ONLINE-EXTRA Nr. 312
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Dass die Kirchen den Maßstäben, die sie predigen, all zu oft kaum selbst gerecht werden, ist eine Beobachtung, die gläubige Christen nicht weniger umtreibt als ungläubige Zeitgenossen. Die inneren Widersprüche, die dem zugrunde liegen, führen in der Folge zu einem wachsenden Dilemma "zwischen theologischer Erkenntnis und der Praxis im Glauben", so Holger Banse, Autor des nachfolgenden Textes. Banse spürt den Gründen und Auswirkungen dieser Problematik nach, deren Ursache er u.a. in der Entwicklung eines Jesus-Bildes sieht, das dem Jüdisch-Sein Jesu zu wenig Rechnung trägt, was wiederum mitverantwortlich ist für eine fehlgeleitete Form von Erinnern und Gedenken.
Banse skizziert zunächst die theologische und kirchengeschichtliche Entwickung des Gottesbildes und problematisiert dann vor allem die Rolle des Dogmas, die er in dem eingangs zitierten Dilemma zwischen theologischer Erkenntnis und der Praxis im Glauben eingespannt sieht, was er am Beispiel von Jesu Jude-Sein und dem marianischen Dogma näher erläutert. Vor dem Hintrgrund des jüdischen Verständnisses von Erinnerung konstatiert er sodann ein weiters Dilemma: das "Dilemma der selektiven Erinnerung der Kirche", das nicht zuletzt im Umgang mit der eigenen Schuld und anhand mangelhafter Schuldbekenntnisse deutlich wird.
Banses Beitrag ist dem Anfgang des Jahres erschienen Sammelband "Das Geheimnis der Erlösung... Die Kirche im Dilemma zwischen biblischer Botschaft, Bekenntnistreue und Gehorsam dem Staat gegenüber" entnommen, der eine Reihe von Essays und Artikeln aus seiner Feder versammelt. Mehr Informationen zu dem empfehlenswerten Band entnehmen Sie bitte der Anzeige weiter unten im Fließtext. COMPASS dankt Holger Banse für die Genehmigung, seinen Beitrag aus diesem Band "Das Geheimnis der Erlösung... Die Kirche und die Erinnerung" an dieser Stelle als ONLINE-EXTRA Nr. 312 im COMPASS publizieren zu dürfen!
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Online-Extra Nr. 312
1. Der Jude Jesus und die Christologie in den altkirchlichen Dogmen
Das Christentum ist wie Judentum und Islam nicht nur eine ‚Buchreligion‘, sondern auch eine Offenbarungsreligion. Ort der Offenbarung ist die Geschichte. In ihr teilt Gott sich einzelnen Menschen in verschiedenen Ereignissen und auf verschiedene Art und Weise mit. Als Beispiele seien hier Abraham, Mose oder Elia genannt, deren jeweilige Berufung wichtige Wendepunkte in der Geschichte des jüdischen Volkes markierten. Sie werden, weil sie Empfänger einer göttlichen Offenbarung waren, in den eben genannten monotheistischen Religionen auch Propheten genannt.
Darüber hinaus spricht das Christentum nun aber von einer Offenbarung, die weit über das bisherige Verstehen von Gottes Offenbarung an Menschen hinausgeht. Eine Textstelle finden wir hierzu im Prolog des Johannesevangeliums (Joh. 1, 1ff). Hier schreibt der Evangelist, dass in Jesus Gottes Wort Fleisch wurde.
Es ist nicht davon auszugehen, dass Johannes der Begründer einer Christologie sein wollte, die 451 im Konzil von Chalcedon zum Dogma führte. Dieses Dogma sagt, dass Jesus zugleich wahrer Mensch und wahrer Gott sei.
In der theologischen Wissenschaft gilt als gesichert, dass Johannes in seinem Prolog möglicherweise Motive aus der Logos1–Philosophie des hellenistischen Judentums und der Stoa2 übernahm. So ist es sicherlich nicht falsch zu behaupten, dass zu Beginn des Weges vom Johannesprolog bis zur Festschreibung des christologischen und trinitarischen Dogmas, heidnische Vorstellungen aus hellenistischer und römischer Götterwelt und Philosophie Pate gestanden haben, Vorstellungen jedenfalls, die keinerlei Bezugspunkte zu jüdischer Glaubenstradition und somit auch nicht zum Leben Jesu, seinem Glauben und seiner Verkündigung haben. Die Erzählungen vor allem der synoptischen Evangelien (Markus, Matthäus und Lukas) haben, wenn auch auf unterschiedliche Weise, bewusst versucht, die ungebrochene Verbindung von jüdischer Tradition zu Jesus zu unterstreichen und sie im Leben Jesu hervorzuheben. Denn so wie sie selbst Juden waren, stand für sie fest, dass Jesus auch Jude war. Das wird ebenso für den Evangelisten Johannes gelten, auch wenn er aus einem anderen kulturell-religiösen Hintergrund kommt und eher für die schreibt, die in hellenistischer Heimat zu Hause sind.
Für den Juden Paulus spielte die Herkunft, das Leben, das Wirken und die Verkündigung Jesu keine Rolle. Des Paulus Verkündigung beschränkte sich auf das für ihn maßgebliche Kerygma des Leidens, des Todes und der Auferstehung Jesu. So reflektiert Paulus an keiner Stelle über das Jude-Sein Jesu.
War das für Paulus nicht der Erwähnung wert, weil es für seine Verkündigung keine Bedeutung hatte? Schließlich wusste er sich in seiner Mission an die Heiden gesandt. Und für die schien es wohl keine Rolle gespielt zu haben, aus welcher religiösen Tradition der Christus stammt.
