ONLINE-EXTRA Nr. 358
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Das heutige ONLINE-EXTRA wartet zum Abschluss dieses COMPASS-Jahres erneut mit einer Doppelausgabe auf:
ONLINE-EXTRA Nr. 359: Zum einen ein Beitrag von Ulrich Becke, evangelischer Theologe und Pfarrer im Ruhestand, dem jüngst ein nationalsozialistischer Adventskalender aus dem Jahr 1943 aus einem Nachlass übergeben wurde. Becke hat ihn studiert und die Umdeutungen christlicher Kultur und Brauchtums recherchiert. In einer Zeit, in der nationalsozialistische Phrasen und Denkfiguren wieder salonfähig werden, ist seine Analyse nicht nur unter historischen Gesichtspunkten äußerst interessant, sondern stimmt auch im Blick auf die gesellschaftspolitische Gegenwart sehr nachdenklich: »Vorweihnachten. Ausgabe 1943«
Beckes Beitrag erschien zuerst im "Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt", Heft 11/2024, und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion sowie des Autors wiedergegeben.
ONLINE-EXTRA Nr. 358: Zum anderen ein hoch spannendes und inspirierendes Gespräch über das Vermächtnis des jüdischen Schriftstellers Stefan Zweig und dessen Verständnis vom Judentum als Weltbürgertum. Wolf Südbeck-Baur, seines Zeichens Redakteur der in der Schweiz erscheinenden Zeitschrift "aufbruch. Unabhängige Zeitschrift für Religion und Gesellschaft" hat es mit dem Theologen Karl-Josef Kuschel geführt. Hintergrund ist Kuschels in diesem Jahr erschiene Publikation "Unser Geist ist Weltgeist: Stefan Zweig und das Drama eines jüdischen Weltbürgertums", das erstmals in der Zweig-Forschung eine umfassende und spannend geschriebene Studie über einen Dichter präsentiert, dessen Werk zwar bekannt, aber dessen Verständnis vom Judentum vielen nahezu unbekannt ist. Auf beeindruckende Weise zeigt nun auch das hier zu lesende Gespräch, wie sehr Kuschels Auseinandersetzung mit Stefan Zweig eine Aktualität offenbart, die mit Händen zu greifen ist.
Das Gespräch erschien zuerst in der Oktober-Ausgabe der o.g. Zeitschrift "aufbruch" und wird hier mit freundlicher Genehmigung wiedergegeben.
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Online-Extra Nr. 358
aufbruch: Karl-Josef Kuschel, der Schriftsteller Stefan Zweig (1881-1942) hatte das Grauen des Ersten Weltkriegs erlebt und die mörderischen Gewaltschrecken des Nationalismus. Er verstand sich als Europäer und Weltbürger und berief sich dabei auf jüdische Quellen. Zweig ist trotz seiner Ablehnung von jüdischer Orthodoxie und politischem Zionismus überzeugt, so schreiben Sie, dass «die geschichtliche Chance des jüdischen Volkes gerade darin besteht, seine übernationale Existenz unter den Völkern zu nutzen». Wie begründet Stefan Zweig ein jüdisches Weltbürgertum?
Karl-Josef Kuschel: Nach den Erfahrungen der Selbstzerstörung der europäischen Nationen und gleichzeitig der Erfahrung, dass Juden wie schon im Ersten Weltkrieg wieder einmal Sündenböcke sind, vertritt Stefan Zweig nicht wie viele andere Juden den Ansatz, das Jüdische durch Assimilation unsichtbar zu machen und so schliesslich auszulöschen. Nein, Zweig sagt umgekehrt, wir Juden entwickeln ein eigenes Selbstbewusstsein als ein Volk, das eine Mission hat. Zum einen lässt sich dies aus biblischen Quellen begründen, etwa mit der Schöpfungsgeschichte, nach der die ganze Welt das Haus Gottes ist, oder mit der Geschichte vom Turmbau zu Babel, dem ursprünglichen Symbol der Einheit der Menschheit. Und zweitens sollten wir Juden aufgrund der Tatsache, dass wir unter den Völkern leben, nicht länger das Fluch-Narrativ mitmachen, das uns die Christen anhängen – wir seien deshalb in alle Welt zerstreut, weil wir wegen der Christus-Tötung unter dem Fluch Gottes stünden. Nein im Gegenteil, Stefan Zweig sieht das verstreute Leben als Chance des jüdischen Volkes, für Universalismus und Weltbürgertum in den Völkern zu wirken. Sein literarisches Werk stellt er in den Dienst genau dieses Auftrags.
aufbruch: … das Judentum kann demnach als eine Art Sauerteig in den Völkern wirken…?
