Online-Extra Nr. 134
Jedes Kapitel des Buches wird im Folgenden Erinnern an das, "was niemals hätte passieren dürfen"
anhand eines ausgewählten Zitats vorgestellt.
Die Autorität der Leidenden
Ein Geschichtsbewusstsein haben und aus ihm zu leben versuchen heißt, gerade den Katastrophen nicht auszuweichen, heißt auch, jedenfalls eine Autorität niemals aufzukündigen oder verächtlich zu machen: die Autorität der Leidenden.
Dies gilt in unserer christlichen und deutschen Geschichte, wenn nirgendwo, für Auschwitz. Das jüdische Schicksal muss moralisch erinnert werden – gerade weil es bereits historisch zu werden droht.
Johann Baptist Metz
Antisemitismus in Deutschland vor 1933
Über die Jahrhunderte hinweg: christlich ansozialisierte ´Vorurteils-Instinkte`
Der Antisemitismus wird zumeist in den Jahren frühester Kindheit gesät. Das Kind liebt sein Christuskind, seinen Heiland; angesichts einer Darstellung des gekreuzigten Heilands fragt es die Mutter, wer denn diese grässliche Schandtat am geliebten Heiland verbrochen hat. "Die Juden". Hass und Abscheu gegen die Juden senken sich in die Kindesseele. Es vergehen Jahre, das verschollene Erlebnis wandelt sich in einen künstlichen Instinkt.
Richard Graf Coudenhove-Kalergie
Ausgrenzung, Deportation, Ermordung
„Wenn das Herz sich vor Empörung zusammenzieht“ (Armin T. Wegner)
In einem kleinen Dorf in Deutschland wurde in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, als auch seine kleine Synagoge in Flammen stand, herzlich gelacht. Denn die Juden versuchten, die Torarollen verzweifelt zu retten. Sie drangen in das brennende Gebäude ein. Als dann einige jüdische Männer mit den Torarollen im Arm aus dem Gotteshaus kamen, gab der Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr den Befehl „Wasser marsch“. So hat die Feuerwehr nicht das Feuer gelöscht, sondern die Juden nass gespritzt. Genauer: mit dem harten Strahl aus der Spritze wurden sie zu Fall gebracht. Bereits auf dem Boden liegend, hielten die Wehrmänner weiter drauf. So rollten sie mitsamt der Torarollen, vom Wasserstrahl getrieben, über die Dorfstraße. Und die Menschen, die zuschauten, fanden das lustig. Sie haben sehr gelacht. Das erzählten mir die Alten und schämten sich.
Günter B. Ginzel (aus einem Gespräch mit Zeitzeugen aus der Nazi-Zeit)
Die wenigen Überlebenden
„Warum habt ihr mir das angetan?“
Oft können wir nicht schlafen. Immer noch hören wir Viehwagen aus Bahnhöfen abfahren und angsterfüllte Stimmen geliebter Menschen. Immer noch riechen wir den Gestank des Rauchs aus den Schornsteinen der Krematorien. Bilder von Leichen verfolgen uns in unseren Erinnerungen.
Überlebende des Holocaust
Über die Täter
So ist es uns befohlen
Seit Sonnabend werden die Berliner Juden zusammengetrieben. Abends um 21.15 Uhr werden sie abgeholt und über Nacht in eine Synagoge gesperrt. Dann geht es mit dem, was sie in der Hand tragen können, ab nach Litzmannstadt und Smolensk. Man will es uns ersparen zu sehen, dass man sie einfach in Hunger und Kälte verrecken lässt … Eine Bekannte hat gesehen, wie ein Jude auf der Straße zusammenbrach; als sie ihm aufhelfen wollte, trat ein Schutzmann dazwischen, verwehrte es ihr und gab dem auf dem Boden liegenden Körper einen Tritt, damit er in die Gosse rollte, dann wandte er sich mit einem Rest von Schamgefühl an die Dame und sagte: So ist es uns befohlen ... Wenn ich nur das entsetzliche Gefühl loswerden könnte, dass ich mich selbst habe korrumpieren lassen, dass ich nicht mehr scharf auf solche Sachen reagierte, dass sie mich quälen, ohne dass spontane Reaktionen entstehen …
Helmuth James Graf von Moltke (aus einem Brief vom 21.10.1941;
von Moltke wurde im Januar 1944 verhaftet und am 23.1.1945 hingerichtet,
weil er einen Gesinnungsfreund vor dessen bevorstehender Verhaftung gewarnt hatte)
Wegsehen und Schweigen
„Das Verbrechen der Gleichgültigkeit“ (Hermann Broch)
Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah ... Wer konnte arglos bleiben nach den Bränden der Synagogen, den Plünderungen, der Stigmatisierung mit dem Judenstern, den unaufhörlichen Schändungen der menschlichen Würde ... Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten ... Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird anfällig für neue Ansteckungsgefahren.