Warum aber betonten die synoptischen Evangelien gerade des Jude-Sein Jesu? Schrieben sie ihre Evangelien doch einige Jahrzehnte, nach dem Paulus seine Briefe verfasst und versandt hatte. Waren die doch eher theologisch-philosophisch durchdachten Briefe des Paulus den Evangelisten nicht bekannt? Oder meinten sie, in der Theologie des Paulus fehlt der entscheidende Hinweis auf die Glaubenstradition Jesu, weil nur so der ganze heilsgeschichtliche Zusammenhang Sinn machen würde und zu verstehen sei? Interessant ist dieser Hinweis gerade auch deshalb, weil Paulus ja selbst Jude war, mit großer Wahrscheinlichkeit sogar eine pharisäische Ausbildung genossen hat.
Wie auch immer: auf der Grundlage verschiedener Stellen aus paulinischen Briefen (z.B. Phil. 2, 5-11. oder Kol. 1, 15-20) und des recht spät entstandenen Johannesevangeliums und seines Prologs von der Fleischwerdung des Wortes entwickelte sich in den darauffolgenden Jahrhunderten die sog. Inkarnationstheologie. Sie beschreibt, dass Gott in Jesus selbst Mensch wurde und sich in Jesus göttliche und menschliche Natur vermischen. Das Dogma von der Trinität, in dem Gott sich als Vater, Sohn und Heiliger Geist offenbart, war der Endpunkt einer dogmatischen Entwicklung, die sich in der Folge aus dem Konzil von Nicäa (325) bis hin zum Konzil von Toledo (675) ihren Weg bahnte.
Im 4. Laterankonzil3 von 1215 wurde das Trinitätsdogma in der bestehenden Form noch einmal bestätigt und seit dieser Zeit nicht mehr in Frage gestellt. Begleitet wurde das Trinitätsdogma von der Entstehung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, das sich gleichsam als Zusammenfassung des göttlichen Heilsgeschehens versteht. Es besteht seit dem 5. Jahrhundert mehr oder weniger in der noch heute bekannten Form und wird bis heute in den Gottesdiensten gesprochen.
Wesentliche Teile der eben genannten Lehren finden wir bis heute in der Liturgie, in einer großen Anzahl kirchlicher Gesänge und Choräle der großen Kirchen. Trinitarisches Dogma und Apostolisches Glaubensbekenntnis haben auch in den evangelischen Kirchen unhinterfragbare Gültigkeit.
In der Volksfrömmigkeit, die je länger je weniger amtskirchlich eingebunden war und ist, haben jedoch die christlichen Feste (Weihnachten, Karfreitag, Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten), die ihr Narrativ in den Erzählungen der Evangelien finden, eine größere Bedeutung als dogmengestützte theologische Aussagen der Kirche oder der Feste selbst.
Bei den christlichen Festen überragt das Weihnachtsfest und das Wissen um seinen ursprünglichen Inhalt die nachfolgenden deutlich. Irgendwie erinnern noch sehr viele, wenn auch kirchlich nicht mehr gebunden, dass es da um die Geburt eines Kindes geht. Die Bedeutung von Karfreitag, Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten sind eher nur noch den Kirchentreueren bekannt. Vielleicht auch, weil die Erzählungen bei diesen deutlicher als beim Geschehen am Weihnachtstag von schweren theologischen Gedanken überlagert sind und sich nicht so gut vermarkten lassen.
Das Weihnachts- und dann auch das Osterfest haben jedoch die Jahrhunderte nicht unverändert überstanden. Aber es waren nicht theologische Erkenntnisse aus Aufklärung oder aus der seit Beginn des 20. Jahrhunderts in der Theologie mehr oder weniger beheimateten Exegese der biblischen Texte, die irgendwelche Veränderungen im Begehen der Feste mit sich gebracht hätten. Es waren kommerzielle Faktoren, die vor allem dafür sorgten, dass das Weihnachtsfest nicht in Vergessenheit gerät und sich immer noch großer Beliebtheit erfreut. So überdecken Weihnachtsmann und Osterhase die Geschehen der biblischen Erzählungen.
Und damit haben die Kirchen in den letzten Jahrzehnten große Mühe, vielleicht schon vergebliche, die Deutungshoheit über die kirchlichen Feste und Feiern nicht zu verlieren. Und da käme keiner aus theologisch-wissenschaftlicher Erkenntnis heraus auf die Idee, die romantische Gefühlswelt um den ‚Knaben mit dem lockigen Haar‘ zu zerstören. Ist es doch genau diese, die nach wie vor die Menschen am Heiligen Abend in die Kirchen strömen lässt.
Und wenn es doch den Versuch gab, der exegetischen Erkenntnis Rechnung zu tragen und etwas zu verändern, dann hatte das nicht lange Bestand, weil die Traditionalisten, die Volksseele und die Volksfrömmigkeit stärker sind als die Wahrheit, die ihre Erkenntnis aus der theologischen Arbeit bezieht.
Dazu ein Beispiel: an einem im liturgischen Jahr nicht unbedeutenden Punkt, nämlich in der Karfreitagsliturgie, versuchte die römisch-katholische Kirche vorsichtig, die Erkenntnisse des christlich-jüdischen Dialogs einzubringen. Seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts reifte dort die Erkenntnis und fand dann auch in der Karfreitagsbitte Eingang, dass Gottes Treue zu den Juden ungebrochen wäre. Aber vor allem den konservativen Kreisen in seiner Kirche gehorchend, revidierte Papst Benedikt XVI. diese Version und ließ seit 2008 wieder für die Bekehrung der Juden beten. So hat die Bitte folgenden Wortlaut:
„Lasst uns auch beten für die Juden, auf dass Gott, unser Herr, ihre Herzen er-leuchte, damit sie Jesus Christus erkennen, den Retter aller Menschen.
Allmächtiger ewiger Gott, Du willst, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Gewähre gnädig, dass beim Eintritt der Fülle aller Völker in Deine Kirche ganz Israel gerettet wird. Durch Christus, unseren Herrn. Amen.“
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2. Maria. Der Weg von der Mutter Jesu zu den vier Mariendogmen
Aber es gibt noch ein weiteres, im Alltag römisch-katholischer Frömmigkeit vielfach bedeutenderes Beispiel vom Dilemma zwischen theologischer Erkenntnis und der Praxis im Glauben.