Karl-Josef Kuschel: … als eine Art Sauerteig, als Ferment. Zweig redet sogar von einer Avantgarde weltbürgerlichen Bewusstseins. Ich finde, das ist das Kühne, das Abenteuerliche an ihm, dass er das Fluch-Narrativ radikal umdreht und sagt: Wir machen aus der Zerstreuung unter die Weltvölker eine Mission zur Beförderung von Internationalismus. Entsprechend dieser Mission gehören dazu universale Bildung, die Menschenrechte und der Kampf gegen einen vergifteten Nationalismus. Und das meint Zweig nicht nur als schöne Etikette, sondern er arbeitet dafür mit programmatischen Reden und seinem literarischen Werk.
aufbruch: In den 30er- und 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts mündete die menschenverachtende hasserfüllte Politik von Hitler, Mussolini, Franco und Co. in die Katastrophe der Shoa. Zweig schrieb mit Spiegel- und Warngeschichten gegen den gnadenlosen Fanatismus in Politik und Religion an. Dabei verarbeitet er wie unter einer Maske die historischen Erfahrungen zum Beispiel von Erasmus von Rotterdam und spricht von Triumph und Tragik des grossen Gelehrten, dessen Gegenpart Martin Luther war. Was will Stefan Zweig mit diesen Spiegelgeschichten deutlich machen?
Karl-Josef Kuschel: Dieses Buch «Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam» ist im Exil in London entstanden, wo sich Zweig ab 1934 niedergelassen hatte. Er sah es als Auftrag eines Schriftstellers, nicht nur politische Manifeste wider den Antisemitismus zu verfassen und gegen den Nationalsozialismus zu protestieren, sondern wir müssen an geschichtlichen Modellen zeigen, was unser Ideal ist. Selbstverständlich weiss Zweig, dass dieses Ideal immer gebrochen ist – darum liegen Triumph und Tragik oft nebeneinander – aber dieses Ideal ist unwiderlegt. In Erasmus von Rotterdam (1466/67-1536) erblickt er einen ersten europäischen Weltbürger, einen Mann, der exzellente Verbindungen hatte zu allen grossen Universitäten Europas, einen Mann von universaler Reichweite und universalem Wirken. Allerdings drangen Erasmus’ radikale Reformforderungen an die Adresse der römisch-katholischen Kirche, dessen Priester er war, nicht durch. So wird Erasmus zerrissen zwischen dem päpstlichen Rom, das sich als reformunfähig erwies, und der Wittenberger Reformation von Martin Luther, die sich zunehmend radikalisierte bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen Anfang der 1530er Jahre – Stichwort Bauernkriege. Das ist die Tragik des Erasmus von Rotterdam. Er sah wie Luther die Notwendigkeit der Kirchenreform, aber seine Reformvorstellungen hatten keine Wirkung, weil er sich nur an die Elite Europas wandte. Bestes Beispiel dafür: Erasmus schrieb nur auf Latein, was nur die Gelehrten verstanden, während Luther die Volkssprache benutzte. Als sich die Reformation tumultuarisch zuspitzte, war Erasmus davon so angewidert, dass er sich dem nicht verschrieb. Er blieb in Äquidistanz zu Rom und Wittenberg gleichermassen. Damit hatte sein Ideal von Kirchenreform keine Chance, verwirklicht zu werden.
aufbruch: Worin bestand dann aber der Triumph des Erasmus?
Karl-Josef Kuschel: Sein Triumph liegt in seinem europäischen Netzwerk und seinem hohen Ansehen. Erasmus’ Tragik ist, dass seine Ideale zwischen die Mühlsteine Roms und Wittenbergs gerieten.
Karl-Josef Kuschel erzählt auf der Basis der Werke und autobiografischen Zeugnisse vom Drama des Stefan Zweig in Zeiten des anwachsenden Antisemitismus, das sich am Ende zu einer Tragödie zuspitzte. Zugleich zeigt er auf, dass universalistisches Denken auf den Spuren Zweigs im heutigen Judentum auch nach der Schoa lebendig geblieben ist. Erstmals in der Zweig-Forschung eine umfassende und spannend geschriebene Studie über einen Dichter, dessen Werk bekannt, aber dessen Verständnis vom Judentum vielen nahezu unbekannt ist.
aufbruch: Die Mühlsteine der Geschichte können zugleich als eine geschichtsphilosophische Metapher gesehen werden. In dieser Ausgabe beschäftigt sich der aufbruch mit Fragen rund um das Verständnis von Zeit, Geschichte und Ewigkeit. Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie fragen: Denkt Stefan Zweig, die Geschichte des jüdischen Volkes und damit die Geschichte der Menschheit entwickelt sich über die Jahrtausende nicht wirklich weiter in Richtung Freiheit, Frieden und Wohlergehen für möglichst viele?
