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ONLINE-EXTRA Nr. 6

Februar 2005


COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

© 2005 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 6


Der verdrängte Genozid

Armenier, Türken und ein Völkermord, für den bist heute niemand die Verantwortung übernehmen will.



JULIUS H. SCHOEPS




Als Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck vor wenigen Wochen verlauten ließ, dass der Genozid an der armenischen Bevölkerung während der Jahre 1915 und 1916 nun doch wieder in die Geschichtslehrpläne des Landes aufgenommen wird – ergänzt um eine Reihe anderer Völkermorde der jüngeren Geschichte -, da gab es ein spürbares Aufatmen unter Menschenrechtlern, Historikern, Pädagogen und auch so manchen Politikern. Fast zur gleichen Zeit aber tat sich der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan in Paris mit einem zynischen Kommentar zur französischen Volksabstimmung betreffs EU-Beitritt der Türkei hervor. „Ich wusste nicht“, so Erdogan, „dass in Frankreich 400.000 Armenier ein Referendum zu Fall bringen können. “Zwei Botschaften ließen sich dieser wohl kalkulierten Provokation entnehmen: Die Türkei ist trotz ihres fast erreichten Beitritts in die Europäische Union entschlossen, den vor rund 90 Jahren von ihr verübten Völkermord an den Armeniern konsequent zu verleugnen – und sie leugnet ihn offensiv. Umso mehr ist heute historische Aufklärung angesagt: zur Authentizität jener blutigen Vernichtungsaktion am Beginn des 20. Jahrhunderts, zur Rigorosität des damaligen Vorgehens und zur bis heute nicht völlig geklärten Rolle des damaligen Bündnispartners der Türkei - Deutschland. Die Ermordung von mehr als einer Million wehrloser Armenier im Ersten Weltkrieg hing nicht zuletzt mit türkischen Ängsten zusammen, die christlichen Armenier könnten mit dem Kriegsgegner Russland gemeinsame Sache machen und eine Art Einfallstor für die zaristischen Truppen bilden.


Dass sich die massenweise Tötung der armenischen Männer, Frauen, Kinder und Greise in den Jahren 1915 und 1916 aus einem radikalisierten Kriegsgeschehen heraus vollzog, ist unwahrscheinlich. Inzwischen aufgetauchte Dokumente aus dem englischen Foreign Office belegen, dass der Beschluss zur Vernichtung keine Kurzschlusshandlung, sondern wohl durchdacht war.


Schon kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bekam die deutsche bzw. europäische Öffentlichkeit die Möglichkeit, sich die Dimension des Völkermordes an den Armeniern zu vergegenwärtigen - und zwar durch die Fotos, die Armin T. Wegner als Sanitätsgefreiter im Stab des Feldmarschalls von der Goltz auf dem Marsch von Konstantinopel nach Bagdad gemacht hatte, sowie durch die 1919 von Johannes Lepsius (1858 - 1926) zusammengestellten Berichte der Konsularbeamten der deutschen Botschaft in Konstantinopel. Von den letzteren heißt es allerdings, dass sie vor der Drucklegung von offiziellen Stellen manipuliert worden seien, um in der Öffentlichkeit die Rolle Deutschlands bei den Armenien-Massakern herunterzuspielen.


Am 27. Mai 1915 hatte der türkische Innenminister Talaat Pascha den Befehl zur Deportation der Armenier gegeben, womit die eigentliche Katastrophe begann. Bei den Deportationen im Juni, Juli und August 1915 wurden die Menschen gnadenlos wie Vieh durch die glühendheißen, baum- und wasserlosen Gebirgstäler Anatoliens getrieben. "Die Wanderzüge", kann man bei Johannes Lepsius nachlesen, "waren Monate unterwegs, schlecht oder gar nicht ernährt, von angeworbenen Tschettäs und Kurdenbanden überfallen, getötet, geschändet, misshandelt, durch Hunger und Krankheit aufgerieben". Geschätzt wird, dass von den verschleppten Armeniern nur knapp ein Drittel das Deportationsziel, die Ränder der mesopotamischen Wüste, erreichten. Ein kaum beachteter Aspekt bei der Verfolgung der armenischen Christen war die von den türkischen Behörden betriebene Politik der Zwangsislamisierung. Um dem Tod beziehungsweise der Deportation zu entgehen, haben Dutzende von armenischen Familien dann tatsächlich von dem „Angebot“ Gebrauch gemacht, zum Islam überzutreten. Diese Vorgänge erinnern an die Zwangstaufen der Juden im 15. Jahrhundert in Spanien. Wer dort nicht zum Christentum übertrat, starb auf dem Scheiterhaufen. Ähnlich war die Politik der osmanisch-türkischen Behörden, die in ihrem Wahn, ganz Anatolien islamisieren zu wollen, christliche Kirchen schlossen, Priester und Prediger töteten oder deportierten.


Es waren die irritierenden Nachrichten von den Zwangsbekehrungen, die dann einige deutsche Proteste auslösten. Graf Wolff Metternich, Botschafter in außerordentlicher Mission, war in dieser Angelegenheit wiederholt bei der Pforte vorstellig. In einem Schreiben, datiert vom 10. Juli 1916, verweist er darauf, dass im Orient Glaubenbekenntnis und Nationalität identisch seien und jeder Osmane davon im seinem Inneren überzeugt sei. "So sehr es auch zu beklagen ist", bemerkte Metternich, "dass es uns nicht gelungen ist, die Armenierpolitik der Pforte in andere Bahnen zu lenken, so haben andererseits weder unsere Feinde noch die Neutralen ein Recht, uns daraus einen Vorwurf zu machen ..."


