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ONLINE-EXTRA Nr. 57

September 2007

Der zunächst von der katholischen wie der außerkirchlichen Welt mit viel Sympathie aufgenommene Nachfolger von Johannes Paul II. auf dem Stuhl Petri, Kardinal Josef Ratzinger, nunmehr Papst Benedikt XVI., ist in jüngster Zeit vor allem durch zwei Ereignisse in die Kritik geraten: Zum einen durch die Erklärung der Vatikanischen Glaubenskongregation „Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre von der Kirche“, die insbesondere von evangelischer Seite stellenweise mit Empörung aufgenommen wurde, spricht sie doch der evangelischen Kirche den Rang einer "Kirche im eigentlichen Sinne" ab. Und zum anderen durch die allgemeine Wiederzulassung der lateinischen Messe am 7.7.2007, die von jüdischer Seite wie auch von zahlreichen Kreisen christlich-jüdischer Organisationen als herber Rückschritt in den christlich-jüdischen Beziehungen empfunden wird, erlaubt doch die lateinische Messordnung für „die Bekehrung der Juden“ zu beten, die von „obaecatio (Verblendung)“ geprägt sind und „in tenebris (in Finsternis)“ wandeln.

Vor diesem Hintergrund legt der katholische Theologe Hubert Frankemölle in vorliegendem Text eine Analyse der theologischen Denkansätze des Papstes vor, wie sie in dieser umfassenden Form bislang noch nicht unternommen wurde. Frankemölle zeigt anhand der beiden erwähnten Erklärungen sowie darüber hinaus u.a. anhand der Regensburger Rede und des Jesus-Buches von Papst Benedikt auf, dass das theologische Denken des Papstes zu einer Neubelebung vereinnahmender Bestrebungen und exklusiver Ansprüche der katholischen Kirche zu führen droht. Eine Entwicklung, die nicht zuletzt auch im Blick auf das christlich-jüdische Verhältnis mit Sorge zu betrachten sei: 
"Quo vadis, Benedicte, bzw. wohin führst Du die römisch-„katholische“ Kirche?"


COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!

© 2007 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 57


Quo vadis, Benedicte?

Theologische Prinzipien des Papstes und ihre kirchliche Folgen


HUBERT FRANKEMÖLLE

Auseinandersetzungen begleiten die Geschichte des jüdischen und christlichen Glaubens von Anfang an. Das Verhältnis Jesu zu den verschiedenen jüdischen Gruppen kann nur als Konfliktgeschichte begriffen werden. Auch die entscheidenden Auseinandersetzungen in den urchristlichen Gemeinden und ihren führenden Theologen geschahen „in Gegenwart aller“ (Gal 2,14). Von den Gemeindeleitern und professionellen Theologen wird im Neuen Testament gefordert, nicht „die Stimme ihres Gewissens zu missachten“ (vgl. 1 Tim 1,19). Ihre Aufgabe ist: „Bleibe bei dem, was du gelernt und wovon du dich überzeugst hast, [...] denn du kennst von Kindheit an die heiligen Schriften“ (2 Tim 3,14f). Sie sollen für ihre Überzeugung eintreten, „ob man es hören will oder nicht“ (so die Einheitsübersetzung) bzw. „gelegen oder ungelegen“ (ebd. 4,2).

Dabei will auch ich mich „nicht um Worte streiten“ (ebd. 2,14), sondern um theologische Grundüberzeugungen, die aus neutestamentlicher Perspektive das Verhältnis der christlichen Kirchen, aber nicht weniger das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum betreffen. Selbstverständlich kann man auch meiner Sicht der Dinge widersprechen, da sie nicht nur vom Beruf des Neutestamentlers perspektivisch bestimmt ist.



Die These

Im Vergleich zum 27-jährigen Pontifikat von Johannes Paul II. (Oktober 1978 bis April 2005) könnte das zweijährige Pontifikat seines Nachfolgers Papst Benedikt XVI. bis jetzt nur als Hauch der Geschichte erscheinen. Dem ist aber nicht so. Innerkatholisch (und damit auch ökumenisch) hat er in der kurzen Zeit strukturell schon mehr verändert, als dies in den fast drei Jahrzehnten vorher geschah.


Zwei Päpste

Karol Wojtyla war als Gemeindepriester, Dozent für Moraltheologie und dann Professor für Philosophie und Sozialethik sowie als Bischof und Papst primär pastoralpraktisch orientiert. Josef Ratzinger hingegen ist von Anfang an primär Professor der systematischen Theologie. Dies ist eine Vorliebe, die er sowohl als Präfekt der Römischen Glaubenskongregation (Beleg ist ein von ihm herausgegebener Tagungsband mit dem Titel „Schriftauslegung im Widerstreit“ von 1989) wie nach seiner Wahl zum Papst als Honorarprofessor in Regensburg mit Herzblut pflegt. Berühmt wurde seine Vorlesung am 12. September 2006 in Regensburg über das Verhältnis von Glaube und Vernunft mit dem intelligenten, aber ökumenisch nicht klugen Zitat aus dem Ende des 14. Jh.s zur Verbreitung des Islam durch das Schwert. Entsprechend reagierten die Kritiker, die aber nur das Verhältnis Christentum – Islam thematisierten. Da seine Rede sozusagen auf dem heutigen Areopag (vgl. Apg 17,22) der Medien in aller Öffentlichkeit erfolgte, soll die Antwort nicht in einem für die Öffentlichkeit unbemerkten wissenschaftlichen Aufsatz erfolgen, sondern ebenfalls für weitere Leserkreise öffentlich.

