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ONLINE-EXTRA Nr. 165

Juli 2012




COMPASS dankt Herausgebern und Verlag von "Concilium" für die Genehmigung zur Wiedergabe des Textes an dieser Stelle!


© 2012 Copyright bei Matthias-Grünewald-Verlag 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA




Online-Extra Nr. 165


„Viele Quellen sind noch gar nicht zugänglich“

Ein Gespräch von Norbert Reck mit Hubert Wolf über Pius XII. 

Das Verfahren zur Seligsprechung von Pius XII., das bereits 1965 von Papst Paul VI. eröffnet wurde, befindet sich in einer entscheidenden Phase: Papst Benedikt XVI. hat am 19. Dezember 2009 seinem Vorgänger – entsprechend dem Votum der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse – den „heroischen Tugendgrad“ zuerkannt. Nun bedarf es für die Beatifikation noch des Nachweises einer Wunderheilung.

Die Unruhe bezüglich dieses Seligsprechungsprozesses ist nach wie vor groß. Sowohl von christlicher wie von jüdischer Seite melden sich immer wieder Befürworter wie Kritiker der Seligsprechung zu Wort. Im Zentrum der Diskussion stehen zumeist Fragen nach dem Verhältnis Pius’ XII. zu den Juden sowie nach seinem Handeln während des Holocaust.

Dem Wunsch jüdischer Historiker nach einer gemeinsamen Untersuchung der Haltung von Pius XII. zur nationalsozialistischen Judenverfolgung kam Papst Johannes Paul II. bereits im September 1999 mit der Einrichtung einer jüdisch-katholischen Historikerkommission entgegen. Sie sollte die Validität der vatikanischen Dokumenten-Edition zur Zeit des Zweiten Weltkriegs (siehe Literaturliste) untersuchen und zur Klärung noch offener Fragen beitragen. Zwei Jahre später, im Sommer 2001, stellte die Expertengruppe jedoch ihre Arbeit ein, weil sie ohne Zugang zu den Dokumenten der Jahre 1939–1945 in den Vatikanarchiven ihrem Auftrag nicht glaubte gerecht werden zu können. Der Zugang zu den Dokumenten dieser Zeit wird, nach ihrer Katalogisierung und Konservierung, frühestens 2014 möglich sein.

Kann in dieser Situation über das Bild Eugenio Pacellis bzw. Pius’ XII. überhaupt schon sinnvoll gesprochen werden? Für CONCILIUM hat sich Norbert Reck darüber mit dem Kirchenhistoriker und Leibniz-Preisträger Hubert Wolf unterhalten.



CONCILIUM: Das Seligsprechungsverfahren von Pius XII. ist weit vorangeschritten, aber noch nicht abgeschlossen. Sie haben über Pacelli bzw. Pius XII. geforscht und publiziert, und Sie sind Leiter der „Kritischen Online-Edition der Nuntiaturberichte von Eugenio Pacelli (1917–1929)“. Was lässt sich aus Ihrer Sicht über ihn sagen?