Karl-Josef Kuschel: Stefan Zweig würde auf diese Frage wahrscheinlich antworten: Die Niederlagen sind kein Grund, die Sache für widerlegt zu halten. Niederlagen sind ein Teil des geschichtlichen Prozesses. Oft haben diejenigen die Zukunft, die im gegenwärtigen Moment gescheitert sind. So hat Zweig zwei grosse Biographien über jene Herrscherinnen – Marie Antoinette und Mary Stuart – geschrieben, die auf dem Schafott geendet sind. Deren Grösse bildet sich nicht in ihren Triumphen ab, sondern in ihrem Scheitern. Zweig interessieren Menschen, die in ihrem Scheitern Grösse gewinnen. Dahinter steht seine Überzeugung, diesen Menschen gehöre die Zukunft. Er glaubt in der Tat daran, dass über die Niederlagen hinaus eine Reinigung, ein neues Gewissen sich bilden kann. Dafür arbeitet er bis zum Schluss. Zweig wusste ab 1933, dass sein Ideal von Juden als Avantgarde des Weltbürgertums radikal zerfetzt wurde. Denn wenn in einem Land Juden als Schädlinge am Volkskörper disqualifiziert, vertrieben und sogar eliminiert werden, ist die Idee eines Weltbürgertums unter den Völkern natürlich absurd. Das hat Zweig am eigenen Leib erlebt. Und trotzdem gibt er bis in die letzten Wochen seines Lebens nicht auf, an diese Mission zu glauben.
aufbruch: Stichwort glauben. Woran glaubte Stefan Zweigs als Schriftsteller und Zeitgenosse?
Karl-Josef Kuschel: Stefan Zweig glaubte bis zum Schluss an die aufklärende und versöhnende Kraft der Kunst, der Literatur, der Musik, der bildenden Kunst immer im Wissen darum, dass die Idee in diesen ohnmächtig scheinenden Instrumenten unsterblich ist. Dafür setzte er sich ein, auch wenn er dafür in den Tod gehen muss. Daran hält er gewissermassen eisern fest. Er wusste genau, das ist die Zukunft. Sie gehört nicht den Hitlers, Mussolinis oder Stalins der Weltgeschichte, sondern den grossen Künstlern. Vor diesem Hintergrund sind seine drei Bände mit Porträts über die Baumeister der Welt, alles grosse Künstler der europäischen Geschichte, zu verstehen. Dazu gehört ein Tolstoi, ein Dickens, ein Casanova et cetera. Er sagt, kein Volk hat bei mir ein Vorzugsrecht in der Darstellung, kein Volk ist dem anderen überlegen. In allen grossen Ländern und Kulturen hat es Repräsentanten gegeben, die für uns leuchtende Vorbilder sind. Das ist Stefan Zweig und seine radikale Absage an eine europäische Geschichte als Siegergeschichte, bei der die Schlachtfelder und/oder ökonomischer Erfolg im Zentrum stehen. Dem setzt Zweig eine Geistesgeschichte und Figuren entgegen, an der wir uns orientieren sollten.
aufbruch: Was hält Stefan Zweig Kritikern entgegen, die einwerfen, diese Sicht ist am Ende ebenso akademisch elitär und geht vorbei an der Menge von Leuten, die täglich Brot backen oder am Fliessband stehen?
Karl-Josef Kuschel: Man darf nicht vergessen, Zweig ist Schriftsteller und als solcher von einem Markt abhängig. Zweitens sind seine Bücher ungemein erfolgreich. Allein das bis heute weithin bekannte und meistgelesene Büchlein «Sternstunde der Menschheit» verkaufte sich schon zu seinen Lebzeiten hunderttausendfach. Das setzt selbstredend ein Bildungspublikum voraus, das an Literatur, an Geschichte, an Kunst interessiert ist und Bücher kauft. Damit erreicht er nicht die unterprivilegierten Massen, auch nicht die jüdischen Massen in den osteuropäischen Ghettos. Aber er ist ein leuchtendes Beispiel dafür, dass man an den Sieg seiner Sache glauben kann, wenn man sich auf die richtige Seite, die Seite des Geistes und der Völkerverständigung gestellt hat.
aufbruch: Warum aber hat Stefan Zweig denn trotz seines unerschütterlichen Glaubens an den Sieg der Sache des Geistes und der Völkerverständigung seinem Leben 1942 selbst ein Ende gesetzt?
