ONLINE-EXTRA Nr. 300
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Erst wenige Wochen ist es her und noch in vor-Corona-Zeiten, als man sich in staatstragenden Veranstaltungen etwa in Jerusalem und in der Gedenkstätte des Vernichtungslagers Auschwitz sowie bei unzählig weiteren Veranstaltungen an Orten weltweit der Befreiung des Vernichtungslagers in Auschwitz erinnerte. In jenen Tagen beherrschte einmal mehr die Frage nach Erinnern und Gedenken die öffentlichen Debatten, verschärft durch den bedrückenden Hintergrund eines wachsenden und zunehmend gewalttätig agierenden Antisemitismus und Rechtsradikalismus. Auch wenn all die damit in Zusammenhang stehenden Probleme und Herausforderungen in Anbetracht der aktuellen Pandemie-Krise eher in den Hintergrund gerückt sind, sie werden bleiben. Und sich durch die Corona-Krise gewiss nicht verflüchtigen, was vermutlich bereits in wenigen Wochen, am 21. April, zumindest wieder aufblitzen wird, wenn man in Israel am Yom Hashoah, dem nationalen Holocaust-Gedenktag, sich der ermordeten Millionen erinnern wird.
Diese Fragen und Herausforderungen insbesondere im Blick auf ein "Erinnern in der dritten und vierten Generation" greift der nachfolgende Essay auf. Er stammt aus der Feder eines engagierten Theologen und Pfarrers, der gut drei Jahrzehnte in verschiedenen Funktionen und Rollen einen aktiven Part in der Gestaltung unserer Erinnerungskultur gespielt hat. Holger Banses Überlegungen stellen gewissermaßen eine Art Bestandsaufnahme und Bilanz dar, die er vor dem Hintergrund jahrzehntelangen Engagements im dem Ringen um eine tragfähige Erinnerung für die Zukunft gewonnen hat. Nachderm er die deutsche "Erinnerungskultur" und die Verfassung unseres kulturellen Gedächnisses grob skizziert, beschreibt er die veränderten Bedingungen der Erinnerung und versucht darzulegen, wie Erinnern unter diesen veränderten Bedingungen künftig gelingen kann, wobei für ihn u.a. das Konzept der "Begegnung" eine tragende Bedeutung einnimmt: "Erinnern in der dritten und vierten Generation".
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Online-Extra Nr. 300
1. Fragen 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz Ähnliches wiederholte er im Deutschen Bundestag aus Anlass einer Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz in Anwesenheit des israelischen Staatspräsidenten Reuven Rivlin am 29. 1. 2020.
Im Jahre 2020 erinnerten wir uns an die Befreiung der Inhaftierten im Konzentrationslager Auschwitz durch die Rote Armee vor 75 Jahren am 27. Januar 1945.
In seiner Ansprache in Yad Vashem am 23. 1. 2020 sagte Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier,‚er wünschte sich, sagen zu können, dass die Deutschen für immer aus der Geschichte gelernt hätten. Aber das könne er nicht, wenn sich Hass und Hetze ausbreiteten, wenn jüdische Kinder auf Schulhöfen bespuckt würden oder wenn nur eine schwere Holztür verhindere, dass ein Rechtsterrorist an Jom Kippur in einer Synagoge in Halle ein Blutbad anrichte.‘
Wie kann es sein, dass ein deutscher Bundespräsident 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz zu solch beängstigenden Feststellungen gelangen muss? Wurde und wird Deutschland nicht von vielen Ländern gerade wegen der Aufarbeitung der NS-Diktatur und Erinnerungskultur gelobt und als positives Beispiel benannt? Gab oder gibt es einen Bruch in der deutschen Erinnerungskultur? Wie ist diesem zu begegnen?
Diesen und anderen Fragen möchte ich in den nun folgenden Gedanken nachgehen.
2. Die deutsche ‚Erinnerungskultur‘
Die sog. Aufarbeitung der Shoah in Hitler-Deutschland in der breiten deutschen Öffentlichkeit setzte erst Jahrzehnte nach 1945 ein. Hierzu gab vor allem die vierteilige amerikanische TV-Serie ‚Holocaust‘ Anlass, die die fiktive Geschichte der jüdischen Berliner Arztfamilie Weiss zur Zeit des Nationalsozialismus nachzeichnete. Sie wurde im Jahre 1979 im deutschen Fernsehen gezeigt. Das waren ganze 34 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Und wie gesagt: es war eine amerikanische Serie.
Auch wenn viele das Tagebuch der Anne Frank gelesen hatten, wurde in der deutschen Gesellschaft wenig über die Ursachen und die Ausmaße der Shoah nachgedacht oder diese thematisiert. Im Nachkriegsdeutschland beschäftigte man sich lieber mit dem Leid des verlorenen Krieges und dem Wiederaufbau der zerstörten Städte und der Wirtschaft.
Und dabei ‚störten‘ Berichte von den Nürnberger Prozessen, die von 1945 bis 1948 vor dem Internationalen bzw. dem US-Militärgerichtshof gegen die Verantwortlichen für Krieg und Shoah geführt wurden. Wer in Deutschland interessierte sich 1947 für den Krakauer Auschwitzprozess?