Hubert Wolf: Es ist nicht Aufgabe des Historikers, darüber zu urteilen, ob der Mann ein Seliger ist, über den entsprechenden Tugendgrad verfügt usw. Historiker haben in Seligsprechungsverfahren eine andere Aufgabe. Denn es gibt in jedem Seligsprechungs- und in jedem Heiligsprechungsverfahren eine Historikerkommission, und diese muss alle greifbaren biografischen Informationen, Spuren und Quellen zusammentragen und nachher mit einem Eid bekräftigen, dass die propositio vollständig und sachgerecht aufgearbeitet worden ist. Erst danach fällt die Theologenkommission ein Urteil.
Was die Aufarbeitung der Quellen zu Pius XII. konkret angeht, muss man sich Folgendes klar machen: Nach dem Scheitern der katholisch-jüdischen Historikerkommission hatte Johannes Paul II. sich entschlossen, zunächst einmal die Archivalien aus dem Pontifikat von dessen Vorgänger, Pius XI., zugänglich zu machen, also die Dokumente aus den Jahren von 1922 bis 1939. Das geschah in zwei Stufen: 2003 und 2006. Zugänglich wurden damit auch die Akten von Eugenio Pacelli, der in dieser Zeit als Nuntius in Deutschland und ab 1929 als Kardinalstaatssekretär wirkte. Damit haben wir schon eine gewaltige Menge an neuen Quellen. Und Benedikt XVI. hat anschließend das Archiv beauftragt, auch die Archivalien des Pontifikats von Pius XII. zugänglich zu machen. In zwei bis drei Jahren sollen weitere 200.000 Aktenbündel zur Verfügung stehen.
Als Historiker hätte ich erwartet, dass man in der Konsequenz der Entscheidung des seligen Johannes Paul II. erst einmal abwartet, bis alle Quellen zugänglich sind, diese Quellen in aller Ruhe – sine ira et studio – nach allen historischen Regeln prüft und dass dann erst die Kongregation entscheidet, ob ein Tugendgrad erreicht ist oder nicht.

Hat man also bei diesem Seligsprechungsprozess den zweiten Schritt vor dem ersten getan?

Ich spreche hier nur über die Logik des Historikers. Es kann andere Logiken, andere Begründungszusammenhänge geben. Aber als Historiker mit einer gewissen Erfahrung in Historikerkommissionen, die sich mit Seligsprechungen beschäftigen, weiß ich, welche präzisen Rückfragen an die Historiker gestellt werden und wie genau zuerst einmal das Material gesichtet werden muss. Ich kann natürlich nicht beurteilen, ob die Mitglieder der römischen Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse die 200.000 Schachteln mit Dokumenten, die 200.000 archivalischen Einheiten aus dem Pontifikat Pius’ XII. – von denen ein Großteil noch gar nicht geordnet ist, wie der Präfekt des Archivs sagt – wirklich schon eingesehen haben. Es sind ja noch nicht einmal die 100.000 Schachteln aus dem Pontifikat Pius’ XI., die jetzt seit neun Jahren zugänglich sind, wirklich erschlossen, geschweige denn durchgearbeitet. Ich selber habe davon bisher vielleicht 1000 Schachteln gesehen. Kurz: Wir haben es hier mit einem gewaltigen Quellenkorpus zu tun.

Also ist es eigentlich noch verfrüht, überhaupt etwas über Pius XII. zu sagen?

Wir erleben eine starke Fokussierung der Diskussion auf den Zweiten Weltkrieg, auf das angebliche, tatsächliche, eigentliche oder uneigentliche Schweigen Pius’ XII. zum Holocaust. Und dazu sind einfach noch nicht alle Quellen zugänglich. Aber Päpste fallen nicht vom Himmel. Auch sie haben eine Biographie, und die beginnt lange vor der Wahl zum Papst. Deshalb würde ich sagen: Man muss zuerst einmal über Eugenio Pacelli reden.
In unserem Münsteraner Projekt edieren wir im Internet – www.pacelli-edition.de – die circa 7000 Nuntiaturberichte Pacellis aus Deutschland, aus der Zeit von 1917 bis 1929. Durch den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) hatte ich die Möglichkeit, dieses Projekt sorgfältig vorzubereiten; inzwischen fördert es die DFG als Langfristvorhaben. Pacelli hat detaillierte Berichte nach Rom geschrieben, manchmal sogar mehrmals am Tag. Zudem besitzen wir sowohl die fertigen Berichte als auch die Entwürfe. Man kann also vergleichen, was Pacelli spontan hinschreibt und wie er den Text dann bearbeitet. Für jeden Tag können Sie verfolgen: Was hält der Mann für wichtig, was berichtet er nach Rom? Was nimmt er wahr, welche Kriterien hat er? Wie prägt ihn eigentlich Deutschland?

Lassen sich da irgendwelche Muster erkennen?