Karl-Josef Kuschel: Er weiss um die bitteren Niederlagen, die er in Kauf nehmen musste. Hier liegt möglicherweise der Grund dafür, warum er sein Leben beendet hat. Er ist tragisch gescheitert. Triumph und Tragik kann man wie bei Erasmus von Rotterdam auch auf Stefan Zweig übertragen. Er war ein international höchst erfolgreicher, finanziell bestens ausgestatteter Schriftsteller, auch in Brasilien, dem Land, wo er aus dem Leben gegangen ist. Aber Zweig hat den Glauben daran verloren, dass er noch zu Lebzeiten gleichsam den Sieg dieses völkerverbindenden internationalistischen Denkens erleben wird. Auf eine Formel gebracht sage ich: Die Dämonen der Depression haben ihn eingeholt angesichts der sichtbaren Triumphe der faschistischen Mächte in Europa. Selbst in Brasilien gibt er sich keine Zukunft.
aufbruch: … das haben ihm viele übel genommen…
Karl-Josef Kuschel: … weil er mit seinem Freitod die faschistischen Mächte nochmal triumphieren liess. Aber man muss den Menschen Stefan Zweig dahinter sehen. Er hat ein Leben lang für die Ideale der Völkerverbundenheit gekämpft und musste am Ende feststellen, realpolitisch können wir nichts mehr erreichen.
aufbruch: Und woran glaubte Zweig als Jude?
Karl-Josef Kuschel: Zunächst zeige ich, was für Zweig nicht in Frage kam: Von seinem reichen Wiener Elternhaus, für das Religion nur noch ein Firnis war, brachte er die Option der Assimilation mit. Befürworter der Assimilation meinten, dass ihnen so der Antisemitismus erspart bliebe. Das war eine grosse Selbsttäuschung, die Zweig von Anfang an nicht mitgemacht hat. Von daher kam auch die orthodoxe jüdische Dimension, die er nie kennengelernt hat, für ihn überhaupt nicht in Frage. Entsprechend war eine Rückkehr zu einer orthodoxen Gesetzesobservanz ebenso keine Option. Zur sogenannten zionistischen Bewegung, die um 1900 aufkam, und ihrem Protagonisten Theodor Herzl hatte Zweig allerdings Kontakt. Publizist Herzl hatte Zweig literarisch stark gefördert. Aber Zweig war gerade mit den antisemitischen Erfahrungen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im Rücken der Meinung, nein, wenn wir in Europa ohnehin unter dem Nationalismus leiden, sollten Juden nicht den Fehler machen, auch eine Nation gründen zu wollen. So kam für Zweig ein politischer Zionismus nicht in Frage. Weil er aber die Aufgabe des jüdischen Volkes darin sah, für die Ideale eines Universalismus einzutreten, begründete er dies aus den jüdischen Quellen heraus. Er stösst sein Judentum somit gerade nicht ab, er gehört nicht zu denen, die ihr Judentum als Fluch betrachten und verschweigen wollen, sondern Zweig geht in die Offensive und verkündet ein Judentum, das sich an den grossen jüdischen Traditionen orientiert. Dazu gibt es einige literarische Arbeiten, in denen er diese jüdischen Quellen diskutiert und auswertet.
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aufbruch: Wie argumentiert Stefan Zweig konkret?
Karl-Josef Kuschel: Im Buch «Der begrabene Leuchter» geht er der Frage nach: Was ist das für eine Geschichte, in deren Mittelpunkt wir Juden immer wieder stehen? Wir sind doch ein von Gott bejahtes Volk, warum dann immer dieses Leiden, dieses Vertrieben-Sein und Gehetzt-Werden durch die Welt? Diese Erfahrungen begründet Zweig aus seinem Gottesverständnis heraus, gemäss dem Gott sich in der hebräischen Bibel als der Unverfügbare offenbart. Demnach will Gott kein Volk, das er an einem gewissen Platz gewissermassen dingfest macht, sondern der uns, gerade weil er der Unverfügbare ist, wieder und wieder zu neuen Aufbrüchen herausfordert. Sobald wir uns etabliert haben, einen Tempel gebaut und einen Staat gegründet haben, dann zerschlägt uns Gott selbst diese vermeintliche Sicherheit, in der wir meinen, jetzt den Willen Gottes erkannt zu haben
aufbruch: Eine gewagte These…
Karl-Josef Kuschel: … theologisch eine kühne radikale These in der Tat. Zweig begründet das Vertrieben Sein des jüdischen Volkes in der Welt aus seinem Gottesverständnis heraus. Dies aber nicht so, dass man sagt, Gott verlässt sein Volk, sondern er ist ein wandernder Gott. Gott wandert von Urzeiten an mit. Zweigs Ideal: Die Urgeschichte des jüdischen Volkes nach dem Aufbruch aus Ägypten ist charakterisiert durch die Wüstenwanderung, die nie aufhört, sondern sich immer wieder in neuen Etappen fortsetzt, sobald Israel glaubt, Gott in Besitz genommen zu haben.
