ONLINE-EXTRA Nr. 83
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Vor wenigen Tagen gedachte und erinnerte man vielerorts an die Zerstörung der Synagogen in Deutschland vor 70 Jahren, die mit den einhergehenden Gewalttaten an jüdischen Menschen den Auftakt zur geplanten Vernichtung des jüdischen Volkes darstellten. Bei einer entsprechenden Gedenkstunde sprach zu diesem Anlass in der westfälischen Universitätsstadt Paderborn der katholische Theologe Hubert Frankemölle, u.a. Vorstandsmitglied im Deutschen Koordinerungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR) und langähriges Mitglied im Gesprächskreis Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK).
Frankemölles Rede ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Für einen Theologen keineswegs selbstverständlich versteht er es, die theologische Reflexion zu verbinden mit der konkreten Benennung von Konflikten und Problemen, die sich in Gesellschaft, Theologie und Kirche im Zusammenhang einer Erinnerung und verantwortlichen Aufarbeitung der Vergangenheit stellen. Entgegen dem oftmals verschleiernden Charakter wohlgefälliger Sonntagsreden zeichnet sich seine Rede durch eine klare Sprache aus, in der deutlich wird, dass eine verantwortliche Erinnerung nicht rückwärtsgewandt bleibt, sondern in die Mitte politischer, ethischer und theologischer Probleme der Gegenwart hinein führt.
COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Wiedergabe seines Vortrages an dieser Stelle!
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Online-Extra Nr. 83
Am 9. bzw. 10. November 1938 – also vor genau 70 Jahren – brannte hier in Paderborn wie an 249 anderen Orten in Deutschland die Synagoge, das jüdische Gotteshaus. Der Gestapo-Chef Heydrich meldete an Göring am 11. November 1938 die Zahl von 267 zerstörten Synagogen und ergänzte: „tatsächlich war dies nur ein Bruchteil der zerstörten Synagogen“.1 Neben der Verwüstung der Synagogen wurden nach heutigem Wissen „bei dem generalstabmäßig durchgeführten ‚Rachefeldzug’ der SA ... 91 Menschen ermordet ..., 7500 Geschäfte und Wohnungen jüdischer Bürger geplündert und zerstört und 25 000 Juden in die Konzentrationslager im Reich eingeliefert. ... Für die Wiederherstellung der mehrere Millionen RM betragenden Schäden mussten die Juden selbst aufkommen ..., zudem mussten sie eine ‚Sühneleistung’ vom 1 Mrd. RM aufbringen, während ihnen gleichzeitig ihre Geschäfte und Handwerksbetriebe weggenommen, d.h. ‚arisiert’ wurden.“2
Dieser barbarische, von Staats wegen angeordnete Akt in aller Öffentlichkeit war das Ende einer jahrelangen Diskriminierung jüdischer Mitbürger und zugleich der Beginn dessen, was im NS-Jargon „Endlösung“, im Englischen „Holocaust“, d.h. Vollbrandopfer, im Hebräischen Schoa, d.h. Vernichtung genannt wird. Am Ende sind circa 6 Millionen ermordete Jüdinnen und Juden in Europa zu beklagen, eine unvorstellbare Zahl. Auch die lakonische bei der Befreiung von Auschwitz durch sowjetische Truppen am 27 Januar 1945 gemachte Feststellung sprengt jede Vorstellung des Grauens: die sowjetischen Truppen „konnten noch 7000 Überlebende befreien. In der Gerberei lagen 7t Menschenhaar.“3
Dieses millionenfache Leid ist unvorstellbar, es kann emotionslos machen. Um dem entgegenzuwirken, werden bei jeder Gedenkstunde in Paderborn am Ende die Namen aller ermordeten Paderborner Jüdinnen und Juden verlesen, um den Ermordeten wenigstens ihren Namen zu geben. Daher sind auch ihre Namen in den Bronzetafeln auf diesem von Per Kirkeby gestalteten und erst 1993 fertig gestellten Mahnmal verewigt, da es für sie keinen Friedhof mit Grabsteinen gab. Lange und kontrovers hat man damals um einen angemessenen Standort des Erinnerns gerungen. Angeregt hatte ein repräsentatives Mahnmal (anstelle des unscheinbaren Findlings im Schatten des Nachbarhauses) Jenny Aloni im September 1987 – mit sensibler Zurückhaltung, aber dennoch unzweideutig. Lakonisch notiert sie auch am Sonntag, dem 7.6.1987, in ihr Tagebuch: „Haben in P. jüdisch-christliche Vereinigung gegründet, ein bisschen spät.“4 Dem kann man nicht widersprechen, wie überhaupt das öffentliche, offizielle Gedenken in Paderborn spät angefangen hat. In Vorbereitung ihres Besuches in Paderborn anlässlich ihres 70. Geburtstages (7.9.1917) am 6. September 1987 schreibt die Kulturpreisträgerin von 1967 in einem nicht veröffentlichten Teil ihres Tagebuches am 29. August 1987: „Habe etwas Angst“. Warum wohl?