Pacelli hat, glaube ich, zwei entscheidende Prägungen aus Deutschland mitgenommen. Die eine Prägung ist das Trauma, das aus der Zeit des Kulturkampfs herrührt, d.h. aus den Auseinandersetzungen zwischen dem deutschen Kaiserreich und der katholischen Kirche in den Jahren 1871 bis 1878. Im Katholizismus in Deutschland wirkte das lange nach. Pacelli hatte dabei aber weniger die politischen Auseinandersetzungen im Kopf, die antikirchlichen Gesetze etc., als das damit verbundene Desaster in der Seelsorge: Der Konflikt mit dem deutschen Staat hatte dazu geführt, dass Tausende von Pfarreien nicht besetzt werden konnten, Bischöfe vertrieben wurden, Abertausende Katholiken ohne die Tröstungen der heiligen Sakramente starben, dass also die wichtigste kirchliche Aufgabe nicht erfüllt wurde. Am Ende, glaubte Pacelli, werde Gott fragen, wie viele der ihr anvertrauten Seelen die Kirche verloren habe. Die Konsequenz war für ihn deshalb, sich nie wieder auf einen Konflikt mit dem Staat einzulassen. Das ist eine deutsche Erfahrung und zugleich aufschlussreich im Hinblick auf das, was im Zweiten Weltkrieg passiert.
Das zweite Trauma ist das Trauma der Friedensinitiative Papst Benedikts XV. im Jahr 1917. Pacelli sollte mit der deutschen Regierung verhandeln und auf ein Ende des Ersten Weltkriegs hinwirken. Die Sache wurde ein Schlag ins Wasser, und für Pacelli ergab sich daraus die Folgerung, dass der Heilige Stuhl künftig strikte Neutralität zu wahren hätte; auf allen Seiten der Fronten gebe es schließlich gläubige Menschen, da könne man sich nicht auf eine Seite stellen.
Wenn diese beiden Traumata Pacelli in seinen zwölf Jahren in Deutschland wesentlich geprägt haben, dann kann man vielleicht eher verstehen, warum er später sehr zurückhaltend war mit öffentlichen Protesten an die Adresse der Nationalsozialisten. Er ist einfach anders als sein Vorgänger Pius XI., der oft sehr spontan reagiert hat. Wenn man jetzt über das sogenannte Schweigen Pius’ XII. zum Holocaust diskutiert, stimmt es natürlich, dass er in seiner Weihnachtsansprache vom 24. Dezember 1942 Täter und Opfer nicht ausdrücklich beim Namen nannte – er sprach von Menschen, die „ohne eigene Schuld, zum Teil nur wegen ihrer Nationalität oder Rasse dem schnellen oder langsamen Tod“ ausgeliefert seien. Den Berliner Bischof Konrad von Preysing lobte er aber ausdrücklich für sein Eintreten für die verfolgten Juden und stellt es in mehreren Briefen den deutschen Bischöfen anheim, selbst zu entscheiden, welche Art bischöflicher Intervention sinnvoll sei. Es sei gut, wenn sie redeten; er wolle auch schreien, könne es aber nicht, weil sein Papstamt ihm hier Zurückhaltung auferlege. Diese Briefe an die deutschen Bischöfe sind ja bekannt, und sie zeigen, dass Pius XII. selbst spürt, dass er reden möchte, reden müsste, lauter schreien müsste, dass er es aber aufgrund seines Amtsverständnisses nicht kann. Meiner Meinung nach sind diese Äußerungen ein Beleg dafür, dass vielleicht diese beiden Traumata doch Spuren bei ihm hinterlassen haben.

Hat sich durch die Auswertung der Nuntiaturberichte Pacellis Ihr Bild von ihm verändert?

