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ONLINE-EXTRA Nr. 279

Dezember 2018

Die "Anmerkungen zum Traktat 'De Judaeis'", die der ehemalige Papst Benedikt XVI. (Josef Ratzinger) in der internationalen katholischen Zeitschrift "Communio" (4/2018) veröffentlichte, haben für beträchtliche Irriationen gesorgt und zu heftigen Reaktionen geführt. Der von Kardinal Koch - im Vatikan immerhin qua Amt für die Pflege der Beziehungen zum Judentum verantwortlich - mit emphatischer Empfehlung versehene Beitrag des Ex-Papstes schien eine Reihe fundamenaler Fortschritte im theologischen Gespräch zwischen Christen und Juden kurzerhand zu negieren, mindestens zu ignorieren. Wohl weit über dreißig Beiträge haben sich seitdem allein im deutschsprachigen Raum mit den "Anmerkungen" von Benedikt XVI. auseinandergesetzt. Immerhin mag dies dazu beigetragen haben, dass sich Benedikt nun doch genötigt sah, in der jüngsten Ausgabe der "Herder-Korrespondenz" vor allem den Vorwurf, er öffne mit seinem Beitrag erneut die Tür zur Judenmission, vehement zurückwies: "Eine Mission der Juden ist nicht vorgesehen und nicht nötig".

So sehr die jüngste Korrektur Benedikts zu begrüßen ist, so bleibt doch ein gehöriges Unbehagen zurück. Während sein irritierender Communio-Beitrag mit angestrengt theologischer Argumentation seine fragwürdigen Thesen zu untermauern sucht, ist die jüngste Klarstellung in Umfang und Stil vergleichsweise kurz, eher von apodiktischem Charakter und geht bei weitem nicht auf alle wichtigen Kritikpunkte in der Diskussion ein. Darüber hinaus bleibt es bei der bislang weder zurückgenommenen noch korrigierten Empfehlung des Communio-Beitrags durch den für die Beziehungen zum Judentum verantwortlichen Mann im Vatikan, Kardinal Koch.

Vor diesem Hintergrund ist es immer noch nötig und hilfreich, den Beitrag Benedikts in der Communio einer genauen theologischen Analyse zu unterziehen. Umso besser, wenn dies von Seiten einer Persönlichkeit geschieht, die zu den Pionieren des christlich-jüdischen Dialogs gehört, wie es auf den katholischen Theolgoen Herbert Jochum fraglos zutrifft. So hat beispielsweise seine 1993 konzipierte Ausstellung "Ecclesia und Synagoga. Das Judentum in der christlichen Kunst" für die Rezeption und Aufarbeitung des Antijudaismus in der christlichen Kunst bahnbrechenden Charakter gewonnen. In der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift "Kalonymos. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut" an der Unviersität Essen (2018/Heft 3) hat Jochum eine Analyse und Replik auf den Beitrag Benedikts publiziert, die an argumentativer Klarheit kaum etwas zu wünschen übrig lässt. COMPASS freut sich, diesen in "Kalonymos" leicht gekürzten Beitrag an dieser Stelle als ONLINE-EXTRA Nr. 279 in vollem Umfang veröffentlichen zu dürfen: "Papst Benedikt XVI.: Christlich-jüdischer Dialog als Gefahr".

© 2018 Copyright beim Autor
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 279


Papst Benedikt XVI.: Christlich-jüdischer Dialog als Gefahr

Eine kritische Stellungnahme zu den "Anmerkungen zum Traktat 'De Judaeis'" des zurückgetretenen Papstes Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger).*


HERBERT JOCHUM



„Hier ist nicht mehr Bundeslade,
nicht mehr Schattenbild, Figur.
Hier ist Wahrheit, Quell der Gnade,
hier der Herrscher der Natur.“

(Kath. Kirchenlied)


Anfangs schien der christlich-jüdische Dialog durch den deutschen Papst befördert zu werden. Was unter Papst Johannes Paul II. 2002 begann, ein Austausch zwischen dem Oberrabbinat Israels und der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, der sich weniger auf theologische, sondern mehr auf aktuelle soziale, ethische oder wissenschaftliche Themen konzentriert, wurde auch unter dem Pontifikat des 2005 gewählten Papstes Benedikt XVI. kontinuierlich fortgeführt. Rabbi David Rosen, der Vorsitzende des International Jewish Committee for interreligious Consultations (IJCIC) äußerte sich 2012, die Beziehungen zwischen Juden und Katholiken seien nie besser gewesen.

Noch im Jahr seiner Wahl führte es den Papst im August zum Weltjugendtag nach Köln, wo er als erster Papst überhaupt die dortige Synagoge besuchte. In seiner Ansprache verurteilte er jede Form von Rassismus und Antisemitismus, er nahm teil am Kaddisch als Totengebet für die Kölner im Holocaust Ermordeten. Er erinnerte an „die komplexen und oft schmerzlichen Beziehungen“ zwischen Christen und Juden. Er versprach den von seinem Vorgänger eingeleiteten vertrauensvollen Dialog zwischen Juden und Christen „mit voller Kraft“ fortzusetzen. Auf seiner Reise 2008 in die USA besuchte er in New York eine Synagoge, und 2010 stattete er der Hauptsynagoge in Rom einen Besuch ab.

Erste Risse zeigte das Bild auf seiner Apostolischen Reise nach Polen 2006, wo er auch Auschwitz-Birkenau besuchte. In der Presse wurde der Vorwurf laut, er habe in seiner Ansprache „reuelos und ohne Empathie“ weniger der dort ermordeten Juden als der Deutschen gedacht, die Opfer des Nationalsozialismus geworden seien.