Sicher, die mediale Informationsmöglichkeit war im Vergleich zu heute eher dürftig. Aber nicht nur das: es war politisch nicht nur nicht opportun, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Bis in hohen Regierungsebene im Bund, auf Länder- oder kommunaler Ebene, in den Verwaltungen, in der Richter- und Ärzteschaft, ja selbst in den Kirchen saßen auch in den Nachkriegsjahrzehnten Hitlers willige Vollstrecker, die von der Entnazifizierung aus ganz verschiedenen Gründen verschont blieben. Und diese, vornehmlich Männer, versuchten alles, eine Aufarbeitung des Völkermords an den Juden zu verhindern und ihre eigene Schuld und Verantwortung zu verschleiern. Wer sich zB. mit der Biographie des Frankfurter Oberstaatsanwalts Fritz Bauer beschäftigt, der Mitte der 50er Jahre bis zu seinem Tode 1968 versuchte, die Judenverfolger, die Judenhenker und Hitlers Helfershelfer an der Shoah vor Gericht zu stellen, die bisher noch nicht strafrechtlich belangt waren, wird von den vielen Widerständen erfahren, die Bauer dabei, auch von höchster politischer Ebene, widerfuhren. Bauer war es, der den israelischen Geheimdienst 1957 auf die Spuren Adolf Eichmanns in Argentinien setze, was letztlich zu dessen Entführung nach Israel und dem dortigen Prozess führte. Die deutsche Politik wollte es, aber konnte es letztlich nicht verhindern. Eichmann war mitverantwortlich für die Ermordung von 6 Millionen Menschen im von Deutschen besetzten Europa. Ich kann mich dunkel an Radiosendungen über den Prozess erinnern, ohne dass in meiner Familie darüber gesprochen wurde.
Dass ehemalige Konzentrationslager zu Gedenkstätten (Beispiele: Auschwitz 1947, Buchenwald 1957, Dachau 1965) umgewandelt wurden und hier die Orte des Grauens als Teil der Aufarbeitung der Shoah besichtigt werden konnten, rückte erst in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ins Bewusstsein der Geschichtspädagogik. Zuvor fuhren Abiturklassen nach Westberlin, vornehmlich um sich den Brennpunkt des geteilten Deutschlands anzuschauen. Der Ort, damals Hauptquartier der Gestapo, Zentrale des Sicherheitsdienstes der SS und des Reichsicherheitshauptamtes, wo heute die Dauerausstellung ‚Topographie des Terrors‘ zu sehen ist, wurde bis in die Mitte der 60er Jahre als Auto-Fahrübungsgelände und als Schutthalde der Kreuzberger Flächensanierung genutzt. Seit 1978 gab es Pläne zur Errichtung einer Gedenkstätte. Zur 750-Jahr-Feier Berlins fand eine erste Ausstellung zur Topographie des Terrors statt, ab 1992 bestand eine Stiftung zum Bau eines Dokumentationszentrums. Im Jahre 2010, 65 Jahre nach Kriegsende, wurde das Zentrum eröffnet.
Zuvor hatte der Mauerfall 1989 die Möglichkeit eröffnet, bis dahin für Westdeutsche nur sehr schwierig, Zugänge zu den Orten des Grauens zu finden. Von da ab war es, wenn gewollt, sehr einfach, Buchenwald oder gar Auschwitz zu besuchen.
Seit Mitte der 80er Jahre gehört das Thema ‚Shoah‘ bundesweit auch in die Lehrpläne der Schulen. Dieses wurde und wird jedoch sehr unterschiedlich, auch mit unterschiedlicher Intention und in verschiedenen Zusammenhängen und pädagogischen Zielen behandelt. Ein Besuch von Schulklassen weiterführender Schulen in Auschwitz ist seit einiger Zeit zB. in NRW verpflichtend, in anderen optional.
Im Jahre 1948 wurden in München, Stuttgart und Wiesbaden Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gegründet. Auch dies geschah auf Empfehlung und Betreiben der Amerikaner. Heute gibt es bundesweit etwa 80 Gesellschaften. Sie setzten sich für ein besseres Verständnis zwischen Christen und Juden ein. Ihre Wirkung nach außen ist jedoch sehr begrenzt. Lediglich die jährliche Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit mit der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille wird im jährlichen Wechsel in ARD und ZDF gezeigt. Vor 10 Jahren noch live am Sonntagvormittag, wird heute nur noch eine Zusammenfassung am späten Sonntagabend ausgestrahlt. Damit überhaupt das öffentlich-rechtliche Fernsehen Interesse zeigt, liegt an der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille, weil die Auszeichnung ein möglichst prominentes Mitglied aus Politik oder Gesellschaft erhält, der für ein gewisses öffentliches Interesse sorgt.
Zur christlich-jüdischen Thematik sei angemerkt, dass es gerade die schon in der Kirche der ersten Jahrhunderte formulierte antijüdische Polemik und eine daraus entstandene antijüdische christliche Theologie war, die den sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Antisemitismus nicht nur begünstigte, sondern förderte. Bis heute, trotz verschiedener kirchlicher Erklärungen aus den letzten 40 Jahren hat sich am Antijudaismus in der breiten Theologenschaft nicht allzu viel verändert. Das Thema ‚Juden-Christen‘ ist in der Theologie und Kirche ein Nischenthema.
