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Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit

Deutscher Koordinierungsrat

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Koordinierungsrat





ONLINE-EXTRA Nr. 85

Dezember 2008

Die Revision der Karfreitagsliturgie durch Papst Benedikt im Kontext der wieder freigegebenen alten tridentinischen Form der Messe hat bekanntermaßen zu erheblichen Verstimmungen zwischen katholischer Kirche und jüdischer Welt geführt. Grund hierfür liegt vor allem in einer der Karfreitagsliturgie enthaltenen Fürbitte, in der gebetet wird, Gott möge die Herzen der Juden "erleuchten, damit sie Jesus Christus erkennen, den Heiland aller Menschen". In der Folge sagten für den im Mai in Osnabrück stattgefunden Katholikentag einige prominente jüdische Persönlichkeiten wie etwa Rabbiner Walter Homolka oder der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik ihre Teilnahme ab.

Mit um so größerer Aufmerksamkeit nahm man daraufhin die christlich-jüdische Gemeinschaftsfeier im Rahmen des Kahtolikentags zur Kenntnis, in deren Mittelpunkt die Ansprachen von Erzbischof Robert Zollitsch, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, und Landesrabbiner Henry G. Brandt, dem Vorsitzenden der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK) und jüdischem Präsidenten des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR), standen. Beide betonten die Notwendigkeit, den offenen Dialog zwischen den beiden Religionen zu vertiefen, um die Eintrübung der Beziehungen zu verhindern. In einer weithin beachteten Geste umarmten sich Zollitsch und Brandt am Ende der Gemeinschaftsfeier.

Auf der Homepage des Katholikentages ist von dieser christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier bis heute jedoch nur die Predigt von Erzbischof Zollitsch veröffentlicht worden und zwar nur das vorab verteilte Redemanuskript, nicht aber die Ansprache von Rabbiner Brandt und die spontanen Äußerungen von Zollitsch auf Brandts Ansprache. Beides, die Ansprache von Brandt und die spontanen Reaktionen Zollitschs auf Brandt, ist aber gerade wichtig angesichts der angespannten Beziehungen aufgrund der unseligen Neuformulierung der Karfreitagsfürbitte.

COMPASS präsentiert Ihnen heute erstmals und bislang exklusiv die Ansprache von Brandt sowie die Ansprache von Zollitsch in der Fassung des gesprochenen Wortes basierend auf einem Rundfunkmitschnitt. Diese neuen, autenthischen Versionen der beiden Reden sind sowohl von Erzbischof Zollitsch wie auch von Landesrabbiner Brandt autorisiert und genehmigt worden.


COMPASS dankt den Autorer zur Genehmigung der Online-Wiedergabe ihrer Redebeiträge an dieser Stelle!



© 2008 Copyright bei den Autoren 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 85


Dokumentation: 

Ansprachen in der Christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier anlässlich des Katholikentags 2008

Von Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, und Landesrabbiner em. Dr. h. c. Henry G. Brandt, Augsburg, Osnabrück am 22. Mai 2008 um 18.00 Uhr (Stadthalle)




Begrüßung durch Erzbischof Zollitsch

[…]
Wir wollen uns ausrichten auf den gemeinsamen Gott der Christen und den Gott der Juden, den unsere älteren Geschwister, unsere jüdischen Schwestern und Brüder, uns vermittelt und überliefert haben und an den wir gemeinsam glauben. Er ist unsere gemeinsame Basis und Er soll uns in Zukunft immer mehr zusammenführen und nicht auseinander führen, wie es leider in der Geschichte immer wieder der Fall war. Und so ist es gut, dass wir diesen Gottesdienst miteinander feiern, diese Gemeinschaftsfeier der Begegnung, und so uns neu vergewissern auf das uns gemeinsam tragende Fundament.
[…]





Ansprache von Rabbiner Brandt


Sehr geehrter Herr Erzbischof,
liebe Anwesenden,
liebe Schwestern und Brüder vor Gott.