Auch seine Nahost-Reise von 2010, die ihn nach einigen arabischen Ländern auch nach Israel führte, wo er die Westmauer des einstigen Tempels, die „Klagemauer“, und auch Yad vaShem besuchte, löste „zwiespältige Gefühle“ aus, vielfach war von einer „großen Enttäuschung“ die Rede. Bei einem Treffen mit dem damaligen israelischen Oberrabbiner Meir Lau bekräftigte Papst Benedikt XVI. seinen Willen zur Vertiefung der Verständigung und Zusammenarbeit des Vatikans mit dem israelischen Oberrabbinat und Juden in aller Welt. „Ich habe heute die Gelegenheit zu wiederholen, dass die katholische Kirche unwiderruflich dem Weg verpflichtet ist, der während des Zweiten Vatikanischen Konzils gewählt wurde, nämlich eine ehrlich und dauerhafte Versöhnung zwischen Christen und Juden“. Trotz dieses erneuten Bekenntnisses meinte der Oberrabbiner später, beim Besuch insgesamt sei „eine historische Stunde versäumt worden“. Avner Shalev, der Leiter der Holocaust-Gedenkstätte, äußerte, der Papst sei in seinen Äußerungen der „Größe der Verbrechen nicht gerecht geworden“.

Schon früher wurden größere Irritationen ausgelöst. Im Frühjahr 2007 kündigte der Vatikan an, dass Papst Benedikt XVI. den außerordentlichen Ritus auch ohne bischöfliche Ausnahmegenehmigung zulassen wolle. Ein Jahr später gab der Heilige Stuhl die dafür vom Papst selbst formulierte Fassung der Karfreitagsbitte „Pro Judaeis“ bekannt, die auf jüdischer und christlicher Seite als Rückschritt im christlich-jüdischen Dialog bezeichnet wurde und heftige Proteste hervorrief. Die Vatikanische Ritenkongregation hatte nach mehreren Änderungen eine Neuformulierung vorgelegt, deren deutsche Fassung von der Bischofskonferenz 1974 approbiert wurde:


„Lasst uns auch beten für die Juden, zu denen Gott, unser Herr, zuerst gesprochen hat: Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluss sie führen will. (Beuget die Knie, - Stille – Erhebet Euch.)Allmächtiger, ewiger Gott, du hast Abraham und seinen Kindern deine Verheißung gegeben. Erhöre das Gebet deiner Kirche für das Volk, das du als erstes zu deinem Eigentum erwählt hast: Gib, dass es zur Fülle der Erlösung gelangt. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn. Amen.“

Die päpstliche Revision für den „außerordentlichen Ritus“ nimmt die Konversionsbitte früherer Fassungen wieder auf, was als Aufruf zur Judenmission verstanden wurde:


„Lasst uns auch beten für die Juden, auf dass Gott, unser Herr, ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus erkennen, den Retter aller Menschen.“(Lasset uns beten. Beuget die Knie. Erhebet Euch.)Allmächtiger ewiger Gott, Du willst, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Gewähre gnädig, dass beim Eintritt der Fülle aller Völker in Deine Kirche ganz Israel gerettet wird. Durch Christus, unseren Herrn. Amen.“

Benedikts sichtliches Bemühen um kirchliche Einheit, aber auch seine Rücksichtnahme auf die Traditionalisten in der katholischen Kirche ließen ihn 2009 die Exkommunikation der vier Bischöfe der erzkonservativen Piusbruderschaft, darunter der Judenhasser und notorische Holocaust-Leugner Richard Williamson, aufheben und sie wieder in den Schoß der Kirche aufnehmen, was in Christen- und Judentum heftige Reaktionen hervorrief.


„Gnade und Berufung ohne Reue“

Mittlerweile 91-jährig, hat sich der 2013 zurückgetretene Papst nun aus seinem Alterssitz im Vatikan wieder zu Wort gemeldet. Seine „Anmerkungen zum Traktat „De Judaeis““ seien eigentlich nicht mehr „ für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen“, wie Kurt Kardinal Koch im Geleitwort versichert. Sie waren dem Präsidenten der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum zur „persönlichen Verwendung überreicht“ worden. Koch ist aber überzeugt, „dass der vorliegende Beitrag das jüdisch-katholische Gespräch bereichern wird.“ Daher habe er den Autor „gebeten, seinen Text in „Communio“. Internationale Theologische Zeitschrift“ (Heft 4/2018, S.316-335) veröffentlichen zu dürfen“.

In „Gnade und Berufung ohne Reue“ so die Überschrift der „Anmerkungen“ setzt sich Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. mit den „Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in den katholisch-jüdischen Beziehungen“ auseinander. Diese „Reflexionen“ hatte die Vatikanische Kommission 2015 zum 50jährigen Jubiläum von „Nostra aetate“ unter dem Titel „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Römerbrief 11,9) veröffentlicht. Dieses Dokument nun sieht der Papst als autoritative Zusammenfassung der Entwicklung des christlich-jüdischen Dialogs seit dem 2. Vatikanischen Konzil. Zwei Aussagen darin findet er grundlegend: die Ablehnung der „Substitutionstheorie“ und die „Rede vom nie gekündigten Bund“. „Beide Thesen…sind im Grunde richtig, sind aber doch in vielem ungenau und müssen kritisch weiter bedacht werden“ (321), sie „weisen „zwar in die richtige Richtung“, müssen „aber im einzelnen neu bedacht werden“ (332). Beide hält er „im Kern“ für richtig, sie sind „aber im einzelnen doch noch vieler Präzisierungen und Vertiefungen bedürftig“ (332). Da jeder Kern auch eine Umhüllung hat, so will er die beiden Aussagen auf Tragfähigkeit und Wahrheitsgehalt prüfen. Der aber, so schreibt er, sei noch nicht gefunden (vgl. 332).