Richard von Weizsäcker (Auszug aus der Ansprache von Bundespräsident Richard von Weizsäcker anlässlich der Gedenkstunde zu 40 Jahren Kriegsende im Plenarsaal des Deutschen Bundestages am 8.5.1985)
Widerstand
Betet für mich
Ich muss euch eine traurige Nachricht mitteilen, dass ich zum Tode verurteilt wurde, ich und Gustav G. Wir haben es nicht unterschrieben zur SS, da haben sie uns zum Tode verurteilt. Ihr habt mir doch geschrieben, ich soll nicht zur SS gehen, mein Kamerad Gustav G. hat es auch nicht unterschrieben. Wir beide wollen lieber sterben, als unser Gewissen mit so Gräueltaten zu beflecken. Ich weiß, was die SS ausführen muss. Ach, liebe Eltern, so schwer es für mich ist und für euch ist, verzeiht mir alles, wenn ich euch beleidigt habe, bitte verzeiht mir und betet für mich. Wenn ich im Kriege fallen würde und hätte ein böses Gewissen, das wäre auch traurig für euch. Es werden noch viele Eltern ihre Kinder verlieren … Ich danke euch für alles, was ihr mir seit meiner Kindheit Gutes getan habt, verzeiht mir, betet für mich …
Junger Bauernsohn aus dem Sudetenland (Abschiedsbrief vom 3. Februar 1944 an seine Eltern kurz vor der Hinrichtung)
Die 'zweite Schuld' der Deutschen
Täter erklärten sich zu Verführten, Mitläufer zu Opfern
Die Deutschen fanden eine entschuldigende Erklärung, indem sie die Unterdrücker als Barbaren, als wilde Tiere, als satanische Verführer darstellten, die sich von Außen dem unschuldigen und gutgläubigen deutschen Volk genähert hätten und es wie eine Droge, eine Krankheit oder eine teuflische Besessenheit seines Willens beraubt hätten. Die Besessenheit mit dem Verbrechen sei krankhaft, unausweichlich und schicksalhaft, das Volk sei ´geblendet und verführt, arglos und nichtsahnend gewesen`. Diese Dämonisierung der Naziherrschaft entzog nicht nur die Nation der Verantwortung und Schuld, sondern ließ sie sogar als das eigentliche Opfer des Nazismus erscheinen.
Bernhard Giesen
Sich wahrheitsgemäß erinnern
Abwehr und Verdrängen
Der Reiz der Erkenntnis wäre gering, wenn nicht auf dem Weg zu ihr so viel Scham zu überwinden wäre: ´Das habe ich getan` sagt mein Gedächtnis. ´Das kann ich nicht getan haben` sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.
Friedrich Nietzsche
Historische Wurzeln der Katastrophe
´Preußische Tugenden`: Pflicht, Opferbereitschaft, Anständigkeit
Pflichterfüllung war in Preußen das erste und oberste Gebot und zugleich die Rechtfertigungslehre. Wer seine Pflicht tat, sündigte nicht, mochte er tun, was er wollte. Ein zweites Gebot war, gefälligst nicht wehleidig zu sein; und ein drittes, schon schwächeres, sich gegen seine Mitmenschen – vielleicht nicht geradezu gut, das wäre übertrieben, aber: anständig zu verhalten. Die Pflicht gegenüber dem Staat kam zuerst. Mit diesem Religionsersatz ließ sich leben,
und sogar ordentlich und anständig leben – solange der Staat, dem man diente ordentlich und anständig blieb.
Sebastian Haffner
Auschwitz, ein Phänomen der modernen Zivilisation?
Buchenwald neben Weimar: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“
Meine ganze Arbeit dreht sich um die vordringliche Frage: Verflechten sich die Wurzeln des Unmenschlichen mit denen der Hochzivilisation? Auschwitz kam nicht aus dem Dschungel, nicht aus der Steppe. Die Barbarei überfiel den modernen Menschen im Zentrum der Kultur, der Künste, der universellen Bildung und des naturwissenschaftlichen Wunders. Nur wenige Kilometer entfernt von einigen der schönsten Museen, Bibliotheken, Konzertsälen verpestete Dachau die Luft. Männer, die bei Tage folterten, Kinder erhängten, lasen abends Rilke, hörten Schubert. Das ist ein ontologisches Rätsel, das Mysterium des zivilisierten ennui oder des Bösen, und es stellt für mich die Zukunft des Menschen überhaupt in Frage. Wenn die humanistischen Wissenschaften nichts zur Humanisierung beitragen, wenn derselbe Mensch Bach spielen und das Vilnaer Ghetto in Brand stecken kann, wo bleibt da die Zivilisation? Warum erziehen, warum lesen? Ist es möglich, dass im klassischen Humanismus selbst, in seiner Neigung zur Abstraktion und zum ästhetischen Werturteil, ein radikales Versagen angelegt ist? Kann es sein, dass Massenmord und jene Gleichgültigkeit gegenüber den Gräueln, die dem Nazismus Vorschub geleistet hat, nicht Feinde oder Negationen der Zivilisation sind, sondern ihr grässlicher, aber natürlicher Komplize?