aufbruch: Was könnte heute die Bedeutung des jüdischen Weltbürgertums, einer «weltbürgerlichen, allmenschlichen Berufung» des jüdischen Volkes sein?
Karl-Josef Kuschel: Diese Frage drängt sich gerade heute vor dem Hintergrund des Gaza-Krieges besonders auf. Deshalb stelle ich drei Repräsentanten des heutigen Judentums an den Schluss meines Buchs, die beides verkörpern: Loyalität zum Staat Israel und jüdisches Weltbürgertum. Dazu gehört der Autor und Nobelpreisträger Elie Wiesel, dazu gehört ein Mann wie der Ungar György Konrad, Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, Amos Oz, israelischer Schriftsteller und Friedenspreisträger, sowie der Publizist Robert Menasse. Dies sind Persönlichkeiten – Frauen könnte man auch hinzufügen -, die beides vereinen: die Loyalität zum Staat Israel und zugleich das Wissen, dass Juden eine Aufgabe haben, für Menschenrechte universal einzutreten. So hat Elie Wiesel als Holocaust-Überlebender dafür gesorgt, dass man nicht einfach sagte, es geht nicht darum zu feiern, dass wir Juden verschont wurden, sondern dies verpflichtet uns, überall für Menschenrechte einzutreten. Dabei unterscheiden alle diese vier Persönlichkeiten zwischen dem Land und dem Staat Israel. Demnach gebührt die internationale Solidarität dem völkerrechtlich anerkannten Staat Israel in den Grenzen von 1967 (also vor dem Jomkipur-Krieg). Die Loyalität gehört aber nicht der Landideologie, die meint, durch Landraub und Besetzungen das Territorium Israels vergrössern zu müssen. Da hört die Solidarität auf, da müssen wir kritisch hinschauen und die Normen des Völkerrechts anwenden, die ungezählte UN-Resolutionen und internationale Gerichtshöfe festgestellt haben. Die Loyalität zum Staat Israel ist unverbrüchlich genauso wie das Eintreten für universale Werte in der Menschheitsgeschichte.
aufbruch: Sähe Zweig sich bestätigt im Blick auf Triumph und Tragik des Judentums, das vom Staat Israel heute Verbrechen im Namen des Auserwähltseins aneinanderreiht? Was würde Zweig heute zu Netanyahu sagen?
Karl-Josef Kuschel: Er wäre entsetzt. Netanyahu ist genau der Typ von Politiker, der das Judentum mittel- und langfristig ins Unglück stürzt, indem er einseitig nur die Interessen seines Landes vertritt und Sicherheit verspricht, wo keine Sicherheit ist.
Der Autor
Homepage: siehe auch:
Geboren 1948 in Oberhausen/Rhld. Studium der Germanistik und Katholischen Theologie an den Universitäten von Bochum und Tübingen. 1977 Promotion zum Doktor der Theologie in Tübingen mit einer Arbeit zum Thema „Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“, betreut durch Prof. Hans Küng und Prof. Walter Jens.
1989 Habilitation für „Ökumenische Theologie“ an der Eberhard Karls Universität Tübingen mit einer Arbeit zum Thema „Geboren vor aller Zeit? Der Streit um Christi Ursprung“. Seit 1995 Professur für „Theologie der Kultur und des interrreligiösen Dialogs“ an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Tübingen und stellvertretender Direktor des Instituts für ökumenische und interreligiöse Forschung. Von 1995 bis 2009 Vizepräsident der Stiftung Weltethos (Tübingen), seither Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Stiftung Weltethos und seit 2012 im Kuratorium der Stiftung.
http://karl-josef-kuschel.de/
Kontakt zum Autor und/oder COMPASS:
redaktion@compass-infodienst.de
ONLINE-Extra Nr. 195
Karl-Josef Kuschel:
Theodor Heuss. Die Shoah, das Judentum, Israel.