dein Gott.“49 Damit ist der zu Beginn der Einleitung angesprochene Zusammenhang von ‘fides et ratio’ aufgerufen. Die (An-) Erkenntnis der Grenzen menschlichen Wissens und Nichtwissens eröffnet die Möglichkeit zu erfahren, wie Gott im Leben, in der Welt wirkt (vgl. Ex 3,11-14), und soll nicht in Spekulationen darüber führen, wer er ist. Deshalb sollte demütige Selbstbeschränkung das Theologietreiben bestimmen, auch und gerade christliches Theologietreiben, und sich dem Judentum gegenüber nicht, weil die Sinnfiguren von Christus her konzipierend, als ‘besser’ verstehen. Christen ‘wissen’ nicht mehr und sind nicht ‘näher’ bei Gott.

Die ‘alte’ Frage, wer der als Christus bekannte Jesus von Nazareth ist, ist durch die christologischen Kompromissformeln der ersten Konzilien nicht unveränderlich oder gar endgültig und theologisch auch nicht immer unproblematisch beantwortet. Vielmehr muss jede Zeit in Auseinandersetzung mit der Intention und auch der Rhetorik dieser Traditionsbestände ihre Antwort(en) finden. Die bloße Wiederholung der Inkulturation in die Metaphysik der (Spät-) Antike (s. u.) ‘beamt’ die Menschen von heute zurück in ein philosophisches Denksystem und eine theologische Sprache, die sie nicht mehr verstehen bzw. nicht mehr sprechen, so dass ihnen Jesus Christus im ‘Gewand’ der antiken Inkulturation wie ein ‘zweiter Gott’ () vorkommen muss: eine fatale und grundsätzliche Störung in der Glaubenskommunikation. Der Gott des Neuen Testaments ist der Gott Israels:


– Und Er ist EINER, und es gibt keinen Zweiten / mit Ihm zu vergleichen für eine Verbindung,

singt die Synagoge im Adon Olam traditionell am Schluss des G’ttesdienstes nicht ohne Kritik an der christlichen Gotteskonzeption.50 In diesem Sinne sind der jüdische Glaube und der christlich-jüdische Dialog eine bleibende Herausforderung, die Christologie immer strikt im Horizont der Theozentrik des jüdischen Glaubens zu entwerfen: eine provocatio ad salutem für den christlichen Glauben.51


ARD MEDIATHEK


Heinz-Günther Schöttler
Video


23.06.2015 | 1 Min. | Verfügbar bis 22.06.2016
Quelle: © Bayerischer Rundfunk



Der Theologe Heinz-Günther Schöttler über die Bedeutung des Konzildokuments Nostra Aetate während des zweiten vatikanischen Konzils.



Partizipation statt Enterbung oder Substitution

Ich nehme die oben formulierten Fragen nochmals auf: Ist es denn nicht so, dass die Selbstbindung Gottes an Israel im Sinai-Bund durch den Bund, den die Kirche im Blick auf Jer 31,31 34 und die neutestamentliche Abendmahlstradition (vgl. Lk 22,20; 1 Kor 11,25) einen „neuen Bund“ [ bzw. ] nennt, aufgehoben ist, wie die traditionelle Deutung behauptet (hat)?52 Sieht die Kirche in einem ‘neuen Bund’ nicht gerade das zentrale Konzept ihres Selbstverständnisses, nämlich das ‘neue Volk Gottes’ zu sein? Die diesbezügliche kirchliche Rede kam in der nachkonziliaren Zeit durchaus vorsichtiger, subtiler, nicht mehr so schroff daher wie in der Enterbungs- und Substitutionstheologie früherer Jahrhunderte, etwa: „So wird zwar der Sinaibund in der Tat überschritten, aber indem sein Vorläufiges abgestreift wird, erscheint seine wahre Endgültigkeit, wird sein Endgültiges ans Licht gebracht.“53 Oder wenn in einer eleganten Überbietungsrhetorik der Sinai-Bund fast unmerklich futil wird: „Was dort [sc. am Sinai] nur ein Anlauf in Zeichen gewesen war, wird nun [sc. im Abendmahl] ganz Wirklichkeit – die Bluts- und Lebensgemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen.“54

Der Bund, von dem Jer 31 spricht, ist kein anderer als der Sinai-Bund; er ist kein ‘neuer’ Bund in dem Sinn, als sei der Sinai-Bund aufgehoben und eine Kontinuität mit dem Bund, den Gott ‘einst’ mit den Vätern gestiftet hat, ausgeschlossen. Gott ist treu; er steht zu seinem Bund mit Israel; selbst Untreue Israels hebt den Bund nicht auf. In Röm 3,3 fragt Paulus: „Was ist denn, wenn einige untreu geworden sind, wird dann ihre Untreue die Treue Gottes zunichtemachen?“ Es folgt in v 4 sofort ein entschiedenes ‘Nein’ mit theologischer Begründung: „Keineswegs! Vielmehr: Gott ist treu!“

Bereits innerbiblisch wird der Sinai zum locus classicus für alle Bundeskonzeptionen55 , bis hin zu den spätesten, so dass alle Bundeskonzeptionen der Heiligkeit dieses Ortes ihre Reverenz erweisen mussten bzw. müssen. Der Sinai-Bund ist ein immer aktueller und so in gewisser Weise stets ein neuer Bund. Es ist YHWHs bleibendes Heilshandeln, das den Bund bestimmt und trägt. Von Gott her wird der Bund inhaltlich immer neu gefüllt, immer wieder erneuert.56 Wie der in Ex 34,10 2757 mitgeteilte Bundesschluss „keine Alternative zu dem von Ex 24 darstellt, sondern eine bestätigende Erneuerung, die durch die Abwendung des Volkes nötig geworden ist“58 , so auch der Bund, von dem in Jer 31 die Rede ist und den YHWH so erneuern wird, dass Israel ihn nicht mehr brechen kann: YHWH wird seine Tora „in ihr Inneres legen und auf / in ihr Herz schreiben“ (v 33b) und so bewirken, dass Israel den Bund künftig nicht mehr bricht. Diese Unmittelbarkeit und Unverbrüchlichkeit ist das Neue am ‘alten’ Bund, und nicht ist der Sinai-Bund gekündigt.59 Mit Erich Zenger ist festzuhalten, dass das Konzept von Jer 31,31 34 in seiner eschatologischen Offenheit „eine innergeschichtlich nie erreichbare Fülle der Gotteserkenntnis als Mitte und Ziel des aus seinem Innersten ‘neuen’ Gottesbundes verheißt“60, und es ist zu betonen, dass diese Fülle auch nicht mit der Ecclesia schon verwirklicht wäre. Auf einen anderen Aspekt sei noch hingewiesen: Den ‘neuen Bund’ wird YHWH, wie Jer 31 explizit sagt, „mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda“ (v 31) schließen. Wo steht, dass YHWH diese Zusage an die Adressaten von Jer 31 nicht einlöst, einlösen wird? Wo steht, dass die Kirche diesen Bund usurpatorisch für sich reklamieren könnte?

Innerhalb des Alten Testaments ist die Rede von einem ‘neuen Bund’ in Jer 31,31 34 singulär geblieben, wohl deshalb, weil „sie – zumal im Kontext der in Jer 31,32 formulierten Antithese – dem Missverständnis Vorschub leisten konnte, dieser ‘neue’ Bund sei ein ‘anderer’ Bund“61. Fremd geblieben ist die Sinnfigur von einem ‘neuen Bund’ auch den frühjüdischen Schriften, und wenn in den Qumran-Texten von einem „neuen Bund“ die Rede ist, und zwar nur in der Damaskusschrift (viermal in der Wendung „neuer Bund im Land Damaskus“ und ähnlich), dann ist hier „Bund“ und seine Qualifizierung als „neu“ in derart spezifischer und von Jer 31,31 34 abweichender Bedeutung gebraucht, dass jedenfalls kein Gegensatz zum Sinai-Bund gemeint sein kann.62 Und wenn rabbinische Schriften auf Jer 31 Bezug nehmen (insgesamt etwa zwölf Belege), dann auf vv 33f, um für eine Verinnerlichung der Tora zu plädieren.63 Erst die mittelalterlichen jüdischen Autoren kommen um Jer 31 nicht mehr herum; sie sehen sich durch die Christen, die Jer 31,31 34 für sich und gegen die Juden ‘beanspruchten’, herausgefordert.