Die Verlesung der Namen der ermordeten Paderborner Jüdinnen und Juden berührt mich in jedem Jahr tief, wie ich zugeben muss – und viele andere erfahren dies, wie ich weiß, genauso, wenn sie von der Deportation ganzer Familien mit dem dazugehörigen Lebensalter ihrer Mitglieder hören: angefangen von Mirjam Rosenthal mit vier Jahren bis zu Fanny Rosenthal mit 82 Jahren. Das, was geschah, war und ist singulär. Das mahnende Wort zur Notwendigkeit des Gedenkens aus dem biblischen Buch der Klagelieder, das auf der zweiten Tafel in Hebräisch und Deutsch steht, fordert eben dazu auf: „Ihr alle, die ihr vorübergeht, kommt und seht, ob ein Schmerz sei wie dem Schmerz, den man mir angetan.“ (Klgl 1,12)
Besonders Einzelschicksale bewegen. Daher haben meine Vorredner in den beiden vergangenen Jahren, Frau Dr. Naarmann, der die Stadt Paderborn sehr viel verdankt, damit die Geschichte der Juden in Paderborn nicht verdrängt wird und in Vergessenheit gerät, und Günter Bitterberg eindrucksvoll an die Opfer, an jüdische Einzelschicksale aus der Stadt und aus dem „Jüdischen Umschulungslager“ „Am Grünen Weg“ erinnert. Eben dieses Ziel verfolgt auch mustergültig die am letzten Sonntag eröffnete Ausstellung im Museum für Stadtgeschichte am Beispiel der Familie Kosses.
Ich möchte in diesem 70. Jahr des Gedenkens an die Reichspogromnacht an den Schlussvers aus dem Buch der Klagelieder anknüpfen und als katholischer Theologe reden über den „Schmerz, den man mir angetan hat.“ Wer hat hier wem etwas angetan? Wer ist „man“? Ich möchte die traditionelle Blickrichtung von den Opfern zu den Tätern ändern und bin mir bewusst, wie psychologisch schwierig dies ist. Es geht um eine Wahrheit, die bitter ist. Wie bittere Medizin muss man sie hören.