Daran konnten auch die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit wenig ändern, obwohl sie sich große Mühe gaben. Dazu gehörte auch, dass sie immer wieder Überlebende der Shoah zu Vortragsveranstaltungen einluden. Die Schilderungen der Erlebnisse dieser aus den Todeslagern entkommenen Männer und Frauen sollten aus der Betroffenheit heraus vor allem einen neuen Umgang mit Menschen jüdischen Glaubens und das immer wieder zu hörende ‚Nie wieder‘ im Bewusstsein der deutschen, nicht-jüdischen Gesellschaft stärken.
Erwähnt seien auch an dieser Stelle schon die Partnerschaften zwischen deutschen und israelischen Städten.
Ich fasse hier zusammen: Begann die sog. ‚Aufarbeitung‘ der Shoah in Deutschland sehr spät, also erst Jahrzehnte nach der Befreiung von Auschwitz, so hat sich das seit Beginn der 80er Jahre verändert1. Die Möglichkeiten, die Gedenkstätten in den ehemaligen Konzentrationslagern zu besuchen, sich in Literatur und Medien über den Genozid an den Juden zu informieren und Überlebende zu Wort kommen zu lassen und ihnen zuzuhören, sind vorhanden und wurden und werden genutzt.
3. Erinnerungskultur gegen kollektives Gedächtnis
Trotzdem kam Steinmeier Anfang des Jahres zu dieser oben erwähnten erschreckenden Feststellung.
Das heißt, dass die eben aufgezeigten Möglichkeiten einer ‚Aufarbeitung‘, und da gibt es über die von mir eben erwähnten unzählige mehr, nicht ausreichen, um das Verhalten in der breiten Masse der Gesellschaft zu verändern und dem immer wieder und auch in unseren Tagen erstarkten Rechtsradikalismus zu wehren. Psychologie und Soziologie müssten sich mit der Frage beschäftigen, weshalb eine Pädagogik, die Menschen dafür sensibilisieren und betroffen machen will, oftmals wenig erfolgreich ist, warum Menschen aus ideologischen, politischen und gesellschaftliche Gründen das Leben anderer Menschen vernichten.
An dieser Stelle erlaube ich mir wenige Hinweise, die ich hier aus verschiedenen Gründen nicht weiter ausführen kann: es gibt Ansichten und Urteile, die bewusst und unbewusst über Generationen hin tradiert werden. Hierfür wird in der Wissenschaft das Wort vom kollektiven Bewusstsein oder kollektiven Gedächtnis gebraucht. In dieses kollektive Gedächtnis haben sich Antijudaismus und Antisemitismus tief eingeprägt und wurden und werden bewusst oder unbewusst an die jeweils nächsten Generationen weitergegeben, oft ohne, dass sie kritisch hinterfragt werden.
So bin ich der Meinung, dass es auch nach 1945 bis in unsere Tage hinein immer einen latenten, vor verdeckter Hand oder offen ausgesprochenen Antisemitismus gegeben hat. Selbst in der heutigen Theologenschaft stelle ich immer wieder einen weit verbreiteten Antijudaismus fest. Judenfeindliche Sätze, die Johannes Paul II. aus der Karfreitagsliturgie streichen ließ, sind von Papst Benedikt XVI. wieder in die Liturgie aufgenommen worden.
Sich als Antisemit zu bekennen war und ist bis jetzt politisch wenig korrekt. Aber ich beobachte seit gut 15 Jahren, dass antisemitische Andeutungen und Aussagen immer gesellschafts- und salonfähiger, ja sogar als politisches Mittel provozierend eingesetzt werden, und dass die Scheu und die Scham, sich entsprechend zu äußern, deutlich abgenommen haben. Und die Wahlerfolge der AfD, vor allem in Thüringen, wo diese Partei von vielen nicht trotz Björn Höcke, sondern gerade wegen Höcke gewählt wurde, scheinen mir das zu bestätigen.
Ein zweiter Hinweis: ich habe oft den Eindruck gehabt, dass bei einigen Menschen, das Interesse, Überlebende zu hören oder Stätten des Terrors zu besuchen, weniger das Leid der Opfer im Vordergrund stand, sondern das voyeuristisch, fast schon beobachtend sadistisch zu nennende, beinahe hautnahe Erleben von Macht, von Gewalt, von Terror und Tod. Macht, Gewalt, Terror und Tod fasziniert Menschen immer wieder. Ich habe dafür das Wort vom ‚Tätertourismus‘ geprägt. In anderen Zusammenhängen spricht man von Katastrophentourismus. Der Soziologe Wolf Dombrowsky, Professor für Katastrophenmanagement an der Steinbeis Hochschule in Berlin, sagt im Blick auf Gaffer an Unfall- oder Terrororten, dass 90 Prozent der Leute sensationsgierig seien, die restlichen zehn Prozent sind betroffen. Ich frage, ob das nicht zumindest in Ansätzen übertragbar ist auf die hier behandelten Zusammenhänge?
Ein Drittes: nach wie vor gibt es in der deutschen Nachkriegsgeneration die Meinung, dass sie mit der NS-Diktatur und mit dem Völkermord an den Juden nichts zu tun gehabt habe. Eine Erinnerung beunruhigt. Und Unruhe möchte keiner. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit wird als rückwärtsgewandt beschrieben und störe das Bemühen um ein unbeschädigtes und unbelastetes Nationalgefühl.