An dieser Stelle ist auf eine kleine Studie zu Jer 31 einzugehen, die Adrian Schenker, ein ausgewiesener Fachmann für die Textgeschichte und  kritik des Alten Testaments und seiner Versionen, unter dem Titel „Das Neue am neuen Bund und das Alte am alten“ 2006 vorgelegt hat und die – so ihr Autor – „einen neuen, bisher unberücksichtigten Gesichtspunkt in die Diskussion einführt“64. Adrian Schenker will in der vom Masoretischen Text nicht unerheblich abweichenden Fassung der Septuaginta in Jer 31,31 34 (= LXX 38,31 34) ein Bundeskonzept erkennen, wonach der Sinai-Bund von Seiten Gottes aufgekündigt worden sei, weil Israel den Bund mit den Vätern gebrochen habe. Er stützt sich für seine Hypothese besonders auf die Septuaginta-Fassung von v 32b, den er so übersetzt: „..., denn sie hatten nicht in meinem Bund verharrt, und ich vernachlässigte sie [], spricht der Herr.“65 Daraus folgert Schenker, dass nach Auffassung der Septuaginta einerseits kein Bund mehr bestehe und andererseits der in Jer 31 [38] angekündigte neue Bund nur in einer Anwartschaft auf die Zukunft hin, d. h.: Zwischen dem gekündigten Bund und dem erst verheißenen kommenden Bund herrsche ein ‘vertragloser’ Zustand. Hinter der Septuaginta-Version will er eine prämasoretische Textgestalt erkennen. Diese „äußerst harte, ja skandalöse Fassung von v 32“66 habe der Masoretische Text entsprechend der Mehrheitsmeinung korrigiert in das Konzept eines einzigen, nie gekündigten Bundes YHWHs mit seinem Volk, der in einer gegenwärtigen und in einer künftigen Form bestehe. Hinter den Kelchworten der neutestamentlichen Abendmahlstradition (vgl. Lk 22,20; 1 Kor 11,25) sieht Adrian Schenker das von ihm eruierte Verständnis der Bundeskonzeption der Septuaginta, und wenn er seine Hypothese durch die Kirchenväter bestätigt findet, dann ist dies m. E. nicht besonders verwunderlich. Von „Substitution Israels“, so Adrian Schenker, könne „keine Rede sein, wohl aber von einem erst noch kommenden Bund und von neuen Weisungen Gottes, die zu den Weisungen des ersten Bundes hinzutreten. In diesem einen Bund wird Raum sein für Israel, Juda und die Kirche Jesu.“67 Explizit vermerkt er, dass seine Hypothese „von großer Tragweite für das christliche Verständnis Israels in seinem Verhältnis zur Kirche“68 sei, weigert sich aber, die ‘Folgen’ zu tragen, und lädt die Verantwortung nassforsch ab: „Es [ist] Aufgabe von Juden, Bedeutung und Tragweite der LXX-Fassung von Jer 31,31-34, die von Judäern (möglicherweise vom Propheten Jeremia selbst) auf Hebräisch geschaffen worden ist, für das Judentum zu bestimmen.“69 Für die Christen bekräftigt Adrian Schenker die ‘Folgen’ seiner Hypothese von Hebr 8,8-12; 10,16-17 und von den Kirchenvätern her ziemlich heilssicher: „[D]er erste Bund war auch von Seiten Gottes gekündigt worden. Daher ist er als nicht mehr bestehender Bund der alte Bund geworden, und Gott hat seine Weisungen für seinen neuen Bund in Aussicht gestellt. Diese Weisungen hat Jesus als Sohn Gottes gebracht.“70 Aber so, nämlich die Konsequenzen aus exegetischen Hypothesen einfach an das Judentum abzugeben, darf von christlicher Seite der Dialog auch in der Exegese nicht geführt werden!71

Ich kann hier nicht ausführlicher auf Adrian Schenkers Hypothese eingehen, nur so viel: Die von ihm postulierte prämasoretische Textgestalt ist rein hypothetisch. Es beginnt beim Text der Septuaginta in v 32b, der durchaus nicht als Aufkündigung des Bundes zu verstehen ist; – „sich nicht kümmern um, vernachlässigen“ ist vielmehr im Sinne solcher Bundeskonzepte zu verstehen, die in Exil und Diaspora eine Strafe erkennen als Folge der Abkehr von Gott, allerdings ist die Strafe immer zeitlich begrenzt und besteht nie in der endgültigen Aufkündigung des Bundes.72 Der Bund Gottes mit seinem Volk Israel ist und bleibt Gnade, ist in seinem Wesen unkonditioniert und muss nicht ‘verdient’ werden. Hier allerdings ist Jer 31,31 34 eine theologische Korrektur an solchen Bundeskonzeptionen, die so missverständlich beschrieben sind, als hinge der Bestand des Bundes an dessen menschlichem ‘Vertragspartner’.73 Kurzum: Adrian Schenker hat einfach ein ‘schlechtes’ Bild vom Sinai-Bund. Ist dieser etwa nicht von der unverbrüchlichen Treue Gottes getragen, was Schenker für den in Jer 31[38] beschriebenen und von ihm für das Christentum reklamierten Bund so selbstverständlich voraussetzt? Nicht von ungefähr begründet die jüdische Tradition die Unverbrüchlichkeit des Sinai-Bundes von den in Ex 34,6f genannten dreizehn Eigenschaften bzw. Attributen (hebr.: – middôt) Gottes her.74 Ja, Gott ist auch ‘zornig’, aber viel mehr ist er ‘barmherzig’ und ‘gnädig’; sein Zorn ist begrenzt, seine Bereitschaft zur Vergebung unbegrenzt, wie es in Ex 34,6f heißt:

YHWH YHWH Gott barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und reich an Güte und Treue, der Güte bewahrt an tausenden [Generationen], der Schuld, Vergehen und Sünde wegnimmt, aber er spricht nicht einfach frei, der die Schuld der Väter prüft an den Kindern und Kindeskindern, an der dritten und vierten [Generation].

„Diese großartige Selbstvorstellung Gottes bildet nicht nur den Höhepunkt der Offenbarung Gottes am Sinai, sondern ist für die gesamte biblische Literatur eines der grundlegendsten Bekenntnisse, das immer wieder aufgenommen, variiert und neu durchdacht worden ist. Sieben Mal wird es in den unterschiedlichsten Texten und Gattungen der Hebräischen Bibel zitiert und über zwanzig Mal alludiert (Num 14,18; Neh 9,17; Ps 86,15; 103,8; 145,8; Joel 2,13; Jona 4,2; Nah 1,3 etc.).“75 Für den im Neuen Testament bezeugten Bund (vgl. Mk 14,24; Mt 26,28 sowie Lk 22,20; 1 Kor 11,25) gilt: „Dieser Bund ersetzt nicht den Israel Bund, vielmehr eröffnet er die Heilsgeschichte Gottes mit allen Völkern neu und bekräftigt sie. Israel und Kirche sind gemeinsam und auf je spezifische Weise Werkzeuge Gottes für das Kommen seiner universalen Königsherrschaft.“76

Werfen wir noch kurz einen Blick auf die beiden anderen immer noch unreflektiert gebrauchten kirchlichen Selbstbezeichnungen. Über dem zweiten Kapitel von Lumen Gentium steht zur Bezeichnung der Kirche „Volk Gottes“, und in derselben Konstitution ist gar von der Kirche als „novus Populus Dei“ die Rede: Mit Hinweis auf Jer 31,31 34 wird der Bund mit Israel „zur Vorbereitung und zum Vorbild [praeparatio et figura] jenes neuen und vollkommenen Bundes, der in Christus geschlossen werden sollte“, entwertet, und die Kirche wird mit Hinweis auf 1 Kor 11,25 „als das neue Volk Gottes“ definiert (LG 9,1). Selbst in Nostra Aetate nennt sich die Kirche „das neue Volk Gottes“; die Erklärung spürt allerdings die Problematik dieser Bezeichnung und schiebt sofort nach, dass damit „die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht dargestellt werden sollen“ (NA 4,6). Wenn die Christen bzw. die Kirche als „neues Volk Gottes“ bezeichnet werden, so ist dies selbst ohne die Qualifikation ‘neu’ unbiblisch und theologisch höchst problematisch! Die Bezeichnung kann sich nur auf 1 Petr 2,9f; Röm 9,25f; 2 Kor 6,16 und Tit 2,14 berufen; an diesen Stellen ist die Bezeichnung „Volk Gottes“ aber über Zitate aus der Bibel Israels eingespielt, d. h.: Im Neuen Testament ist und bleibt die Bezeichnung „Volk Gottes“ Ausdruck des Privilegs der Erstberufung Israels! Die Entgegensetzung eines „neuen Volkes Gottes“ zum „alten“ ist erst im Barnabasbrief (um 300 n. u. Z.) belegt, und fortan wird die Bezeichnung von der Kirche in dem mehr oder weniger judenfeindlichen Anspruch gebraucht, Israel als „altes Volk Gottes“ abgelöst und beerbt zu haben. „Es bleibt zu betonen, dass es nur ein von Gott selber erwähltes Eigentumsvolk gibt, das der Juden [...], und dass die Anwendung von ‘Volk Gottes’ auf die Kirche eine in jedem Fall interpretationsbedürftige Metapher ist.“77

Im Neuen Testament ist der Würdename „Israel“ allein den Juden vorbehalten: „ein bemerkenswerter Befund“78 . Nicht erst Augustinus (gest. 430) spricht Israel seine Würdenamen dezidiert ab und reklamiert ihn für die Kirche, und nicht nur diesen Namen, auch den Namen „Juden“79 : Die Kirche sei das „wahre Israel“, das „wahre Juda“.80 Für Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. ist die Jüngergemeinschaft Jesu immer noch das „neue Israel“. Er beantwortet die rhetorische Frage, ob dies „nicht den beunruhigen [muss], dem das ‘ewige Israel’ am Herzen liegt“, so: „Mit dem Anspruch Jesu selbst ist es verbunden, dass die Jüngergemeinschaft das neue Israel ist. Mit der Frage nach dem Anspruch Jesu, selbst die Tora und der Tempel in Person zu sein, ist auch das Thema Israels – die Frage der lebendigen Gemeinschaft des Volkes – verbunden, in dem sich Gottes Wort verwirklicht. “81 Noch die Neuausgabe des katholischen Gebet  und Gesangbuchs „Gotteslob“ von 2013 lässt die christliche Gemeinde in dem Lied „Aus tiefer Not schrei ich zu dir...“, Martin Luthers Muster eines Psalmenliedes (nach Ps 130)82, usurpatorisch von sich selbst als „Israel rechter Art“ singen83 – „Verus Israel“, jene Israel als Volk Gottes enterbende Selbstbezeichnung der Kirche.84