Weniger publikumswirksam als die Regensburger Rede, aber mit der gleichen Intention ist das Vorwort zu seinem sehr persönlichen, spirituellen, neuesten Buch „Jesus von Nazareth. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung“ (April 2007), geschrieben, veröffentlicht von „Benedikt XVI. – Joseph Ratzinger“. Laut Vorwort ist es „einzig Ausdruck meines persönlichen Suchens [...] Es steht daher jedermann frei, mir zu widersprechen. Ich bitte die Leserinnen und Leser nur um jenen Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt.“ Ein neuer Stil des Theologietreibens oder nur ein schon aus antiken Schriften bekannter Topos der Bescheidenheit zur captatio benevolentiae? Faktisch erhebt das Buch, wie seine zeitgleiche Übersetzung in alle Weltsprachen belegt, aber auch sein Sprachstil einen „universalen = katholischen“, globalen Anspruch des päpstlichen Autors, der sich nicht als Privatgelehrter versteht.

Im Folgenden geht es nicht um Widerspruch um jeden Preis, wohl jedoch um einen Versuch (andere mögen alles anders lesen und deuten!) eines Gespräches unter Kollegen. Ich weiß, dass dies eine Illusion ist. Ich versuche es aus der selbstverständlich subjektiven Perspektive eines katholischen Neutestamentlers zu führen, um den ohne jeden Zweifel großen Theologen Joseph Ratzinger als Professor der systematischen Theologie, der er auch als Papst treu geblieben ist, zu verstehen und verständlich zu machen. Dabei zeigt sich, wenn ich seine Texte und seine Handlungen angemessen deute, dass sie in sich mir stimmig erscheinen und ein strukturell identisches Grundmuster offen legen. Es zielt bei aller Knappheit von zwei Jahren auf eine Integration von Jahrhunderten früherer Theologie oder genauer: auf die Fixierung des heutigen und zukünftigen Glaubens der lateinisch-römisch-katholischen Kirche auf die Hochzeit ihrer griechisch orientierten Dogmengeschichte im 4.-7. Jh.. Der Theologe Ratzinger ist für sie seit seiner Dissertation im Jahre 1953 über „Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“ einer der besten Kenner. Seine verstärkten Bemühungen um ein besseres Verhältnis zu den orthodoxen Kirchen (auf Kosten des Verhältnisses zu den Kirchen der Reformation) sind vermutlich darin begründet.

Insofern hat Papst Benedikt XVI. mit diesem Rückgriff – die Dogmengeschichte der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends um- und übergreifend – in zwei Jahren die innerkatholischen Grundstrukturen des Glaubens mehr verändert als Johannes Paul II. in seinem ganzen Pontifikat. Allerdings kommt diesem das bleibende Verdienst zu, mit seiner Aufnahme bibeltheologischer Impulse das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zum Judentum nach der Schoa entscheidend neu ausgerichtet und begründet zu haben. Dies wird auch von jüdischer Seite, nicht nur in der US-amerikanischen Erklärung „Dabru emet“ von September 2002, dankbar anerkannt. Johannes Paul II. ging es um die theologische Aufarbeitung von Problemen, vor denen Christen und christliche Kirchen aufgrund ihrer Jahrhunderte langen Israel-Vergessenheit und der fast vollständigen Vernichtung des europäischen Judentums bis heute stehen. Auf dieser Basis kam es wie in zahlreichen evangelischen Kirchen zu einem vertrauensvollen neuen Verhältnis von Juden und Christen – mit Anerkennung der eigenen theologischen Dignität und Identität des jüdischen wie des christlichen Glaubens: Denn: Der „grundsätzliche Unterschied in der Zustimmung der Katholiken zur Person und zur Lehre Jesu von Nazaret [...], der ein Sohn eures Volkes ist, [...] gehört dem Bereich des Glaubens an, das heißt, der freien Zustimmung der Vernunft und des Herzens, die vom Geist geleitet werden.“ So im April 1986 beim ersten Besuch eines Papstes in der Hauptsynagoge in Rom. Theologie im Angesicht des Anderen formulieren, könnte man das hermeneutische Prinzip Johannes Pauls II. nennen. Im Vergleich dazu lässt sich ein Paradigmenwechsel bei Papst Benedikt XVI. feststellen. Worin besteht er?


Ratzingers Grundprinzip in der Regensburger Rede

Die neue Theologie der Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65), vielfach durch Kompromisse domestiziert, hat eine lange Vorgeschichte: Hinzuweisen ist auf den „Durchbruch geschichtlichen Denkens im 19. Jahrhundert“ (so ein Buchtitel von Peter Hünermann von 1967) in der katholischen Tübinger Schule: Begriffs- und glaubensgeschichtlich bedeutsam war die Distinktion zwischen systematischer und historischer Theologie mit der Betonung der Geschichtlichkeit der Offenbarung oder umgekehrt: mit dem Verzicht eines ungeschichtlichen Verhältnisses der Theologie zur Geschichte. Alle mir bekannten systematischen Professoren der katholischen Theologie ab dem Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils belegen in ihren Veröffentlichungen cum grano salis diesen geschichtstheologischen Ansatz, zum Teil um den Aspekt der Gesellschaft(en) und Erfahrung(en) erweitert; so in den Konzepten der „politischen Theologie“ in Europa oder der „Theologie der Befreiung“ in Mittel- und Südamerika. Eine Ausnahme bildete der 2001 im diplomatischen Doppelpack zum Kardinal ernannte Professor der Dogmengeschichte Leo Scheffczyk aus München, dessen neuscholastisch begründete Vorlesungen ich als Student in Tübingen 1962/63 bewusst besuchte, um diesen Denkansatz kennen zu lernen. Vertreter dieses Ansatzes war aber auch Josef Ratzinger (vgl. etwa seine Bücher „Theologische Prinzipienlehre“ und „Eschatologie“), ab 1963 Direktor des Seminars für Dogmatik und Dogmengeschichte in Münster, in dessen viel besuchten Vorlesungen ich als Student im Hauptstudium freiwillig zum dritten Mal systematische Theologie hörte. Viel gelesen und diskutiert in jenen Jahren wurde unter uns Studenten seine Vorlesung für Hörer aller Fakultäten „Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das apostolische Glaubensbekenntnis“ (1. Auflage 1968, bis heute oft nachgedruckt – ohne jegliche Änderungen, wie vielfach von konservativen Kreisen z.B. im Hinblick auf seine für sie unbequemen Ausführungen zur Jungfrauengeburt unterstellt wird). 