„Du führst mich hinaus ins Weite.“ – Welche Weite? Dieses Motto „Du führst mich hinaus ins Weite“, dieser Titel des Katholikentages, lässt, auch wenn manchmal unreflektiert, ein behagliches Gefühl in uns aufkommen, denn Weite bedeutet für viele das Ende einer Schlucht, an der sich dem Wandernden eine idyllische, paradiesische Landschaft eröffnet: von Beklom-menheit befreit ins Freie ziehen, und besonders, wenn wir sagen: „Er führt uns hinaus ins Weite.“ In der Einladung zum Katholikentag steht eine andere Interpretation. Sie sagt, Weite könnte die innere Freiheit bedeuten, wenn auch nicht ohne Grenzen.

Meine lieben Anwesenden, Weite kann segenreich sein, aber sie kann auch unheimlich gefährlich sein. Segensreich kann sie sein, wenn sie uns hinausführt zu der Möglichkeit, Vielfalt zu erleben, Entwicklungen, Erweiterung unseres Horizontes, wenn sie wirklich der Schönheit der Natur entspricht. Weite kann aber auch die unwegsame Wüste sein. Es kann die Eisscholle sein oder die endlose Arktis oder Antarktis. Sie kann Verlorenheit bedeuten, Einsamkeit, Weglosigkeit, Hoffnungslosigkeit.

Aber lassen Sie mich kurz diese Gedankengänge unterbrechen und zunächst meiner Freude Ausdruck geben, dass ich wieder hier vor Ihnen stehen darf, um die christlich-jüdische Gemeinschaftsfeier zu gestalten, jahrelang mit Kardinal Lehmann und von jetzt an – ich hoffe oft, so lange Gott mir die Stärke und das Leben gibt – mit seinem Nachfolger, Herrn Erzbischof – und wer weiß, was daraus noch werden kann [Lachen und Applaus] – Zollitsch.

Ich möchte offen mit Ihnen sprechen. Aber ich würde mich noch wohler fühlen, wenn nicht ein – ich hoffe vorübergehender – Schatten die Beziehungen zwischen Juden und katholischen Christen in diesen Tagen trübte, und wenn es nicht einige unter meinen Kollegen gäbe, die es lieber hätten, wenn ich auch meine Teilnahme am Katholikentag abgesagt hätte. Ich stehe hier, ohne mich dafür zu entschuldigen, denn ich stehe hier aus der Überzeugung, dass es richtig ist, dass wir offen, respektvoll miteinander zur Sache reden. [Applaus] Die wirksamste Waffe gegen Trübung einer Beziehung in jeder Hinsicht und in jeder Größenordnung ist das offene und redliche Gespräch. Auf jeden Fall ist es immer die Zeit und die Anstrengung wert.

Erlauben Sie mir, dass ich meiner Freude Ausdruck gebe, dass Sie, Herr Erzbischof Zollitsch, auf Ihren Wunsch hin an dieser Gemeinschaftsfeier teilnehmen. Ich sehe darin ein Zeichen der Kontinuität, aber auch ein Zeichen Ihres Interesses an der Fortsetzung und sogar Vertiefung des katholisch-jüdischen Gesprächs. [Applaus] In Ihrer Gegenwart, so kurz nach dem Antritt Ihres schweres Amtes als Vorsitzender der Bischofskonferenz, sehe ich einen Hinweis, dass es Ihre Absicht ist, ihr Bestes zu tun, dass die Fäden nicht reißen, dass Wunden geheilt werden und dass das Erreichte bewahrt wird.

Wenn ein Rabbiner einen Bibelvers vor sich findet wie „Du führst mich hinaus ins Weite“, der hier ein bisschen adaptiert ist – Gegenwartsform, im Psalm ist es Vergangenheitsform „Du führtest mich in die Weite“, aber wir wollen nicht pingelig und kleinlich sein – [Lachen], wenn ein Rabbiner so einen Text sieht, dann fragt er sich sofort: Wo steht das, wie steht es im Urtext und was ist der Sitz im Leben dieser Worte? Wie ist die Ausgangslage, in der diese Worte gesprochen worden sind? Und siehe da, ich traf natürlich auf diesen Psalm. Aber ich traf noch auf einen anderen Psalm, der Ähnliches sagt, aber der mir die Möglichkeit gibt, ein paar Gedanken in eine andere Richtung zu entwickeln, und zwar gehe ich zum Psalm 118 – was sind schon 100 Psalmen? [Lachen]. Denn dort steht:


„Aus der Enge, aus der Bedrängnis rief ich Gott, er antwortete mir in der Weite. Der Ewige ist mit mir, ich fürchte nicht, was können Menschen mir tun.“


Ich möchte diesen Aspekt des Marsches in die Weite heute ansprechen. Denn hier – aber ich glaube auch im Psalm 118 – ist das Gehen in die Weite ein Prozess: Es gibt einen Ausgangspunkt, und es gibt ein Ziel. Woher kommen wir? Der Psalm 118 sagt „aus der Enge, aus der Bedrängnis“. Und wohin führt der Weg? Er führt in die Weite, nicht jede Weite, in die Weite Gottes. Die Endsilbe „Yah“ im Hebräischen bedeutet immer“ Gott“: die Weite Gottes.

Hier ist ein Weg beschrieben, eine Richtung angezeigt. Der Weg aus der Bedrängnis, nicht irgendeiner Bedrängnis, sondern der Bedrängnis von Menschen. Menschen bedrängen, unter-jochen, versklaven, kämpfen gegen andere. Der Mensch in seiner Not, in der Flucht der Verzweiflung schreit zu Gott, er ruft ihn an wie in dem Psalm, den wir gelesen haben. Er ruft nach Seiner Hilfe und Gott antwortet und führt ihn oder zeigt ihm den Weg in die Weite. Gott antwortete mir aus der Weite Gottes. Er fordert mich, herauszukommen aus der Bedrängnis, aus dem Dunkel in seine Weite, um dort vor seinem Angesicht nach seinem Willen zu leben.

In diesen Psalm – nach meinem Verständnis – führt Gott nicht in dem Sinne, dass wir tatenlos darauf warten können, dass er die Initiative ergreift und wir uns wieder finden in paradiesi-schen Umständen, in seiner Weite, sondern er öffnet uns die Möglichkeit, selbst mit unserer Kraft im Rahmen unseres menschlichen Vermögens dorthin zu kommen. Wir müssen uns in Bewegung setzen, wir müssen selber Hass und Gewalt und Triumphalismus und Machtan-spruch entsagen. In uns selbst und für uns selbst sollen wir den Weg eröffnen, unsere Schritte lenken zu der Weite Gottes, zu den Gefilden, wo Frieden herrscht und Liebe.

Verengen wir das, was ich gesagt habe, auf einen Sachverhalt, der – und jeder weiß das – in diesem Moment im Raume steht. „Du führst uns hinaus aus der Enge“: geh’ in die Weite. Wenn ich das Wort „Enge“ in diesem Zusammenhang reflektiere, dann denke ich im Moment an die unglückliche Karfreitagsfürbitte für die Juden, die für die außerordentliche lateinische Messe nun verfasst und zugelassen ist. Es erinnert mich an die Enge, denn fast zweitausend Jahre lebten wir in einer christlich-jüdischen Beziehung, die wirklich durch dunkle Enge beschrieben werden kann. Mit wenigen Ausnahmen, die wir aus der Geschichte kennen, war das eine lange, lange dunkle Nacht der Geringschätzung seitens der Christen für uns Juden: unse-re Ausgrenzung, Erniedrigung. Man hat uns im Namen Gottes gejagt und vertrieben und nur übrig gelassen, auf dass am Ende der Zeit erfüllt werden kann, dass auch Israel gerettet wird.

In machtloser Ohnmacht misstrauten wir der Kirche und den Christen. Soweit wir konnten, lehnten wir sie ab oder beachteten sie überhaupt nicht. Und im Herzen – wie konnte es anders sein, aber es gibt keinen Grund zum Stolz – gab es Hass auch unsererseits gegenüber unseren Peinigern. Und Hass ist immer ein schlechter Ratgeber. Das waren Jahrhunderte, ja fast zwei Jahrtausende, und das ist eine sehr, sehr lange Zeit.