Ich selbst hatte das Vorverständnis, der Nuntius Pacelli sei eher ein Politiker, ein gewiefter Diplomat. Aber mein Bild relativiert sich. Die Quellen zeigen nun dieses starke Insistieren auf der Seelsorge als dem obersten Gebot – cura animarum suprema lex. Es mag nicht immer klug sein, diesem Grundsatz politisch zu folgen. Aber als Seelsorger hatte er natürlich keine andere Wahl. Das ist aber auch nur eine vorläufige Impression, denn noch haben wir nicht alle 7000 Nuntiaturberichte ediert, geschweige denn analysiert.


CONCILIUM

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Welche Rolle spielte Pacelli denn bei den Verhandlungen über das Reichskonkordat mit Deutschland?

Es wurde bekanntlich der Vorwurf erhoben, Pacelli habe mit Hitler einen Handel gemacht: Um Hitlers Zustimmung zum Reichskonkordat zu bekommen, habe er ihm angeboten, dass die katholische Zentrumspartei dafür im Parlament dem Ermächtigungsgesetz zustimme. So habe Pacelli also Hitler zu einer Mehrheit bei der scheinbar legalen Festigung seiner Diktatur verholfen. Die Quellen, die wir angeschaut haben, widerlegen diese Hypothese aber eindeutig. Das Gegenteil war der Fall: Pacelli war verstimmt darüber, dass das Zentrum am 24. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hatte und die deutschen Bischöfe vier Tage später die Verurteilung des Nationalsozialismus zurückgenommen hatten. Damit schlugen die deutschen Katholiken Pacelli sozusagen seine beiden einzigen Trümpfe aus der Hand, die er bei seinen Verhandlungen mit Hitler über das Reichskonkordat hatte.
Es gibt noch etliche weitere Beispiele, die zeigen können, dass Pacelli oft nicht den verbreiteten Klischees entspricht. Doch wir konzentrieren uns mit diesen Fragen immer auf Deutschland. Die katholische Kirche ist aber ein global player. Wir müssen die internationalen Fragen stellen und müssen uns – das passiert viel zu wenig – mit dem Pontifikat Pius’ XI. und dem Pontifikat Pius’ XII. in einem internationalen Zugriff beschäftigen. Wenn es uns nicht gelingt, diese internationale Vernetzung herzustellen, werden wir weiterhin nur teilweise verstehen. Ein nordamerikanischer, ein lateinamerikanischer oder ein osteuropäischer Forscher, der seinen Fragen durch die Quellen hindurch nachgeht, wird ganz andere Aspekte zum Vorschein bringen können.

Wie sehen denn Ihre Interessen in Bezug auf Pius XII. aus?

Ich habe bei der Beschäftigung mit Pacelli oder mit Pius XII. weder apologetische noch polemische Absichten. Ich habe einfach Fragen, offene Fragen. Zum Beispiel: Wie kommen Entscheidungen in der Kurie überhaupt zustande? Diese Frage hat man sich bisher noch gar nicht richtig gestellt. Entscheidet eigentlich der Papst allein? Dann wäre er auch allein verantwortlich. Schon unter Pius XI. wird der Führungsstil zunehmend autokratischer. Die „Kongregation für die außerordentlichen Angelegenheiten“, die dem Staatssekretariat zugeordnet ist und aus sieben Kardinälen besteht, wird unter Pius XI. faktisch nicht mehr einberufen. Und Pius XII. ernennt von 1944 bis 1952 keinen Staatssekretär. Da frage ich mich: Wer arbeitet dem Papst eigentlich zu? Wer bereitet die Entscheidungen vor? Das ist eine spannende, aber bislang offene Frage, weil natürlich je nach dem, wie die Entscheidungsfindung geschieht, Entscheidungen auch anders eingeordnet werden müssen.

Heißt das, wir projizieren im Allgemeinen vieles allzu schnell auf den Mann an der Spitze?