Gerade im Hinblick auf seine umstrittenen Thesen zum Verhältnis von Vernunft und Glauben in der Regensburger Rede vom 12.9.2006 lohnte sich ein synoptischer Vergleich mit dem ersten Kapitel zu „Glauben in der Welt von heute“; in einer Rezension wurden damals diese Ausführungen als „das beste, was jemals darüber geschrieben wurde“, gelobt.

All die Jahre in Erinnerung geblieben ist mir auch die einprägsame Metapher im Hinblick auf die Notwendigkeit einer theologischen Sprache, „dass es der Theologie in fast zweitausend Jahren noch immer nicht gelungen ist, ihre Begriffssprache von den Eierschalen ihrer hellenistischen Herkunft zu befreien.“ Die Gegenthese in der Regensburger Rede lautet, dass es zu einer „Synthese von Griechischem und Christlichem“ gekommen ist. Wäre dies nur eine Aussage über eine bestimmte Epoche der christlichen Glaubensgeschichte und eine Überzeugung einer besonders gelungenen Versprachlichung und Reflexion des Glaubens, an dem alle anderen Modelle Maß zu nehmen hätten, könnte man die These auf sich beruhen lassen. Aber es wird grundsätzlicher formuliert, wenn behauptet wird, „daß das kritisch gereinigte Erbe wesentlich zum christlichen Glauben gehört“, zu seinem „inneren Wesen“.

Wie radikal „wesentlich“ verstanden wird und diese These das hermeneutische Grundprinzip der Betrachtung der gesamten Glaubensgeschichte ist (ja der gesamten Theologie von Papst Benedikt XVI. zu sein scheint), belegen seine konkretisierenden Folgerungen, denen zufolge „man drei Wellen des Enthellenisierungsprogramms“ als Abfallbewegungen feststellen kann: die Reformation im 16. Jh., die Aufklärung und liberale Theologie im 19. und 20. Jh. und die Besinnung der Neutestamentler auf die Botschaft des historischen Jesus, „die zur Zeit umgeht“. Die von Benedikt XVI. in den beiden ersten Beispielen behauptete Entwicklung hat der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Dr. Wolfgang Huber, in aller lesenswerten Klarheit als „unaufhaltsame Verhängnisgeschichte“ charakterisiert und sehr überzeugend zurückgewiesen. Auf das dritte Beispiel sei im Rahmen des neuen Jesusbuches eingegangen.

Was besagt die Entscheidung, dass „das kritisch gereinigte griechische Erbe wesentlich zum christlichen Glauben“ gehört? Es nicht nur als gelungene „erste Inkulturation des Christlichen“ zu deuten (dies wird vehement abgelehnt), sondern zum ausschließlichen Maßstab aller Theologie zu machen? Natürlich hat das Vorteile, die im metaphysisch-platonischen Denksystem vorgegeben sind. Das von Benedikt XVI. paraphrasierte Wort des Sokrates an Phaidon am Ende ihrer langen Gespräche über falsche philosophische Meinungen ist erhellend: „Es wäre wohl zu verstehen, wenn einer aus Ärger über so viel Falsches sein übriges Reden über das Sein haßte und schmähte. Aber auf diese Weise würde er der Wahrheit des Seienden verlustig gehen und einen sehr großen Schaden erleiden.“ Die direkt anschließende Anwendung lautet wenig überraschend: „Der Westen ist seit langem von dieser Abneigung gegen die grundlegenden Fragen seiner Vernunft bedroht und kann damit nur einen großen Schaden erleiden.“  Heilung gibt es einzig und allein in der Rückbindung an die griechische Philosophie und an die hellenistische Theologie der Kirchenväter. 

Selbstverständlich ist die griechische Philosophie der verschiedenen Schulen (Platonismus, Aristotelismus, Stoa) in ihrer Geschlossenheit faszinierend. Dies gilt auch für das Wort „Theologie“, das in der Bibel nicht belegt ist, sondern aus dem Griechischen stammt, was „nicht nur das Wort, sondern noch mehr die Sache betrifft, die es ausdrückt“. Denn, so Werner Jaeger, einer der führenden Altphilologen im 20. Jh.: „Was könnte griechischer sein als die Kühnheit, die sich vermisst, mit der Kraft des Logos auch das höchste und schwierigste aller ‚Probleme’, das Sein Gottes, zu erforschen“. Es ist einfach, diesen Denkansatz zur norma normans non normata, zum scharfen Schwert zu machen, mit dem man alle anderen Denkmodelle als defizitär brandmarkt. Dabei hätte man nicht nur die immanenten Grenzen dieses (im Sinne der Systemtheorie von Niklas Luhmann) systemischen, in sich kommunikativ funktionierenden, platonisch-metaphysischen Denkens verkannt. Bei ihm lauert nicht nur die Gefahr der Esoterik, sondern auch der Gnosis. Dagegen gilt zu betonen: Linguistisch gibt es verschiedene Sprachspiele, die sich nicht gegenseitig ausschließen, wohl jedoch ergänzen.