Ich knüpfe an ein Wort von Elie Wiesel, dem Überlebenden der Lager Auschwitz und Buchenwald, dem bekannten Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger von 1986 an. Er schreibt 1983: „Wenn die Opfer mein Problem sind – die Mörder sind es nicht! Die Mörder sind das Problem anderer, nicht das meinige. Falls ich versuchen könnte zu verstehen – aber das wird mir nie gelingen -, weshalb mein Volk Opfer wurde, so werden andere Leute verstehen müssen, oder den Versuch machen müssen zu verstehen, warum die Mörder Christen – sicher schlechte Christen, aber doch Christen – waren.“5
Diese Frage unterscheidet das deutsche und christliche Gedenken am 9. November von allen anderen Toten-Gedenktagen. Erinnert man am Volkstrauertag, der seit 1952 vor allem zum Gedenken an die „Toten zweier Kriege an den Fronten und in der Heimat“, mittlerweile ausgeweitet auf „alle Toten der Kriege und der Gewaltherrschaft“ (so lautet die Überschrift zur „Landesfeier“ zum Volkstrauertag von NRW am 15.11.2008 im Dom zu Paderborn) begangen wird, so ist damit das unvorstellbare Leid, das Jüdinnen und Juden ohne Krieg (!) in Deutschland von deutschen Mitbürgern seit 1933 bis zum Novemberpogrom 1938 und bis 1945 angetan wurde, nicht einmal im Ansatz erfasst. Was hatten die jüdischen Mitbürger ihren christlichen Mitbürgern in Paderborn getan? Statt Krieg gab es bis dahin in der Regel friedliche Nachbarschaft. Warum konnte der Novemberpogrom und die fast vollständige Vernichtung des europäischen Judentums geschehen? Wie konnten Christen Mörder werden? Es waren ja nicht einige wenige „Unbekannte“ „von auswärts“, wie es ständig in den Akten heißt. Bei einer Zahl von 100.000 bis 300.000 an den NS-Morden direkt Beteiligten kann man so entlastend kaum reden. Der Antisemitismus vor 1938 kam und „der Judenhass [heute: HF] kommt aus der Mehrheitsgesellschaft“, diese „braucht Juden als Projektionsfläche.“6 Für uns Deutsche, noch mehr für uns Christen in Deutschland ist der 9. November ein Tag der Besinnung, der Trauer und der Scham.
HUBERT FRANKEMÖLLE
Vorgeschichte - Verlauf - Auswirkungen
(4. Jhd. v. Chr. - 4. Jhd. n. Chr.)
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Soweit die Verfasser der Schriften im Neuen Testament und in der frühen Kirche christliche Juden waren, verstanden sie sich weiterhin als Mitglieder der großen jüdischen Familie. Die Frage, wann sich wer von wem in welchem Sinn getrennt hat, ist damit eine offene Frage. Keine Frage ist es, dass Juden und Christen trotz aller Differenzierungs- und Trennungsprozesse im 1. bis 4. Jh. n.Chr. die geschichtlich vorgegebenen gemeinsamen Glaubensgrundlagen für die eigenen Identität stärker beachteten.
Adolf Hitler behauptet bereits 1925 in „Mein Kampf“: „Ich tue nur, was die Kirche seit fünfzehnhundert Jahren tut, allerdings gründlicher.“7 - Dem Verbot der Ehe und des geschlechtlichen Verkehrs zwischen Christen und Juden in der Synode von Elvira (306) entspricht das Gesetz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935; Die Parallelen – auch im Hinblick auf die zunehmende Entrechtung, Ausgrenzung und Verfolgung der Juden in Paderborn10 – sind noch zahlreicher, als hier angedeutet werden kann. Die von Hitler behauptete monokausale religiöse Begründung für die Verbrechen der nationalsozialistischen Barbaren teile ich jedoch nicht. Es bleiben aber Stereotypen der christlichen Judenfeindschaft, auch wenn es Länder und Epochen gab, in denen sie nicht reale Politik wurden. „Einzelne haben sich schuldig gemacht, aber auch die Kirche selbst als verfasste Glaubensgemeinschaft. Bei einer ehrlichen Gewissenserforschung ist an die Beschlüsse des vierten Laterankonzils (1215), des Konzils von Basel (1434) oder des Konzils von Florenz (1442) mit ihren judenfeindlichen Bestimmungen zu erinnern. Angesichts dieses andauernden Antijudaismus konnten die mehrfach von päpstlicher Seite ergangenen Erlasse zum Schutz der Juden die