Richtig. Wenn Sie konkrete Entscheidungsabläufe genauer untersuchen, dann stellen sich ganz andere Fragen. Zum Beispiel: Warum ist die Enzyklika Societatis unio über die „Einheit des Menschengeschlechts“ nicht erschienen? Pius XI. hatte sie in Auftrag gegeben, und sie enthielt – zumindest nach dem deutschen Entwurf von Pater Gustav Gundlach – u.a. eine deutliche Verurteilung des Antisemitismus. Die Frage ist natürlich: Warum ist sie nicht erschienen? Hat Pacelli als Kardinalstaatssekretär dem kranken Papst die fertige Enzyklika gar nicht mehr gegeben? Und wurde die Sache, als Pacelli selber zum Papst gewählt wurde, einfach zu den Akten gelegt? Weil sie ihm nicht passte? Das wird immer wieder behauptet. Aber wir haben dafür einfach keine Belege. Soll ich jetzt ein Urteil abgeben, bevor ich nicht wirklich alle in Frage kommenden Quellen angeschaut habe? Denn es wäre ein hartes Verdikt zu sagen, dass der Staatssekretär seinem Papst eine von ihm in Auftrag gegebene Enzyklika vorenthält! Wenn man das behaupten will, muss man schon harte Fakten haben. Die haben wir aber nicht. Aber wir bleiben an der Frage dran.

Trotzdem ist doch die Frage, ob Pacelli bzw. Pius ein Judenfeind war oder nicht, besonders wichtig, wenn die Kirche ihn für selig erklärt und ihn also als Vorbild für alle Christen herausstellt ...

Noch einmal: Die Frage können wir beantworten, wenn wir alle Quellen haben. Richtiggehende antisemitische Äußerungen gegen die Juden sind eigentlich in den Nuntiaturberichten bis 1929 kaum zu finden. Wir können aber inzwischen sagen, was Pacelli für eine Prägung hat, dass er von der antijudaistischen Tradition des Katholizismus nicht ganz frei war. Wir kennen alle die Karfreitagsfürbitte im damaligen lateinischen Ritus: „Lasst uns beten für die treulosen Juden [pro perfidis Iudaeis], dass Gott unser Herr, den Schleier der Verblendung von ihren Herzen wegreiße.“ Als es 1928 eine Initiative der Priestervereinigung Amici Israel gab, diese Karfreitagsfürbitte zu ändern, hat Pacelli sich nicht hervorgetan. Er hat genau darüber berichtet, setzte sich aber nicht dafür ein.

Man kann also sagen, dass Pacelli sich hier nicht engagiert hat, dass er im Gleis der traditionellen antijudaistischen Muster blieb. Aber sagt diese Geschichte dann nicht mehr über den katholischen Antijudaismus aus als über Pacelli?