Bekanntlich hatten ab Mitte des 4. Jh.s v.Chr. schon die Übersetzer der hebräischen heiligen Schriften Israels, die in der später so genannten Septuaginta der Christen gesammelt wurden, immer stärker das bereitliegende sprachliche Instrumentarium in Griechisch aufgegriffen, um den Glauben lebendig und nachvollziehbar zu erhalten. Dies gilt auch für die Verfasser der jüngeren, griechisch geschriebenen jüdischen heiligen Schriften (wie etwa Jesus Sirach, Weisheit Salomos, 1-2 Makkabäer), exklusiv dann für Philosophen und Theologen wie Philon von Alexandrien. Dies war auch das Verkündigungsprinzip des Paulus als christlicher Jude (1 Kor 9,20-22): Mit Hebräern sprach er aramäisch (Apg 22,2), mit Griechen auf seinen Missionsreisen in Kleinasien und Griechenland griechisch. Angesichts der zweifachen Literaturwerdung der jüdischen Glaubensüberzeugungen, wie auch ich sie seit Jahren als Voraussetzung der Texte im Neuen Testament versuche herauszuarbeiten (zuletzt: Frühjudentum und Urchristentum, 2006), wäre es eine Unterstellung, die hebräisch-aramäische Tradition und ihre Aktualisierungen durch die späteren Rabbinen als defizitär anzusehen. Dies hat auch die katholische Kirche in den letzten Jahrzehnten nie behauptet. So heißt es etwa in der Erklärung der Päpstlichen Bibelkommission „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ (2001): „Wir Christen können und müssen zugeben, dass die jüdische Lesung der Bibel eine mögliche Leseweise darstellt, die sich organisch aus der jüdischen Heiligen Schrift der Zeit des Zweiten Tempels ergibt, in Analogie zur christlichen Leseweise, die sich parallel entwickelte. Jede dieser beiden Leseweisen bleibt der jeweiligen Glaubenssicht treu, deren Frucht und Ausdruck sie ist. So ist die eine nicht auf die andere rückführbar.“

Jede Leseweise wird im Kontext der jeweiligen Glaubensgemeinschaft in ihrem theologischen Wert anerkannt. Dies sollte auch innerkatholisch gelten. Die vom Papst in seiner Regensburger Rede behauptete angeblich „einfache Botschaft des Neuen Testaments“ (worin sollte sie bestehen?) gegen die hellenistische Dogmatik der Kirchenväter auszuspielen, stellt im übrigen in dieser Verkürzung die Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils zur Schrift als „bleibendem Fundament“ und „Seele der Theologie“ (Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung 24) auf den Kopf.


HUBERT FRANKEMÖLLE

Frühjudentum und Urchristentum

Vorgeschichte - Verlauf - Auswirkungen
(4. Jhd. v. Chr. - 4. Jhd. n. Chr.)


Kohlhammer Verlag
Stuttgart 2006
446 S.
32,00 Euro


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Traditionell wird die Trennung zwischen Judentum und Christentum, von "Kirche und Synagoge" punktuell mit der Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem durch die Römer im Jahre 70 n.Chr. angegeben. Tatsächlich aber ist von langwierigen Trennungsprozessen im vielgestaltigen Frühjudentum seit der Herrschaft der Griechen im 4. Jh. v.Chr. bis hin zur frühen Jesusbewegung auszugehen.

 Soweit die Verfasser der Schriften im Neuen Testament und in der frühen Kirche christliche Juden waren, verstanden sie sich weiterhin als Mitglieder der großen jüdischen Familie. Die Frage, wann sich wer von wem in welchem Sinn getrennt hat, ist damit eine offene Frage. Keine Frage ist es, dass Juden und Christen trotz aller Differenzierungs- und Trennungsprozesse im 1. bis 4. Jh. n.Chr. die geschichtlich vorgegebenen gemeinsamen Glaubensgrundlagen für die eigenen Identität stärker beachteten.



Das Jesus-Buch als Beispiel

Wundert es bei dieser hellenistischen, hermeneutischen Leitperspektive der Kirchenväter, dass auch das neue Jesus-Buch des Papstes in dieser Perspektive geschrieben ist? Dies wäre nicht zu kritisieren, würde der Papst nicht auch hier mit seinem exklusiven Ansatz die Bemühungen der historisch-kritisch arbeitenden Neutestamentler, die verschiedenen historisch vorgegeben Traditionsstufen und christologischen Konzepte und die theologische Verkündigung Jesu von Nazareth zu erheben, wie schon in seinem Vortrag von 1988 (vgl. Bibel und Kirche 45,1990,200-204) als theologisch belanglos, ja sogar als schädlich abtun („Bibelauslegung kann in der Tat zum Instrument des Antichrist werden“). Ihn interessieren nicht die theologischen Verkündigungen des Markus, Matthäus und Lukas an ihre je unterscheidbaren Gemeinden. Er will laut Vorwort vielmehr „einmal den Jesus der Evangelien als den wirklichen Jesus, als den ‚historischen Jesus’ im eigentlichen Sinn“ darstellen. Was immer das heißt: Leitend ist die johanneische Logos- und Erhöhungs-Christologie im Lichte der Konzilien von Nizäa und Chalzedon. Dies bedingt, dass entgegen den Leserlenkungen der ersten drei Evangelien und der Einsicht der Bibeltheologen das Handeln Jesu, seine Heilungen und Exorzismen „ein untergeordnetes Element“ sind. 

Im Übrigen ist dieser Ansatz, „dass ich den Evangelien traue [...] als Auslegung der Gestalt Jesu“, nicht so neu, wie der Verfasser vorgibt. Ratzingers ehemalige evangelische Kollegen des Neuen Testaments in Tübingen (Martin Hengel, Peter Stuhlmacher, Otto Betz und ihre Schüler) haben Jahre lang die historische Glaubwürdigkeit der evangeliaren Überlieferungen zu Jesu christologischem Selbstverständnis emphatisch vertreten, auch gegen meine Kritik. Darauf lässt Ratzinger sich bei seinem Ansatz bei den Glaubensaussagen des Konzils von Nizäa von 325 zur Wesensgleichheit von wahrer Mensch und wahrer Gott nicht ein; die hermeneutische Perspektive ist aber analog. In einer Biographie des „historischen Jesus“ stellt sich aber die Frage, ob im Jesus-Buch aufgrund der Ausblendung des theologisch bedeutsamen Tuns Jesu der „wahre Mensch“ Jesus – gemessen an den vier Evangelien und am Dogma von Nizäa – adäquat dargestellt ist.