Vorwürfe der angeblichen Ritualmorde, der Brunnenvergiftungen und Hostienschändungen, aber auch Pogrome nicht verhindern. In allen Jahrhunderten ging es nicht nur um ein Fehlverhalten von kirchlichen Amtsträgern, sondern auch um strukturelle Regelungen bis hin zur Zwangspredigt und Errichtung jüdischer Wohnviertel (Ghetto) in mittelalterlichen Städten. Am Ende des Mittelalters standen Zwangsbekehrungen oder Vertreibungen der Juden aus mehreren christlichen Ländern, z.B. aus Spanien (1492) und Portugal (1496). In diesem lang andauernden und praktizierten Antijudaismus bildeten die Kreuzzüge einen furchtbaren Höhepunkt. Damals wurden Tausende Juden getötet, Synagogen zerstört, ihre Heiligen Schriften verbrannt und ihr Eigentum geraubt. Nicht selten nahmen Christen auch ihre Karfreitags-Liturgie zum Anlass, gegen ihre jüdischen Mitbürger gewaltsam vorzugehen.“12 Die Frage stellt sich unausweichlich: Warum haben die Christen den Angriff auf das Judentum nicht als Angriff auf das verstanden, was ihnen selbst heilig war und ist? Elie Wiesel formulierte für uns Christen, vor allem für uns Theologen zwei elementare Thesen:
So ungeheuerlich diese Behauptung zunächst klingen mag, sie ist auch das Ergebnis sorgfältiger Forschungen zur Geschichte der christlichen Kirchen seit dem 4. Jh., als der römische Staat die christliche Religion zur Staatsreligion machte. Man kann dies den Sündenfall der Kirchen bezeichnen. Raul Hilberg hat in seinem Standardwerk „Die Vernichtung der europäischen Juden“ die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik aufgearbeitet und die antijüdischen Maßnahmen im Kanonischen Recht der Kirche zu den antijüdischen Maßnahmen der Nazis parallelisiert.8 Einige Beispiele seien genannt:
- der Vorschrift der Synode von Clermont (535), nach der Juden es nicht erlaubt ist, öffentliche Ämter zu bekleiden, entspricht das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933;
- der Verbrennung des Talmud und anderer jüdischer Schriften, beschlossen auf der 12. Synode von Toledo (681), entsprechen die Bücherverbrennungen „wider den undeutschen Geist“ im Jahre 1933; allein in der Pogromnacht 1938 wurden 15 000 Tora-Rollen, die den ersten und grundlegenden Teil der christlichen Bibel bilden, vernichtet.
- nach dem 4. Laterankonzil (1215) mussten Juden an ihrer Kleidung ein deutlich sichtbares Zeichen tragen; diesem Gebot folgte die Verordnung vom 1. September 1941 zum Tragen des gelben Sterns;
- den Erlass durch das Konzil von Basel (1434), dem zufolge Juden keine akademischen Grade erwerben durften, nimmt das Gesetz gegen Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen vom 25. April 1933 auf;
- was den Aufruf zur Zerstörung und Vernichtung aller Synagogen „mit Feuer, Schwefel und Pech“ (so Luther am Ende seines Lebens) angeht, sei lediglich an die acht antijüdischen Predigten des Johannes Chrysostomus (gest. 407) im Osten und an die Schrift von 1543 „Von den Jüden und ihren Lügen“ des späten Martin Luther (gest. 1546) im Westen erinnert. Es waren keine Ausnahmen, wie die Begründung zur Plünderung und Zerstörung einer Synagoge durch Ambrosius, Bischof von Mailand, im Jahre 393 bestätigt. Zerstörungen von Synagogen sind im 4. Jh. für Rom, Norditalien, Alexandrien, Antiochien und Edessa belegt. Zahlreiche Marienkirchen – auch in Deutschland – wurden auf den Ruinen von zuvor zerstörten Synagogen aufgebaut.9
Ein Aspekt sei noch eigens betont, der bei der Frage der Schuldverstrickung etwa der katholischen Kirche (aber auch der Wehrmacht11) in den vergangenen Jahren eine wichtige Rolle spielte. Allzu entschuldigend sprach man von der Mitschuld einzelner Christen, von einigen „Söhnen und Töchtern der Kirche“. Gegen solche Vatikanischen Formulierungen erklärten wir vom Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken im Jahre 2002:
„• Wenn Jesus in dieser Zeit gelebt hätte, wäre er als Opfer in die Gaskammern gekommen, da er Jude war.