Substitutionstheorie

Das Dokument der Kommission vertrete die These, seit dem Konzil sei „einer Substitutionstheologie der Boden entzogen“. Sie habe gelehrt, „die Verheißungen und Zusagen Gottes würden nicht mehr dem Volk Israel gelten, da es Jesus nicht als Messias und Sohn Gottes erkannt hatte, sondern seien auf die Kirche Jesu Christi übergegangen, die nun das wahre, „neue Israel“ sei, das neue auserwählte Volk Gottes“ (321). Zunächst fragt der Papst, ob es diese Substitutionstheologie denn je gegeben habe Denn alle von ihm befragten Theologischen Lexika, seien sie evangelisch oder katholisch, führten diesen Begriff nicht auf. Also habe es „eine Substitutionstheorie als solche vor dem Konzil nicht gegeben“(321).

Nun mag ja sein, dass sie nie offiziell verkündete, zum Dogma erhobene Lehre war. Aber wäre dies je erforderlich gewesen? Nein. Denn „Substitution“ war in Lehre und Predigt, Katechese und Kult, Kunst und Frömmigkeit durch alle Jahrhunderte als selbstverständlich präsent. Auch der Antijudaismus, stete den Juden schmerzlich fühlbare Wirklichkeit, ist nie als Dogma proklamiert worden. Mag der Begriff „Substitution“ auch neueren Datums sein, so ist doch die Sache so alt wie die Kirche selbst. Man müsste schon blind sein, nähme man als Theologe die schiere Menge an Adversus-Judaeos-Traktaten und die überall auftretenden Invektiven und Herabsetzungen nicht wahr; ganz zu schweigen von der daraus abgeleiteten religiösen, politischen und sozialen Praxis. Die Kirche hat dem Judentum jede theologische Würde abgesprochen: Alles was den Juden vor Christus heilsgeschichtlich noch zugestanden wurde, Erwählung, Bund, Volk Gottes zu sein, sei auf die Kirche übergegangen. Sie sei an die Stelle Israels getreten habe es ersetzt, substituiert. Wohl sieht der Papst selbst, dass das Gleichnis von den Weinbergspächtern (Mk 12,1-11) oder das Festmahl (Mt 22, 1-14; Lk 14, 15-24), zu dem die Eingeladenen nicht kommen und durch neu berufene Gäste ersetzt werden, eine Theologie der Enterbung oder Verwerfung nahelegen ( 321). Im „Kern“ halte er die Ablehnung der Substitutionstheologie für richtig, aber jenes „undifferenzierte Nein zur „Substitutionstheorie““ verdanke sich einer zu statischen Sicht von Gesetz und Verheißung, die in Wirklichkeit durchbrochen werde. So (er)findet er eine Neukonstruktion der alttestamentlichen Geschichte: Man müsse den dynamischen Charakter der alttestamentlichen Geschichte Israels sehen, ihren „Aufstieg“ in „Stufen“, ein „Wachsen und Sichentfalten“ (330). Dem nun stiftet er teleologisch eine Zielrichtung ein, „als Bewegung nach vorn zu – auf Christus hin“ (320), so dass das Christentum ihm zur gültigen, zur endgültigen Form des biblischen Glaubens wird. Was in der biblisch- jüdischen Geschichte angelegt ist, wird im christlich zur erfüllenden Vollendung; also steht die Kirche in der Tradition der alttestamentlichen Geschichte, wird wirklich das „Neue Israel“ und das jetzt „alte“ Israel wird häretisch. „So gibt es in der Tat keine „Substitution“, sondern ein Unterwegssein, das schließlich eine einzige Realität wird und dennoch das notwendige Verschwinden der Tieropfer, an deren Stelle („Substitution“) die Eucharistie tritt“ (323).

Damit tritt die traditionelle Substitutionstheologie wieder auf den Plan. Wenn auch nach Benedikt die „Kirche nicht als Ganzes“ an die Stelle „Israels als solches“ (322) getreten sei, so seien doch „wesentliche Elemente endgültig“ ersetzt worden: der Tempelkult durch die Eucharistie, die Messiaserwartung durch Christus, die Landverheißung durch die „künftige Welt“ (329). Die „Aufhebung der Verbindlichkeit“ der Kultgesetze und die „eigentliche moralische Weisung“ der Tora gelten weiter, ja, „moralische Weisung im Alten und Neuen Bund (sei) letztlich identisch“ (325), die christliche „neue Lesung ist nicht Aufhebung und nicht Substitution, sondern Vertiefung in unveränderter Gültigkeit“ (324). Man soll „im Dialog mit den Juden immer wieder zu zeigen versuchen, dass dies alles „schriftgemäß“ ist“ (328). So kombiniert der Papst das Substitutionsmodell mit dem ebenfalls traditionellen Integrationsmodell: Was nicht ersetzt wird und dem Judentum bleibt, wird ins Christentum integriert.

Die Argumentation macht die Abgrenzungsmuster der typologischen Schriftexegese sichtbar: die Dichotomie von Verheißung und Erfüllung; sie zeigt die den jüdischen Glauben außer Kraft setzende Überbietungslehre auf der via eminentiae. So wie die Kirchenväter den „Aufstieg der Geschichte im Dreierschema von umbra – imago –veritas geschildert“ haben (327). Die Zerstörung Jerusalems und des Tempels und die anschließende Zerstreuung in alle Welt hätten deutlich gemacht, dass nur das Christentum die gültige Antwort auf all diesen Verlust gefunden hat.