Allerdings. Warum Pacelli sich nicht engagiert hat, wissen wir nicht. Wir kennen dazu bislang keine Aussagen. Aber die Reform der Karfreitagsfürbitte für die Juden wäre eine echte Weichenstellung gewesen. Man stelle sich das vor! Das wäre ein Bereich gewesen, für den die Kirche allein zuständig war: ihre Liturgie, ihre Selbstaussage in den katholischen Gottesdiensten auf der ganzen Welt. Dabei ging es nicht um irgendwelche staatlichen Dinge, man brauchte zu einer Änderung keinen Konkordatspartner. Hier wäre es die ureigene Verantwortung der Kirche gewesen, nein zu sagen. Stattdessen wurden die Amici Israel unter Pius XI. verboten.
Mich wundert immer wieder, dass man diese Initiative in ihrer Bedeutung so unterschätzt. Man muss sich einmal klar machen, dass 1928 5000 Priester, Bischöfe und sogar Kardinäle die Amici Israel unterstützten und dieses antisemitisch klingende liturgische Gebet reformieren wollten. Schließlich stimmte sogar die Ritenkongregation einstimmig für die Änderung der Liturgie an diesem Punkt. Das ist ein Beleg dafür, dass es in der katholischen Kirche und in der Kurie auch respektvolle Haltungen gegenüber den Juden gab – und eben nicht nur Antijudaismus. Die Argumentation der Amici Israel war ja schlüssig, wie einer der Gutachter, Abt Ildefons Schuster, der spätere Erzbischof von Mailand, darlegte: Das Wort „perfidus“, das ursprünglich theologisch einen Mangel bezeichne, sei im modernen Sprachgebrauch missverständlich geworden, jeder, der perfidis Iudaeis höre, höre nur „perfide Juden“. Dem müsse man Rechnung tragen und das Wort „perfidus“ aus dem Gebet streichen.
Marco Sales und Raffaele Merry del Val vom Heiligen Offizium kämpften entschieden dagegen an, u.a. mit wahnhaften antizionistischen Einlassungen: Heute würden die Zionisten den Staat Israel aufrichten, und morgen kämen sie mit ihren Schiffen übers Meer und vernichteten Rom. Solche Dinge hatten die im Kopf! Schließlich formulierten Merry del Val und Pius XI. ein Dekret, das am 14. März 1928 veröffentlicht wurde: Darin wurden die Gruppe Amici Israel verboten und der Rassenantisemitismus als unchristlich verurteilt. Eine Nebelbombe! Der Papst dachte nämlich: Wenn jemals herauskommt, dass wir die Reform der Karfreitagsfürbitte verhindert haben, dann könnte das als antisemitisch interpretiert werden. Also verurteilen wir besser auch gleich den Antisemitismus. Von diesem Hintergrund erfuhren die Bischöfe und Gläubigen gar nichts. Über die Karfreitagsfürbitte für die Juden stand in dem Dekret kein Wort. Darin stand nur, dass die Amici Israel auf irgendeine Weise gegen die Lehre der Kirche und die heilige Liturgie verstießen. Und heute wird dieses Dekret immer herangezogen, um zu sagen, dass die katholische Kirche schon sehr viel früher als alle anderen den Rassenantisemitismus verurteilt habe ...
Diese Geschichte ist für mich ganz entscheidend. Da war Pius XI. gefordert, nicht der vielgeschmähte Pius XII. Und er muss Gründe gehabt haben, sich über so eine große Menge von Unterstützern einer Initiative hinwegzusetzen. Und damit bin ich wieder bei dem Punkt: Wenn man über das Schweigen der Kirche zum Holocaust redet, dann muss man auch über das Verhalten der Kurie und das Verhalten der Kirche zu den Juden im größeren Zusammenhang reden. Und da ist für mich 1928 eine richtige Chance vertan worden. Hätte man die Reform 1928 gemacht, wäre die Kirche für die kommenden Konflikte von vornherein viel klarer positioniert gewesen. Aber „hätte“ und „wäre“ gibt es für einen Kirchenhistoriker nicht.

Es geht also um viel mehr als darum, einen Schuldigen für bestimmte Dinge zu finden.

Ja, sicher. Das gilt auch für Pius XI. Er hat ja 1938 eine ganz andere Position als noch 1933 oder 1928. Im letzten Text, den er eigenhändig schreibt, an die Kardinäle in den USA und Kanada, setzt er sich für die jüdischen Studenten aller Fakultäten ein, die in Deutschland, Österreich und Italien wegen ihrer Rasse von den Universitäten relegiert worden sind, und er bittet die Kardinäle darum, in den USA und Kanada entsprechende Studienorte für die jüdischen Studenten zu finden – weil sie die gleiche ehrenwerte „razza“ hätten wie unser Erlöser Jesus Christus.
Auch hier kann man fragen, wie sich Pacelli dazu positioniert. Da wissen wir ganz wenig. Das wäre aber wichtig. Ich verstehe natürlich, wir möchten alle die Frage, die am Schluss steht, schon beantworten: Hat er geschwiegen oder hat er nicht geschwiegen? Hat er überlegt zu reden? Wir müssen aber viel weiter unten anfangen: Wann wusste er was? Von wem wusste er was? Wie zuverlässig waren seine Informationen? Mit wem diskutierte er worüber? Gibt es zu den Schriftstücken, die wir von den Botschaftern kennen, entsprechende vatikanische Gegenüberlieferungen?
Ich habe gar nicht den Anspruch zu sagen: Reden wäre richtiger gewesen. Das wäre schon wieder eine moralische Frage. Mich interessieren mehr die konkreten historischen Umstände, der konkrete Informationsstand. Das erste, was ich deshalb machen würde, wäre eine glasklare Chronologie: Was wusste man von wem zu welcher Zeit? Dann könnten wir zumindest sagen: Sein Informationsstand aufgrund der Nuntiaturberichte ist am soundsovielten das, fünf Tage später das ... Das kann ich aber nur, wenn ich alle Quellen ausgewertet habe.
Und damit haben wir noch gar nicht über Pacellis Theologie geredet. Noch nicht über die Enzyklika Mystici Corporis, noch nicht über seine Zulassung der historisch-kritischen Exegese, noch nicht über das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel aus dem Jahr 1950, was allein schon ein riesiges Thema für sich wäre.