• In Auschwitz ist nicht das Judentum, sondern das Christentum gestorben.“13
HUBERT FRANKEMÖLLE
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In ihrer Erklärung "Dabru Emet" fordern amerikanische jüdische Verfasser in acht Thesen auf, die tief gehenden positiven Entwicklungen im Christentum und den einhergehenden Wandel in den christlich-jüdischen Beziehungen wahrzunehmen und anzuerkennen. Im vorliegenden Band versuchen namhafte Referenten, alle seit Jahren im christlich-jüdischen Dialog engagiert, einen Beitrag zu den einzelnen Thesen zu leisten und Impulse zu setzen.
Ein viel zitiertes Wort des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker „Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages lautet: „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“14 Ebenso gilt: Die Reichpogromnacht am 9./10. November ist auch und vielleicht nicht zuletzt die Konsequenz der Jahrhunderte langen antijüdischen Theologie und des antijüdischen Verhaltens der christlichen Kirchen. - Paderborn und Ostwestfalen-Lippe sind – was Rechtsradikalismus und Antisemitismus betrifft – keine „heile Welt“. Ich übergehe die Agitationen der rechtsradikalen Organisationen wie die „Freie Kameradschaft Schaumburg-Lippe“ (mit ihrer Kundgebung am 28. April 2007 in Paderborn), der „Heimattreue Deutsche Jugend“ oder des „Collegium Humanum“. Haben alle politischen Parteien in der Auseinandersetzung genug „Flagge“ gezeigt“? 20% der Bundesbürger sind konstant fremdenfeindlich und antijüdisch eingestellt (ohne Juden zu kennen). Dies sollte alle Pädagogen und Politiker, aber auch die Verantwortlichen in den Kirchen hellhörig machen. Mir geht es heute in erster Linie um die Kirchen. Ich frage: - Ist es schon wieder an der Zeit, dass nicht nur evangelikale Richtungen in den evangelischen Kirchen zur Judenmission aufrufen, sondern auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) meint, sich nicht davon distanzieren zu dürfen, da „Mission zum Kerngeschäft gehört“, die Judenmission eingeschlossen?23
Diese Mitschuld der christlichen Kirchen an der Schoa ist eine bedrückende historische Tatsache. Sie wurde in den vergangenen Jahrzehnten auch offiziell von den christlichen Kirchen anerkannt, wenn auch von den Christen auf der Gemeindeebene wenig wahrgenommen. 1980 erklärte die Evangelische Kirche im Rheinland als Voraussetzung für die Erneuerung „die Erkenntnis christlicher Mitverantwortung und Schuld an dem Holocaust, der Verfemung, Verfolgung und Ermordung der Juden im Dritten Reich.“15 Auf katholischer Seite ist vor allem zu erinnern an den Beschluss „Unsere Hoffnung. Ein Bekenntnis zum Glauben in dieser Zeit“ der gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland vom November 197516, an das Wort der deutschsprachigen Bischöfe „Die Last der Geschichte annehmen“ von 1988 zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome17 und nicht zuletzt an das große Schuldbekenntnis am ersten Fastensonntag in St. Peter in Rom unter Papst Johannes Paul II.18 Der Papst und die Kardinäle der Kurie formulierten: „Unser Schmerz sei ehrlich und tief. Und wenn wir in Demut die Schuld der Vergangenheit betrachten und unser Gedächtnis ehrlich reinigen, dann führe uns auf den Weg echter Umkehr.“19
Gewissenserforschung, öffentliches Anerkennen der öffentlichen Schuld, Bitte um Verzeihung, neues Verhalten zu den Juden (traditionell „Genugtuung“ genannt): nur so kann von Gott die Vergebung der Schuld erhofft werden. Diese Aspekte in dieser Reihenfolge gehören seit dem Trienter Konzil zum Bußakt der katholischen Kirche.