Erst nach dem Gang durch den Höllenschlund der Schoa, als die Feuer des Teufels schon am eigenen Rockzipfel schwelten, kam das erschreckte Erwachen auch in den Rängen der Kirchen. Im Licht der Geschichte – zumindestens, wenn wir über den Westen sprechen – trat in den letzten Jahrzehnten eine dramatische Wende in der Beziehung zwischen Christen und Juden ein, nicht nur katholischen, auch evangelischen Christen, aber wir bleiben hier jetzt einmal unter uns katholischen Christen und Juden. Eine dramatische Wende. Die Geschichte wird es erst bestätigen können nach vielen Jahrzehnten, ob diese Wende dauerhaft war, ob sie nicht nur eine Reaktion auf das Unsägliche war, auf dass man später wieder zum Alltag zurückkehren kann. Ich bin optimistisch von Natur und hoffe, dass dem nicht so ist, dass diese Wende dauerhaft ist und eine Zäsur in der Geschichte der Beziehung zwischen unseren beiden Religionen.

In dieser Stunde kamen durch die Gnade Gottes auch die passenden Männer zum Vorschein, zwei große Päpste: Johannes XXIII. und Johannes Paul II. Juden weinten und sprachen das Kaddisch, unser Totengebet, als Johannes XXIII. starb. Wir trauerten mit der Kirche, als vor kurzem Johannes Paul II. zu seinem Gott ging. Das Zweite Vatikanum, die päpstlichen Besuche in der Synagoge, besonders der Besuch von Johannes Paul II. in der Synagoge zu Rom, die Enzykliken und in unserem Land die vielen Verlautbarungen, Kontakte und die Zusammenarbeit mit Kardinälen, Erzbischöfen und Bischöfen: all das war vor siebzig, achtzig Jah-ren ganz ungeachtet der Nazigewaltherrschaft undenkbar. Es konnte nicht einmal im Traum sich vorgestellt werden, dass so etwas passieren würde. Aber es ist geschehen. Und ich werde niemals den Besuch von Johannes Paul II. vergessen, noch in seinem hohen Alter und schon sehr, sehr von der Krankheit gezeichnet, seinen letzten Besuch in Israel. Ich konnte ihn nur am Fernsehschirm beobachten. Aber es kam einem fast vor, als würden ihm nochmals ganz besondere Kräfte geschenkt. Oder vielleicht war es gerade die Größe des Ereignisses. Und was ein Routinebesuch hätte werden können, wurde ein spirituelles Ereignis der ersten Klas-se. Ich glaube, vor allem hat er das selbst so verspürt.

Im Sog dieser Ereignisse folgte auch die Entschärfung und dann eine Neuformulierung der bis dahin benutzten verleumderischen, infamen Karfreitagsfürbitte für die Juden, für die verblendeten, für die man nicht einmal bereit war, in die Knie zu gehen, um für sie zu beten. Bis wir als letzten Schritt die verbindliche Formel erhielten, die bis heute in den allermeisten Kirchen dieses Landes und anderer Länder am Karfreitag gesprochen wird: die Anerkennung dem Judentum zollt und seinen ihm verheißenen Heilsweg in die Hände Gottes empfiehlt. Eine Für-bitte, die auch von jüdischer Seite Anerkennung finden kann und ein Amen. Eine Formulierung, die ohne Verrat an der eigenen Glaubensüberzeugung verfasst worden ist.

Und jetzt? Jetzt, meine Lieben, nach meiner Ansicht – und ich bin nicht in allem eingeweiht und informiert – ohne Not und gegen begründete Warnungen, auch Warnungen aus unseren Kreisen hier, vom Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der Deutschen Katholiken, ist eine Neuformulierung erfolgt nur für die außerordentliche lateinische Messe, nur für eine kleine Minderheit, die den Rückschritt macht und um die Erleuchtung der Juden betet, auf dass sie Jesus Christus als den Weg zum Heil erkennen mögen. Vielleicht kann man, wie manche versuchten, das als eine Bitte für das Eschaton auslegen, dass es am Ende der Zeit so sein möge. Dagegen könnte man vielleicht weniger Einspruch erheben. Aber auch diese Klarstellung wurde nicht in der notwendigen Klarheit ausgesprochen. Und so klingelten die Alarmglocken bei der jüdischen Gemeinschaft. Vielleicht nicht erst im Eschaton? Vielleicht doch ein verkappter Auftrag, die Missionierung der Juden wieder in Gang zu setzen? Oder gar eine Wende der Wende?