Sind die Ereignisse des Jahres 70 n.Chr. theologisch bedeutsam?

Der Papst weiß um die Exilstheologien der Juden, die in der Galut, der Diaspora Strafe, aber auch Sendung sehen. Die endgültige Sicherung des Monotheismus sei die theologische Antwort der Juden auf die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahre 586 vor Chr. gewesen. Auch das überlebende Judentum nach der Zerstörung Jerusalems und des 2.Tempels hat sich als rabbinisches Judentum ohne Land und ohne Tempel und zerstreut in alle Welt mit der Synagoge als Kultort neu formiert und sieht sich weiterhin – wenn auch verändert – in der biblischen Tradition. Diese jüdische Antwort auf die Zerstörung des 2. Tempels 70 n.Chr. sieht er nur noch als historisches Überleben der Juden. Dieses „neue, radikale Exil Israels“ (317) kann er nicht mehr theologisch qualifizieren. Die Annahme des „auf Dauer angelegten Exils“, und der auf Dauer nicht mehr zu erwartenden Wiedererrichtung des Tempels hätte man „als einen vom Glauben Israels selbst her zu erwartenden Vorgang“ (317) sehen müssen.

Welche große Bedeutung diese Ereignisse aber als Zäsur und Zeitenwende für das Christentum haben, wird schon dadurch deutlich, dass Benedikt sie gleich dreimal bemüht und die er - theologisch gedeutet - zu Gründungsdaten des Christentums adelt. Man wundert sich, dass diese theologische Deutung der Ereignisse des Jahres 70 als Strafgericht Gottes über sein sündiges Israel bis heute die historischen Fakten nicht zur Kenntnis genommen hat, nicht nehmen will. Eine postulierte Zäsur lag natürlich im Interesse des Christentums. Eine Geschichtsklitterung, die zu gerne übersieht, dass jüdische Diaspora bereits mehrere Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung entstand; dass zur Zeit Jesu viermal mehr Juden in der Diaspora lebten als im Land Israel; dass das Leben in Israel weiterging, wo immerhin 132-135 unter Bar Kochba ein zweiter Aufstand gegen Rom stattfand; wo die Auslegungswerke Mischna und Jerusalemer Talmud und die palästinischen Midraschim wie auch die reiche liturgische Dichtung entstanden, wo galiläische Synagogenruinen blühendes Leben sichtbar bezeugen. Und das noch über Jahrzehnte nach der islamischen Eroberung im 7. Jahrhundert hinaus.



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Wie die Schrift auslegen?

Die gültige Antwort auf das Jahr 70 und die für ihn auf Dauer angelegte Diasporasituation besteht nach Benedikt XVI. auch darin, dass das Judentum nicht zu sehen vermochte, dass in der Dynamik biblischer Geschichte das wörtliche, buchstäbliche Verständnis der Schrift nicht mehr möglich war, dass „die Schrift, das „Alte Testament“, neu ausgelegt werden musste und in der bisherigen Form nicht mehr gelebt und verstanden werden konnte“ (319). Solche Sätze zeigen eine gehörige christliche Arroganz – oder ist es nur Ignoranz? Man möchte sich gar nicht vorstellen, wie es heutigen praktizierenden Juden gehen mag, wenn sie so etwas lesen. „Die ursprüngliche historische Bedeutung der Texte soll damit nicht aufgehoben, aber sie muss überschritten werden“ (320). Die „authentische Auslegung“ des AT sei erst durch die Ereignisse um Jesus Christus offenbar geworden. Die Allegorie bestimme den Wortsinn. Dem Christentum, das sich in alle Welt zu verbreiten begann, konnten Land und Volk keine theologisch bedeutsame Kategorien mehr sein.

In den zahlreichen christlich-jüdischen Disputationen der Kirchengeschichte wurde den Juden, die aus der hebräischen Schrift argumentierten, von ihren christlichen Disputanten, die sich der griechischen Übersetzung der Septuaginta bedienten, vorgeworfen, sie hielten sich nur an den wörtlichen Schriftsinn. Nach Verlust des Landes, des Tempels, der Einheit des Volkes sei aber doch ein tieferer Sinn der biblischen Botschaft zu suchen; wörtliche, „fleischliche“, „materielle“ Schriftauslegung - hier Benedikt feiner. „konkrete“ - werde den heiligen Texten nicht mehr gerecht. Nicht der Buchstabe, der Geist der Botschaft sei bedeutsam. Wenn biblischer Schalom sich in konkreter Sozialpolitik ausdrückt, in der auch und besonders der Armen, Witwen und Waisen gedacht wird, Schalom sich in Rechts-, Sozial- und Emanzipationsprozessen verwirklicht, entwickelt sich im Christentum Schalom nun im übertragenen Sinn spiritualisiert als Seelenfriede oder transzendiert als himmlischer Friede.