An anderer Stelle des ersten Teils seiner Jesus-Trilogie spricht Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. von der Jüngergemeinschaft als dem ‘erneuerten Israel’: In der Nachfolge Jesu bilde sich „ein umfassenderes Israel – ein erneuertes Israel, das das alte nicht ausschließt oder aufhebt, aber überschreitet ins Universale hinein“85 . Immer wieder wird im Blick auf den jüdischen Glauben von einem Partikularismus gesprochen, und dieser wird in einen Gegensatz zu einem christlichen Universalismus gesetzt, mit dem das Christentum das Judentum überwunden habe. Wann wird dieses judenfeindliche Stereotyp endlich überwunden sein?! Es ist doch so, dass in beiden beides zu finden ist. Wie sollt es denn auch anders sein? Das besondere Gottesverhältnis Israels ist von vornherein eingebunden in die Schöpfung (vgl. Gen 1,1: / bereschit) und in die allgemeine Menschheitsgeschichte (vgl. etwa Gen 10 1286), in der Israel seine ihm von Gott zugewiesene Aufgabe hat wie die anderen Völker ihre Aufgabe, und beide sind aufeinander bezogen (vgl. etwa Mi 4,1 5). Anders ausgedrückt: Die Geschichte Israels ist die partikulare Besonderheit der universalen Geschichte Gottes mit der Welt. In diesem universalen Horizont ereignet sich die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel – zum Segen für die ganze Völkerwelt (vgl. etwa Gen 12,1-3). Im Bekol dor wador, einem zentralen Text der Pessach-Haggada, scheint die universalistische Perspektive an unerwarteter Stelle auf, wenn es heißt, dass „in jeder Generation jede(r)
[] verpflichtet ist, sich selbst so zu sehen, als ob er selbst aus Ägypten ausgezogen wäre“87 . Es heißt nicht „jeder Jude“, sondern „jeder / jede Einzelne“ []: „The liberation from Egypt has universal significance that extends way beyond Jewish history. That is why the exodus theme has been taken up by oppressed peoples everywhere on earth. That explains why there are Haggadot that tell of other communities’ liberation from their own oppression – black Haggadot, feminist Haggadot, secular Israeli Haggadot, and the rest.“88 Diese wenigen Hinweise sollen genügen.

Wie aber ist die Beziehung des Christentums zum Judentum zu beschreiben, ohne, auch ungewollt, einer Enterbungs- und Substitutionsvorstellung zu verfallen.89 Ich meine, allein angemessen sei der Gedanke der participatio, wie ihn Paulus mit der Ölbaum-Metapher in Röm 11 entwickelt: Die ‘aus den Völkern’ finden durch Jesus „zum lebendigen und wahren Gott“ (1 Thess 1,9) und sind durch ihn „Teilhaber an der Kraft gebenden Wurzel des Ölbaums geworden“ (Röm 11,17b90 ). In diesem Bild steht der Ölbaum für Jesus als Gesalbtem, seine Wurzel für „die Israeliten, aus denen der Gesalbte seiner Herkunft nach kommt“ (Röm 9,5a).91 Dass ‘die aus den Völkern’ an der Kraft Israels partizipieren dürfen, unterstreicht Paulus durch das den Teilhabegedanken intensivierende Kompositum – „Teilhaber, Genosse“] in Röm 11,17 und warnt ‘die aus den Völkern’ sofort davor, dieses Verhältnis umzukehren: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel dich!“ (Röm 11,18)92 Die Evangelische Kirche im Rheinland hat den Gedanken der Partizipation in ihrem Synodalbeschluss von 1980, mit dem der bereits genannte Grundartikel zum Verhältnis der Kirche zum Judentum begründet wurde, aufgenommen und so formuliert: „Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk und erkennen, dass die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist.“93

„Volk Gottes“ kann und darf die Kirche sich also nur in einem „uneigentlichen“94 Sinn nennen, insofern sie sich bewusst ist, dass sie in Jesus Christus eine ‘Dazugekommene’ ist; nicht aber kann und darf die Kirche sich „neues Volk Gottes“ nennen, wie es selbst der Katechismus der Katholischen Kirche 1993 in einer Allusion auf NA 4,1 noch tut95. Dem Partizipationsmodell liegt die biblische Kategorie des einzigen Bundes zugrunde96, in dem beide, Judentum und Christentum, so aufeinander bezogen sind, dass ihre je eigene Identität und Unterschiedenheit gewahrt bleibt. Beider Wege gründen in Gottes unerforschlichem und unergründlichem Ratschluss (vgl. Röm 11,33 36), wie es die Übersetzung der nachkonziliaren Karfreitagsfürbitte im Deutschen Messbuch von 1975 über die lateinische Vorlage hinaus in Bezug auf den jüdischen Weg sagt, dass die Juden „das Ziel erreichen, zu dem sein [sc. Gottes] Ratschluss sie führen will.“ Beide – Juden und Christen – sind durch den gemeinsamen Bundesgott in Dienst genommen, auf je unterschiedliche Weise zwar, in dieser tiefen Verbundenheit aber auch zu gemeinsamen Aufgaben regelrecht herausgefordert, insbesondere zum gemeinsamen Dienst an der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit und am Frieden in der Welt, wie es Benedikt XVI. 2010 in seiner Ansprache in der Großen Synagoge von Rom herausgestellt hat: „Mit der Ausübung der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit sind Juden und Christen dazu gerufen, das kommende Reich des Höchsten zu verkünden und von ihm Zeugnis zu geben, dafür zu beten und jeden Tag voller Hoffnung zu wirken. In diese Richtung können wir gemeinsam Schritte unternehmen im Bewusstsein der zwischen uns bestehenden Unterschiede, aber ebenso der Tatsache, dass, wenn es uns gelingt, unsere Herzen und unsere Hände zu vereinen, um auf den Ruf des Herrn zu antworten, sein Licht näher kommen wird, um alle Völker der Erde zu erleuchten.“97

Die Teilhabe der Kirche „an der Kraft der Wurzel“ schwächt den christlichen Glauben nicht; im Gegenteil! Menschen „aus den Völkern“ kommen bis heute über Jesus in Beziehung zum Gott Israels, wie die erste These des jüdischen Dokuments Dabru emet aus dem Jahr 2000 sagt: „Juden und Christen beten denselben Gott an. Vor dem Aufstieg des Christentums waren es allein die Juden, die den Gott Israels anbeteten. Aber auch Christen beten den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Schöpfer von Himmel und Erde an. Wenngleich die christliche Weise, Gott anzubeten, für Juden keine annehmbare religiöse Alternative darstellt, freuen wir uns als jüdische Theologen darüber, dass Abermillionen von Menschen durch das Christentum in eine Beziehung zum Gott Israels getreten sind.“98

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Aus Verantwortung dem Glauben gegenüber

Die Theozentrik in der Rede von ‘Jesus, dem Christus’ steht nicht nur in der Praxis kirchlicher Glaubenskommunikation (zu sehr) im Hintergrund; das Motto des zwanzigsten Weltjugendtages 2005 in Köln „Wir sind gekommen, um IHN anzubeten“ ist ein Beispiel dafür.99  Das also wäre ein wichtiger Schritt, von dem ich meine, dass er neben anderen in dieser Einleitung beschriebenen ansteht, nämlich die biblische Weise, von Erlösung, Vergebung, ja auch von Gott zu sprechen, wiederzuentdecken, insbesondere in der Rede von dem als Christus bekannten Jesus von Nazareth. So könnte sich das Christentum aus dem ‘Gefängnis’, zu dem ihm heute seine vielleicht gelungenste Inkulturation, nämlich diejenige in die Metaphysik der Antike geworden ist, befreien und eine Inkulturation in die heutige Welt hinein wagen, die nicht weniger notwendig ist, wie es jene geglückte, heute aber ‘ermüdete’ und in ihrer Rhetorik und ihren theologischen Sinnfiguren so unverständlich gewordene Inkulturation in die Lebens- und Denkwelt(en) der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung einmal gewesen ist.100  Würden die Kirchen die Menschen also nicht mehr bis in die Sprache hinein auf die antike Inkulturation festlegen, gewänne das Christentum Sprachfähigkeit für die Glaubenskommunikation heute, und die Rede von ‘Jesus, dem Christus’ käme den ‘smarten’ Zeitgenossen nicht mehr wie theologische Sprachakrobatik vor, wie eine unverständliche Fremdsprache, wie die Rede von einem Gott ‘neben’ Gott. Zu all dem nötigt, wenn denn ein wirklicher Dialog geführt wird, die Begegnung mit dem Judentum.

Ich hatte zu Beginn dieser Einleitung auf die Bedeutung hingewiesen, die Interpretationsgemeinschaften für die Überzeugungskraft einer Theologie zukommt, und zwar für alle Ebenen der Glaubenskommunikation.101  Eine Theologie muss sich in ihrer Interpretationsgemeinschaft und darüber hinaus abarbeiten, kann aber auch in den Koordinaten der kirchlichen Interpretationsgemeinschaft ge- bzw. befangen bleiben und in der Gefahr stehen, selbstreferentiell und unverständlich zu werden, kurzum: sediert zu sein wie in Rainer Maria Rilkes Gedicht der Panther, dessen Blick vom Vorübergehn der Stäbe müde geworden und dessen einst großer Wille jetzt betäubt ist. Aus solcher ‘Käfig-Existenz’ muss Theologie als Reflexion über den Glauben (nicht: über Gott) heraus; sie muss den Mut haben, dogmatisch beschriebene konfessionelle Grenzen zu überschreiten, und auch den frommen ‘Andachtsraum’ verlassen – um des je größeren Gottes willen; ein zugegeben prekäres Unternehmen, nicht ohne Risiko für den Theologen selbst, aber immer aus Verantwortung dem Glauben gegenüber.102

Aus dieser Verantwortung für den Glauben heraus ist das vorliegende Buch geschrieben, denn mir scheint, dass nicht nur Katholiken sich zu sehr der Konzilserklärung und anderer entsprechend bahnbrechender kirchlicher Dokumente rühmen, die jetzt bereits ein halbes Jahrhundert alt sind, und zu wenig fragen, ob sie seitdem auch theologisch substantiell weitergegangen sind? Dabei geht es nicht um die Frage, ob im Blick auf das Neue Testament und die kirchliche Lehre judenfeindliche Auslegungstraditionen wirklich selbstkritisch reflektiert werden: Das sollte eine nicht mehr besonders lobenswerte Selbstverständlichkeit (geworden) sein! Die Frage, um die es heute geht: Hat sich im Dialog mit dem Judentum, mit Menschen jüdischen Glaubens auch die christliche Theologie, ‘meine’ Theologie, und haben sich ihre Sinnfiguren verändert?