Es wäre begrüßenswert gewesen, wenn auch unter momentanem Erhalt dieser Fürbitte – denn Sie wissen alle, der Vatikan bewegt sich langsam und eine Rücknahme kommt im Moment bestimmt nicht in Frage –, wenn nur ein klares Wort gesprochen wäre, das die Situation entschärft hätte, dann würden die Ampeln heute nicht auf gelb geschaltet sein, und die Skeptiker unter uns nicht süffisant sich zu Wort melden und sagen: Haben wir es euch nicht gesagt!

Ich mag den Skeptikern nicht Recht geben, und es ist noch nicht aller Tage Abend. Aber ich möchte in aller Deutlichkeit aus Respekt und aus Verbundenheit meinen katholischen Brüdern und Schwestern sagen, dass die jüdische Seele besonders in diesem Land auf Grund unserer Erfahrungen noch in der Lebzeit von uns Älteren eben verletzt ist, dass wir, wenn es auch nicht so beabsichtigt war, uns beleidigt fühlen. Wir brauchen nicht mehr Erleuchtung als jeder andere auch. Wir brauchen Erleuchtung, gewiss! Wer braucht sie nicht?! Das gilt doch für alle, ich schließe niemanden aus, der Erleuchtung braucht. [Applaus]

Meine lieben Freunde, ich kenne die Beweggründe nicht, warum man bewusst und offenen Auges in diesen Fettnapf getreten ist. Für mich ist es klar, diese Entwicklung, diese Formulierung, wo auch immer und wie auch immer, ist inakzeptabel. [Applaus] Ein Grund zur Enttäuschung, aber nicht nur zur Enttäuschung, sondern auch Traurigkeit. Denn mit vielen guten katholischen Freunden haben wir über Jahre hinweg an der Verbesserung des gegenseitigen Verständnisses gearbeitet und sind zu einer Normalität gekommen, wo wir uns auch offen kontroverse Meinungen an den Kopf werfen können. Diesen Fortschritt möchte ich nicht gefährdet sehen.

Und doch und trotz allem! Im Hebräischen haben wir die Formel „trotz allem“: Nach Jahrhunderten haben sich die Geschwister wieder getroffen, haben wieder Worte füreinander gefunden, haben sich neu kennengelernt, nein!, haben begonnen, sich wieder schätzen zu lernen. Die Geschwister sprachen wieder miteinander, begannen wieder eine Familie zu sein, auch in ihrer Verschiedenheit, denn wir sind nicht eineiige Zwillinge, aber wird sind Geschwister. Wir haben akzeptiert, dass wir unterschiedlich sind und haben gelernt diese Spannungen auszuhalten, auszudiskutieren und dann, wo es unüberbrückbar wird, miteinander trotzdem in Eintracht zu leben.

Es darf keine Rückkehr in die Sprachlosigkeit geben, es darf keinen Geschwisterzank erneut geben, kein Zurück in die dunklen Zeiten von anno dazumal. [Applaus] Wir haben die reine Luft der Weite Gottes, wenn auch nur kurz eingeatmet, und wir sind erfrischt. Zuneigung und Respekt haben unseren Blicken neue Gefilde eröffnet. Ja, man kann die Weite verlassen, man kann zurückkehren in die Enge, doch dort warten teuflische Versuchungen und schlimme Albträume. Und deshalb meine lieben Anwesenden, es darf für uns nur einen Weg, nur eine Richtung geben, gemeinsam für uns alle, trotz unserem gelegentlichen Anderssein: der Weg in die Weite Gottes [lang anhaltender Applaus].