George Steiner
Aus sozialpsychologischer Sicht
´Erziehung zur Menschlichkeit`
(Der Direktor eines amerikanischen Lyzeums pflegte zu Beginn
eines jeden Schuljahres an die Lehrer seiner Schule Folgendes zu schreiben:)
Lieber Kollege, ich habe das Konzentrationslager überlebt. Meine Augen haben gesehen, was kein Mensch je sehen sollte: Gaskammern, von gebildeten Ingenieuren erbaut, Kinder, von Ärzten vergiftet, die wussten, was sie taten, Säuglinge, von erfahrenen Pflegerinnen getötet, Frauen und Kinder, von Menschen getötet und verbrannt, die das Abitur bestanden und die Universität abgeschlossen hatten. Deshalb misstraue ich der Bildung. Mein Anliegen ist: Helft euren Schülern, Menschen zu werden. Das Ergebnis eurer Mühen dürfen nicht wohlerzogene Monster sein, qualifizierte Psychopathen, gebildete Eichmanns. Lesen, Schreiben, Rechnen sind unwichtig, wenn sie nicht dazu dienen, unsere Kinder zu mehr Menschlichkeit hinzuführen.
Der Direktor
Sehnsucht nach Versöhnung und Erlösung
Trauerndes Erinnern
Das Geschehen Auschwitz überlagert all mein politisches Denken und Handeln
und begründet – oft unbewusst – eine Trauer, die sich nicht verdrängen lässt.
Dieser Zusammenhang ist mir heute klarer als vor fünfzig Jahren: Das dunkelste Kapitel unserer Geschichte ist nur durch trauerndes Erinnern, das heißt im kongruenten Denken und Handeln verkraftbar. Die Jahrtausende alte jüdische Weisheit, dass Erinnerung das Geheimnis befreiender Entlastung ist, Vergessen jedoch das Exil verlängert, bewahrheitet sich im Umgang mit dieser unserer schwersten Erblast.
Hildegard Hamm-Brücher
Verantwortung für Freiheit und Demokratie
„Ewige Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit“ (Robert Kempner)
(Das jüdische Ehepaar Langer lernte sich nach dem Krieg in einem Waisenhaus in Krakau kennen und wanderte 1950 nach Israel aus;
40 Jahre später zogen sie zu ihrem in Deutschland lebenden Sohn:)
Gerade waren wir in Deutschland angekommen. Und natürlich hatten wir es gesehen. "Das Hakenkreuz", groß und hässlich, gepinselt an die Wand des Supermarktes. Wir waren schockiert und wie gelähmt. Nachts sind wir dann losgezogen, mit Sprühflaschen in der Handtasche, weil wir es nicht mehr ertragen konnten. Doch als wir am Supermarkt ankamen, strahlte uns eine "Sonne" entgegen. Jemand anderes hatte es bereits erledigt. – Wir waren glücklich.
nach Felicia und Mieciu Langer
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Diese Anthologie zur Schoáh ist ein Lesebuch, das es in sich hat. Dahinter steht wie ein Wasserzeichen der Aufschrei des Gedenksteins von Treblinka: "Nie wieder"
(Erhard Roy Wiehn, Auszug aus dem Vorwort).
Erstaunlich, wie ein solch schmaler Band die Augen zu öffnen vermag.
(Norbert Jachertz, Deutsches Ärzteblatt)
Aber gerade durch seine verdichtende Gesamtschau verdient das kleine Buch eine große Verbreitung. Man kann aus ihm mehr lernen als aus manchen ausgedehnten Dokumentationen. Und es hilft, an die Notwendigkeit einer andauernden Wachsamkeit zu erinnern
(Horst-Eberhard Richter, Auszug aus dem Geleitwort).
Einfach ein wunderbares Buch! Nicht nur die Auswahl der Texte, sondern auch ihre thematische Anordnung, die imposante Einleitung und die geleitenden Worte - ganz zu schweigen von der gesinnungsmäßigen Ausrichtung des gesamten Bandes - machen diese Sammlung zu einer einzigartigen Manifestation wahren Gedenkens und humanistischer Weltschau. Ganz großen Dank für dieses bedeutende Geschenk, das der Verfaßer den bisherigen und künftigen Lesern seines Buches gemacht hat.
(Moshe Zuckermann, Tel Aviv)