Es ist vor allem die Weihnachtsgeschichte des Evangelisten Lukas, die Maria, die Mutter Jesu, in den Mittelpunkt rückt. Dies ist auch deshalb wichtig, weil die Mutter, also Maria, Garantin des Jude-Seins Jesu ist. Denn nur, so sagen es die Rabbinen, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde, ist Jude. Der Vater spielt keine Rolle. Trotzdem finden sich im Stammbaum Jesu, den wir bei Matthäus finden, nach alter patriarchalischer Vorstellung vor allem die Namen von Männern. Sie reichen von Abraham bis Joseph. ‚… Josef, dem Mann Marias;
von ihr wurde Jesus geboren, der der Christus (der Messias) genannt wird‘ (vgl. Mt. 1, 17).
Wir sehen, nicht von ungefähr ist dem Evangelisten die Erwähnung Marias von Bedeutung. Maria ist bei Matthäus in der Riege der Männer, eine von fünf erwähnten Frauen. Die anderen Frauen, Tamar, Rahab, Ruth, Bathseba, waren Nichtjüdinnen.
Im weiteren Verlauf der Evangelien erfahren wir nur noch wenig über Maria. Markus wie Johannes erzählen keine Geburtsgeschichte Jesu. Aber, anders als bei den synoptischen Evangelien, steht bei Johannes Maria auf Golgatha unter dem Kreuz Jesu und wird somit zur Zeugin des Todes Jesu. Die Apostelgeschichte weiß Maria im Kreise der ersten Gemeinde in Jerusalem, deren Leiter der Bruder Jesu Jakobus ist.
Die den Evangelien folgenden Briefe erwähnen Maria mit keinem Wort. Und doch finden wir bereits im 2. Jahrhundert Tendenzen zur Verehrung Marias, gespeist aus Texten der sog. Apokryphen, die keinen Eingang in den Bibelkanon fanden.
Mit den Auseinandersetzungen über die Frage, wer Jesus war, und deren ‚Lösung‘ (Christologie) kam für Maria die Bezeichnung der Mutter Gottes auf. Um hervorzuheben, dass Jesus von Beginn seines Lebens an die göttliche mit der menschlichen Natur verband, wurde ihr dann auch der Titel der Gottesgebärerin zuerkannt, was auf dem Konzil von Ephesus 431 zum Dogma erhoben wurde.
Der Kirchenvater Origines vertrat um 200 die Auffassung der unverletzlichen Jungfräulichkeit Marias vor, bei und nach der Geburt Jesu. Diese Lehre zur ‚Jungfrau Maria‘ wurde auf dem 2. Vatikanischen Konzil von Konstantinopel 553 zur offiziellen Lehre der Kirche erhoben. Auch für dieses Dogma gab es keine biblische Grundlage, denn im alttestamentlichen Bezugstext, Jesaja 7, 144, ist von einer ‚jungen‘ Frau die Rede. Aus dieser ‚jungen‘ Frau wurde bei der Übersetzung in der Septuaginta5 schon in messianischer Deutung und Interpretation die ‚Jungfrau‘. Und da die Vulgata, die lateinische Übersetzung und maßgeblich für alle Übersetzungen in der römisch-katholischen Kirche, sowie auch Luthers Bibelübersetzung die Septuaginta als Grundlage hatten, hat sich die ‚Jungfrau‘ Maria auch in diese Übersetzungen hineingeschlichen.
Das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Marias, nach dessen Lehre Gott Maria vor jedem Makel der Erbsünde bewahrt hatte, weil sie die Mutter Gottes werden sollte, verkündete Papst Pius IX. 1854. Einer seiner Nachfolger, Pius XII, formulierte 1950 das Dogma von der Aufnahme Marias in den Himmel, was als Gehorsam des Sohnes zu verstehen sein sollte. Denn dem Elterngebot folgend sollte wie der Vater (Gott-Vater) auch die Mutter geehrt werden. Im Text des Dogmas heißt es:
„verkünden, erklären und definieren Wir … in Kraft der Vollmacht unseres Herrn Jesus Christus, der heiligen Apostel Petrus und Paulus und Unserer eigenen Vollmacht: es ist eine von Gott geoffenbarte Glaubenswahrheit, dass die unbefleckte, immer jungfräuliche Gottesmutter Maria nach Vollendung ihres irdischen Lebenslaufes mit Leib und Seele zur himmlischen Herrlichkeit aufgenommen worden ist.“
Bereits im 7. Jahrhundert entstanden die ersten Marienfeste und das ‚Ave Maria‘, das Gebet, dem eine sehr große Bedeutung in der röm.-kath. Kirche zukommt. In der bildlichen Darstellung (Ikonographie) Marias erinnert vieles an die aus wenigen Stellen des Alten Testaments bekannte ‚Himmelskönigin‘, die ihren Ursprung in Nachbarreligionen Israels hatte.
Wallfahrten zu Orten vermeintlicher Marienerscheinungen wie Lourdes, Fatima, Tschenstochau u. a., gehören seit vielen Jahrzehnten zur Volksfrömmigkeit, die vonseiten der offiziellen Kirche starke Unterstützung findet. Über die Gründe mag man nur spekulieren, aber zu fragen sei doch erlaubt, ob hier immer der Sohn oder doch eher die Mutter im Mittelpunkt der Verehrung steht. Aber eine gewisse Verselbständigung Marias unabhängig von ihrem Sohn ist ohne Zweifel nicht nur hier zu beobachten.
Und dann bleibt die Frage: wie passt ein solches Marienbild in die ursprüngliche Genealogie Jesu, deren vornehmlicher Zweck es war, das Jude-Sein Jesu zu bezeugen und ihn in die Linie und in die Verheißungen seines Volkes zu stellen? So kann festgestellt werden, dass sich die röm.-kath. Kirche auch in dieser Frage von der biblischen Grundlage entfernt hat, egal ob es nun die Evangelien sind oder die Briefe des Paulus. Und jeglicher Versuch, in der Teilnahme am christlich-jüdischen Dialog zu neuen Erkenntnissen auch für die eigene Verkündigung und Katechese zu gelangen, findet in den eben beschriebenen Fakten/Dogmen seine Grenze, die die in Jahrhunderten gefestigte Volksfrömmigkeit unüberwindbar erscheinen lässt.