Noch einmal: Methodisch und hermeneutisch wie die klassisch rabbinischen Theologen und wie die Kirchenväter die Schrift als Einheit zu lesen, spirituell-kerygmatisch, geistlich  und allegorisch, kann legitim sein. Dies setzt aber die Schrift als kanonische Sammlung, konkret das 4. Jh. n.Chr. voraus. Dabei muss man sich nicht wie Ratzinger modisch auf die seit einigen Jahrzehnten aus den USA kommende „kanonische Exegese“ berufen, die von der Einheit der gesamten Schrift, von AT und NT, ausgeht. Ob sich die Vertreter des „canonical approach“ bzw. der „kanonischen Lektüre“ der Bibel in dieser von Anfang der Schriftauslegung an betriebenen geistlichen, allegorisch-typologischen Lesart des Papstes wiederfinden, sei deren Sache. In der kanonischen Lesart des Papstes ist etwa bereits im Alten Testament (1 Kön 12,31; 13,33 in Bezug zu Mk 3,14) das katholische Priesteramt vorgebildet oder Dtn 18 handelt von Jesus, „weil Jesus selbst Gott – der Sohn – ist“. 

Im übrigen wird mit diesem kanonischen Ansatz nicht die eigentliche Intention des Zweiten Vatikanischen Konzils zur Schriftauslegung aufgenommen: In der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung werden die Ausleger in den Artikeln 11-12 auf die Erhebung der „Wahrheit“ der verschiedenen Verfasser in sehr unterschiedlichen literarischen Gattungen verpflichtet, zu der sich die katholische Kirche nach mühsamen Geburtswehen spätestens mit der Erklärung über die „Historische Wahrheit der Evangelien“ von 1964 gegen die bis dahin vertretene ungeschichtliche, allegorisch-typologische  Auslegung durchgerungen hatte. Dies ist der theologische Skopus der Offenbarungskonstitution. Erst am Ende von Artikel 12 werden die Ausleger mit Recht daran erinnert, „daß man mit nicht geringerer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet“. Wie das Verhältnis der beiden Aussagen zueinander ist, blieb offen; der Papst löst diesen gordischen Knoten auf seine Weise. Im Übrigen werden die katholischen Bibelausleger auch in der sorgfältigen Erklärung der Päpstlichen Bibelkommission „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ von 1995 aufgefordert, mit allen zur Verfügung stehenden Methoden und Leseweisen (auch der feministischen, befreiungstheologischen und tiefenpsychologischen) die „Wahrheit der Evangelien“ zu erheben. Eine gegen die anderen auszuspielen und absolut zu setzen, ist Zeichen für fundamentalistische Auslegung, die als einzige eindeutig abgelehnt wird. Es ist der andere Lesarten ausgrenzende Anspruch des neuen Jesus-Buches des Papstes, der mit Recht zahlreiche kritische Reaktionen provozieren musste. (Dabei konnte es die FAZ im Vorspann am 7.5.2007 nicht unterlassen, K.H.Ohlig als „radikalen Kritiker“ zu diffamieren; obwohl er als Religionswissenschaftler nichts anderes als die grundsätzlichen Positionen der heutigen katholischen Bibeltheologen und die Hermeneutik des Zweiten Vatikanischen Konzils referierte.)


Weitere Beispiele

Das neue Jesus-Buch von „Benedikt XVI. – Joseph Ratzinger“ kann als Hauptbeispiel – inhaltlich geht es immerhin um den Gründer des Christentums und dessen neutestamentliche und nachneutestamentliche Deutungen – für die konstante hermeneutische, exklusive Vorliebe des Verfassers für die Kirchenvätertheologie des 4.-7. Jh.s gelten. Sie beschränkt sich aber nicht darauf, sondern erscheint mir als das Kennzeichen seiner gesamten Theologie und seines noch kurzen Pontifikats. Weitere Beispiele seien stichwortartig benannt, ohne sie näher begründen zu können. Ich denke, sie sprechen für sich.

• Bekanntlich hat der Papst auf vielfache Kritik hin sein akademisch eingeführtes Palaeologos-Zitat, ohne die jetzt lebenden Muslime zu bedenken, in der Regensburger Vorlesung in der publizierten Druckfassung abgeschwächt.
    Analog geschah es bei seiner Eröffnungsrede der lateinamerikanischen Bischofskonferenz am 13.5.2007 hinsichtlich der Behauptung, dass die Christianisierung Lateinamerikas keine Aufoktroyierung einer fremden Kultur gewesen sei, sondern von den Ureinwohnern unbewusst ersehnt worden sei. Hatte Johannes Paul II. 1992 Fehler bei der Evangelisierung eingeräumt, vermochte Benedikt in seiner Antwort auf Kritik die Verkündigung des Evangeliums säuberlich von der Kolonialisierung durch katholische Staaten zu trennen.
    Lebhaft in Erinnerung habe ich noch den Festvortrag von Josef Ratzinger anlässlich der Feierlichkeiten „1200 Jahre Bistum Paderborn“ am 3.1.1999 im Kontext der großen Ausstellung zu Karl dem Großen. Hatte der Historiker Jörg Jarnut in Übereinstimmung der historischen Forschung das Vorgehen Karls als „mit äußerster Brutalität“ umschrieben, andere nennen ihn sogar „Sachsenschlächter“, so formulierte Ratzinger im Vortrag: „Karl der Große hat den Sachsen Frieden und Freiheit gebracht“; in der Druckfassung wurde dies wie folgt abgemildert: Die Sachsen waren „nun in den Raum des christlichen Friedens hereingetreten“, das Christentum „hatte ... einen großen Friedensraum“ eröffnet, weil Christus „Würde verbürgt und [...] Freiheit ist“.