Das heißt aber im Aufnehmen und in der Beantwortung einer meiner Fragen vom Anfang: es gibt keinen Bruch in der deutschen Erinnerungskultur. Dem Erinnern und Lernen aus der Shoah stand immer das kollektive Gedächtnis eines immanenten Antisemitismus entgegen. Dem ‚Nie Wieder‘ stand und steht ein ‚Weiter so!‘, eine fast ungebrochene antisemitische Grundhaltung in einigen Teilen der deutschen Gesellschaft, über Prozentzahlen möchte ich nicht spekulieren, entgegen. Es kann sein, dass die Shoah sie zu einem kurzfristigen Einhalten und Atemholen veranlasst hatte.
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4. Veränderte Bedingungen der Erinnerung
Trotz dieses meines eher pessimistischen bisherigen Resümees darf sich keiner entmutigen lassen, diesen revanchistisch antisemitischen Strömungen zu wehren. Wir müssen jeglicher Form von Antisemitismus, wo wir ihnen auch immer begegnen, heftigst entgegentreten und widersprechen. Wir müssen nach wie vor alles dafür tun, dass ein solches Verbrechen, wie das der Shoah, nie wieder geschehen darf.
Jedoch haben sich in den vergangenen Jahrzehnten, in denen auch vonseiten der politisch und in der Gesellschaft Verantwortlichen eine gesellschaftliche, geschichtliche, juristische, theologisch und politische Aufarbeitung vorangetrieben wird, die Bedingungen deutlich verändert. Seit 1999 hat sich der Bund an der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit (und des DDR-Kommunismus) durch die Gedenkstättenkonzeption beteiligt. Im Jahre 2008 wurde sie fortgeschrieben.
Inzwischen sind die KZs als Museen konserviert und von Pädagogen didaktisch aufbereitet worden. Medial auf der Höhe der Zeit, interaktiv wird die Geschichte der Shoah jeweils vor Ort den Besuchenden, fast könnte man sagen ‚aseptisch‘ und klinisch rein, schwarz-weiß oder nachcoloriert in Bild und teils mit Originalton dargeboten. Um überhaupt weiterhin das Interesse an den abscheulichen Taten der Nazis zu wecken und einer fiktiven Spielewelt gegenüber konkurrenzfähig zu bleiben, wird dies in unserer medial dominierten Welt seine Berechtigung haben. Die Frage, ob sich dies positiv oder negativ auf das ‚Nie wieder!‘ der Erinnerungsabsicht auswirkt, muss hier offen bleiben. Denn mediale Interaktion muss nicht unbedingt Nähe, Empathie und Betroffenheit und dadurch zu Verhaltensänderung anhalten.
Darüber hinaus wird es in absehbarer Zeit keine Überlebenden aus den Konzentrationslagern mehr geben, die von ihrem Erleben berichten könnten. Oft haben sie ihre Erinnerungen in Büchern dokumentiert. Das persönliche Erleben in Erzählungen jedoch war immer ungleich beeindruckender als es die Lektüre dieser Geschichten auch nur in Ansätzen sein könnte. Es bleiben aber die Kinder und Enkelkinder der Überlebenden. Manchmal haben die Eltern und Großeltern Kindern und Enkeln erzählt, was sie in den KZs erlebt haben. Oft aber war das Thema Tabu. Zu Hause wurde geschwiegen und keiner der Kinder oder Enkel wagte zu fragen. Denn zu wissen, wie schrecklich das Leben im KZ war und dass es wohl nur Zufall und Glück war, dass die Eltern oder Großeltern das alles auch erlebt und das Leid und den Tod in den KZs, die Zwangsarbeit und Todesmärsche überlebt hatten und nicht fragten, nicht fragen konnten und wollten oder durften, wurde in den Opferfamilien zum Trauma. Und dieses traumatische Schweigen zwischen den Generationen wurde weitergegeben an die zweite, dritte, ja vierte Generation, unter der die Familien teilweise heute noch leiden. Und wer versuchte zu verdrängen, wie Angehörige seiner Familie in der Shoah umkamen, oder wer auf sein Jude-Sein auch gerade deswegen nicht angesprochen werden möchte, den wird jedes Mal, wenn irgendwo in der Nähe oder in der Ferne antisemitische Angriffe auf jüdische Menschen oder Einrichtungen geschehen, die Erinnerung an seine Eltern oder Großeltern einholen, der wird sich seines Jude- oder Jüdin-Seins schmerzhaft wieder bewusst.
Auf der anderen Seite, nämlich auf der Seite der Tätergenerationen ist Ähnliches zu beobachten. Auch hier wurde an den Esstischen oder in den Wohnzimmer nicht darüber gesprochen, was vor allem die Väter oder Großväter im Krieg gemacht haben. Auch hier war das Thema Tabu. Es war ein Thema, das in der Öffentlichkeit, vor allem seit den `68 Jahren, diskutiert wurde. Zu Hause aber herrschte Schweigen. Die Fragen jedoch, die da waren, aber wurden oder durften nie gestellt werden. Sie begleiteten Kinder, begleiten die Enkel in einer doch oft beunruhigenden Art und Weise. Auch immer mit der Sorge, irgendwann könnte doch der Name des Vaters oder des Großvaters genannt werden oder ein Foto von ihm in einer Ausstellung oder Dokumentation zu sehen sein.
So ist bis heute die Beziehung zwischen der dritten, vierten Opfergeneration und der entsprechenden Tätergeneration eine sehr inkongruente.