Diese Schriftexegese ist letztlich die Ursache, dass der Papst alle nachbiblische Geschichte des Judentums nicht mehr theologisch zu qualifizieren vermag. Das ist der tiefere Grund, warum er auch der Staatsgründung Israels keine theologische Bedeutung zusprechen kann. Sie ist „unannehmbar“, „nicht denkbar“ und steht „ im Widerspruch zum christlichen Verständnis der Verheißungen“ (330). „Der nicht-theologische Charakter des jüdischen Staates bedeutet allerdings, dass in ihm nicht die Verheißungen der Heiligen Schrift als solche als erfüllt angesehen werden können“ (330). Er würde ja als erneut realisierte Landverheißung angesehen werden müssen. In der Staatsgründung Israels sieht Benedikt lediglich das natur- und völkerrechtlich politische Ereignis. Papst Paul VI. war es gelungen, auf seiner Heilig-Land-Reise 1964 den Namen Israel nicht in den Mund zunehmen. Erst 1993 hat der Vatikan den 1948 gegründeten Staat anerkannt. Man erinnert sich auch, wie widerständig Benedikt als Präfekt der Glaubenskongregation gegenüber der lateinamerikanischen Befreiungstheologie war, die für den christlichen Glauben die konkrete biblische Kontur in ihrer auf das Land bezogenen Theopraxie wiederbeleben wollte. In einer seltsam widersprüchlichen Sentenz räumt der Papst nun ein, dass der neue Staat Israel – obwohl grundsätzlich „nichttheologischen Charakters“ - „in einem weiteren Sinn die Treue Gottes zum Volk Israel ausdrücken darf“ (330).

So gewinnt er die Deutungshoheit über die gesamte nachbiblische Geschichte der Juden. Auch damit steht er in unverrückbarer Tradition; denn Christen haben sich je und je von ihrem jeweiligen Selbstverständnis ausgehend Judentum als Kontrast zurechtkonstruiert. Allein schon dessen Bezogenheit auf ein Volk aus Völkern und auf ein bestimmtes Land, hat christlicherseits zur Beurteilung des Judentums als einer Art antiquierter Stammesreligion geführt. Gegenüber einer sich universalistisch verstehenden katholischen Kirche ist das Judentum als „partikularistisch“ anzusehen, d.h. unterlegen. Seine über drei Jahrtausende durchgetragene Dialektik von „partikular“ und „universal“ wird kaum je wahrgenommen.


„Der Bund ist nicht gekündigt“

Diesen revolutionären Satz hat Papst Johannes Paul II. 1980 in Mainz bei seiner Ansprache vor Repräsentanten des deutschen Judentums ausgesprochen und damit die Substitutionstheologie revidiert. Auch sein deutscher Nachfolger schreibt: „Der Kern des Gesagten“, die Rede vom „nie gekündigten Bund“, (sei) „als richtig anzusehen, aber im einzelnen doch noch vieler Präzisierungen und Vertiefungen bedürftig“ (332) und noch nicht richtig und in Gänze verstanden. „Die Formel vom „nie gekündigten Bund“ mag in einer ersten Phase des neuen Dialogs zwischen Juden und Christen eine Hilfe gewesen sein, taugt aber nicht auf Dauer, um die Größe der Wirklichkeit einigermaßen angemessen auszudrücken“ (336).

Zunächst sei „Kündigung“ keine biblische Vokabel. Auch „kann das Wort „Bund“ bei der unendlichen Verschiedenheit der Bundespartner nicht im Sinn gleichmäßiger Partner aufgefasst werden“ (334). Als ob die Juden den Gott des Bundes etwa „nach dem orientalischen Modell in der Weise von Gewährungen eines Großkönigs“ (334) auffassten. Exegeten finden eigentlich immer dieselben Bundespartner: Gott und der jeweilige Repräsentant Israels oder wie am Sinai das ganze Volk. Im Gegensatz zur traditionellen christlichen Auffassung von den zwei Bünden, dem Alten (Sinai-)Bund und dem Neuen (Golgota-)Bund bekennt er sich nach Römerbrief 9,4 zur Lesart von den vielen Bünden, was seiner Interpretation entgegenkommt. „Für das Alte Testament ist „Bund“ eine dynamische Realität, die sich in einer entfaltenden Reihe von Bünden konkretisiert“ (332).

Richtet die nachkonziliare Theologie ihr Augenmerk auf die Treue Gottes, so fokussiert Benedikt auf die Bundesbrüchigkeit des Volkes, die immer wieder einen neuen Bundesschluss notwendig mache. Auf den Gedanken, dass es sich bei den vielen Bünden um erneuerte Bünde handeln könnte, kommt er nicht. Ein Bund lässt sich auch ohne Bruch erneuern, wenn ein Partner verstirbt oder ein Erbe nachfolgt oder sich Bedingungen verändern. Doch gelte es auch hier, den dynamischen Charakter biblischer Bundesgeschichte wahrzunehmen, die „in Stufen“ (335) verlaufe.

Alle Bünde sind „nun durch den endgültigen, „neuen“ Bund abgelöst“ (334). Was in der Sinai-Tradition „geschehen ist, vollzieht sich endgültig hier, und so wird die Verheißung des neuen Bundes von Jeremia 31 Gegenwart: Der Sinai-Bund war seinem Wesen nach immer schon Verheißung, Zugehen auf das Endgültige…Die Umstiftung des Sinai-Bundes in den neuen Bund im Blute Jesu, das heißt in seiner den Tod überwindenden Liebe, gibt dem Bund eine neue und für immer gültige Gestalt“ (335). Die beiden von Jesus vorhergesehenen „zwei geschichtlichen Ereignisse, (haben) die konkrete Form des Sinai-Bundes grundlegend geändert : die Zerstörung des Tempels…und die Zerstreuung Israels in einer weltweiten Diaspora.“ (336) „Die so entstandene Situation (war) als einen vom Glauben Israels selbst her zu erwartenden Vorgang“ anzusehen Sie fand allein in der „Reaktion der Christen“ die richtige Antwort fand (317).