Das Geheimnis der Erlösung…
Die Geschichte der Kirche ist eine Erfolgsgeschichte. Die Gründe hierfür? Zweifellos die Botschaft Jesu: sein Reden, sein Tun. Aber das leider nur zum Teil. Zum anderen, vielleicht sogar zum größeren Teil wegen ihrer frühen und engen Verbindung zu den Mächtigen, zum Staat.
Zwangschristianisierungen gingen oft Hand in Hand mit den Eroberungszügen der ‚christlichen‘ Herrscher. Bis in die Neuzeit hinein gewann die Kirche weltweit immer mehr an Macht und politischem Einfluss. Jesu Worte von der Nächsten- bzw. Feindesliebe fielen dabei einer partiellen Amnesie der Kirche zum Opfer. Auch das Festhalten an den Bekenntnissen der ‚Väter‘, obwohl exegetische Erkenntnisse aus der späteren theologischen Forschung andere Schwerpunkte legen müssten, beschreiben das Dilemma, in das sich die Kirche hineinmanövrierte. Denn sie waren Grundlage für Kirchenspaltungen, für Krieg und Mord. Auch sie bahnten den langen Weg in die Gaskammern der NS-Vernichtungslager. Obwohl die Erinnerung zum Wesen der Kirche gehört, war und ist ihre Erinnerung defizitär. Denn was nicht zwischen ihre dogmatischen Mauern passte, hatte und hat in der Kirche keinen Platz.
3. Erinnerung als Vergegenwärtigung
Von dem jüdischen Gelehrten Ba`al Schem Tov (ca. 1700 -1760) stammt der Satz: „Das Exil wird länger und länger des Vergessens wegen, aber vom Erinnern kommt die Erlösung.“6 Ohne Zweifel ging es Ba’al Schem Tov um die Erlösung des jüdischen Volkes aus Verfolgung und Exil.
Der Satz des Ba`al Schem Tov wurde in den Jahrzehnten nach ihm zu einem geflügelten Wort, das man der jüdischen Tradition zuordnete und deren Wortlaut leicht abgewandelt wurde. So finden wir ihn heute an vielen Stellen, die sich mit der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ beschäftigen, folgendermaßen: ‚Das Vergessenwollen verlängert das Exil und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.‘ Und oftmals ist es der Erinnerung an das, was das jüdische Volk erlitten und erduldet hat, entkleidet, aus seinem sog. ‚Sitz im Leben‘ entnommen und zu einem inflationären Wort für jegliche Erinnerung geworden.
Wie auch immer: Erinnern ist und war jedenfalls für die jüdische Tradition etwas Grundlegendes. Das Wort ‚erinnern‘ oder ‚erinnere dich‘ ist in der hebräischen Bibel ein oft zu findendes Wort. Allein die Häufigkeit (169 mal) zeigt, welche Bedeutung das Erinnern im jüdischen Glauben hat; mehr noch: ohne die Fähigkeit der Erinnerung gäbe es das jüdische Volk nicht. Denn sein Erinnern sicherte letztendlich seine Existenz.
Wenn das Alte Testament von Erinnern spricht, dann meint dieses Erinnern sowohl ein Erinnern Gottes, als auch ein Erinnern des Volkes. Im Erinnern erfährt das jüdische Volk das heilvolle Handeln Gottes. Erinnerung wird somit zur Quelle jüdischen Glaubens.
Erinnern geschieht in jüdischer Tradition weniger in einem intellektuellen Akt, als vor allem im rituellen Handeln. Das beste Beispiel ist dafür die Feier des Pessach-Festes. Hier wird Jahr für Jahr und das seit Jahrtausenden an den Auszug Israels aus der Sklaverei in Ägypten gedacht. Die Erinnerung geschieht aber nicht in einer Rückschau. Der Blick auf das vergangene Geschehen dient allein der Vergegenwärtigung des Vergangenen. Jeder der am Sedermahl teilnimmt, das zu Beginn des Pessach-Festes gefeiert wird, solle so tun, als ob er selbst aus Ägypten herausgeführt und befreit wurde.
So wird das Fest zu einem Fest der Befreiung, der Erlösung, der Freude und des Lobes Gottes. Und hierbei soll jedem bewusst werden, dass aus der errungenen Freiheit, also der Erlösung aus der Knechtschaft folgt, selbst den Schwachen zu helfen und sie aus welcher Gefangenschaft auch immer zu erlösen.
In dieser erinnernden Vergegenwärtigung spielt der Prophet Elia (1. Kön. 17 bis 2. Kön. 2) eine nicht unwichtige Rolle. Denn seit seiner Entrückung in den Himmel (2. Kön. 2, 11ff.) wird seine Wiederkunft erwartet. Hier beim Sedermahl in besonderer Weise: die Tür zum Festsaal wird offen gelassen, damit der Prophet ungehindert eintreten kann, ein Stuhl wird für ihn freigehalten und der Becher des Elia – es ist der siebte, der im Verlauf des Mahles die Runde macht – steht bereit und wird geleert.
Nicht von ungefähr wird Jesus hin und wieder mit der Frage konfrontiert, ob er der wiedergekommene Elia sei, denn Elia ist über die Jahrhunderte hinweg und insbesondere zur Zeit Jesu sehr präsent und seine Wiederkunft wird zu jeder Zeit erwartet.
Die jüdische Glaubenstradition hat jedoch Elia als den belassen, der er war: der Prophet, der Wundertäter, der als erster, wie kein anderer vor ihm, den Glauben an den einen einzigen Gott vertrat und für diesen stritt. Und als solcher wurde er verehrt, als solcher wurde seine Wiederkunft erwartet. Das Bekenntnis zu dem einen einzigen Gott, der Monotheismus, ist unauflösbar mit Elia verbunden.