Aber sie ist da, wenn auch oft verborgen. Aber es ist wichtig, diese Beziehung zu thematisieren und positiv zu gestalten und nicht so zu tun, als ob alles schon gesagt wurde und doch endlich ein Schlussstrich gezogen werden müsste. Denn ein Miteinander zwischen nachfolgenden Opfer- und Tätergenerationen kann nur im miteinander Erinnern geschehen, damit das Zusammenleben der Generationen gelingen kann.
Dem ‚Weiter so!‘ aus dem antisemitischen Kollektivgedächtnis muss das konstruktive Gespräch der nachfolgenden Generationen mit ihrem ‚Nie wieder‘ entgegen treten, gerade in einer Zeit salonfähig gewordener rechtsradikaler Sprüche und ihrer politischen Strukturen.
Dies vor allem, und hier komme ich zu einem dritten Punkt der sich veränderten Bedingungen einer Erinnerungskultur, in einer Gesellschaft, die sich in den vergangenen Jahren doch sehr stark verändert hat. In den 80er Jahren kamen sehr viele Deutsche aus den ehemaligen GUS-Staaten. Die einen waren von Geburt her Juden, wussten jedoch wenig oder gar nichts von ihrer jüdischen Tradition über die Shoah. Die Neuankömmlinge verhalfen den oft zahlenmäßig kleinen jüdischen Gemeinden in Deutschland zu neuem Leben. Hier galt es zunächst und ohne Frage zurecht jüdische Tradition zu vermitteln. Aber das Wissen um die Shoah gehört dazu. Denn das eine wie das andere ist heute Teil der Identität der bis vor Jahrzehnten zahlenmäßig kleinen jüdischen Gemeinden.
Die anderen Deutschen, die keine Juden waren und aus den GUS-Staaten kamen, hatten ebenfalls so gut wie keine Kenntnis über Nazi-Deutschland und seine Terrorherrschaft. Nach Sibirien oder Kasachstan verschleppt litten sie, gerade weil sie Deutsche waren. In kleinen Gemeinden pflegten sie ihre deutsche Identität und ihre Traditionen. Sie kamen nach Deutschland mit einem patriotischen Deutschlandbild frei von jeglicher Schuldfrage.
Dazu gesellten sich in den vergangenen 10 Jahren vermehrt Flüchtlinge und Asylbewerber aus eher muslimischen Ländern, oft aus Ländern, die Israel und den Juden sehr feindlich gegenüberstanden. Einigen ist es bis heute schwer zu vermitteln, dass der Kampf gegen jegliche Form von Antisemitismus zur deutschen Staatsräson2 gehört. Hier wird einer Erinnerungspädagogik in Schulen und Gesellschaft sehr schnell ihre Grenze aufgezeigt, so dass bisherige Methoden, die auf gewisse gesellschaftliche Übereinkünfte basieren konnten, neu überdacht werden muss.
Somit könnte vielleicht folgendermaßen der Bruch in der Erinnerungskultur beschrieben werden: zum einen gibt es die, die in ihrem antisemitischen Kollektivbewusstsein nach einem durch die Shoah bedingten kurzen Einhalten ihr ‚Weiter so!‘ propagieren und in rechtsradikalen Parteien und Strömungen ihr Zuhause finden, dann eine indifferente Haltung von nachfolgenden Täter- und Opfergenerationen, die immer noch im traumatischen Schweigen verharren, zum dritten, die von der Shoah überhaupt nichts wissen und nicht verstehen, welch deutliche Spuren sie in den jüdischen Gemeinden hinterlassen hat. Schließlich Menschen, die nach Deutschland gekommen und in religiös-nationalen Zusammenhängen groß geworden sind, in denen Israel und alle Juden Todfeinde waren.
5. Erinnern unter veränderten Bedingungen
5. 1 Die Würde des Menschen ist unantastbar
Nun stellt sich die Frage, wie eine Erinnerung an die Shoah mit dem Ziel, dass sich ein solches Geschehen nie wieder ereignen darf, unter den eben beschriebenen veränderten Bedingungen fortgesetzt bzw. neu gestaltet werden kann?
Als eine erste Antwort möchte ich feststellen, dass auch hier das Rad nicht neu erfunden werden muss.
In der Shoah geschah etwas, das keiner jemals gedacht hätte. Nazideutschland verfolgte und vernichtete Juden3 "jenseits von Konflikt, Gegnerschaft oder politischer Feindschaft" und handelte selbst gegen das Interesse an der eigenen Selbsterhaltung. Der 1946 in München geborene Historiker und Schriftsteller Dan Diner spricht hier vom ‚Zivilisationsbruchs‘. In der Shoah zerbrach alle Gewissheit einer ‚ontologischen Sicherheit‘.
Wie konnte das in dem Land geschehen, das als ‚Land der Dichter und Denker‘ bezeichnet wurde? Eine Antwort: weil die Menschenwürde nicht nur außer Kraft, sondern mit Füßen getreten wurde. Mit Menschenwürde verbinden wir die Vorstellung, dass alle Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Alter denselben Wert haben, nämlich die gleiche Würde haben. Die Würde des Menschen, so formuliert es das GG der BRD im ersten Artikel, ist unantastbar, sie ist ein unverletzliches und unveräußerliches Menschenrecht und eine Grundlage menschlicher Gemeinschaft.