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Ansprache von Erzbischof Zollitsch

Schriftlesung: Jesaja 55,1-5 (Einheitsübersetzung)


1 Auf, ihr Durstigen, kommt alle zum Wasser!
Auch wer kein Geld hat, soll kommen.
Kauft Getreide, und eßt, kommt und kauft ohne Geld,
kauft Wein und Milch ohne Bezahlung!
2 Warum bezahlt ihr mit Geld, was euch nicht nährt,
und mit dem Lohn eurer Mühen, was euch nicht satt macht?
Hört auf mich, dann bekommt ihr das Beste zu essen
und könnt euch laben an fetten Speisen.
3 Neigt euer Ohr mir zu, und kommt zu mir,
hört, dann werdet ihr leben.
Ich will einen ewigen Bund mit euch schließen
gemäß der beständigen Huld, die ich David erwies.
4 Seht her: Ich habe ihn zum Zeugen für die Völker gemacht,
zum Fürsten und Gebieter der Nationen.
5 Völker, die du nicht kennst, wirst du rufen;
Völker, die dich nicht kennen, eilen zu dir,
um des Herrn, deines Gottes, des Heiligen Israels willen,
weil er dich herrlich gemacht hat.


Liebe Schwestern und Brüder im Glauben an „den Herrn, unseren Gott, den Heiligen Israels“ (vgl. Jes 55,5)!

I.

Das ist unser Gott!

So ist er: der große Einladende! „Auf! Kommt! Geld spielt bei mir keine Rolle!“ Bewegende Worte, wenn wir an die Nachrichten und Bilder dieser Tage denken! Wasser, Getreide, Milch und Wein – ganz ohne Bezahlung! So kann nur sprechen, wer an seiner Lebensfülle alle teilhaben lassen will.

Eine kaum auszuhaltende Spannung - wir spüren es - wenn Bibelwort und Lebenskontext so direkt aufeinanderprallen: Gottes Logik ist eine andere als die der Welt. „Ihr werdet, ihr sollt leben!“ (vgl. Jes 55,3) Alle! Bedingungslos! Lebens- statt Profitmaximierung! Gottes Güte als Basis des Lebens anstelle von Spekulation und Kalkül.

Alles, was Juden und Christen vom Gott der Bibel bekennen und bezeugen, ist eingeschrieben in diese weltumfassende Geste der göttlichen Einladung zum Leben. Angefangen von der Schöpfungsgeschichte auf den ersten Seiten der Heiligen Schrift steht Gott als der grundlos Zuvor-Kommende da. Er ist der Schöpfer. Er will das Leben, nicht den Tod.

Das ist die Erfahrung des erwählten Volkes: Der Tod ist unsicher geworden; Gott rettet. Die Chaoswasser müssen weichen. Gott befreit aus den „Banden des Todes“ (vgl. Ps 18). Gott teilt das Lebenswasser aus. Ja, nicht nur Wasser und Brot stellt Gott bereit. Ein Fest will Gott seinen Geschöpfen bereiten. Nicht weniger hat er im Sinn.


II.

„Auf, ihr Durstigen, kommt alle zum Wasser!“ (Jes 55,1) Mit biblischen Ohren gehört, bekommt dieses Wort noch einen zweiten, einen tieferen Sinn: Die Einladung zum Festmahl geht über in die Aufforderung zum Hören – und das gleich drei Mal: „Hört! – Neigt euer Ohr! – Hört!“ (Jes 55,2f) Das Bild des Wassers wird zum Bild für Gottes Wort, für seine Lebens-Weisung. Gemeint ist die Tora, der Wille Gottes vom Sinai. In ihr geht es nicht um „Gesetzlichkeit“, um „Einschränkungen der Freiheit“: Das Zuvor-Kommen Gottes soll vielmehr auf immer das Leben prägen. Gottes neues Leben bleibt kein leeres Versprechen; er selbst hat es in eine Lebens-Weisung für eine neue Art des menschlichen Zusammenlebens übersetzt.