Wenn Ratzinger „im Kern“ die Aussage vom unaufgekündigten Bund bejaht, ist „Umstiftung“ nur so zu verstehen, dass der alte Sinai-Bund - „auf alle Glaubenden ausgedehnt“ (319) - im neuen Christus-Bund erhalten bleibt, die Juden weiterhin im Bund bleiben und in die katholische Kirche quasi als anonyme Christen aufgenommen sind. (Nur dass die Juden es noch nicht wissen und sich wohl dagegen verwahren werden.) Dies Modell ist somit nichts anderes als die sublimierte Substitution, ist Umkehrung eines anderen Modells, das auf der Suche nach einer biblisch und theologisch legitimierbaren Verhältnisbestimmung von Christen und Juden vorgeschlagen wurde: dass die Christen sich durch Jesus Christus berufen wissen, in die Geschichte Gottes mit seinem Volk einzutreten.

Statt der „Rede vom ungekündigten Bund“ schlägt Benedikt das Paulus-Wort vor: „Reuelos (unwiderruflich) sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29). Was ist durch diesen Austausch gewonnen? Wenn Gottes Gnade und Berufung unwiderruflich sind, hält er am Bund mit Israel fest. Es ist wie in einer Ehe: der ehebrüchige Partner bleibt im Ehevertrag, wenn der betrogene Partner aus Treue an der Ehe festhält. Durch das Paulus-Zitat kann der Papst die beiden Bundespartner voneinander trennen, weil es ja nur von Gott spricht. Benedikts Interesse aber gilt mehr dem andauernd bundesbrüchigen Israel, das unter dem „Zorn Gottes und der ganzen Härte seiner Strafen“ (335) weiterhin – wie in der Geschichte der Kirche üblich - instrumentalisiert und den Christen als abschreckendes Beispiel vor Augen geführt werden kann. Auch lässt sich auf diese Weise die Notwendigkeit eines Neuen Bundes verständlich machen. Die Behauptung aber einer ewig gültigen Form des Neuen Bundes verhindert jedoch die Sicht auf die eigenen Bundesbrüche. In der statisch gesehenen Endgültigkeit der christlichen Glaubensgeschichte vermag der Papst weder „Dynamik“ noch „Stufen“ zu erkennen. Würde man noch biblisch erzählen können, was müsste nicht alles in einer Schuldgeschichte des Christentums als Bundesbruch bis auf den heutigen Tag angesehen und eingestanden werden… Ob da nicht doch eine theologische déformation professionelle vorliegt?!


Sieht Benedikt XVI. die Identität des Christentums in Gefahr?

Papst Benedikt hatte sein Pontifikat unter das Motto „Gegen die Unkultur des Relativismus“ gestellt. Mit dem „Verlust der Mitte“ in der Postmoderne sah er nur noch unverbindliche Beliebigkeiten aufkommen, die Suche nach Wahrheit sei aufgegeben worden. Ihm blieb die Kirche der durch Christus verbürgte Ort einer ewig gültigen und absoluten Offenbarung Gottes. Dieser Universalitäts- und Absolutheitsanspruch der Kirche, wie er in Cyprians (3.Jhdt.) „Außerhalb der Kirche kein Heil“ programmatisch zum Ausdruck kommt, kann keinen anderen Heilsweg neben sich erkennen und dulden. Die Gefahr des Relativismus sieht der Papst mit der Absage an die Substitutionstheologe und der Anerkennung des unaufgekündigten Bundes in der israeltheologischen Wende seit dem Konzil gekommen. Diese Theologie gestehe dem Judentum zu, weiterhin Gottes Volk zu sein und mit ihm im Bunde zu stehen. Damit wäre aber ein eigener Heilsweg eingeräumt, das Selbstbild der allein seligmachenden Kirche gefährdet. Soviel Rückerstattung theologischer Würde kann der Papst nicht zugestehen, soviel theologischer Besitzverzicht will er nicht leisten. Wie die iudaizantes in der Geschichte der Kirche stets mit großem Misstrauen beobachtet wurden, so rückt ihm der in seinen Augen zu sehr judaisierende christlich-jüdische Dialog zu nahe an das Judentum heran. Wie bei seiner Neuformulierung der Karfreitagsbitte dient auch hier sein Versuch „der Präzisierung“ vor allem der Distanzierung. Da greift er wieder zurück auf die Unterscheidungen der Vätertheologie: die typologische Schriftexegese, die christologische Lesart des Alten Testaments, das Verheißungs-Erfüllungs-Schema, die Überbietungstheologie, die immer schon mit einer Vivisektion der hebräischen Bibel umgegangen sind: Die Verheißungen dem Christentum, die Droh- und Gerichtsreden den Juden.

Mit Augustinus sieht auch Joseph Ratzinger die bleibende Bedeutung der Juden darin, Zeugen der Wahrheit des Christentums zu sein. „Israel ist unbestritten weiterhin Besitzer der Heiligen Schrift“ (322), aber, wie Augustinus schreibt, tragen uns die Juden die Bücher nach, in denen Christus und sein neues Volk verheißen sind. „Kirchenväter wie zum Beispiel Augustinus haben betont, dass es Israel als nicht zur Gemeinschaft der Kirche gehörend geben müsse, um die Authentizität der Heiligen Schriften zu bezeugen“ (322). Diese Bestandsgarantie ist den Juden zu oft nicht eingeräumt worden. Aus dieser Dienstfunktion entstand unter Innozenz III. im frühen 13. Jahrhundert die Vorstellung von der „servitus Judaeorum“, der ewigen Knechtschaft der Juden, die 1236 unter Kaiser Friedrich II. in die Kammerknechtschaft der Juden (servi camerae) mündete und zum größten Unterdrückungs- und Ausbeutungsinstrument der Geschichte wurde.