Es war der römische Philosoph Cicero, der den Begriff der ‚Menschlichkeit‘ mit dem der ‚Würde‘ zusammendachte. Aber schon vor Cicero, im Judentum und aus diesem folgend im Christentum entwickelte sich der Begriff der Würde des Menschen aus der im Buch Genesis beschriebenen Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Und da das für alle Menschen gilt, leitet sich hieraus die Gleichheit aller Menschen vor Gott her. Aus dieser Gottesebenbildlichkeit lässt sich dann auch das Gebot zur Nächstenliebe, ja sogar zur Feindesliebe ableiten. ‚Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du‘ (3. Mose 19, 18b; Gal. 5, 14). Dieses Gebot verbindet Juden und Christen. Auch im Islam ist die Würde des Menschen4 fester Gegenstand des Glaubens. Anstelle von Nächstenliebe stehen im Islam jedoch Begriffe wie Recht, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.
Es ist richtig, dass viele Nazitäter und ihre Helfer vielleicht noch getaufte, aber nicht mehr praktizierende Christen waren, aber trotzdem stellt sich aus all diesen Gedanken heraus eine noch viel tiefer gehende Frage: wie konnte es zur Shoah in einem Land kommen, das nicht allein als das Land der Dichter und Denker bezeichnet wurde, sondern einen wesentlichen, auch inhaltlichen Beitrag für das sogenannte christliche Abendland leistete? Wie konnte es sein, dass in diesem sog. christlichen Abendland nicht ein Aufschrei der Kirchen durch das Land ging, als im 19. und frühen 20. Jahrhundert die sog. Rassentheorie großen Einfluss in Gesellschaft und Politik gewann?
Die Antwort ist einfach und erschreckend zugleich: weil weder die Kirchen noch die Religionen jemals die Worte der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen gleich welcher Konfession gelebt oder auch als für den/die andere, der anders ist, gelten ließen. Religionen und Konfessionen leben aus ganz verschiedenen Gründen aus einem exklusiven Verständnis, dass sie allein den richtigen Gott kennen würden, und dass allein sie wüssten, welcher Weg zu ihm der richtige sei, dass sie allein das Heil ‚gepachtet‘ hätten. Und alle, die anders glaubten oder ihren Glauben an Gott anders lebten, müssten entweder missioniert werden, damit auch sie den ‚richtigen‘ Gott verehrten und ihnen somit das Heil zukomme, oder, wie es in der Geschichte zwischen Religionen und Konfessionen oft vorgekommen ist, getötet werden, weil sie Gott lästerten oder leugneten. Diese Art von Mission mit Bibel und Schwert, oder besser gesagt Missionsversuchen, hat über Jahrhunderte viele Kulturen zerstört und unzählige Menschenleben gefordert.
Als sich, wie oben bereits erwähnt, der in den ersten christlichen Jahrhunderten in der christlichen Theologie innewohnte Antijudaismus mit der Rassenlehre des 19. Jahrhunderts verband, war der theologische und gesellschaftliche Weg bereitet, der direkt in die Shoah mündete. Sicher gab es auch außerchristliche Momente, die dies förderte, aber den Kirchen muss eine extreme Mitschuld an Auschwitz gegeben werden.
In seinen Gedanken über das Weltethos formulierte 1990 der katholische Theologe Hans Küng den Satz: kein Friede zwischen den Nationen ohne Frieden zwischen den Religionen.
Diesen Gedanken nehme ich auf und sage: wenn sich Religionen und Kirchen auf ihren Ursprung besinnen würden, nämlich auf Gott, gleich welchen Namen sie für ihn haben, auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen, auf die Würde jedes Menschen, so wie sie in der Erklärung der UN-Menschenrechtscharta von 1948 oder Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam von 1990 definiert wurde, und dahingehend ihren Einfluss auf Politik und Gesellschaft in ihren jeweiligen Staaten geltend machten, dann könnte es zu einem Geschehen wie das der Shoah nicht mehr kommen.
Keiner der in Erziehung und Wissenschaft tätig ist oder im Privaten als Vater oder Mutter Verantwortung trägt für die Erziehung von Kindern, muss warten, bis sich die Religionen oder Kirchen auf ihr grundlegendes Bekenntnis besinnen und miteinander Frieden schließen. Jeder und jede kann heute schon leben und weitergeben, dass die Würde des Menschen, egal ob religiös, ethisch oder humanistisch begründet, unantastbar und unverletzlich ist, damit dem Morden und Töten in der nahen und der weiten Welt Einhalt geboten wird. Die Grundsolidarität mit Menschen, weil sie Menschen sind, muss zum Grundkonsens einer Gesellschaft im Kleinen wie im Großen gehören.
Die Politiker jedes Staates bis hinein in die kleinsten politischen Einheiten in Ländern und Kommunen sind daran zu messen und immer wieder daran zu erinnern, inwieweit sie die jeweiligen Erklärungen zu den Menschenrechten in ihrem politischen Handeln beachten und umsetzen. Das fällt in demokratisch verfassten Ländern leichter als in andern politischen Systemen. Zivilcourage ist gefordert, dort hinsehen, dann aufstehen, wo die Würde eines Menschen in Wort oder Tat verletzt wird.