Erwähnt werden sollen an dieser Stelle jedoch auch einige andere jüdische Feste, die der erinnernden Vergegenwärtigung und der jüdischen Selbstidentifikation dienen:
Rosch ha-Schana ist das Neujahrsfest und erinnert an die Erschaffung der Welt, Sukkot an das Leben in der Wüste der aus Ägypten geflohenen Stämme Israels in Laubhütten, das Lichterfest Chanukka an die Einweihung des 2. Tempels, das Freudenfest Purim an die Befreiung aus dem persischen Exil, das Wochenfest Schawuot an den Empfang der 10 Gebote und schließlich Tischa beAv an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels.
4. Das Dilemma der selektiven Erinnerung der Kirche
Wie kann es anders sein, dass auch das Christentum als Offenbarungsreligion und damit die Kirche ihre Identität im vergegenwärtigenden Erinnern von Ereignissen aus der Geschichte findet. Und da das Christentum nicht nur durch die Schriften des Alten Testaments, durch Jesus, den Juden, und die zumindest synoptischen Evangelien, die Zeugnisse jüdischen Glaubens sind, sehr eng mit dem Judentum verbunden ist, haben christliche Feste eine deutliche vor allem zeitlich-terminliche Parallele zu jüdischen. Chanukka als Lichterfest finden wir in zeitlichem Zusammenhang mit Weihnachten und seiner Lichtsymbolik, Purim zu dem vor allem im Rheinland gefeierten Karneval, Pessach zu Karfreitag und Ostern und schließlich Schawuot zu Pfingsten.
Selbst bei privat-familiären Feiern sind Ähnlichkeiten auffällig. So finden Beschneidung bis heute, Taufe bis vor einigen Jahrzehnten nahe am Geburtstermin statt. Der Übergang zum Erwachsensein wird im Judentum durch die Bar Mizwa (für Jungen) oder Bath Mizwa (für Mädchen) mit 13 (12 bei Mädchen) Jahren, im Christentum mit der Konfirmation oder Firmung im Alter von etwa 14 Jahren gefeiert. Wie die jeweiligen Feste gefeiert werden und was dort geschieht, ist verschieden, der eigentliche Sinn jedoch sehr ähnlich.
Juden feiern ihre Gottesdienste vornehmlich am Schabbath, also am letzten Tag der Woche, Christen am Sonntag, dem ersten Tag der Woche. Auch diese zeitliche Nähe ist durch den jüdischen Festtagskalender im Zusammenhang mit Tod und Auferweckung Jesu vorgegeben. Die ursprüngliche Feier des christlichen Gottesdienstes ist der Form des Synagogengottesdienstes entlehnt.
Und trotz dieser Nähe gingen beide Glaubensweisen getrennte Wege. Das hatte anfangs vor allem soziologische Gründe, also vor allem die der Abgrenzung. Bald jedoch ignorierte die Kirche das Leben der nach wie vor existierenden jüdischen Gemeinden und bezeichnete sich selbst als das von Gott auserwählte Volk.
So entwickelte sich vom 1. bis ins 7. Jahrhundert in der Kirche die sog. ‚Substitutionstheologie‘. Sie beschreibt, dass das einst von Gott erwählte Volk Israel nicht mehr das Volk seines Bundes, sondern für alle Zeit von Gott verworfen und verflucht sei. Gottes Verheißungen an Israel seien auf die Kirche als neues Volk Gottes übergegangen.
Im weiteren Sinn bezeichnet die Substitutionstheologie auch jede christliche Lehre, die dem Judentum einen geringen, vorläufigen oder nur auf die Kirche hin ausgerichteten Wert zuspricht, in der auch die Juden die „Fülle der Wahrheit“ erkennen sollten. Der Gegensatz von ‚Alt‘ und ‚Neu‘, von ‚Verheißung‘ und ‚Erfüllung‘, von ‚Gesetz‘ und ‚Evangelium‘ ist bis auf den heutigen Tag Gegenstand systematischer christlicher Theologie an den Universitäten, wenn es um das Verhältnis von Altem und Neuem Testament geht. Ja, das Wort von den Juden als den Gottesmördern, wenn es um den Tod Jesu ging, machte schnell die Runde und hielt sich in Theologie und Kirche hartnäckig.
Auch wenn mit der Aufarbeitung der Shoah zumindest bei einigen Theologen und Kirchen ein Umdenken im Blick auf die Substitutionstheologie begann, (siehe im Anhang: Rheinischer Synodalbeschluss von 1980), hat das bisher wenig Einfluss genommen auf liturgische Vorlagen (siehe z.B. oben die Karfreitagsliturgie in der röm.-kath. Kirche), auf Lieder7 und Choräle, die in den Gottesdiensten gesungen werden, ja selbst auf die Theologie der Theologen.
Man könnte den Kirchen ein löchriges Gedächtnis, eine defizitäre Erinnerung, eine partielle Amnesie, oder gar eine Verdrängung des zu Erinnernden vorwerfen. Aber das wäre zu einfach gedacht. Sie wollten einfach nicht konsequent Folgen aus den Ergebnissen ihrer erinnernden Studien ziehen. Das hätte die Unfehlbarkeit8, mehr noch als es ohnehin schon der Fall ist, doch arg in Zweifel gezogen. Und darum war ihr Erinnern immer ein selektives. Was nicht sein darf, das kann nicht sein.
Darüber hinaus lebt die Kirche in ihrem Erinnern ja auch von Ritualen und fördert diese. Und das aus verschiedenen Gründen. Zum einen entlasten sie, weil Rituale einfach zum Mittun einladen, ohne immer selbst nachdenken oder entscheiden zu müssen. Auf der anderen Seite jedoch haben sie auch den Nachteil, nicht nachdenken oder sich erinnern lassen zu müssen.