Von diesen Lern  und Veränderungsprozessen gibt das vorliegende Buch theologische Rechenschaft, und dass die darin beschriebenen Re-Visionen so stark biblisch orientiert sind, ist derselben Hermeneutik geschuldet, die Nostra Aetate 4 zugrundeliegt: Für seine grundstürzende Neubestimmung des Verhältnisses der Kirche zum Judentum konnte sich das Konzil nämlich nicht auf die Tradition berufen, weshalb es zum Anfang zurückkehrte, wie er in der Heiligen Schrift, der norma normans non normata, ‘bewahrt’ ist. Der Bruch, den das Konzil mit der Tradition vollzogen hat, zeigt sich allein formal darin, dass Nostra Aetate 4 in den Anmerkungen nicht wie die anderen Konzilstexte selbstreferentiell auf Texte der Tradition, der Päpste, der Konzilien oder heiliger Theologen rekurrieren kann, wodurch die Kontinuität in der Lehre der Kirche aufgewiesen wäre, sondern ausschließlich auf die Heilige Schrift verweist; besonders tragend sind die Zitate aus Röm 9 11. Man konnte sich für diese Neubeschreibung des Verhältnisses zum Judentum eben nicht auf die kirchliche Tradition berufen; die Neubeschreibung erfolgte aufgrund einer neuen, einer anderen Lesart schon immer bekannter Schriftstellen. Damit ist das vierte Kapitel von Nostra Aetate auch ein klares Zeugnis dafür, dass die Heilige Schrift über der Kirche steht!103  Aus diesem hermeneutischen Grund sind die in diesem Buch vorgelegten Re-Visionen ausgeprägt biblische Erinnerungen mit der Hoffnung, dass sie die beschriebene gestörte Glaubenskommunikation neu inspirieren.

In dieser Einleitung habe ich einige Fragestellungen dieses Buches beschrieben, andere sollen zum Schluss nur noch genannt werden, etwa die Frage nach der Bedeutung der Gestalt Jesu in ihrem Verhältnis zur Gestalt des Mose (vgl. z. B. Joh 1,17) oder die Frage, ob der Gottes-Knecht-Text Jes 52,13   53,12 mehr ist als ‘nur’ sprach-logische und theo-logische Erkenntnisquelle für die soteriologische Deutung des Christus-Ereignisses. Überlegungen zur Kanongestalt der Bibel Israels bzw. des Alten Testaments und der Kanongestalt des Neuen Testaments, ein von der Leseordnung in der Synagoge inspirierter Vorschlag für eine Neukonzeption der hermeneutisch defizitären sonntäglichen Leseordnung der Katholischen Kirche oder die Frage, was sich da eigentlich ereignet, wenn im Gottesdienst aus der Bibel vorgelesen wird, kommen hinzu. Die sieben Studien des Buches rufen am jeweils gegebenen Ort104  weitere zentrale Sinnfiguren der christlichen Theologie auf, die aus der Begegnung mit dem Judentum heraus besprochen und aus Verantwortung dem Glauben gegenüber re-vidiert werden.

Ein Lesen der sieben Studien in der vorgegebenen Reihenfolge ist ein Vorschlag; eine Vernetzung ist durch Querverweise sichergestellt. Jedes der sieben Kapitel ist in sich so abgerundet, dass der Leser selbst entscheiden kann, mit welchem Kapitel er beginnen möchte.


Gemeinsames G’tteslob

In der Masoretischen Textfassung des Mose Liedes Dtn 32 werden die Völker aufgefordert, Israel als Volk Gottes zu loben (Dtn 32,43a105 ): – „Bringt, ihr Völker, sein Volk zum Jauchzen!“ Zu diesem Lob hat die Ecclesia, die – was Paulus sich nicht hätte vorstellen können – zu einer fast reinen ‘Ecclesia ex gentibus’ geworden ist, auch allen Grund, hat sie doch durch die Synagoga zu dem „lebendigen und wahren Gott“ (1 Thess 1,9) gefunden. In Röm 15,10 zitiert der Apostel die Aufforderung aus dem Mose-Lied im Verständnis der Septuaginta, so dass jetzt beide – Israel und die Völker – in der Freude über den Gott Israels vereint sind: – „Freut euch, ihr Völker, zusammen mit seinem Volk!“ Kann man das gemeinsame G’tteslob von Synagoga und Ecclesia schöner ausdrücken, den Dank der Ecclesia der Synagoga gegenüber eingeschlossen?106  Diesem gemeinsamen G’tteslob will dieses Buch dienen.



ANMERKUNGEN



1 Vgl. Schöttler, „... ein zu vollendendes Werk“.

2 Vgl. Anselm von Canterburys (gest. 1109) Schrift „Proslogion“, die ursprünglich den axiomatischen Titel „Fides quaerens intellectum“ – „Glaube, der [nach] Einsicht sucht“ (Proslogion, prooemium) trug und in der als zweites Axiom „Neque enim quaero intelligere ut credam, sed credo ut intelligam / Ich suche nicht einzusehen / zu verstehen, um zu glauben, sondern ich glaube, um einzusehen / zu verstehen“ (Proslogion 1, unter Verweis auf Jes 7,9b [Vulgata]) leitend ist (vgl. auch 1 Petr 3,15 sowie Augustinus, Sermo 43,9; 212,1; In Ioannis Ev. tractatus 40,9). Anselms Schrift selbst spiegelt diese beiden Axiome auch durch ihre literarische Form wider, insofern sie sowohl philosophisch-theologisch diskursive Teile enthält als auch solche, die in der Form des betrachtenden Gebets geschrieben sind. Wirkmächtig sind die Axiome nicht zuletzt aufgrund ihrer unterschiedlichen Auslegungen geworden. Vgl. die Enzyklika „Fides et ratio“ von Papst Johannes Paul II. [1998].

3 Französische Bischofskonferenz, Die Haltung der Christen gegenüber dem Judentum, 150 (kursiv: HGS).

4 Vgl. Noth, Geschichte Israels [11950], hier: 21954 [2. verb. Aufl.] bis 101986, 15.

5 Noth, Geschichte Israels, 406.

6 Vgl. etwa: Katechismus der Katholischen Kirche, Nrn. 1963. 1964. 1977. 1985; vgl. dazu: Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim ZdK, Juden und Judentum im neuen Katechismus der Katholischen Kirche.

7 Vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum [1985], 102 [= Nr. 25].

8 Johannes Paul II., Ansprache an den Zentralrat der Juden in Deutschland und die Rabbinerkonferenz, 75.

9 Im Paradigma der Überbietungs  und Enterbungschristologie werden sogar heute noch neue entsprechende Wendungen erfunden, zumindest rhetorisch, wie der Aufsatztitel „Der wahre Dornbusch oder: Das Kreuz als Offenbarung des trinitarischen Gottes“ von Karl Heinz Menke aus dem Jahr 2014. Menke gibt sich dabei inspiriert durch Benedikt XVI.: „Papst Benedikt schreibt in seinem Jesus-Buch: ‘Das Kreuz ist die wahre<Höhe>. Es ist die Höhe der Liebe<bis zum Ende> (Joh 13,1); am Kreuz ist Jesus auf der<Höhe> Gottes, der die Liebe ist. Dort kann man ihn<erkennen>, kann erkennen, dass<ich es bin>. Der brennende Dornbusch ist das Kreuz. Der höchste Offenbarungsanspruch, das<Ich bin es> und das Kreuz Jesu sind untrennbar’“ (ebd. 519; die Zitate aus: Ratzinger / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Bd. I, 401). Vom Kreuz als wahrem Dornbusch spricht der Papst in seiner Deutung der „Ich-bin-Worte“ Jesu vor dem Hintergrund der Offenbarung des Gottesnamens in Ex 3,14 (vgl. ebd. 397 407) aber nicht!

10 Lohfink, Der niemals gekündigte Bund, 21f. Damit ist aber auch das Verständnis beschrieben, das viele Prediger haben, wenn sie vom ‘alten Bund’ und ‘neuen Bund’ sprechen; man braucht sich nur eine durchschnittliche Sonntagspredigt anzuhören. Deshalb ist es einfach zu ‘wenig’, wenn Georg Fischer in seinem Kommentar zu Jer 31,31 34 nur „Zurückhaltung“ anmahnt, „alten und neuen Bund einfachhin auf das Verhältnis von Juden  und Christentum zu übertragen“ (Fischer, Jeremia 26 52, 175; kursiv: HGS), zumal er selbst davon spricht, dass der in Jer 31 angekündigte Bund „nicht nur ‘erneuert’, sondern tatsächlich neu“ (Fischer, Jeremia 26 52, 171) sein werde. Vgl. auch den Synodalbeschluss der Evangelischen Kirche im Rheinland [EKiR] von 1980, in dem es in Ziffer 7 selbstkritisch heißt, dass die Kirchen, insofern sie den ‘neuen Bund’ als Gegensatz zum ‘alten Bund’ sahen, „das neue Gottesvolk als Ersetzung des alten Gottesvolkes verstanden“. Durch „die Nichtachtung der bleibenden Erwählung Israels [...] haben wir uns auch an der physischen Auslöschung des jüdischen Volkes schuldig gemacht“ (in: Die Kirchen und das Judentum, Bd. 1, 595).