Mit der selbstgerechten Aufrechnung von Geschichte haben meine Überlegungen nichts zu tun. Auch in Paderborn gab es in der NS-Zeit Christen, die sich wie der Vikar an der Herz-Jesu-Kirche, Hermann Bieker, für Juden einsetzten und dafür ins KZ gingen, es gab aber auch den ordentlichen Professor der Moraltheologie an der Philosophisch-Theologischen Akademie in Paderborn, Dr. Joseph Mayer, der als Spitzel für die Gestapo tätig war und 1939 über das Problem der Euthanasie für die Gestapo ein Gutachten erstellte.20
Nicht nachzuvollziehen ist für uns heute etwa ein Foto aus dem Jahre 1900 in der Ausstellung im Adam-und-Eva-Haus, aufgenommen vom Domturm Richtung Osten. Die Unterschrift lautet: Blick auf die Busdorfkirche und das Vinzenz-Krankenhaus; ein Drittel des Fotos mit der Synagoge wird in der Bildunterschrift unterschlagen. Nicht nachzuvollziehen ist für uns heute auch die Nichtbeachtung des Schicksals der jüdischen Mitbürger in den „Erinnerungen“ des kirchlich verdienstvollen Dekanatsjugendseelsorgers Augustinus Reineke aus dem Jahre 1987; zum Reichspogrom 1938 findet sich kein Wort.21
Als Theologe und Historiker bin ich mir bewusst, dass es nicht um irgendwelche Schuldzuweisungen gehen kann. Wir können das Verhalten von Menschen damals nicht mit dem Wissen und den ethischen Maßstäben von heute messen. Wir können und müssen jedoch die oft erhobene Forderungen „Keine Verdrängung!“, „Nie wieder!“ oder „Wehret den Anfängen!“ mit Leben erfüllen. Sie nur feierlich zu proklamieren, ist eine hohle Phrase. Wir haben uns selbst den Spiegel vorzuhalten, unser Gedächtnis zu reinigen und entsprechend zu handeln. Als katholischer Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit kann ich daher vor dem Hintergrund der deutsch-jüdischen und christlich-jüdischen „Zergegnungsgeschichte“ (Martin Buber) es bei diesem allgemeinen Aufruf nicht belassen; ich will zu einigen lokalen und kirchlichen Fakten und Entwicklungen nicht schweigen:
- Mussten die Paderborner Kaufleute (!) am 50. Jahrestag der Reichspogromnacht 1988 mit einer großen Gala in der Paderhalle ihr 50. Gründungsjubiläum feiern?22 Hat die Kaufmannschaft nicht auch (u.a. in der Sonntagskultur) eine gesellschaftliche, moralische Aufgabe?
- Musste die Kreis-CDU am 9.11. letzten Jahres zeitgleich zu dieser Gedenkstunde im CDU-Center am Kasseler Tor eine sehenswerte Karikaturen-Ausstellung zum Thema „Westfalen – vom Leben gezeichnet“ eröffnen? Ich kann es nicht unter „einfach passiert“ schweigend übergehen. Wo bleibt die politische Vorbildfunktion?
- Ist die Zeit der Unschuld auch für die römisch katholische Kirche wieder angebrochen? Wie kann man reinen Herzens mit der bekannten Schuldgeschichte im Rücken seit der Karwoche 2008 für die Bekehrung der Juden zu Jesus Christus und zum christlichen Glauben beten (wenn auch nur im außerordentlichen Ritus)? Hat man den ethischen Maßstab Jesu von Nazareth in der „Bergpredigt“ vergessen? Dort heißt es: „Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines [jüdischen] Bruders zu ziehen.“ (Mt 7,5) Haben Juden je in der Geschichte Christen verfolgt wie Christen die Juden?24
- Ist 70 Jahre nach der Reichpogromnacht und 63 Jahre nach Beendigung der Ermordung fast aller europäischen Juden die Zeit gekommen, dass der Papst aus Deutschland (!) den „heroischen Tugendgrad“, d.h. den Ruf der Heiligkeit und damit die Seligsprechung Papst Pius XII. verkünden will, ohne dass zuvor der behauptete Nachweis seines nachdrücklichen Eintretens für die Juden in der NS-Zeit aus den bislang nicht veröffentlichten Archiven des Vatikans aus den Jahren 1939-1945 belegt ist? Mir geht es nicht um die selbstgerechte Aufrechnung von Geschichte aus heutiger Perspektive und ich kann und will mich nicht in der einen oder anderen Weise an der Deutung des Handelns von Papst Pius XII. beteiligen. Aber: Ohne den historischen Nachweis wird die offene Wunde der Juden, würden Juden erneut beleidigt.