Und die Erinnerung an das, was wirklich war oder geschah, wäre schließlich unangenehm, wenn man sich eingestehen müsste, dass die ein oder andere frühere Erkenntnis und Entscheidung schlichtweg nicht mehr den Ergebnissen der Forschung entspricht und so manches, was sich über die Jahrhunderte hinweg in der Dogmen- und Theologiegeschichte entwickelte, über den Haufen werfen würde. Dann lieber alles so belassen, wie es ist, und sich in der Theologie zwar einen wissenschaftlichen bzw. akademischen Anstrich geben, um in der Öffentlichkeit und an den Universitäten präsent zu sein, aber aus den Ergebnissen der Forschung keine Rückschlüsse zu ziehen.
Das wäre zwar in keiner anderen Wissenschaft, ob Mathematik oder Medizin möglich. Aber gut, die Theologie war immer der philosophischen Fakultät zugeordnet. Und da gelten andere Spielregeln. Man könnte die Theologie verharmlosend als Glasperlenspiel bezeichnen, wenn sie nicht im Verlauf der Kirchengeschichte über die Jahrhunderte hinweg bis heute auch gravierende Folgen für das Leben von Menschen gehabt hätten.
Denn in den jeweiligen Glaubensbekenntnissen egal welcher Konfession ging und geht es um Wahrheit. Und da es bei der Wahrheit nicht um ein objektives Faktum geht, kann man sich ja über die Frage: was ist Wahrheit? gebührlich streiten. Das wusste schon Pontius Pilatus (Joh. 18, 38). Und in dieser Frage hat die Kirche, haben die Theologen oft keinen Spaß verstanden. Denn hätte die Kirche die Worte Jesu, selbst die Gedanken des Paulus ernst genommen, dann hätte von ihr kein Krieg, kein Töten, kein Morden ausgehen dürfen. Aber sie hat die Friedensbotschaft Jesu über weite Strecken ihrer Geschichte vergessen.
Es war jedoch nicht erst Jesus, der zum Frieden mahnte. Schon das 5. Gebot aus den Anfängen Israels verbot das Töten. Und dieses wurde bereits in langer jüdischer Tradition begleitet vom Gebot, den Nächsten zu lieben. Und Jesus? Nicht nur, dass Jesus die Liebe zum Nächsten im Doppelgebot der Liebe noch einmal betonte; in der Bergpredigt gebot er sogar, den Feind zu lieben.
Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt kritisierte die Friedensbewegung in der Diskussion um den Doppelbeschluss der Nato9, indem er sagte, man könne mit der Bergpredigt keine Politik machen. Auf Kirchentagen verfocht er vehement die von Max Weber propagierte Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Aber wem antwortet eine Ver-antwortungs-ethik, wenn nicht den Mächtigen und ihrer Machteroberung oder ihrem Machterhalt. Aber es ist nicht die Philosophie Machiavellis, die den Christen ins Stammbuch geschrieben wurde, sondern die Bergpredigt Jesu. Und da muss ich mich als Christ entscheiden, welchem Herrn ich diene. Nein, da gibt es nichts zu entscheiden. Als Christ ist mir die Entscheidung abgenommen. Und da ist die Frage, ob der Beruf des Politikers für einen Christen, wenn man mit der Bergpredigt keine Politik machen kann, der richtige Beruf ist.
Und so bleibt eins der großen Dilemmata der Kirche der Unterschied zwischen dem, was Jesus sagte und wollte und dem, was die Kirche zum Teil aus den Worten Jesu gemacht hat. Das Aufzeigen der Blutspur durch die Jahrhunderte, wo Kirche zum Krieg, zum Töten aufgefordert (die Kreuzzüge, Hexenverbrennungen und Religionskriege seien hier nur als Beispiele genannt) oder sie geduldet, abgesegnet, religiös begleitet und flankiert hat (siehe hier die Eroberungskriege, die im letzten Jahrhundert von Deutschland ausgingen), würde ganze Bücherregale füllen.
Denn um Macht und Machterhalt ging und geht es der Kirche, seit sie sich mit den Mächtigen einließ und sich in ihrem Lichte sonnen konnte. Staatstreue und Gehorsam, oft voreilender Gehorsam der weltlichen Macht gegenüber waren und sind ihr immer wichtig gewesen und begründete dies mit den paulinischen Gedanken aus Römer 1310. Aber wenn wir uns unzählige Beispiele für Mord und Töten aus der Papst- und Kirchengeschichte anschauen, dann lässt sich das auch bei bestem Willen nicht mit Römer 13 erklären, denn hier gingen Mord und Vernichtung von der Kirche selbst aus. Und das Wort Jesu vom Herrschen und Dienen (Mt. 20, 20ff, 23, 11f) passte bald und schon gar nicht mehr in das Gefüge der Verführung von Macht und politischem Anspruch, dem die Kirche erlag.
Und so steckt die Erinnerungskultur der Kirche in einem großen Dilemma: da gibt es nicht nur das in den vorhergehenden Kapiteln aufgeführte Unvermögen einer kritischen Reflektion und Analyse ihrer Bekenntnisse im Blick auf die Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese, dem Jude-Sein Jesu und dem christlichen-jüdischen Gespräch, sondern auch grundlegend den Gehorsam bzw. den Ungehorsam dem Worte Gottes und der Verkündigung Jesu gegenüber.
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5. Die Schuld der Kirche und ihre Schulbekenntnisse • In der Gewissenserforschung geht es darum, sich der Sünden und ihrer Umstände bewusst zu werden.
Die bisher formulierten und bekannten Schuldbekenntnisse der Kirche welcher Couleur auch immer konnten nicht einmal in Ansätzen diese Dilemmata auflösen, was ja vielleicht der Sinn derselben gewesen wäre.
Schauen wir uns das Stuttgarter Schulbekenntnis vom Oktober 1945 an, das in einer Sitzung den Vertretern des Ökumenischen Rates der Kirchen vorgelegt wurde.