11 Karl Ludwig Schmidt (1891-1956) war Professor für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Bonn und Buber freundschaftlich verbunden. Als exponierter Kritiker des Nationalsozialismus wurde er bereits 1933 aus dem Dienst entlassen und entging seiner Verhaftung durch die Flucht in die Schweiz, wo er seit 1935 Professor für Neues Testament an der Universität Basel war. Zur Schmidts (theologischer) Einstellung zum Judentum vgl. Kap. 5.6.

12 Schmidt / Buber, Kirche, Staat, Volk, Judentum [14.01.1933], in: [Martin Buber] Werkausgabe [MBW] 9, 166f (kursiv: HGS). Auch in: Buber, Der Jude und sein Judentum, 555, sowie: von der Osten-Sacken, Begegnung im Widerspruch, 134f.

13 Zu jüdischen Messias-Konzeptionen vgl. Homolka, Jesus Reclaimed, passim (bes. 113f); Ders., Die Messiasvorstellung im Judentum der Neuzeit; Thoma, Clemens, Das Messiasprojekt. Theologie jüdisch-christlicher Begegnung, Augsburg 1994; Mayer, Reinhold / Rühle, Inken, Die Messiasse. Geschichte der Messiasse in drei Jahrtausenden, Tübingen 22002.

14 Vgl. Schöttler, Christliche Predigt und Altes Testament, 632 [mit Verweis auf Hans-Joachim Schoeps,1909-1980] sowie 634 [mit Verweis auf Martin Buber, 1878-1965]. Für das Buber-Zitat habe ich eine primäre Quelle bisher nicht nachweisen können. Elie Wiesel (geb. 1928) zitiert das Buberwort nicht ohne zustimmende Sympathie, und zwar in: Ders., Alle Flüsse fließen ins Meer [1994], 557f, sowie im Geleitwort zu: Boschki / Mensink (Hgg.), Kultur allein ist nicht genug, 39.

15 Vgl. dazu Homolka, Jesus Reclaimed, 68 83 (zu Klausner ebd. 69f; zu Schalom Ben-Chorin ebd. 72f).

16 Werblowsky wurde 1924 in Frankfurt a. M. geboren. Ende der 1930er Jahre ging seine Familie nach Palästina. Werblowsky lehrte an den Universitäten in Manchester und Leeds (England) und seit 1962 bis zur Emeritierung 1980 als Professor für Vergleichende Religionswissenschaft an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Mit seinem Vortrag „Trennendes und Gemeinsames“ vor der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland [EKiR] hat er Anteil daran, dass diese als erste EKD-Gliedkirche 1980 folgenden Grundartikel in ihre Kirchenverfassung aufgenommen hat: „Die Evangelische Kirche im Rheinland bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ Vgl. dazu den Synodalbeschluss der EKiR „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ vom 11. Jan. 1980.

17 Werblowsky, Trennendes und Gemeinsames, 36.

18 Werblowsky, Trennendes und Gemeinsames, 37 (kursiv: i. O.).

19 Vgl. Schöttler, Christliche Predigt und Altes Testament, 159-438.

20 Vgl. Schöttler, Christliche Predigt und Altes Testament, 141-153.

21 Siehe Kap. 6.5.

22 Werblowsky, Tora als Gnade, 162f.

23 Papst Johannes Paul II., Botschaft in der Großen Synagoge von Rom am 23. Mai 2004. Das Papst-Zitat ist seinerseits ein Zitat aus: Vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, Hinweise für die richtige Darstellung von Juden und Judentum [1985], 98.

24 Leo Baeck (1873-1956) spricht von Paulus als dem „Juden, der er war und nie aufhörte zu sein“ (Baeck, Der Glaube des Paulus [1925], 427; vgl. die Darstellung der Entwicklung des Paulus-Bildes bei Baeck durch die Hgg. der Werkausgabe, ebd. 420 425, aber auch: Mayer, Versuch über Paulus, 291-301, hier: 297 301). Daniel Boyarin (geb. 1946) schreibt: „Paul lived and died convinced that he was a Jew living out of Judaism“ (Boyarin, A Radical Jew, 11). Dies findet heute breiteste Zustimmung in der christlichen Paulusexegese; beispielhaft sei hier verwiesen auf den Römerbrief Kommentar von Klaus Wengst.

25 Papst Franziskus, Ansprache an die Delegation der Jüdischen Gemeinde Roms am 11. Okt. 2013.

26 Siehe dazu Kap. 5.

27 Vgl. Rosenthal / Homolka, Das Judentum hat viele Gesichter.

28 Johannes Paul II., Ansprache an leitende Persönlichkeiten jüdischer Organisationen vom 12. März 1979, 64. Diesen Satz hat Johannes Paul II. immer wieder wiederholt.

29 Deutsche Bischöfe, Leitlinien für das Gebet bei Treffen von Christen, Juden und Muslimen [2008], 12 (Kap. II/1).

30 Vgl. dazu Schöttler, Kehrtwende in den katholisch-jüdischen Beziehungen

31 Vgl. Homolka, Gemischte Bilanz.

32 Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel [2001], Nr. 22; dt. Übers.: 44f.

33 Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben „Evangelii Gaudium“ [2013], Nr. 249 (dt. Übers. präzisiert: HGS).

34 Vgl. bes. die Forschungen von Daniel Boyarin und Israel Yuval; dazu die instruktive Sammelbesprechung weiterer neuerer einschlägiger Literatur bei: Kampling / Leonhard, Gegenwärtige Ansätze der Rekonstruktion der frühen Geschichte von Judentum und Christentum; Talabardon, Das frührabbinische Judentum und das werdende Christentum – eine Zwillingsgeburt.

35 „Über Strittiges muss gestritten werden“, denn „auch das Trennende gehört in den Dialog: Jesus Christus“, heißt es in der Erklärung „Juden und Christen in Deutschland“ des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim ZdK vom 13. April 2005, 17. 19.

36 mAvot 5,17 [nach anderer Zählung 5,19]; vgl. auch Avot de-Rabbi Natan, Rez. 40 (Schechter 129); Avot de-Rabbi Natan, Rez. B 46 (Schechter 128). Die Wendung „um des Himmels willen“ [ / lešem šamajim] ist bereits in der frühen rabbinischen Literatur belegt und meint die Lauterkeit und Uneigennützigkeit der Beweggründe. Die Wendung „wird mit dem Gehorsam gegen Tora und Gebot nicht gleichgesetzt; vielmehr wird als Handeln ‘um des Himmels willen’ gerade das qualifiziert, was sich nicht an der Norm einzelner Gebote oder durch den Bezug auf die Tora insgesamt bemessen lässt, sondern darüber hinausgeht. Ein wesentliches Merkmal haben aber das Handeln ‘um des Himmels willen’ und der Gehorsam aus Furcht und Liebe gemeinsam, nämlich die Lauterkeit der Beweggründe des Handelns“ (Avemarie, Tora und Leben, 220f).

37 Zu dieser Wahrnehmung vgl. etwa Leo Baecks Replik auf Adolf von Harnack (dazu Homolka, Jesus Reclaimed, 66).

38 Vgl. dazu: Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim ZdK, Nein zur Judenmission, 5: „Wir [...] betonen mit der Kirche des Zweiten Vatikanischen Konzils, dass der Bund Gottes mit dem jüdischen Volk einen Heilsweg zu Gott darstellt – auch ohne Anerkennung Jesu Christi und ohne das Sakrament der Taufe.“

39 Ein sprechendes Beispiel für eine solche ‘geheime Angst’ ist die Entgegnung „Das Christus-Bekenntnis der Kirche im christlich-jüdischen Dialog“, die der damalige Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller auf die Erklärung „Nein zur Judenmission“ des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim ZdK (2009) gegeben hat. (Müller war zu dieser Zeit Vorsitzender der Ökumenekommission und stellvertretender Vorsitzender der Glaubenskommission der Deutschen Bischofskonferenz.) In dieser Entgegnung redet sich der nachmalige Präfekt der Vatikanischen Glaubenskongregation (seit 2012) in den Besitz ‘allein seligmachender Wahrheit’ hinein: reine Rhetorik ohne die ‘Sache’, um die es geht, wirklich zu treffen. Vgl. Heinz, Nicht nur aus Opportunitätsgründen; Schöttler, Kehrtwende in den katholisch-jüdischen Beziehungen?, 276 285.