Also bleibt noch viel zu forschen ...

Die entschiedenen Aussagen, die über Papst Pius XII. im Umlauf sind, sind bislang nicht mehr als Hypothesen. Es gibt noch ungeheuer viele offen Fragen und eine riesige Menge an unerschlossenen Quellen. Es ist viel zu tun. Und ich würde mir wünschen, dass man zu einem global player, wie Pius einer war, auch in internationaler Kooperation forschen könnte, um zu einem wirklich umfassenden Bild zu gelangen. Dazu ist es aber bislang in der historischen Zunft noch nicht gekommen.



Literatur mit Quellennachweisen


Pierre Blet/Angelo Martini/Burkhart Schneider/Robert Graham (Hg.), Actes et Documents du Saint-Siège relatifs à la Seconde Guerre Mondiale, 11 Bände, Vatikanstadt 1965–1981
Burkhard Schneider (Hg.), Die Briefe Pius’ XII. an die deutschen Bischöfe, Mainz 1966
Hubert Wolf, Papst und Teufel. Die Archive des Vatikan und das Dritte Reich, München 2008
Hubert Wolf/Klaus Unterburger, Papst Pius XII. und die Juden. Zum Stand der Forschung, in: Theologische Revue 105 (2009/4), 265–280



HUBERT WOLF




geb. 1959, ist Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Münster. Er studierte katholische Theologie an den Universitäten von Tübingen und München. 1985 wurde er zum Priester geweiht und war bis 1990 als Pfarrseelsorger in der Diözese Rottenburg-Stuttgart tätig. 2003 erhielt er für seine herausragenden wissenschaftlichen Leistungen den Leibniz-Preis, den höchstdotierten Wissenschaftspreis Deutschlands, 2004 den Communicator-Preis für seine mustergültige Vermittlung von Wissenschaft in die Öffentlichkeit hinein, 2006 den Gutenberg-Preis. Veröffentlichungen u.a.: Inquisition, Index, Zensur: Wissenskulturen der Neuzeit im Widerstreit (Paderborn 2001); Index: Der Vatikan und die verbotenen Bücher (München 2006); Die Affäre Sproll – Die Rottenburger Bischofswahl 1926/27 und ihre Hintergründe (Ostfildern 2009).

Homepage:
Universität Münster


NORBERT RECK



geboren 1961, Dr. theol., ist Redakteur der deutschen Ausgabe der Zeitschrift "Concilium" und freier Autor u.a. für den Bayrischen Rundfunk.

Veröffentlichungen u.a.: Im Angesicht der Zeugen. Eine Theologie nach Auschwitz (Mainz 1998); Abenteuer Gott. Den christlichen Glauben neu denken (Darmstadt 2003); Hanna Mandel. Beim Gehen entsteht der Weg. Gespräche über das Leben vor und nach Auschwitz (Hamburg 2008)


Homepage:
Norbert Reck


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