• In diesem patristisch-systemischen und inklusiven, systematischen Ansatz ist vermutlich auch die jahrelange Auseinandersetzung von Joseph Ratzinger als Präfekt der Glaubens-kongregation gegen die Theologie der Befreiung begründet, aber auch seine Abneigung gegen historisch-kritische Bibelauslegung. Seit seinem Vortrag von 1988 bis zu seinem spirituellen Jesus-Buch von 2007 hat sich an seiner pauschalen Kritik, historisch-kritisch arbeitende Exegeten würden nach Solowjew das Werk des Antichristen betreiben, der sich allerdings bei jenem „des Papstamtes bedient, um seine Interessen durchzusetzen“ (Rainer Kampling), nichts geändert. Wie der geschichtstheologische können auch anthropologische Zugänge wie feministische und befreiungstheologische Ansätze – dies ist nur konsequent – selbstverständlich vor der klaren und abstrakten Begriffssprache der christologischen und trinitarischen Dogmen der Konzilien von Nizäa, Chalzedon und Konstantinopel keinen Bestand haben.
    Wie stark die exklusive Grundorientierung der Glaubenskongregation auch unter dem neuen Präfekten, Kardinal Levada (seit 2005), geblieben ist, zeigt die Rüge des bedeutenden Befreiungstheologen, Professor Jon Sobrino aus El Salvador, am 15. März 2007 nicht zuletzt wegen angeblicher Unklarheiten bei der bibeltheologischen Deutung der Göttlichkeit Jesu.

• Der Verzicht auf die Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens erweist sich meiner Meinung nach auch in der Lehre des Papstes von der Kirche. Wie in der auch katholischerseits viel kritisierten Erklärung „Dominus Jesus“ aus dem Jahre 2000 findet sich der systemische, ungeschichtliche Ansatz auch in der alle überraschenden jüngsten Erklärung der Vatikanischen Glaubenskongregation „Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre von der Kirche“ vom 29.6.2007. Sie möchte zwar als innerkatholische Klärung und als römisch-katholisches Selbstgespräch verstanden werden, wurde aber aufgrund des wiederum vertretenen Exklusivismus in den Kirchen aus der Reformation als „ökumenisch brüskierend“ (Bischof Huber) empfunden. Die theologischen Thesen waren es nicht, sie waren in der Tat nicht neu, wie Kardinal Walter Kasper, Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen und Ratzingers ehemaliger Kollege in systematischer Theologie, nicht aufhört zu erklären. Es gehe nur um das eigene Kirchenverständnis Roms, das sich von dem der Anglikaner und evangelischen Kirchen auch in deren eigenem Verständnis nun mal unterscheide. Warum hat die Glaubenkongregation nicht die von Kardinal Walter Kasper eingeführte Wendung „Kirchen anderen Typs“ aufgenommen? Dann wäre die geschichtliche Genese der Kirchen und der Bezug zur Vielfalt der Gemeindemodelle des gemeinsamen Volkes Gottes im Neuen Testament gemäß dem Modell „Einheit in der Vielfalt“ gewahrt worden und es hätte kein ökumenisches Störfeuer gegeben. Die selbstgerechte, die katholische Perspektive absolut setzende These aber, die evangelischen Kirchen seien keine „Kirche“, sondern nur „kirchliche Gemeinschaften“, da nur die römisch-katholische Kirche „Kirche im eigentlichen Sinn“ sei, brüskiert alle anderen Kirchen. Die im Konzil heiß diskutierte Frage, ob „die Kirche Christi in der katholischen Kirche subsistiert“ oder sie es „ist“ (was im Zweiten Vatikanischen Konzil abgelehnt wurde), wird – man braucht kein Prophet zu sein – d a s innerkatholische Thema der nahen Zukunft werden. Daran entscheidet sich aber auch die Ökumene. Nach der Erklärung vom 29.6. meint „subsistit“ „die vollständige Identität der Kirche Christi mit der katholischen Kirche“.

Begründet ist diese Überzeugung in der theologischen Hermeneutik: hier steht der systemische, ungeschichtliche dogmatische Ansatz diametral zum erfahrungs- und geschichtstheologischen Ansatz der Bibel. Wie passt zu einem solchen Verständnis von abstrakter Kirche die nüchterne Feststellung der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche? Dort heißt es: „Sie ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung.“ (Konstitution über die Kirche 8) Ebenso heißt es in der Konstitution über die Offenbarung, „dass die Kirche im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegengeht“ (8). Eine Erklärung wie die von der Kommission für die Religiösen Beziehungen zum Judentum mit dem Titel „Wir erinnern: Eine Reflexion über die Schoa“ vom 16.3.1998 oder das  Schuldbekenntnis, wie es die Welt von Johannes Paul II. und den Kurienkardinälen am Ersten Fastensonntag 2000 in St. Peter in Rom, in dem die Sünden der katholischen Kirche beim Namen genannt wurden, eindrucksvoll erleben konnte, sind im Kontext der Kirche als societas perfecta ausgeschlossen.



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• Immerhin werden in der Erklärung vom 29.6. 2007 die orthodoxen Kirchen wegen der apostolischen Sukzession und der Sakramente „Schwesternkirchen“ genannt. Ihnen fehlt aber eines der „Wesenselemente“ der Kirche: die Anerkennung des Papstes. In diesem Kontext ist die von der Öffentlichkeit fast unbemerkte, stillschweigende Streichung des seit dem 5. Jh. belegten Ehrentitels des Bischofs von Rom als „Patriarch des Abendlandes“ im Annuario Pontificio 2006 zu nennen. Bis dahin war der Papst neben den vier Patriarchen des Ostens (Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien und Jerusalem) als occidentis Patriarca ebenfalls auf ein klar umschriebenes Territorium bezogen  Dies bezeugt schon Bischof Ignatius von Antiochien (um 110 n.Chr.) in seinem Brief an die römische Kirche, „die den Vorsitz in der Liebe führt ... im Raum des Gebietes der Römer“ (beim Zitieren in systematischen Lehrbüchern wird in der Regel der Nachsatz unterschlagen). Lag die Streichung – so die Erklärung des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Kirche im März 2006 – nur am ungeklärten Begriff „Abendland“ (das von Europa sich über die USA bis nach Australien und Neuseeland erstrecke)? Und: Die Aufhebung bedeute nicht, „dass auf diese Weise neue Forderungen gemeint wären“. Kann man es den orthodoxen Kirchen verargen, wenn sie annehmen. dass diese Aktion nicht eher darauf zielt , der Relativität des Papstes als Patriarch als primus inter pares, der zwar den „Vorsitz im Liebesbund“ hat, vorzubeugen?