40 Dafür, in welche Zwänge eine Theologie gerät, die diesen hermeneutischen Grundsatz nicht beachtet, zwei Beispiele, ein theologisch-seriöses und ein albernes. Das erste Beispiel ist der Schlussabschnitt „Die Rettung Israels bei der Wiederkunft Christi“ in Helmut Hopings „Einführung in die Christologie“ (ebd. 160 162). Das zweite Beispiel ist die Entgegnung Robert Spaemanns (geb. 1927) auf die bereits genannte Erklärung des Gesprächskreises „Nein zur Judenmission“. In einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung [FAZ] vom 20. April 2009 unter dem Titel „Gott ist kein Bigamist“ kommt Spaemann zwar nicht umhin zu sagen, dass „[z]um allein wahren Gott [...] Juden nicht ‘bekehrt’ werden [müssen]“, sieht aber im Bekenntnis zu Jesus Christus „die Erfüllung der jüdischen Bestimmung“, wie er mit Verweis auf die Konvertiten Edith Stein und den nachmaligen Erzbischof von Paris, Jean-Marie Kardinal Lustiger, deren persönliche Entscheidung verallgemeinernd und damit alle Juden vereinnahmend, formuliert. Aufgabe der Christen sei es, „den Juden im Gebet das Beste zu erbitten, was jeder Christ seinem Nächsten erbitten kann: die Erkenntnis Jesu als seines Erlösers“. Damit weiß sich Spaemann im Einklang mit Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI., der seit 2008 mit der neuen Karfreitagsfürbitte für den wieder zugelassenen ‘tridentinischen’ Ritus für die Bekehrung (conversio) der Juden beten lässt: „... dass unser Gott und Herr ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus als den Heiland aller Menschen erkennen [agnoscere].“ In seiner Argumentation erschreckend konsequent, will Spaemann bis zur Wiederkunft Christi, dass „eigentlich in jeder Kirche die vordersten Plätze am Sonntag für die Juden freigehalten werden [sollten]“. Das ist kein Scherz; der philosophisch hoch gebildete Mann meint es ernst! Zur Theologie der Benediktschen Karfreitagsfürbitte vgl. Schöttler, Von Heilswegen und Holzwegen.

41 Formulierung in engem Anschluss an eine im Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim ZdK erarbeitete ‘Formel’; vgl. Heinz, Nicht nur aus Opportunitätsgründen, 318f.

42 Vgl. Heinz, (Ein) christliches Ja zum jüdischen Nein.

43 Vgl. Küng, Die Kirche, 407.

44 Vgl. von Wolzogen, Art. „Unverborgenheit“.

45 Ein aktuelles Beispiel sind die „Theologische[n] Kriterien für die Kirchen  und Kurienreform“, die der Präfekt der Vatikanischen Kongregation für die Glaubenslehre, Gerhard Kardinal Müller, im Februar 2015 veröffentlicht hat.

46 Benedikt XVI., Ansprache anlässlich der Verleihung des „Benedikt XVI.-Preises“ am 30.06.2011.

47 mChagiga 2,1. Die Aussage gehört inhaltlich noch zum Abschnitt ab 1,7, in dem es um Dinge geht, an denen Gelehrtenschüler ‘scheitern’ können, weshalb sie sich bei diesen Fragen in Acht nehmen sollen. ‘Oben’ meint ‘über der Erde’ (Himmel), ‘unten’ meint ‘unter der Erde’ (Unterwelt), ‘vorher’ meint ‘vor’ der Erschaffung der Welt (Protologie), ‘nachher’ meint am ‘Ende der Welt’ (Eschatologie).

48 Rosenzweig beschäftigt sich mit der Mischna-Stelle im Zusammenhang mit seiner Übertragung des Gedichtes „Dein Gott“ von Yehuda ha-Levi. „Der große Genius der hebräischen Literatur“ (Bossong, Das Maurische Spanien, 38) ist um 1070 im spanischen Tudela geboren und um 1145 auf dem Weg nach Jerusalem im Anblick der Stadt gestorben. Das Gedicht nimmt in der Schlussstrophe den Gedanken aus mChagiga 2,1 auf: „[...] Lass das Toben, / Das auf ‘Wann?’ und ‘Wo?’ erpicht, / ‘Was drunten?’ und ‘Was droben?’ / Nein, sondern sei du ganz und schlicht / mit ihm, mit deinem Gotte“ (Rosenzweig, Jehuda Halevi, 35 37, hier: 37 [= GS 4/1, 56f, hier: 57]).

49 Rosenzweig, Jehuda Halevi, 184 (= GS 4/1, 57f).

50 Zu „Adon Olam“ siehe Kap. 2.2.2 (Exkurs: „Er ist EINER, und es gibt keinen Zweiten“ [Adon Olam]).

51 Auf ganz andere Weise provozieren möchte Notger Slenczka, Professor für „Systematische Theologie / Dogmatik“ an der Fakultät für evangelische Theologie der Universität Berlin. In einem Aufsatz aus dem Jahr 2013 mit dem Titel „Die Kirche und das Alte Testament“ will er aus Selbstverständlichkeiten, die sich besonders im Dialog mit dem Judentum eingestellt hätten, „herausrufen“ (ebd. 83), ist sich also der provocatio seiner These bewusst. Slenczka schließt sich Adolf von Harnacks Forderung aus dem Jahr 1921 an, das Alte Testament aus dem Kanon der christlichen Bibel zu entfernen (von Harnack, Das Wesen des Christentums, 185f). Harnack hatte die These seinerzeit mit großer Leidenschaft für Markions Programm aus dem 2. Jh. erhoben und in seiner Vorlesung über „Das Wesen des Christentums“ im Winter 1899/1900 erklärt, dass das Alte Testament für das Christentum eine „Gefahr“ darstelle, weil „durch das Alte Testament ein inferiores, überwundenes Element in das Christentum“ eingedrungen sei, das „die christliche Freiheit [bedrohte]“ (von Harnack, Das Wesen des Christentums, 108f). Slenczka repristiniert Markions These von dem ‘anderen, fremden Gott’: Das Alte Testament könne, so Slenczka, „in keiner Weise“ mehr als „Zeugnis“ für die es „kanoniserende Trägergemeinde“, die christliche Gemeinde, verstanden werden, denn es „spricht zu anderen von einem anderen Gott“. Sobald sich das Bewusstsein ausbilde, dass das Alte Testament „von einer Religionsgemeinschaft handelt und zu ihr spricht, von der sich die Kirche getrennt hat, wird das Verhältnis der Kirche zu diesem Schriftenkorpus hochproblematisch“. Damit sei das Alte Testament „als Grundlage einer Predigt, die einen Text als Anrede an die Gemeinde auslegt, nicht mehr geeignet“ (Slenczka, Die Kirche und das Alte Testament, 111. 118). Slenczka schreibt dies alles 2013 in vollem Bewusstsein, welche Konsequenzen seine These für den christlich-jüdischen Dialog hat! Seine These(n) haben eine heftige, teils auch emotional geführte Diskussion ausgelöst, worauf Slenczka in einem Vortrag mit dem Titel „Was soll die These: ‘Das AT hat in der Kirche keine kanonische Geltung mehr’?“ geantwortet und seine These(n) präzisiert und weiter begründet hat. Vgl. Kap. 6.3 („Plädoyer für eine relational eigenständige LesArt des Alten Testaments“).

52 So etwa noch Karl Kertelge in seinem Artikel „Kirche I. Neues Testament“ in der Neuauflage des Lexikons für Theologie und Kirche: „Nur selten wird der Volk-Gottes-Begriff unmittelbar auf die Christen der Anfangszeit angewandt, so in Röm 9,25 (in Übernahme aus Hos 2,25) und 1 Petr 2,9f (vgl. Ex 19,5f), jedesmal in christologischer Kontextuierung. ‘Volk Gottes’ sind die Christen als ‘Geheiligte in Christus Jesus’ und ‘berufene Heilige’ (1 Kor 1,2 u. ö), als ‘Erwählte Gottes’ aufgrund der ‘Hingabe seines Sohnes’ (Röm 8,32f). Diese mit der alttestamentlichen Volk-Gottes-Geschichte verbundenen Bezeichnungen thematisieren je auf ihre Weise den neuen Einsatz der Volk-Gottes-Geschichte im Christusgeschehen, in dem auch der ‘neue Bund’ (1 Kor 11,25; Lk 22,20) – ebenso mit ekklesiologischer Valenz – von Gott her begründet wird“ (3LThK 5 [1996], 1456).

53 Ratzinger, Der Neue Bund [1995], 72 (= JRGW 8/2, 1115).

54 Ratzinger, Die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils [1985], 263. Vgl. auch den 2. Bd. der Jesus-Trilogie von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI., 146 158 („Die Theologie der Einsetzungsworte“), Zitat: 193. Vgl. auch das Zitat von Benedikt XVI. in Kap. 1 Anm. 88.

55 Zu den unterschiedlichen Bundeskonzeptionen vgl. Groß, Zukunft für Israel.

56 Vgl. Dohmen, Der Sinaibund als Neuer Bund nach Exodus 19 34, 80f; vgl. auch Zenger, Bundestheologie, 29, sowie die entsprechenden Ausführungen in Kap. 1.5.2, die Jer 31,31 34 im Horizont der Theologie des Trostbuches Jer 30,1   31,40 auslegen.

57 Der Text gehört in diachroner Perspektive wohl zu einer sehr jungen Bearbeitung der Sinai-Perikope (Pentateuchredaktion?).

58 Dohmen, Exodus 26 40, 365. Die Konstruktion von Ex 34,10a ist deshalb als Futurum instans zu deuten: „Dann sagte er: Siehe, ich bin dabei / im Begriff, einen Bund zu schließen“ (Übers. u. philologische Begründung: Dohmen, Exodus 26 40, 361. 363. 366).

59 Die kontrastive Rhetorik in vv 32f ( – „nicht ... sondern“) darf nicht zu der Deutung verleiten, Jer 31,31 34 rede vom Scheitern oder gar vom Ende des „mit den Vätern“ geschlossenen Bundes. Subjekt von heper berit – „den Bund brechen“ in Jer 31,32 ist nicht YHWH, sondern Israel! Vgl. auch oben S. 351.

60 Zenger, Bundestheologie, 49.

61 Zenger, Bundestheologie, 29.

62 Vgl. Lichtenberger, Art. „Die Geschichte der Gemeinschaft von Qumran“, 70f, Strawn, Art. ?????? / berît, 518 520 (Nr. IIIc).