- Papst Johannes Paul II. sprach wiederholt von den Juden als “unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man sagen, unsere älteren Brüder“ (etwa am 13.4.1986 in der Hauptsynagoge in Rom) .
- Im Lied, das der Chor gesungen hat, heißt es in der dritten Strophe: „Wir kennen dein Gebot, dem Bruder beizustehen, und können oft nur uns und unsere Nöte sehen.“ In der Geschichte der christlichen Kirchen war das Wegsehen leider die Normalität. Wenn es wenigstens dabei geblieben wäre! Wir wissen, dass die religiöse Diffamierung zur gesellschaftlichen Ächtung und schließlich zur physischen Vernichtung der Juden geführt hat.
- Es gilt, das eigene Denken, Reden und Handeln kritisch zu prüfen, das „Gedächtnis zu reinigen“. Diese Reinigung muss zum Handeln führen. Nur so kann man zu einem guten Miteinander von Christen, Juden, Muslimen, zu einem guten Miteinander aller Menschen auch hier in Paderborn kommen. Das Mahnmal hier mitten in der Stadt ist ein sichtbarer Aufruf zum „denk mal!“ Wäre dies nicht so, müsste man den skeptischen Blick von Jenny Aloni auf das deutsche Gedenken an die Pogromnacht 1938 ausweiten. Sie schreibt 1963 in einer autobiographisch geprägten Erzählung zum 11. November 1938: „Ich traue denen nicht, die das Erinnern predigen. Sie errichten dem, was geschah, Denkmäler aus Pappmasché“.25
ANMERKUNGEN
1 Reichskristallnacht, in: I. Gutman u.a. (Hg.), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Bd. I –IV, München / Zürich 1995, 1205-1210, ebd. 1208.
2 A. Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1997, 229f.
3 H. Graml, Auschwitz. I. Historisch, in: LThK 1(31993) 1260.
4 J. Aloni, „ich muss mir diese Zeit von der Seele schreiben ...“ Die Tagebücher 1935 – 1993: Deutschland – Palästina – Israel, H. Steinecke (Hg.), Paderborn 2006, 723.
5 E. Wiesel, Die Massenvernichtung als literarische Inspiration, in: E. Kogon / J.B. Metz (Hg.), Gott nach Auschwitz, Freiburg 1983, 21-50, ebd. 44f. Zu dieser neuen Perspektive vgl. B. Krondorfer / K. von Kellenbach / N. Reck, Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945, Gütersloh 2006.
6 So der in Deutschland bekannteste Antisemitismus-Forscher W. Benz, Der Judenhass kommt aus der Mehrheitsgesellschaft, in: Antisemitismus in Europa. Vorurteile in Geschichte und Gegenwart. Handreichungen für Lehrkräfte. Hg.: Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2008, 5.
7 Zitiert nach: Antisemitismus – ein gefährliches Erbe. Bd. 1: Informationen zu Geschichte und Gegenwart. Hg.: Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit, Düsseldorf 2004, 13.
8 Zu einer Synopse vgl. R. Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Bd. 1, Frankfurt 1990, 17f.
9 Vgl. R. Kampling, „ ... zumal nur eine Synagoge angezündet wurde ...“ „Ambrosius von Mailand), in: Ders., Im Angesicht Israels. Studien zum historischen und theologischen Verhältnis von Kirche und Israel, Stuttgart 2002, 183-194.
10 Zu den Schikanen in der Stadt Paderborn vgl. M.Naarmann, Die Paderborner Juden 1802 – 1945, Paderborn 1988, 257-325.
11 Vgl. W. Wette (Hg.), Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden, Frankfurt 2005.
12 Ch. Dohmen / H. Frankemölle / W. Trutwin, Christlicher Antijudaismus – eine Last aus der Vergangenheit, in: Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Auschwitz. Geschichte und Gedenken, Stuttgart 2002, 23-27, ebd. 25.