• Abschließend ist auf die allgemeine Wiederzulassung am 7.7.2007 der lateinischen Messe als „außerordentliche Form“ gemäß dem Gebrauch des Missale von 1962 hinzuweisen. Laut Brief des Papstes geht es „um eine innere Aussöhnung in der Kirche“, konkret mit den exkommunizierten Anhängern von Lefebvre, so als ob es denen nur um den lateinischen Ritus geht. Denn die Möglichkeit zur lateinischen Messe auf Antrag beim Ortsbischof hatten sie bekanntlich auch vorher schon. Ginge es nur um Latein, hätte man leicht die neueste nachkonzilare Form übersetzen können. Ich kenne keinen jüdischen und orthodoxen Theologen, der etwas gegen Latein als liturgische Sprache hat; evangelische Theologen artikulieren von ihrer Herkunft her und durch ihre landeskirchlichen Bezüge in der Regel völliges Unverständnis (doch auch sie singen gern gregorianischen Choral und lateinische Messen aller Stilepochen).
    Die Liturgie (und damit die Theologie) der Messe war gemäß dem Prinzip lex orandi lex credendi ständig in Veränderung, wie ein Blick in jedes theologische Lexikon bestätigen kann. Bei der tridentinischen Messe aus dem 16. Jh. sollte man nicht von „alter Liturgie“ sprechen; im Hinblick auf 2000 Jahre ist sie jung. In ihrer grundsätzlichen Gleichstellung mit dem konziliaren Ritus geht es um die Rehabilitierung der dort implizierten antireformatorischen Theologie, d.h. um die Ablehnung der Kirche als communio, die sich als Glaubensgemeinschaft in „tätiger Teilnahme“ aller Gläubigen (so des öfteren die Liturgiekonstitution) um den Altar versammelt, sowie um eine Ablehnung der Erklärungen des Zweiten Vatikanischen Konzils zur Religionsfreiheit, zum Ökumenismus, zum Verständnis der Offenbarung, die geschichtlich vermittelt ist, und um Ablehnung der Erklärung zu den pastoralen als theologische Aufgaben in der Welt von heute im Dreiklang leiturgia, martyria, diakonia (vgl. die Ausblendung der Praxis Jesu im neuen Jesus-Buch des Papstes) usw.
    Nicht nur evangelische Christen und Theologen sind erstaunt, dass ein Papst per „Motu propio“, d.h. „aus eigenem Antrieb“ einen weitreichenden Beschluss des Konzils, über dessen Text alle Bischöfe der Welt über ein Jahr diskutierten und am Ende mit 2147 Ja- gegen 4 Nein-Stimmen abstimmten, fassen kann. Und dies ohne Rücksprache mit den Bischöfen der Welt, ja im Widerspruch etwa zu den deutschen, französischen und US-amerikanischen Bischöfen. Und: auch für mich als Altphilologen, aufgewachsen mit der lateinischen Messe, bleibt unerfindlich, warum nur mit Latein die „Sakralität“ gegeben sein soll. Dies spricht den existentiellen Erfahrungen der Gläubigen etwa bei der erneuerten Osternacht-Liturgie 1951 und 1955/56 Hohn. Gab es bei stillen Messen mit Rosenkranzgebet oder ohne Volk sowie bei Schnellmessen von mir bekannten Geistlichen unter 15 Minuten nicht auch die vom Papst für die nachkonziliare Praxis beklagten „oft kaum erträglichen Entstellungen“? Als Abiturient durfte ich 1959 in St. Peter in Rom zeitlich versetzt um das Staffelgebet gleichzeitig bei drei Zelebranten an Seitenaltären dienen.

• Die Fixiertheit auf die lateinische Tradition in der Auslegung der Kirchenväter war auch entscheidend bei der Arbeit an der neuen „Einheitsübersetzung“ der Bibel, deren Mitarbeit die Evangelische Kirche in Deutschland im September 2005 unter deutlichem Protest aufkündigte. Die Gründe: Nicht die biblischen Urtexte in Hebräisch und Griechisch, sondern die (lateinische) Vulgata bzw. Neovulgata (von 1979) muss gemäß der vatikanischen Erklärung „Liturgicam authenticam“ von 2001 zum „Gebrauch der Volkssprachen bei der Herausgabe der Bücher der römischen Liturgie“ Übersetzungsgrundlage sein. Zudem: In Zweifelsfällen soll der katholischen Auslegungstradition der Vorzug gegeben werden. Und vor allem: die Übersetzung braucht die vatikanische Approbation. Diesem Anspruch musste von „evangelischer“ Seite aufgrund der eigenen Tradition mit Luthers Bibelübersetzung, aufgrund der Bedeutung der heiligen Schrift für den Glauben (sola scriptura) und aufgrund des eigenen Kirchenverständnisses widersprochen werden.