63 Vgl. Groß, Zukunft für Israel, 155 158.

64 Schenker, Das Neue am neuen Bund und das Alte am alten, 5.

65 Vgl. Schenker, Das Neue am neuen Bund und das Alte am alten, 20 (kursiv i. O.).

66 Schenker, Das Neue am neuen Bund und das Alte am alten, 25.

67 Schenker, Das Neue am neuen Bund und das Alte am alten, 93.

68 Schenker, Das Neue am neuen Bund und das Alte am alten, 91.

69 Schenker, Das Neue am neuen Bund und das Alte am alten, 93.

70 Schenker, Das Neue am neuen Bund und das Alte am alten, 94.

71 Dabei ist sich Schenker der Brisanz seiner Hypothese für den christlich-jüdischen Dialog durchaus bewusst und versucht, die theologische Problematik seiner Hypothese etwas zu ‘mildern’: „Anwartschaft bedeutet einen sicheren Besitz in der Zukunft, der in der Gegenwart noch nicht realisiert ist. Eine solche Anwartschaft erhält die zerbrochene besondere Beziehung zwischen Gott und seinem Volk trotz des Bruches als potentielles Verhältnis im Dasein. [...] Die Anwartschaft ruht fest auf der Treue Gottes, die schon da ist, aber die Anwartschaft muss sich erst noch in aktuellen Besitz verwandeln“ (Schenker, Das Neue am neuen Bund und das Alte am alten, 92).

72 Wie brüchig Schenkers Hypothese ist, zeigt auch seine hilflose Suche nach einem hebräischen Äquivalent für das entscheidende Verb in v 32b : „Hinter stand dementsprechend wohl ein Verb der Verwerfung wie z. B. oder des Verdrusses und der Scheidung wie z. B. . Was immer dieses hebräische Verb war, das sich nicht mehr identifizieren lässt, es bedeutete die Auflösung des Verhältnisses, die Kündigung des Bundes mit den Israeliten“ (Schenker, Das Neue am neuen Bund und das Alte am alten, 23).

73 Siehe dazu etwa Dtn 4; vgl. bes. Groß, Zukunft für Israel, 27 44 („Dtn 4: Konditionierte Horeb-Berit – Vergehen – Umkehr – unkonditionierte Väter-Berit“

74 Vgl. etwa bRosch haSchana 17b.

75 Schmitz, JHWH: barmherzig. gnädig. zornig (die obige dt. Übers. von Ex 34,6f ebd. 16); vgl. Scoralick, Gottes Güte und Gottes Zorn.

76 Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim ZdK, Nein zur Judenmission [2009], 15f.

77 Vorgrimler, Art. „Volk Gottes“; vgl. auch Kehl, Art. „Volk Gottes III. System.-theol.“

78 „Die Bezeichnung Israel verwendet das Neue Testament (68-mal) durchgängig für das jüdische Volk, zumeist mit dem besonderen Akzent, dass dieses das erwählte Gottesvolk ist [...]; angesichts der bald nach Ostern einsetzenden Trennungsprozesse zwischen Jesusbewegung und Frühjudentum [...], in deren Verlauf die werdende Kirche die Heilsprärogativen Israels verschiedentlich für sich reklamiert hat (ohne sie damit freilich immer ausdrücklich Israel streitig zu machen), ist dies ein bemerkenswerter Befund“ (Theobald, Art. „Israel“, 648; vgl. Ders., Kirche und Israel nach Röm 9-11).

79 „So ist in erster Linie das Christenvolk Israel, das Christenvolk ist das Haus Jakob. Israel ist ja dasselbe wie Jakob. Jener Teil der Juden aber, der wegen seines Unglaubens verworfen wurde, hat in seinem fleischlichen Sinn sein Erstgeburtsrecht verkauft und gehört infolgedessen eher dem Esau an als dem Jakob. Ihr wisst ja, dass sich auf dieses Geheimnis die Worte beziehen: ‘Der Ältere wird dem Jüngeren dienen’ [Gen 25,23]“ (Augustinus, Enarrationes in Psalmos 113, 1,2; vgl. ebd. 75,1; 76,1; 121,8 u. ö.; Ders., Epistel 196, 3,9ff; Adversus Iudaeos 7,9; vgl. dazu bes. Brennecke, Kirche und Israel – Kirche als Israel; Ders., Die Kirche als das wahre und neue Israel). Von den Christen als dem „wahren Israel“ spricht schon Justin der Märtyrer (2. Jh.) in: Dialog mit dem Juden Tryphon 11,5; 123,7-9; 125,5. Für das 20. Jh. sei nur die breit rezipierte Studie des katholischen Neutestamentlers Wolfgang Trilling (1925-1993) zum Matthäus-Evangelium genannt mit dem Titel „Das wahre Israel“ (11959).

80 Über den patristischen Befund und die theologischen Implikationen dieses Kirchenbildes informiert Dassmann, Die eine Kirche in vielen Bildern, 195 220 (= Kap. 9: „Die Kirche als Verus Israel“), der allerdings die „kirchenpolitische Brisanz“ dieses Kirchenbildes, „die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Synagoge“ und den „christlichen Antijudaismus“, der in dieser Bezeichnung liegt, bewusst ausblendet (Zitate: ebd. 195). Wenn Dassmann abschließend schreibt, dass „[d]er gegenwärtige jüdisch-christliche Dialog [...] Verus Israel als Bild für die Kirche wohl nur noch unter Vorbehalt heranziehen [wird]“, dann greift Urteil zu kurz: „Verus Israel“ ist in keiner Weise eine hermeneutisch mögliche Bezeichnung für die Kirche!

81 Ratzinger / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil, 143f; vgl. ebd. 208. Jesus, wie ihn die Evangelien ‘zeichnen’, hat allerdings nie den Anspruch erhoben, „selbst die Tora in Person“ zu sein, wohl aber, eine bestimmte Halacha im Rahmen der damaligen Breite der Auslegung der Tora zu geben. Und die ekklesiologisch verzweckte Tempelmetapher sollte man nun wirklich nicht in den Hautgout einer Enterbungs- oder Beerbungstheorie oder gar Überbietungs-Christologie stellen!

82 In einem Brief vom Ende des Jahres 1523 bittet Luther Spalatin (= Johannes Burkhardt, 1484-1545), daran mitzuarbeiten, Psalmen textnah und in gemeinverständlicher Sprache in Lieder „umzuwandeln, wie du hier ein Beispiel von mir hast“ (WA. Briefwechsel 3, 220f, Nr. 698 ; dt. Übers.: Luther Deutsch, hg. von Aland, Bd. 10, 137). Das dem Brief beigelegte Beispiel ist das oben genannte Lied „Aus tiefer Not...“, wonach die an Pfingsten aus dem Geist geborene Kirche das „Israel rechter Art“ sei.

83 Strophe 4 (= „Gotteslob“ [2013], Nr. 277, 3; „Evangelisches Gesangbuch“ [1993], Nr. 299, 4). In der „Gotteslob“ Ausgabe von 1975 (Nr. 163) kam die Wendung nicht vor, da sie eine gekürzte Fassung enthielt.

84 Die ‘Deutschen Christen’ der NS-Zeit machten „Israel“ auf die Weise unsichtbar, dass sie in „So tu das Volk von rechter Art...“ änderten und damit wohl sich selbst meinten.

85 Ratzinger / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil, 95.

86 Vgl. dazu Schöttler, „Jeder in seiner Sprache“.

87

88 Gillman, The Essence of the Night, 79; vgl. auch Hoffman (Hg.), All the World.

89 Detailreich-informativ zur Geschichte der Enterbungs- und Substitutionslehre ist der Artikel von Böhler, Durften die Christen Israel gegen die Kirche austauschen?

90 V 17b wörtlich: „Du bist Teilhaber geworden an der Fettigkeit (= an dem Saft) der Wurzel des Ölbaums.“

91 Zur schwierigen Deutung der komplexen und in sich vielleicht nicht ganz stimmigen Ölbaum-Metapher in Röm 11 vgl. Wengst, „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk“, 364f (in engem Anschluss an Neubrand / Seidel, „Eingepfropft in den edlen Ölbaum“ [Röm 11,24], bes. 61-68). Zum Partizipationsmodell vgl. Klappert, Israel und die Kirche, bes. 32-37.

92 Vom Partizipationsgedanken her ist die Aussage, dass „das Volk der Juden auf das Volk Gottes hingeordnet [ordinare]“ (Lumen Gentium 16,1) sei, mehr als missverständlich – trotz des Hinweises auf Thomas von Aquin (STh III, quaest. 8, art. 3, ad 1), insofern die Kirche sich hier mit ‘Volk Gottes’ selbst bezeichnet.

93 Evangelische Kirche im Rheinland, Synodalbeschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ vom 11. Jan. 1980, 594.