In dieser Bemerkung klang unterschwellig die Frage mit, ob das Deutsche Reich nicht vielleicht doch mit verantwortlich gemacht werden müsse für den Genozid an den Armeniern. Tatsache ist, dass im Ersten Weltkrieg das Osmanische Reich der wichtigste Bündnispartner der Deutschen gegen die Russen war. Und Tatsache ist auch, dass Hunderte deutscher Offiziere im Dienst der Türkei gestanden und einige von ihnen an der "Planung und Durchführung" der Deportationen teilgenommen haben. Daraus ergibt sich, dass die Reichsregierung in Berlin weit tiefer in die Vorgänge des Genozids verstrickt gewesen ist, als sie seiner Zeit zuzugeben bereit war. Auch das Armenien-Bild der deutschen Politiker und Militärs jener Jahre war vorurteilsgeladen. Bezeichnend war eine Bemerkung des Generals Fritz Bronsart von Schellendorf, damals Chef des osmanischen Feldheeres in Istanbul. "Der Armenier ist wie der Jude", bemerkte er Anfang 1919, "außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit des anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt. Daher kommt auch der Hass, der sich in mittelalterlicher Weise gegen sie als unerwünschtes Volk entladen hatte und zu ihrer Ermordung führte." Es ist aufschlussreich, dass Fritz Bronsart von Schellendorf eine Parallele zwischen Armeniern und Juden zog. Für ihn waren die Angehörigen beider Völker „Parasiten“, die zu hassen etwas ganz Logisches in sich hätte.


Freundschaftlich verbindet Armenier und Juden dagegen bis heute das Andenken an Franz Werfel und dessen großen Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" (1933). In diesem Roman, der auf ausführlichen Quellenstudien beruht, beschreibt Werfel, wie es 5000 Armeniern aus sieben Dörfern in der Zeit der Verfolgung gelang, sich auf dem Musa Dagh zu verschanzen und Widerstand zu leisten, bis im September 1915 die Überlebenden von englischen und französischen Kriegsschiffen aufgenommen und in Sicherheit gebracht wurden. Werfel hat mit diesem Roman dem Widerstand der Armenier zweifellos ein literarisches Denkmal gesetzt. Die Juden haben Werfels Roman gerade in den dreissiger Jahren geschätzt, weil sie in ihm eine Art Spiegelbild der eigenen unsicheren Situation sahen. Und in der Zeit der Ghetto-Aufstände in Osteuropa wurde Werfels "Musa Dagh" geradezu zum Symbol des Widerstandes. Osteuropäische Intellektuelle wie Itzhak (Antek) Zuckermann, Chaika Grossmann und Bronya Klebanski verwiesen immer wieder auf die Ähnlichkeit des Schicksals beider Völker.

Die Verantwortung für den Genozid an den Armeniern zu übernehmen, weigert sich die Türkei bis heute. Nach offizieller türkischer Lesart war die Deportation der Armenier eine als legitim anzusehende Maßnahme im Krieg, den die Türkei im Militärbündnis mit Deutschland und Österreich-Ungarn gegen Russland und die Entente führte. Nicht minder fragwürdig ist die Tatsache, dass Regierungen und Parlamente anderer Staaten aus wirtschaftlichen, militärischen oder geostrategischen Überlegungen zu dem einstigen Völkermord schweigen. Dazu gehört heute leider auch der Staat Israel, der einen Militärpakt mit der Türkei unterhält. Auch in Israel wurden Pläne, den armenischen Genozid in die Schulbücher aufzunehmen, nach massiven türkischen Protesten fallen gelassen. Die Sprachregelung, auf die man sich dabei in Israel verständigte, lautet schlicht und einfach: "Die Armenier haben eine Tragödie, aber keinen Holocaust erlebt".

Immerhin haben in den letzten Jahren rund ein Dutzend Staaten in aller Welt den Völkermord an den Armeniern anerkannt. Entsprechende Resolutionen sind auch durch die Parlamente der EU-Staaten Griechenland (1996), Belgien (1998), Italien (2000), Schweden (2000) und Frankreich (2001) gefasst worden. Es fällt hingegen auf, dass der deutsche Bundestag, obgleich in den letzten Jahren eine Reihe von Anträgen gestellt wurden, es bis heute vermieden hat, eine entsprechende Resolution zu verabschieden. Der Grund dafür dürfte sein, dass zum einen die Türkei NATO-Partner und wichtiger Handelspartner ist, zum anderen, dass man befürchtet, die zwei Millionen in Deutschland ansässigen Türken durch eine solche Resolution zu brüskieren.

Dabei wäre eine klare Positionierung schon deshalb notwendig, als die Bundesrepublik Deutschland Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches ist. Sie kann schwerlich mit dem Verweis auf „realpolitische Interessen“ vor der Teilübernahme der historischen Verantwortung davonlaufen. Der deutsche Bundestag wäre gut beraten, alle bisher vorgebrachten Bedenken zurückzustellen und eine interfraktionelle Resolution zu verabschieden, in der die "Mitverantwortung des Deutschen Reiches am Genozid an den Armeniern" anerkannt wird. Eine solche Resolution wird zwar unter Umständen die gegenwärtig guten Beziehungen zur Türkei belasten, trägt aber mittelfristig sicher mit dazu bei, ein Stück historischer Gerechtigkeit zu schaffen.


Der Autor

JULIUS H. SCHOEPS


ist Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien (MMZ).

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Mein Weg als deutscher Jude.




Rolf Hosfeld:
Operation Nemesis.
Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern.




Franz Werfel:
Die vierzig Tage des Musa Dagh.
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