• Anderes ist mir noch wichtiger: Nicht nur innerkatholische Aspekte werden vom „Motu propio“ zur Gleichstellung des lateinischen mit dem volkssprachlichen Ritus tangiert, sondern wiederum aufgrund des exklusiven römischen Ansatzes auch das seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil erneuerte Verhältnis zum Judentum. Hat man anfangs nicht daran gedacht? Zahllose Eingaben aus dem Bereich des christlich-jüdischen Dialogs und von jüdischen Organisationen weltweit machten auf das Problem aufmerksam. Im Missale von 1962 wurde zwar nicht mehr für die „perfidi (treulosen, ungläubigen) Judaei“ gebetet (diese Bitte hatte bereits Johannes XXIII. 1959 abgeschafft), wohl aber „Für die Bekehrung der Juden“, die von „obcaecatio (Verblendung)“ geprägt sind und „in tenebris (in Finsternis)“ wandeln. Die nachkonziliare Fassung erkennt den eigenen Heilsweg der Juden an, der in Gottes Ratschluss begründet ist, wenn man darum bittet, dass die Juden „zur Fülle der Erlösung gelangen“.  Ebenso wichtig: Mit dem vorkonziliaren Missale Romanum gibt es in den mehr als 60 Messformularen für Sonn- und Feiertage keine Lesung aus dem Alten Testament! Die jüdische Theologie und das Alte Testament gehören daher nicht mehr oder immer noch nicht zur Identität der christlichen Theologie. (Dazu passt, dass im neuen Jesus-Buch des Papstes „Volk Gottes“ auf die Kirche beschränkt wird und  ebenso in der Nachfolge der Kirchenväter von der Kirche als dem „neuen Israel“ gesprochen wird. Wo bleibt das Bekenntnis zur bleibenden Erwählung Israels?) Faktisch wird die jüdische Theologie aus der römisch-katholischen Liturgie in ihrer lateinischen Version von 1962 ausgegrenzt. Selbst im vierten Hochgebet, das die Heilsgeschichte Gottes mit Israel und die Bundesschlüsse preist, weigert sich der Vatikan seit Jahren, „Israel“ beim Namen zu nennen. Das eine wie das andere ist eine Verachtung der jüdischen Theologie. Auf die Ausblendung des alttestamentlichen Wortes Gottes wurde im Motu proprio und im Begleitbrief des Papstes an die Bischöfe vom 1.7.2007 nicht eingegangen, so als ob dieses Defizit belanglos wäre. Das erste Problem wurde in einer Weise „gelöst“, die belegt, mit welch heißer Nadel (am Ende?) der Text redigiert wurde. Statt einen eigenen Artikel am Anfang einzufügen, dem zufolge alle antijüdischen Texte in der Karfreitagsliturgie gestrichen werden, heißt es in Art. 2: „In Messen, die ohne Volk gefeiert werden“ (!), kann jeder Priester an jedem Tag die „ordentliche“ oder „außerordentliche“ Form (in der Volkssprache oder in Latein) gebrauchen „mit Ausnahme des Triduum Sacrum“ (Gründonnerstag, Karfreitag, Karsamtag/Osternacht). Bei den Bestimmungen in §5.1 zu Pfarreien, „wo eine Gruppe von Gläubigen, die der früheren Liturgie anhängen, dauerhaft existiert“, fehlt dieser Hinweis. Was in „Privatmessen“ verboten ist, ist öffentlich erlaubt? Selten habe ich einen so schludrig gearbeiteten Text aus dem Vatikan gelesen.
Kein Wunder, dass der Sekretär der  vatikanischen „Kommission für die Religiösen Beziehungen zum Judentum“ die Probleme klein zu reden versucht. Selbst Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone, der „zweite Mann“ im Vatikan, deutete nach einem Gespräch mit dem Papst an dessen Urlaubsort am 19.7. auf Bedenken von jüdischer Seite zur Aufwertung des tridentinischen Ritus der Messfeier an, dass jetzt über eine Streichung des Gebetes nachgedacht würde. Bertone wörtlich: „Das würde alle Probleme lösen.“  Warum macht man sie sich? Sie waren doch allen bekannt. Und: Gibt es ein neues Motu propio, damit das jetzige seine Gültigkeit verliert? Eine Predigt des Papstes reicht nicht.


Quo vadis, Benedicte?

Die lateinische Phrase „quo vadis, domine?“ stammt aus den apokryphen Petrusakten mit dem Martyrium des Petrus (wohl aus dem 3./4. Jh.). Petrus will sich dem durch seine Flucht aus Rom entziehen und soll dort, wo an der Via Appia die Kirche „Quo vadis?“ steht (mit einem angeblichen Fußabdruck Jesu) Christus getroffen haben, der ihm auf seine Frage hin antwortete: „Venio Romam iterum crucifigi.“ Aufgrund dieser Begegnung, die Motivspenderin für zahlreiche Bilder, Romane und Filme gewesen ist, kehrte Petrus nach Rom um und wurde gekreuzigt. Dies ist dem jetzigen Papst nicht zu wünschen. Wohl jedoch eine vertieftere Besinnung auf die Verkündigung in Tat und Wort des von den Evangelien bezeugten Jesus, der als Sohn Gottes nicht erst von den Konzilien von Nizäa und Chalzedon bezeugt wird, sondern im vielfältigen Zeugnis der Evangelien. Die Schrift bleibt mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil die einzige Quelle der Offenbarung; was folgt, ist Auslegung.

Mag er in seinem neuen Jesus-Buch laut Vorwort „einzig einen Ausdruck meines persönlichen Suchens“ sehen, als Fachmann für die Kirchenväter-Theologie die Bibel in dieser Perspektive lesen (dies ist jedem unbenommen), es bleibt eine Quadratur des Kreises (von seinem Vortrag in New York im Jahre 1988 an bis zur Regensburger Rede 2006 und seinem Jesus-Buch 2007): Er will den Theologieprofessor Joseph Ratzinger, auf den er meint, nicht verzichten zu können, mit seinem Dienst als Papst an der Tradition und an der Einheit der Kirche verbinden. Seine größte Stärke in dieser erscheint als größte Schwäche in jener Funktion. Kehrt er als Papst wie Petrus nicht auf seinem Weg um, ist eine immer intensivere Stärkung des römisch-katholischen Integralismus und Exklusivismus zu befürchten. Quo vadis, Benedicte, bzw. wohin führst Du die römisch-„katholische“ Kirche? 

Noch einmal: Selbstverständlich steht es auch bei mir „jedermann frei, mir zu widersprechen“. Sollte meine Lesart zutreffend sein, besteht aber Anlass zu großer Sorge.


Der Autor

HUBERT FRANKEMÖLLE



Prof. em. Dr. theol.; 

war als katholischer Theologe 10 Jahre im Fach Neues Testament an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Münster und 25 Jahre an der Universität Paderborn tätig;

seit Jahrzehnten ist er im christlich-jüdischen Dialog engagiert.
 




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