94 Vgl. dazu Vorgrimler, Der ungekündigte Bund, 247.

95 Siehe Katechismus der Katholischen Kirche [1993], Nr. 839.

96 Vgl. Zenger, Bundestheologie, 44. – Zur Nachwirkung der Diskussion gehört jener bereits erwähnte Beitrag von Robert Spaemann in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ [FAZ] vom 20. April 2009 mit dem theologisch albernen Titel „Gott ist kein Bigamist“. Spaemann bemüht die biblische Metapher von Gott als Bräutigam, der um sein Volk wirbt. Es könne keine zwei Bundesvölker geben, denn Gott führe keine zwei Ehen gleichzeitig: eine mit dem „Bundesvolk Israel“ und eine andere mit dem „Volk Gottes aus den Völkern, das heißt den Nichtjuden“. Deshalb drängt der christliche Philosoph die Juden in die Kirche, dass sie sich zu Jesus Christus bekennen (s. o. die entspr. Anm.). Das aber stellt die Heilsgeschichte regelrecht auf den Kopf! Es ist doch umgekehrt so, dass die ‘aus den Völkern’ durch Christus hineingenommen sind in den Bund Gottes mit seinem Volk Israel, und nicht so, dass die Juden in die Kirche kommen müssen, die sich dann als ‘neues Volk Gottes’ – ein unbiblischer Ausdruck! – verstünde. Dem christlichen Philosophen Robert Spaemann wäre mehr theo logische Reflexion zu wünschen! Paulus sagt, dass die Erwählung Israels in seinen „Vätern“ (vgl. Röm 9,5a; 11,28b) „unwiderruflich“ (11,29) ist, und von den sieben Gaben, mit denen Israel beschenkt ist, darunter die Gabe der Bundeschlüsse, spricht der Apostel im Präsens (vgl. Röm 9,4f)! Die Leserbriefantwort von Roswitha Cordes aus Hagen trifft nicht nur theologisch den Kern, sondern ist zudem noch rhetorisch geistreich: „‘Gott ist kein Bigamist’ [...]. Stimmt. Aber er ist auch kein Ehebrecher, der seine Frau wegjagt und sich eine neue nimmt. Gott hat nicht die Kirche an die Stelle von Israel gesetzt. Gottes Bund mit Israel wurde ‘nie gekündigt’ (Johannes Paul II.)“ (in: FAZ vom 24.04.2009).

97 Zu dieser Ansprache vgl. Schöttler, Kehrtwende in den katholisch-jüdischen Beziehungen?, 297 303.

98 Englischer Originaltext unter: www.jcrelations.net/en/?item=1014; dt. Übers.: HGS (vgl. auch: Die Kirchen und das Judentum, Bd. 2, 974 976). „Dabru emet“ ist eine von Frauen und Männern der jüdischen Gelehrsamkeit und des synagogalen Lebens aus den Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien und Israel am 11. Sept. 2000 veröffentlichte Stellungnahme, die dazu auffordert, das Misstrauen gegenüber dem Christentum aufzugeben und die Bemühungen der Kirchen zur Verbesserung des Verhältnisses zum jüdischen Volk und zum Judentum anzuerkennen. Die Stellungnahme wurde erarbeitet von: Tikva Frymer-Kensky (University of Chicago; 1943-2006), David Novak (University of Toronto; geb. 1941), Peter W. Ochs (University of Virginia; geb. 1950) und Michael A. Signer (University of Notre Dame, Indiana; 1945-2009). Der kursive Textteil ist die These, dann folgt die Erläuterung. Die oben kursiv gesetzte These lautet im englische Original: „Jews and Christians worship the same God“, wobei „the same“ nicht differenziert, was die deutsche Sprache unterscheidet, nämlich „der gleiche“ und „derselbe“. Ich möchte deshalb betonen, was Juden womöglich anders beurteilen, dass Christen nicht lediglich den gleichen Gott verehren, sondern ganz dezidiert denselben (vgl. Wolter, Neutestamentliche Gesichtspunkte, 93).

99 Vgl. dazu Kap. 2.3.4.

100 Vgl. Schöttler, „... ein zu vollendendes Werk“, 107-121.

101 Zu den drei Ebenen der Glaubenskommunikation (primäre Ebene Kommunikation des Glaubens im Alltag der Glaubenden, die Ebene des lehramtlichen Sprechens und ‘dazwischen’ die Ebene der wissenschaftlich-theologischen Reflexion des Glaubens) vgl. Schöttler, „Vera theologia est practica“, 133f.

102 „Gegen alle totalisierenden Tendenzen einer Wahrheitstheorie, die den Diskurs letztlich doch zum zwanghaften Gewaltakt machte, muss und kann man heute m. E. einen theologisch verantworteten innerkirchlichen Prozess der Wahrheitssuche anstreben, der [...] ein Dissidententum ‘kultiviert’, das aus der persönlichen Verantwortung für die gesamte Gemeinschaft der Glaubenden einerseits den Mut zum ‘prophetischen Protest’ als auch zum Gespräch am gemeinsamen Tisch aufbringt. Dadurch erhält auch der einzelne Glaubende und Theologe eine Würde, die ihn niemals zum Teil eines Systems werden lässt [...]. [D]er einzelne Theologe oder Glaubende [kann und muss sich] so auf die Gesamtheit der Glaubenden beziehen können, dass er u. U. gegen die Meinung aller eine These vertritt, die in ihrem Wahrheitsanspruch erst noch von allen eingeholt wird. Solches Stehen zur eigenen Überzeugung mit der Zuversicht, dass sie sich gesamtkirchlich als tragbar erweisen wird, verlangt persönlichen Mut. Aber davon lebt der prophetische Glaube, davon lebt auch die Theologie in ihrem kirchlich relevanten Dissidententum. Berechtigte Kirchenkritik lebt deshalb nicht aus der Stärke der sich selbst behauptenden Freiheit, sondern aus der Ver-Antwortung gegenüber dem Glauben der universalen Kirche“ (Wohlmuth, Die Kirche braucht ihre Dissidenten, 16f).

103 Vgl. Wohlmuth, Historisch-kritische und kanonische Textinterpretation, 127f; Ders., Verständigung in der Kirche, bes. 264 („kanonische Prävalenz der Schrift“; „Freiheit der theologischen Arbeit“).

104 Das detaillierte Inhaltsverzeichnis weist hier den Weg.

105 Das Hifil von ??? ist mit „zum Jauchzen bringen“ zu übersetzen; vgl. Wengst, „Freut euch ihr Völker, mit seinem Volk!“, 423.

106 In seinem bekanntesten Lied „Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren“ nimmt der reformierte Theologe und frühpietistische Dichter Joachim Neander (1650-1680) Röm 15,10 auf, was die katholische Liedrezeption jedoch unkenntlich macht! Die abschließende fünfte Strophe beginnt in der ursprünglichen Fassung Neanders so: „Lobe den Herren, was in mir ist, lobe den Namen. / Alles, was Othem hat, lobe mit Abrahams Samen.“ Das katholische „Gotteslob“ verändert den Text nicht unwesentlich so, dass der Grundgedanke, nämlich das gemeinsame Gotteslob der Völker mit Israel, Gottes Volk, verloren geht: „Lobe den Herren, was in mir ist, lobe den Namen. / Lob ihn mit allen, die seine Verheißung bekamen. / [...]“ (Ausgabe von 1975, Nr. 258; Neuausgabe von 2013, Nr. 392). Das „Evangelische Gesangbuch“ von 1993 bietet sowohl den Originaltext (Nr. 317) als auch, wohl aus ökumenischer Rücksicht, die veränderte katholische Fassung (Nr. 316). Reinhard Buschbeck hat wahrscheinlich gemacht, dass Neander hier mit „Abrahams Samen“ (vgl. Ps 105,6; Jes 51,2; Lk 1,55; Röm 9,7; 11,1; 2 Kor 11,22; Gal 3,7.29; Hebr 2,16) nicht, wie in seiner Zeit üblich, „die Kirche gemeint hat, die sich an die Stelle Israels gesetzt und seine Nachfolge angetreten hat, dessen Namen und Titel auf sich überträgt. [...] Das Umfeld Neanders legt [...] die Deutung nahe, dass er mit ‘Abrahams Samen’ nicht nur das Israel der Vergangenheit, sondern auch das seiner Gegenwart meint und damit einen die Israel-Vergessenheit der Christenheit durchbrechenden Aufruf ergehen lässt: Kein Lob Gottes ist zu denken ohne Israel. Abrahams Same ist nicht die Kirche, Israel hat seinen eigenen Weg. Durch Christus aber ist die Kirche an Israel verwiesen, ja unlösbar mit ihm verbunden, hineingenommen in sein Gotteslob“ (Buschbeck, „Lobe mit Abrahams Samen“, 212f [kursiv: HGS]). Die katholische Liedrezeption ist ein beredtes Zeugnis kirchlicher Israelvergessenheit! Dies gilt auch, sollte die Änderung ihren Grund einfach darin haben, dass man der singenden Gemeinde das Wort „Samen“ zur Bezeichnung der Nachkommen nicht zumuten wollte; immerhin hatte bereits die 1938 herausgegebene kirchenoffiziöse Sammlung „Kirchenlied“, die dem Lied den Weg in die katholische Kirche gebahnt hat, Israel unkenntlich gemacht: „Lobe den Herren und seinen hochheiligen Namen! Lob ihn mit allen, die von ihm den Odem bekamen“ (Kirchenlied, 9f [Nr. 5]).




Der Autor

HEINZ-GÜNTHER SCHÖTTLER

Prof. i.R. Dr. Heinz-Günther Schöttler (* 16. Oktober 1950 in Adenau) wurde 1977 zum Priester geweiht. Er war Kaplan in Saarbrücken und promovierte 1985 an der Theologischen Fakultät Trier. Dort erhielt er 1988 einen Lehrauftrag für das Fach Predigtlehre. Ab Oktober 2000 Professor für Pastoraltheologie und Kerygmatik (Verkündigung) an der Universität Bamberg. 2007 wechselte er als Professor für Pastoraltheologie zur Universität Regensburg, wo er bis zu seiner Emeritierung im Juni 2016 lehrte. Heinz-Günther Schöttler ist Mitglied im Gesprächskreis Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken.

Seit 2006 Ephraim-Veitel-Dozent für Homiletik am liberalen Abraham-Geiger-Kolleg, Berlin. Das 1999 gegründete Abraham-Geiger-Kolleg, das erste Rabbinerseminar in Zentraleuropa nach dem Holocaust, bildet in Zusammenarbeit mit der Universität Potsdam Rabbinerinnen und Rabbiner aus. Die Berufung eines katholischen Dozenten an eine renommierte jüdische Rabbiner-Ausbildungsstätte ist ein absolutes Novum. 

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