Der Respekt, die Achtung vor dem Leben des Menschen, des Menschen egal welchen Alters, welchen Geschlechts, welcher Herkunft oder Ethnie, des Menschen neben mir in der Nähe und der Ferne, der Respekt vor dem Menschen im Tun und Reden muss wieder ganz oben auf die Agenda der Erziehung in Familie, Schule und Gesellschaft gestellt werden. Nur so kann ein Miteinander, ein Zusammenleben in einer heute mehr als früher multikulturellen Gesellschaft gelingen. Das fängt im Kleinen und mit den Jüngsten an. Für eine Erziehung, die den Respekt vor dem Leben des anderen im Blick hat, ist es nie zu früh. Der Satz ‚Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr‘ hat an seiner Bedeutung bis heute nichts verloren. Missachtung und Respektlosigkeit vor der Würde oder dem Leben eines anderen muss von Anfang an, schon im Entstehen skandalisiert, öffentlich gemacht und im Zweifel auch strafrechtlich verfolgt werden.
Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog sprach einst davon, dass wieder ein Ruck durch die Gesellschaft gehen muss. Ja, dazu ist es an der Zeit: Respekt, Achtung vor der Würde des Menschen, die Grundsolidarität der Menschen untereinander müssen neu thematisiert und neu erlernt werden. Und gerade wenn wir an die Shoah erinnern, erinnern wir daran, welche Folgen die Missachtung der Würde eines Menschen haben kann. Denn in der Missachtung der Würde des Menschen, in der Respektlosigkeit dem Leben des anderen, des Menschen neben uns gegenüber lag und liegt der Anfang jeglicher Grausamkeit.
5.2 Besuchen und begegnen
Darüber bleibt es aber weiterhin notwendig, Gedenkstätten, die Leid und Tod von Millionen von Menschen dokumentieren, zu besuchen. Denn auch Jahrzehnte nach der Befreiung von Auschwitz sind es vor allem diese Orte, die die Erinnerung an das unermessliche Leid der Shoah wachhalten. Fachkundige Führungen sollten nicht nur die geschichtlichen Informationen vertiefen, sondern Hilfen zur Reflektion bieten, damit sich Betroffenheit in kreative Gegenwarts- und Zukunftsgestaltung für ein friedliches Miteinander der Menschen untereinander verwandeln kann. Nur so kann eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geschlagen werden.
Ideal ist, und das ist die Intention der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz, wenn der Besuch einer KZ-Gedenkstätte mit der Möglichkeit einer mehrtätigen Begegnung Jugendlicher verschiedener Länder und Religionen verbunden werden kann.
Der Initiator der deutsch-polnischen Bemühung um eine Internationale Jugendbegegnungsstätte in der Nähe der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau im Januar 1970, Volker von Törne, dessen Vorschlag im Dezember 1986 in Oswiecim Wirklichkeit geworden ist, hat dazu geschrieben: „Aufgabe dieser Jugendbegegnungsstätte wird es sein, junge Menschen aus aller Welt, die Auschwitz besuchen, aufzunehmen und ihnen die Gelegenheit zu geben, auf dem Hintergrund von Geschichte die brennenden Fragen nach Verständigung und Versöhnung zwischen den Völkern zu diskutieren. Denn ohne Geschichtsbewusstsein, das auch das Wissen um Auschwitz einschließt, ist Dienst am Frieden nicht möglich.“5
Abgesehen von vereinzelten Initiativen wird dem ‚Lernen durch Begegnung‘ nach wie vor in der Pädagogik so gut wie kein Platz eingeräumt. Mathematik kann ich durch ein Buch oder ein entsprechendes digitalisiertes Programm lernen. Aber die Fragen: wer ich bin, wer ich in Beziehung zum anderen bin, wie ich mich zu anderen Menschen verhalte und sie sich zu mir, das wird mir kein Unterrichtender mit Hilfe noch so ausgeklügelter ethischer Konzepte vermitteln können. Dazu braucht es die konkrete Begegnung mit dem anderen. Denn es geht um Beziehung, Beziehung, die gelingt oder nicht. Aber damit sie gelingen kann, brauche ich die Möglichkeit, mich mit einem anderen mit all seinen Fragen, seiner Geschichte, seinem Leben, mit all meinen Fragen, meiner Geschichte, meinem Leben, mit all seiner Sorge und Angst, seiner Freude und Fröhlichkeit und mit all meiner Sorge, Angst, Freude und Fröhlichkeit auszutauschen, mit ihm in Beziehung zu treten.
Und das gelingt nur durch Begegnung, durch, wenn auch nur für eine gewisse Zeit, ‚Leben teilen‘: d. h. mich mitteilen, dem anderen zuhören, sein Leben teilen, Geschichte und Geschichten teilen, vor allem Familiengeschichten, Lebensgeschichten teilen. Wenn in solchen Begegnungen unter fachlich didaktischer, psychologischer oder supervisueller Begleitung dem ‚Leben und Geschichten teilen‘ in eben beschriebenen Zusammenhang Raum gegeben wird, dann hat ein ‚Nie wieder!‘ große Chancen, wenn auch zunächst im Kleinen, Gestalt zu gewinnen. Denn dem Menschen, den ich kennen gelernt habe in all seinen Lebenszusammenhängen, dem werde ich den Respekt erweisen, den er verdient, und ihm und seiner Familie in Achtung begegnen.
Gerade in dem immer noch gespannten Verhältnis von Christen und Juden, in der schwierigen Beziehung zwischen Christen, Muslimen und Juden wären Begegnungen, Leben teilen, sich mitteilen, das ‚Sich-Vertraut-machen‘ mit Lebensgeschichten der anderen von großer Wichtigkeit.