Dazu hat Gott sich ein Volk ausgewählt und es an sich gebunden, und zwar auf ewig. Wir Christen haben in den letzten Jahrzehnten erst mühsam wieder lernen müssen, dass wir, wenn wir den Jüdinnen und Juden begegnen, „dem Volk des nie gekündigten Bundes“ (Johannes Paul II.) ins Auge schauen. Nach den Jahrhunderten des Hochmuts und der Verfolgung ist ein neues Hören auf Gottes bleibend gültige Verheißung für sein Volk gefordert. Das ist ein Akt der Umkehr. Es ist kein einfacher Weg von der tief sitzenden Ver-Achtung zur Achtung der „Würde des auserwählten Volkes“, der „israelitica dignitas“ – so beten wir in jeder Osternacht (vgl. das Gebet nach der 3. Lesung). Aber wir sind – trotz aller Rückschläge und Irritationen – auf diesem Weg vorangeschritten und einander wirklich näher gekommen. Gott sei Dank!

Sie, verehrter Herr Rabbiner Brandt, haben von der Wende gesprochen, und wir alle haben sie miterlebt, dankbar nach den furchtbaren Ereignissen der Schoa. Und – ich kann nur sagen: Es wird keine Wende der Wende geben! Der Weg geht nach vorne und dafür stehe ich hier. [lang anhaltender Applaus]

In einer kühnen Neu-Fassung und Aktualisierung der alten Verheißungen führt uns die Lesung aus Jesaja die Würde des Gottesvolkes vor Augen: Das Königtum in Israel ist längst untergegangen. Gottes Verheißungen jedoch bleiben bestehen. Er nimmt seine Liebe, seine Huld nicht zurück. Gottes Güte gilt; sie kennt keinen Widerruf. Die Königs-Würde geht vom König David auf das ganze Volk über: „Ihr sollt mir als ein priesterliches Königreich und ein heiliges Volk gehören.“ (Ex 19,6). Gottes Liebe drängt immer dazu, sich auszubreiten, sie strömt über, nichts hält sie auf. David, der vom Tode Gerettete, wird von Gott ganz „groß herausgebracht“. Wir haben das eben in Psalm 18, dem „Katholikentagspsalm“, besungen. So wie David zum anschaulichen Beispiel für Gottes Liebe und seinen Lebenswillen geworden ist, so steht nun in seiner Nachfolge das Gottesvolk insgesamt als Gottes Zeuge vor den Völkern da.


III.

Der Bund, die unverbrüchliche Verbindung zwischen Gott und seinem Volk, wirkt im wahrsten Sinne des Wortes „attraktiv“, anziehend, für die Völker der Welt: Von dieser Anziehungskraft redet das Jesajabuch am Anfang in der großartigen Vision von den Völkern, die zum Zion gehen. Sie kommen, weil sie dort Weisung erwarten, die die Kriege beendet, so dass aus Schwertern Pflugscharen werden können (vgl. Jes 2,1-5). Auch der Prophet Sacharja spricht ganz anschaulich davon: „In jenen Tagen werden zehn Männer aus den Völkern aller Sprachen einen Mann aus Juda an seinem Gewand fassen, ihn festhalten und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört: Gott ist mit euch.“ (Sach 8,23).

Auf diese Weise werden das ersterwählte Volk und die Völker wechselseitig zu Zeugen füreinander: Die, die bisher den einen Gott nicht kannten, erfahren im Blick auf das Gottesvolk, wie Gott ist und wo man ihn finden kann. Die Völker ihrerseits bezeugen, dass die Verwandlung der Welt in ein Haus des Lebens für alle schon längst begonnen hat: Gott hat sich seinem Volk geschenkt, „er hat es herrlich gemacht“ (vgl. Jes 55,5). Die große Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. Einladung Gottes steht folglich nicht nur auf dem Papier: Gott hat mitten unter den Menschen einen Weg gebahnt zum Fest des Lebens.

Die Päpstliche Bibelkommission hat im Jahr 2001 Überlegungen zum Verhältnis zwischen Juden und Christen vor dem Hintergrund der Beziehungen zwischen dem Alten und dem Neuen Testament veröffentlicht. Was ich dort lese, ist für mich wie ein Kommentar zu den Worten der Jesajalesung. Gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Verständigungsschwierigkeiten, die gezeigt haben, dass wir die Gespräche nicht einfrieren sollten, sondern vertiefen müssen, haben die Einsichten der Bibelkommission eine nahezu prophetische Qualität:


„Die Erwählung Israels (so heißt es in diesem Dokument) ist nicht nur ein zentrales Thema des Alten Testaments, sie bleibt auch im Neuen Testament von grundlegender Bedeutung. Das Heil, dass er (d. i. Jesus Christus) durch sein Ostergeheimnis gebracht hat, ist an erster Stelle den Israeliten zugedacht. Wie es schon das Alte Testament voraussah, hat dieses Heil auch universelle Auswirkungen. Es wird auch den Heiden angeboten… Die von den Heidenvölkern gekommenen Christen erlangen das Heil nur dadurch, dass sie durch ihren Glauben an den Messias Israels der Nachkommenschaft Abrahams eingegliedert werden.“


Und weil diese tief in der Bibel verankerten Gedanken gleichwohl immer noch vielen Christinnen und Christinnen unvertraut sind, fügt die Bibelkommission verdeutlichend hinzu:


„Viele von den ‚Völkern’ gekommene Christen sind sich nicht genügend bewusst, dass sie von sich aus ‚wilde Schösslinge’ waren und dass sie ihr Glaube an Christus dem von Gott erwählten Ölbaum eingepfropft hat.“ (PBK, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel, VerlApostSt 152, Nr. 85 pass.)


Wir stehen immer noch am Anfang des Nachdenkens über das große Geheimnis Israels und der Kirche im Werk der Erlösung. Aber all’ unser Bemühen ist getragen von dem Gott, der nicht aufhört, zum Fest des Lebens einzuladen – und dessen Einladung allen gilt, die den Durst nach wahrem Leben verspüren. Amen.




Schlusswort vor dem Segen von Rabbiner Brandt

Möge diese Gemeinsamkeit auch weiter in uns und für uns wirken, mögen wir Hand in Hand vorwärts in die Zukunft schreiten, gemeinsam wirkend für eine friedliche und eine gerechte Gesellschaft, in der jeder Mensch – jeder Mensch, wer auch immer – seinen Platz und seine Sicherheit hat. Aber all unsere Anstrengungen wären nichts, wenn Gott unseren Weg nicht segnen würde – und so mit den uralten Worten, die bereits in der Thora geschrieben stehen, die Aaron, der erste Hohepriester Israels, über das Volk sprach, und [mit denen] seit jenen Tagen Väter und Mütter, Rabbiner und dann Geistliche anderer Denominationen und Konfessionen ihre Kinder und ihre Mitglieder gesegnet haben. Die wunderbaren Worte, die enden „und er gebe dir Schalom“:


„Der HERR segne dich und behüte dich!
Der HERR lasse sein Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig!
Der HERR erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden!“
[Num 6,24-26]





Die Autoren

ERZBISCHOF DR. ROBERT ZOLLITSCH
und
LANDESRABBINER em. DR. h. c. HENRY G. BRANDT


Erzbischof Dr. Robert Zollitsch wurde am 9. August 1938 in Philippsdorf (Filipovo, im ehemaligen Jugoslawien) geboren.

Er wurde am 27. Mai 1965 in Freiburg zum Priester geweiht. Am 16. Juni 2003 ernannte Papst Johannes Paul II. ihn zum Erzbischof von Freiburg. Am 20. Juli 2003 wurde er von Erzbischof em. Dr. Oskar Saier zum Bischof geweiht und in sein Amt als 14. Erzbischof von Freiburg eingeführt.

Seit dem 18. Februar 2008 ist er Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.





Geboren am 25. September 1927 in München. 1939 Emigration über England nach Tel Aviv. 1951 bis 1955 Studium der Wirtschaftswissenschaften. 1957 nahm er ein Studium am Leo Baeck College in London auf und beendete es 1961 mit dem Rabbinerdiplom (Semicha). Anschließend Rabbinertätigkeit in Leeds, Genf, Zürich und Göteborg. Von 1983 bis 1995 war er Landesrabbiner der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, von 1995 bis 2004 Landesrabbiner von Westfalen-Lippe in Dortmund. Seit 2004 ist er Gemeinderabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg. Darüber hinaus betreut er als Amtsrabbiner die Jüdische Kultusgemeinde Bielefeld. Brandt ist seit 1985 jüdischer Vorsitzender des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Außerdem ist er Mitglied im Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken.

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