13 Ebd. 66.
14 Bonn 1985, 2.
15 Vgl. R. Rendtorff / H.H. Henrix (Hg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945 bis 1985, Paderborn / München 32001, 594.
16 Zum Text vgl. ebd. 244-246.
17 Zum Text H.H. Henrix / W. Kraus (Hg.), Die Kirchen und das Judentum. Bd. 2: Dokumente von 1986 bis 2000, Paderborn / Gütersloh 2001, 355-365.
18 Zum Text der sieben Schuldbekenntnisse und der Vergebungsbitten vgl. ebd. 151-156.
19 Die „Reinigung des Gedächtnisses“, d.h die ungeschminkte Gewissenserforschung gegen alles Verdrängen von Schuld besonders den Juden gegenüber hatte Johannes Paul II. bereits im November 1998 in der Verkündigungsbulle zum Heiligen Jahr 2000 als Herausforderung formuliert; zum Text vgl. ebd. 123-125.
20 U. Wagener, Priester und Laien der katholischen Kirche als Opfer und Täter, in: H. Frankemölle (Hg.), Opfer und Täter. Zum nationalsozialistischen und antijüdischen Alltag in Ostwestfalen-Lippe, Bielefeld 1990, 147-164; zu den evangelischen Kirchen vgl. H. Prolingheuer, Judennot und Christenschuld, ebd. 127-146. Der Beitrag von A. Klönne, Völkisch-antisemitische Herkünfte des Nationalsozialismus, ebd. 13-25, ist weiterhin sehr lesenswert, da in ihm nachgewiesen wird, „daß die antisemitische Propaganda schon ‚gesellschaftsfähig’ war, als die Hitler-Partei noch keine Bedeutung hatte“ (24) – belegt an dem, was „man“ um 1900 so las.
21 A. Reineke, Jugend zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Erinnerungen und Erlebnisse, Ereignisse und Dokumente, Paderborn 1987, 103-112 zum Jahr 1938.
22 Zur Einladung an diese „einzigartige Gala“ von 19 Firmen vgl. die ganzseitige Anzeige in der NW vom 9.11.1988. In der Ausstellung „9.11.1938 – Reichspogromnacht in Ostwestfalen-Lippe“ konnte in der Abteilung „Wie bedeutungslos der 9. November für Teile der Gesellschaft sein kann“ dieses Ereignis „aus Platzgründen“ nicht gezeigt werden; die übliche Schnüffelparty des ASTA für die Studienanfänger an der Universität am 9.11.1988 fand dagegen reichlich Platz (vgl. im Katalog Seite 33). Auffällig sei auch, wie mir immer wieder seit Jahren bestätigt wird, wie Wenige aus der „Kaufmannschaft“ sich am 9.11. am Gedenken am Mahnmal beteiligen; als „Zugereister“ kann ich dies nur wiedergeben.
23 Vgl. taz.de vom 21.4.08 und die Erklärung des Deutschen Koordinierungsrates der 83 Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit vom 14. Mai 2008 an den Präsidenten des Kirchenamtes der EKD.
24 Zum Text vgl. Rendttorff / Henrix (s. Anm. 15) 109.
25 J. Aloni, Kristall und Schäferhund, in: H. Steinecke (Hg.), „ man müsste einer späteren Generation Bericht geben“. Ein literarisches Lesebuch zur deutsch-jüdischen Geschichte und eine Einführung in Leben und Werk Jenny Alonis, Paderborn 1995, 57-74, ebd. 64.
Der Autor
Prof. em. Dr. theol.;
war als katholischer Theologe 10 Jahre im Fach Neues Testament an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Münster und 25 Jahre an der Universität Paderborn tätig;
seit Jahrzehnten ist er im christlich-jüdischen Dialog engagiert.
Kontakt zum Autor über:
redaktion@compass-infodienst.de
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