Natürlich weiß der Papst, dass man seit dem millionenfachen Genozid nicht mehr in der Weise reden kann, wie das die Kirche getan hat. Daher verurteilt er Rassismus und Antisemitismus. Seine „Anmerkungen zum Traktat „De Judaeis““ beginnen so: „Seit Auschwitz ist klar, dass die Kirche die Frage nach dem Wesen des Judentums neu bedenken muss“ (317). Fragen wir hier nur danach, wie dieses „seit Auschwitz“ zu verstehen ist: temporal oder kausal? Da er die neueren Forschungsergebnisse biblischer Exegese nicht als Ursache der Revision hergebrachter Theologie nennt, so ist sein „seit Auschwitz“ kausal zu verstehen - als ein Vorwurf an die Theologen im Dialog: Sie haben sich von jenem historischen Geschehen theologisch zu sehr beeindrucken lassen. Die berechtigte Frage, ob ein bestimmtes historisches Geschehen argumentativ die Kraft hat, die Thesen einer systematisch operierenden Disziplin zu verändern, stellt der Papst zwar nicht, beantwortet sie aber widersprüchlich: Im Falle der Zerstörung Jerusalems und des Tempels bejaht er sie, im Falle des Holocaust und der Staatsgründung Israels verneint er sie.

In einem jüdisch-christlichen Kolloquium 1966 in Harvard ist diese Frage grundsätzlich gestellt worden: „Sollten Auschwitz und Bergen-Belsen in unserem Diskussionsforum als zulässige Argumente gelten oder nicht?“ In einer ersten öffentlich gewordenen Kontroverse unter Theologen in Deutschland zur gleichen Problematik wurde der Vorwurf erhoben, „mit dem Genozid als Surrogat für theologische Argumente“ aufzutrumpfen. Ist der Holocaust auch ein innerhalb christlicher Diskussion und Reflexion ein mögliches Argument, theologische Positionen zu stützen bzw. zu erschüttern? Es gibt Theologen, für die „Auschwitz der Anlass für eine radikale Rückfrage des Christentums und der Theologie nach sich selbst“ (J.B.Metz) sein muss. „Auschwitz geht uns heute an als Gericht über unser Christentum. Auschwitz geht uns an als ein Ruf in die Umkehr. Nicht nur unser Verhalten soll sich ändern, sondern unser Glaube selbst“ (F.W.Marquardt). Diese Umkehr, diese radikale Rückfrage ist ein schmerzlicher Prozess, der bis zur fundamentalen Identitätskrise des christlichen Glaubens führen kann. Die Identität des Christentums ist nicht mehr so leicht zu bestimmen, wie das in der Vergangenheit möglich war. Zu gewinnen ist sie nicht mehr gegen die Juden, auch nicht ohne sie, sondern nur noch mit ihnen. Christen müssen erkennen, dass die Symbole der „blinden Synagoge“, die Sprachformeln von den „Gottesmördern“ und dem „Ewigen Juden“ letzten Endes ihre tödlichen Wirkungen in Auschwitz hatten. Reflexion christlicher Tradition müsste die Denkformen und psychosozialen Mechanismen im eigenen Erbe entdecken, die zur Diffamierung, Entrechtung und schließlich der Vernichtung der Juden führten. Christen sollten im Angesicht von Auschwitz ihre eigene Wahrnehmung von Geschichte überprüfen. Geschichte überhaupt wieder als Geschichte zu betrachten lernen, die Wandel, Veränderung, Fortgang meint. Der Glaube an ein „statisches“ „letztgültiges“, „endgültiges“ Heilsereignis macht geschichtsblind und hat in der Geschichte des Christentums zu erheblichen Fehlentwicklungen geführt. Der kirchliche und theologische Triumphalismus, im erhöhten Herrn bereits die Welt siegreich überwunden zu haben, führte zu einer „christologischen Engführung der Leidensgeschichte der Welt“ und zu einer „Apathie und Fühllosigkeit der Sieger“. Wer das von Christus endgültig verbürgte Heil als unwiderrufbare Heilsgewissheit usurpiert, der wird Gefährdungen, radikale Unterbrechungen, Sinnkatastrophen und apokalyptische Bedrohungen gar nicht mehr wahrnehmen, geschweige sie theologisch qualifizieren können. Jede christliche Theodizee nach Auschwitz, die lediglich aus dem klugen theologischen Raisonnement , nicht aus der radikalen Erschütterung kommt, ist unverantwortlich. „Nach Auschwitz darf es eigentlich keinen subjekt- und situationslosen theologischen „Tiefsinn“ mehr geben. Er wäre die eigentliche theologische Oberflächlichkeit“(J.B.Metz)! In der Tat, es gibt Formen der Erörterung, die sich auf eine solche Höhe theoretischer Abstraktion begeben, dass der konkret Anlass längst aus den Augen verloren ist.


Vage Verbalismen

Der lexikalischen Analyse des Textes fallen die vagen, unpräzisen Formulierungen auf. So oft ist die Rede von „wirklich“, „authentisch“, ein Lieblingswort ist „gültig“ meist „endgültig“ (15 mal), das „Endgültige“, die „Endgültigkeit“, „der gültige Maßstab“. Der Neue Bund ist von „endgültiger Gestalt“. Die christliche Exegese findet den „endgültigen Sinn“, „endgültiger Bund“, „die Endgültigkeit der Liebe“, „endgültige Bundeszerstörung“. Da ist von „Vertiefung“, von „Überwindung“, von „Umstiftung“, von „Überschreitung“ die Rede, von „Präzisierung“, einem „weiträumigeren Verstehen“, „wenn natürlich letzte Unterschiede bleiben“ usw.