„…Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland begrüßt bei seiner Sitzung am 18./19. Oktober 1945 in Stuttgart Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen. Wir sind für diesen Besuch umso dankbarer, als wir uns mit unserem Volk nicht nur in einer großen Gemeinschaft der Leiden wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld. Mit großem Schmerz sagen wir:
Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben…..‘
Abgesehen davon, dass mit keinem Wort die versuchte Vernichtung des europäischen Judentums erwähnt wurde, an der die Kirche ja mit ihrer Theologie und Verkündigung wesentlich beteiligt war, sind die im Schuldbekenntnis notierten Worte von Leid und Schuld nichts als leere Hülsen, weil sie inhaltslos aneinander gereiht werden. Denn was waren Grund und Ursache, dass dieses entsetzliche Leid von der Kirche ausgehen konnte und über Völker und Länder gebracht wurde. Darüber schweigt das Bekenntnis. Da hätte die Kirche sich an ihre oft blutige Geschichte von Macht und Machtgelüsten erinnern müssen, die zurückreichen bis in die ersten christlichen Jahrhunderte. Aber was hülfe die Erinnerung, wenn zwar Irrtümer erkannt würden, aber aus dieser Erkenntnis keine positive Veränderung folgte.
In der römisch-katholischen Kirche gibt es das Sakrament der Beichte. Der Katholische Erwachsenenkatechismus nennt fünf Voraussetzungen für eine gültige Beichte und das dürfte im Grunde auch entsprechend für ein Sündenbekenntnis in evangelischem Raum gelten: Gewissenserforschung, Reue, guter Vorsatz, Bekenntnis und Wiedergutmachung.
• Die Reue ist der wichtigste Teil der Beichte. Ohne Reue ist eine Vergebung der Sünden nicht möglich. Was man nicht bereut, kann man nicht gültig beichten.
• Der gute Vorsatz soll in der Absicht bestehen, in Zukunft alle schweren Sünden zu meiden.
• Für eine gültige Beichte ist das Bekenntnis aller bewussten schweren Sünden nötig, derer man sich seit der Taufe erinnert und die noch nicht durch eine sakramentale Beichte vergeben worden sind. Eine Sünde ist dann schwer, wenn ein Gebot Gottes in einer wichtigen Sache, mit klarem Bewusstsein und in freier Entschiedenheit übertreten worden ist. Es wird auch geraten, weniger schwere, sogenannte lässliche Sünden zu bekennen.
• Die Wiedergutmachung (Buße) besteht zunächst in der Pflicht, begangenes Unrecht soweit irgend möglich zu begleichen.
Das Bußsakrament bewirkt die Wiederherstellung der Taufgnade, die für das ewige Leben bei Gott notwendig ist.
Keine Vergebung der Sünden erhält,
• wer keine Reue über seine Sünden empfinden will
• wer die nächste Sünde oder die Gelegenheiten zur Sünde nicht meiden will
• wer seinen Feinden nicht verzeihen, fremde Ehre nicht wiederherstellen oder anderes Unrecht nicht ausgleichen will, obwohl er es könnte.
Das, was Kirche von ihren Mitgliedern fordert, vermag sie selbst nicht einzulö-sen. Da ist sie in selbst gelegten Fesseln gefangen. Wie kann sie erlösen, wenn sie selbst gefangen ist? Oder um mit Worten Jesu zu sprechen: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden nicht alle beide in die Grube fallen? (Lk 6, 39)
Ich möchte schließen mit einigen Auszügen aus einem Schuldbekenntnis von Dietrich Bonhoeffer, das er lange vor seiner Verhaftung 1943 formulierte. Sein Schüler und Freund Eberhard Bethge hat die nur aus Fragmenten bestehende Schrift unter dem Titel ‚Ethik‘ 1949 herausgegeben. Bonhoeffer schrieb es im Blick auf das Ende des Krieges als mögliches Schuldbekenntnis der Kirche11:
‚Die Kirche bekennt, ihre Verkündigung von dem einen Gott, der sich in Jesus Christus für alle Zeiten offenbart hat und der keine andere Götter neben sich leidet, nicht offen und deutlich genug ausgerichtet zu haben. Sie bekennt ihre Furchtsamkeit, ihr Abweichen, ihre gefährlichen Zugeständnisse. Sie hat ihr Wächteramt und ihr Trostamt oftmals verleugnet. Sie hat dadurch den Ausgestoßenen und Verachteten die schuldige Barmherzigkeit oftmals verweigert. Sie war stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie. Sie hat das rechte Wort in rechter Weise zu rechter Zeit nicht gefunden. Sie hat dem Abfall des Glaubens nicht bis aufs Blut widerstanden und hat die Gottlosigkeit der Massen verschuldet.
Die Kirche bekennt, den Namen Jesu Christi missbraucht zu haben, indem sie sich seiner vor der Welt geschämt hat und Missbrauch dieses Namens zu bösem Zweck nicht kräftig genug gewehrt hat: Sie hat es mit angesehen, dass unter dem Deckmantel des Namens Christi Gewalttat und Unrecht geschah. Sie hat aber auch die offene Verhöhnung des heiligsten Namens ohne Widerspruch gelassen und ihr damit Vorschub geleistet...
Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Hass und Mord gesehen zu haben, ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der schwächsten und wehrlosesten Brüder Jesu Christi....
Die Kirche bekennt, Beraubung und Ausbeutung der Armen, Bereicherung und Korruption der Starken stumm mitangesehen zu haben. Die Kirche bekennt, schuldig geworden zu sein an den Unzähligen, deren leben durch Verleumdung, Denunziation, Ehrabschneidung vernichtet worden ist. Sie hat den Verleumder nicht seines Unrechts überführt und hat so den Verleumdeten seinem Geschick überlassen. Die Kirche bekennt, begehrt zu haben nach Sicherheit, Ruhe, Friede, Besitz, Ehre, auf die sie keinen Anspruch hatte, und so die Begierden der Menschen nicht gezügelt, sondern gefördert zu haben.’