Dabei ist es nicht so wichtig, ob oder wie intensiv die einzelnen ihren jeweiligen Glauben praktizieren. Oftmals erinnere ich mich aber gerade in der Begegnung und im Gespräch mit anderen an eine lange vergessene oder bewusst verdrängte, verleugnete oder abgelehnte Tradition oder gar nicht bewusste Identität, auf die mich gerade der andere aufmerksam macht.
Ich erinnere an das Märchen ‚Der kleine Prinz‘ von Antoine de Saint-Exupéry: sich vertraut machen bedeutet, das anonyme Nebeneinander von Menschen durch langsames Näherrücken zu durchbrechen und die Einzigartigkeit des anderen in seinem Sosein zu erkennen. Und für das, was wir uns vertraut gemacht haben, sind wir ein Leben lang verantwortlich, d. h. Sorge tragen für den, den ich mir vertraut gemacht habe, ihn begleiten, ihn beschützen vor verbalen und physischen Angriffen.
5.3 Im Austausch ‚Leben teilen‘
Eine noch intensivere Auseinandersetzung mit dem Leben des anderen, und ich bin mir der Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung bewusst, ermöglichen ein Schüleraustausch oder ein Jugendaustausch, wie es zB. ‚ConAct – Koordinationszentrum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch‘ entwickelt hat. Jugendliche leben für eine gewisse Zeit in Gastfamilien und können so am Leben der anderen teilnehmen. Schulpartnerschaften zwischen Schulen in Israel und in Deutschland unterstützen diese Arbeit, Städtepartnerschaften zwischen Deutschland und Israel sind ebenfalls ein geeignetes Instrument, solche Beziehungen zu pflegen. Oftmals jedoch sind sie vereinsmäßig organisiert und darum eher wie viele Vereine geschlossen ohne große Wirkungen nach außen.
Ein solcher Austausch zwischen Jugendlichen verschiedener Länder, Kulturen oder Religionen muss sich aber nicht auf internationale Beziehungen beschränken. In jeder großen Stadt gibt es die jeweiligen Einrichtungen, die einen solchen Austausch mit kleinen Wegen, sozusagen in der Nachbarschaft organisieren könnten. Sehr schnell verschwanden ab 1933 die jüdischen Nachbarn aus den Straßen, die jüdischen Kinder aus den Schulklassen. Und keiner fragte, warum, wohin, wozu?
Den jüdischen Nachbarn entdecken, gegenseitige Schulbesuche wären ein geeigneter Ort der Auseinandersetzung mit der jeweils eigenen Geschichte und der der Eltern und Großeltern. Es ist schwer, Traumata aufzulösen und zu bearbeiten. Ein Gespräch jedoch, bei dem ich dem anderen in die Augen schauen kann, im Erzählen, im Zuhören, könnte ein erster Schritt sein. Denn Nähe schafft Vertrauen.
Aber auch eine solche Begegnungs- und Austauschmöglichkeit bedarf der sehr sensiblen Vorbereitung und Supervision.
6. Abschluss
Es mag sein, dass der erste und darstellende Teil meiner Ausführungen sehr pessimistisch und negativ, der letzte Teil hingegen zu euphemistisch und idealistisch klingt. Es sind jedoch persönliche Eindrücke und Beobachtungen, die ich über Jahre als Synodalbeauftragter für das Jüdisch-Christliche Gespräch und als Vorsitzender einer Christlich-Jüdischen Gesellschaft machen konnte. Vor allem aber ist es mein Versuch, deutlich zu machen, dass das ‚Nie wieder!‘ einem ‚Weiter so!‘ nur durch eine versöhnende Begegnung auch durch Erinnerung wehren kann.
ANMERKUNGEN
1 Aber noch 1997 ergab eine Umfrage, dass jeder fünfte Jugendliche in Deutschland mit dem Wort Auschwitz nichts verbinden konnte. Zwei Drittel wussten weder, wo Auschwitz liegt, noch wie viele Menschen in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Ob eine Umfrage heute andere Ergebnisse erbringen würde, mag ich bezweifeln.
2 Unter Staatsräson versteht man einen Grundsatz, nach dem der Staat sein Interesse auch unter Umständen unter Verletzung des Rechts Einzelner (zB. das Recht auf freie Meinungsäußerung) durchsetzen kann, wenn dies im Sinne des Staatswohls für unbedingt notwendig erachtet wird.
3 Was ich an dieser Stelle über die Shoah schreibe, gilt in gleicher Weise für die Bekämpfung jeglicher Erscheinungsformen von Rassismus Antiziganismus, Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung und Formen von Gewalt.
4 Als eine Belegstelle wird Sure 17 Vers 70 angesehen: "Nun haben wir fürwahr den Kindern Adams (Menschen-)Würde verliehen [...]"
5 Aus der Präambel der Satzung der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz.
Der Autor
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wurde 1953 in Koblenz geboren, studierte in Wuppertal und Bonn evgl. Theologie. Von 1982 war Banse Gemeindepfarrer in Adenau/Eifel, Milano/Italien, Hamm an der Sieg und wieder Adenau/Eifel. Hier beendete er seinen aktiven Dienst im April 2019. Von 1998 bis 2012 war er geschäftsführender Vorsitzender der Oberbergischen Gesellschaft der Christlich-Jüdischen Gesellschaft. In den vergangenen Jahren hielt Banse Vorträge und veröffentliche zahlreiche Bücher und Aufsätze in Italien und Deutschland zu christlich-jüdischen, exegetischen, theologischen und gesellschaftspolitischen Themen.
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