Behauptungen, die inhaltlich nicht gefüllt werden. Der Papst präzisiert nicht mit einer theologischen, geschweige denn einer biblischen Begrifflichkeit. Die beiden akzeptierten und doch abgelehnten Thesen sind „doch in vielem ungenau und müssen kritisch weiter bedacht werden“ (321), weil „noch nicht richtig und in Gänze verstanden“.

In diesen vagen Sprachversuchen ist durchaus eine gewisse Not, auch Ängstlichkeit, vielleicht sogar Tragik zu lesen. Der alte Papst sieht die katholische Kirche auf einem falschen Weg, die Identität des Christentums in Gefahr und sein letzter Rettungsversuch ohne viel Hoffnung. Es treibt ihn um, das theologische Verhältnis zwischen Juden und Christen deutlicher zu klären. Auch der Apostel Paulus, zeitlebens gläubiger Jude und Christus bekennend, suchte in seinem Brief an die Römer das Verhältnis von jüdischem Glauben und Christusbekenntnis zu verstehen. Eines war ihm klar: „Hat Gott denn mein Volk verstoßen?“ Seine Antwort: „Keineswegs!“ (Röm 11,1). Doch beim Versuch das Zueinander auch positiv zur Sprache zu bringen, diskursiv zu durchdringen, scheitert er, Sprachbilder bleiben ihm. Am Ende aber preist seine Doxologie das Mysterium Israel: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes. Wie unergründlich seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege“ (Röm 11,33).

Wäre der Papst wirklich an theologisch orientiertem Dialog interessiert, dürfte man erwarten, dass er jüdische Reaktionen auf Revisionsbemühungen christlicher Theologie wenigstens erwähnt. Im Jahre 2000 hat eine stattliche Zahl von Rabbinern und Gelehrten mit „Dabru emet! Redet Wahrheit!“ ausdrücklich diese Bemühungen anerkannt und gewürdigt. 2015 erfolgte mit „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen“ eine Erklärung orthodoxer Rabbiner. 2017 ist eine orthodoxe Reflexion zu 50 Jahre „Nostra aetate“ der Europäischen Rabbinerkonferenz gemeinsam mit dem Rabbinischen Rat von Amerika auf deutsch erschienen: „Zwischen Jerusalem und Rom. Die gemeinsame Welt und die respektierten Besonderheiten“.

Wenn es nach Auschwitz für die Kirche „klar“ ist, dass sie „die Frage nach dem Wesen des Judentums neu bedenken muss“ (317) sollte sie eine Antwort im Dialog mit Juden suchen. Papst Benedikts Pontifikat war auf informeller Ebene an Besserung der christlich-jüdischen Beziehungen interessiert. Der Theologe Josef Ratzinger aber, überzeugt, dass das Christentum – mit Hegel gesprochen – im hellenistischen Denken zu sich selbst kommt und zur höchsten, gereiften Gestalt gefunden hat, kann mit dem Judentum theologisch nichts anfangen. Dem Christ und Theologen ist es defizitär, bleibt Magd, „ancilla christianorum“. So war und ist er sich sicher, dass das Christentum, von den Fesseln Land und Volk gelöst, im hellenistischen Denken sich selbst findet und damit „Versöhnung von Glaube und Vernunft geglückt“ (331) ist.

Glaube und Vernunft hätten auch dazu führen können, dass sich hier in seinen „Anmerkungen“, auch angedeutet nur, ein Wörtchen des Bedauerns christlicher Schuld oder eines der freundlichen Anerkennung jüdisch-dialogischen Bemühens, vielleicht sogar jüdischer Überlebens- und Hoffnungskraft finden ließe – Zeichen von Großmut des „summus pontifex“.

Am Ende fragt man sich: Was erwünscht sich Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. von der Veröffentlichung seiner „Anmerkungen zum Traktat ‚De Judaeis‘“? Und was erhofft sich Kardinal Kurt Koch? Sollte wirklich „das jüdisch-katholische Gespräch“ bereichert werden? Oder geht es um innerkirchliche Auseinandersetzungen, über die Bande gespielt?



ANMERKUNG



* Die "Anmerkungen" des ehemaligen Papstes erschienen mit einem Geleitwort von Kurt Kardinal Koch in COMMUNIO Internationale katholische Zeitschrift, 4/2018, S. 387-406. Auf diese Seitenzahlen beziehen sich die Quellenangaben im Text. Der Text von Benedikt/Ratziner kann hier heruntergeladen werden: Communio 4/2018.



Der Autor

HERBERT JOCHUM

Prof. Dr., geb. 1937, katholischer Theologe und Judaist. Seit über 50 Jahren ist er katholischer Vorsitzender der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft des Saarlandes (CJAS); Lehrbeauftragter am Institut für katholische Theologie der Universität Saarbrücken. Jochum gehört zu den Pionieren und bedeutendsten Persönlichkeiten des christlich-jüdischen Dialogs in Deutschland. Seine 1993 konzipierte Ausstellung "Ecclesia und Synagoga. Das Judentum in der christlichen Kunst" war für die Rezeption und Aufarbeitung des Antijudaismus in der christlichen Kunst von bahnbrechendem Charakter. Die 1982 gemeinsam mit Michael Brocke herausgegebene Anthologie "Wolkensäule und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust" versammelt nach wie vor als einziges deutschprachiges Werk zentrale Auszüge jüdischer Denker, die sich mit den theologischen Implikationen des Holocaust auseinandersetzten. Jochum lebt und arbeitet in Saarbrücken.

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