Dieses Schuldbekenntnis wurde nie und von keinem gesprochen. Die Schuldbekenntnisse der Kirche, die später folgten, erfüllten bei weitem nicht das, was Bonhoeffer hier in seiner Ethik vorgedacht hat. Die Kirche ist auf einem Viertel des Weges stehen geblieben. Und so konnte sie das Exil nicht verlassen, in das sie sich selbst hineinmanövriert hatte.
So könnte man sagen, dass die Kirche in ihrem Vergessen dessen, was war und was sie eigentlich hätte tun müssen, seit langem im Exil lebt, gefangen, befangen und darum in vielem, was sie tut und predigt, wenig glaubwürdig ist. Und je länger und je mehr Menschen sich von ihrer Vormundschaft lösen, nicht mehr den Ritualen folgen, ihre Autorität als einzig Sinn stiftende Institution in Frage stellen und selbst nachdenken, so wie es in der Reformation einmal begonnen hatte – aber dann auch hier schnell, vielleicht aus Bequemlichkeit versandete, umso weniger wird man ihr blindes Vertrauen und Gehorsam entgegen bringen.
Denn es bleibt die Frage: Wie kann die Kirche als eine, die sich selbst wenig an die von ihr selbst aufgestellten Regeln hält, die erlösende Botschaft von der freimachenden Gnade des einen und einzigen Gottes verkünden?
Aber wer stellt diese Frage? Und wenn sie einer stellen würde, würde sie bei den Angesprochenen auf Kopfschütteln und gänzliches Unverständnis treffen. Denn an Selbstsicherheit und Selbstgewissheit hat es der Kirche noch nie gemangelt. Und immer wieder hat sie betont: extra ecclesiam nulla salus est, außerhalb der Kirche gibt es kein Heil. Und Glaube ist das, was die Kirche glaubt. So ist die Kirche in einem Legislative, Judikative und Exekutive in einem geschlossenen Kreislauf… - und darum in einer demokratischen Gesellschaft, in der ja auch und immer schon gewisse Grundregeln gelten, wenig oder vielleicht gar nicht mehr zeitgemäß.
ANMERKUNGEN
1 Logos (griech.) = das Wort
2 Die Stoa ist eines der bedeutendsten philosophischen Lehrgebäude in der abendländischen Geschichte. Sie wurde von Zenon von Kition um 300 v. Chr. begründet.
3 Auf eben dieser Synode wurde auch die sog. Transsubstantiationslehre beschlossen, nach der in der Eucharistiefeier Brot und Wein wesensmäßig in Leib und Blut Christi verwandelt würden. Dieses Sakrament, so der Konzilsbeschluss, könne nur ein korrekt (rite) geweihter Priester vollziehen. Des weiteren verbietet das Konzil Juden „schweren und unmäßigen Wucher, […] mit dem sie das Vermögen von Christen in kurzer Zeit erschöpfen“; gebietet Juden (und Muslimen), sich abweichend zu kleiden, damit christliche und jüdische (und muslimische) Männer und Frauen „sich nicht irrtümlich miteinander einlassen“. An Gründonnerstag und Karfreitag dürfen sie sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen. Es verbietet die Übertragung öffentlicher Ämter an Juden (und Heiden), wodurch diesen Machtbefugnisse über Christen gegeben würden und untersagt getauften Juden das Verharren in ihren ehemaligen religiösen Bräuchen. Außerdem ruft es zum 5. Kreuzzug ins Heilige Land auf.
4 ‚Siehe, eine junge Frau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel. (Jes. 7, 14)
5 Die Septuaginta (lateinisch für siebzig, ‚Die Übersetzung der Siebzig‘, Abkürzung LXX), ist die älteste durchgehende Übersetzung der hebräisch-aramäischen Bibel in die altgriechische Alltagssprache, die Koine. Die Übersetzung entstand ab etwa 250 v. Chr. im hellenistischen Judentum, vorwiegend in Alexandria. Die meisten Bücher waren bis etwa 100 v. Chr. übersetzt, die restlichen Bücher folgten bis 100 n. Chr.
6 vgl. Sefer Ba'al Schem Tov, II, 190 § 8.
7 Ein neueres Beispiel hierfür ist das seit einigen Jahrzehnten gern gesungene ‚Halleluja‘ aus Taizé mit der Strophe: ‚Ihr seid das Volk, das der Herr sich ausersehn….‘
8 In der katholischen Kirche ist die Unfehlbarkeit des Papstes eine Eigenschaft, die – nach der Lehre des Ersten Vatikanischen Konzils (1870) unter Papst Pius IX. – dem römischen Bischof (Papst) zukommt, wenn er in sei-nem Amt als „Lehrer aller Christen“ (ex cathedra) eine Glaubens- oder Sittenfrage als endgültig entschieden verkündet. Das Zweite Vatikanische Konzil sprach 1964 der Gesamtheit der Gläubigen ebenfalls Unfehlbarkeit zu: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben, kann im Glauben nicht irren.“
9 Doppelbeschluss der NATO aus dem Dezember 1979, in dem man das Aufstellen neuer Atomraketen in Westeuropa mit Verhandlungen zur Rüstungskontrolle verband.
10 Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott.. (Röm. 13, 1).
11 Dietrich Bonhoeffer, Ethik, hrsg. v. Eberhard Bethge, 2. Auflg, 1953, S. 120ff.
Der Autor
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wurde 1953 in Koblenz geboren, studierte in Wuppertal und Bonn evgl. Theologie. Von 1982 war Banse Gemeindepfarrer in Adenau/Eifel, Milano/Italien, Hamm an der Sieg und wieder Adenau/Eifel. Hier beendete er seinen aktiven Dienst im April 2019. Von 1998 bis 2012 war er geschäftsführender Vorsitzender der Oberbergischen Gesellschaft der Christlich-Jüdischen Gesellschaft. In den vergangenen Jahren hielt Banse Vorträge und veröffentliche zahlreiche Bücher und Aufsätze in Italien und Deutschland zu christlich-jüdischen, exegetischen, theologischen und gesellschaftspolitischen Themen.
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