ONLINE-EXTRA Nr. 145
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Im Dezember 2009 veröffentlichte eine Initiative christlicher Bischöfe, Theologen und Laien Palästinas einen Appell, der inzwischen von über 2500 Unterzeichner gefunden hat. Das in Anlehnung an einen ähnlichen Aufruf, den südafrikanische Kirchen 1985 auf dem Höhepunkt der Unterdrückung unter dem Apartheidregime erlassen haben, als »Kairo-Palästina-Dokument« bezeichnete Papier trägt den Titel: "Die Stunde der Wahrheit: Ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe aus der Mitte des Leidens der Palästinenser und Palästinenserinnen". (Für den vollständigen Wortlaut des Dokumentes siehe hier: Kairos-Palästina-Dokument). Zu den Mitverfassern gehören u.a. der Patriarch Michel Sabbah, der Pastor der Weihnachtskirche in Bethlehem, Mitri Raheb und Erzbischof Atallah Hanna. Das Dokument versteht sich als ein Aufruf an die Christinnen und Christen in Palästina und Israel, um gegen alle Resignation und allen Zynismus ein Zeichen der Hoffnung zu setzen. Darüber hinaus formulieren die christlichen Palästinenserinnen und Palästinenser auch ihre Erwartungen an die Solidarität der weltweiten Christenheit und wenden sich dabei ebenso an Muslime und Juden, an das palästinensische und israelische Volk.
In einem politisch hoch-explosiven Kontext - dem Nahost-Konflikt - berührt das Papier sowohl unmittelbar wie auch mittelbar zentrale Aspekte des Verhältnisses von "Kirche und Israel" als auch den christlich-jüdischen Dialog, wobei der im Dokument enthaltene Boykott-Aufruf gegen „alle von der Besatzung hergestellten Güter“ bzw. gegen ganz Israel sicher zu den problematischsten gehört. Dementsprechend fielen und fallen die Reaktionen auf das Papier sehr unterschiedlich aus - von großer Zustimmung beispielsweise in den Reihen von Pax Christi bis hin zu scharfer Kritik etwa von Seiten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft bis hin zu moderat vermittelnden Positionen, wie sie der Internationale Rat der Christen und Juden (ICCJ) einzunehmen versucht (siehe auch ONLINE-EXTRA Nr. 122, Stellungnahme des Pfarrers für das Gespräch zwischen Christen und Juden der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Michael Volkmann).
Im nun vorliegenden ONLINE-EXTRA Nr. 145 unternimmt der evangelische Theologe Klaus Wengst eine eingehende Analyse des Dokuments, indem er nach seinen impliziten wie expliziten theologischen Grundlagen fragt und auch deren politische Implikationen bedenkt. Wengsts ernüchternde Analyse und stellenweise scharfe Kritik, die er an einer Reihe anti-judaistischer Denkfiguren übt, die der Argumentation des Dokuments innewohnen, erscheint an dieser Stelle erstmals in schriftlicher Form und geht auf einen gleichlautenden Vortrag zurück, den er während einer Studientagung des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit am 13. Mai 2011 in Bonn hielt.
COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe des Textes an dieser Stelle!
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Online-Extra Nr. 145
Im Dezember 2009 haben palästinensische Christen und Christinnen „Ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe aus der Mitte des Leidens der Palästinenser und Palästinenserinnen“ veröffentlicht, das durch seine Verbreitung als „Kairos Palästina-Dokument“ durch den Ökumenischen Rat der Kirchen große Aufmerksamkeit fand. Da dieses Wort betont und ausführlich theologisch redet, stelle ich zunächst seine theologische Grundlegung dar, diskutiere sie danach in vier Punkten und füge zum Schluss noch einige Anmerkungen hinzu.
1. Theologische Grundlegung des Dokuments: die Betonung der Universalität
Nach einer knappen Einführung und einer Beschreibung der Realität, wie die Autoren und Autorinnen des Wortes sie wahrnehmen, setzen sie dezidiert theologisch mit einem Glaubensbekenntnis ein, das – gut christlich – trinitarisch ausgerichtet ist. Der erste Artikel beschreibt Gott als „den einen Gott, den Schöpfer des Universums und der Menschheit“, als „einen gütigen und gerechten Gott, der jedes seiner Geschöpfe liebt“, von dem jeder Mensch als Ebenbild Gottes seine Würde hat. Der zweite Artikel identifiziert „Gottes ewiges Wort“ als „Seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, den er der Welt als Heiland gesandt hat“. Der dritte Artikel versteht den heiligen Geist als Wegbegleiter für „die Kirche und die ganze Menschheit“. Insbesondere wird ihm eine Funktion für „uns“ zugeschrieben, nämlich als Hilfe, „die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments“ in ihrer Zusammengehörigkeit zu verstehen, indem er „uns die Offenbarung Gottes für die Menschheit in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft kund(tut)“ (2.1). In allen drei Artikeln fällt die ebenso umfassende wie ausschließliche Bezogenheit auf das Universum, die Welt, die Menschheit auf.
Als Erläuterung dazu, wie das Wort Gottes zu verstehen ist, wird in Bezug auf Jesus Christus als weitere Glaubensaussage angeführt, dass er „in die Welt gekommen ist, um das Gesetz und die Weissagung der Propheten zu erfüllen“ (2.2.1). Während diese an Matthäus 5,17 anklingende Aussage dort im Gegensatz zur Annullierung von Tora und Propheten deren bleibende Geltung betont, dient sie hier dazu, das Verstehen der heiligen Schriften an Jesus Christus auszurichten und sie also auf ihn hin zu lesen. Anschließend wird der Neuheitscharakter seines Auftretens betont, indem seine Verkündigung, „dass das Himmelreich nahe herbeigekommen sei“ – nebenbei: in Matthäus 3,2 ist das vorher wortidentisch schon die Verkündigung Johannes des Täufers –, mit dem Satz weitergeführt wird: „Er löste im Leben und im Glauben der ganzen Menschheit eine Revolution aus.“ Der Neuheitscharakter wird weiter dadurch unterstrichen, dass aus Markus 1,27 die Kennzeichnung des Wirkens Jesu als einer „neuen Lehre“ aufgenommen und von ihr gesagt wird, sie werfe „ein neues Licht auf das Alte Testament“ und „auf Themen wie die Verheißungen, die Erwählung, das Volk Gottes und das Land“ (2.2.2).
Worin das Neue positiv besteht, ist schon durch die bisherige Grundlegung, die immer wieder die universale Dimension betonte, vorbereitet und wird in den ersten beiden Abschnitten des Teils ausgeführt, der die Überschrift trägt: „Unser Land hat einen universellen Auftrag“. In der Ausführung wird diese Überschrift zunächst als Glaubenssatz wiederholt, um daraus zu folgern: „In dieser Universalität erweitert sich die Bedeutung der Verheißungen, des Landes, der Erwählung und des Volkes Gottes und schließt die ganze Menschheit ein.“ Die „Verheißung des Landes“ sei „im Lichte der Lehren der Heiligen Schrift“ zu verstehen als „der Auftakt zur vollständigen universellen Erlösung“ (2.3). Ganz entsprechend heißt es am Beginn des nächsten Abschnitts: „Gott sandte die Patriarchen, die Propheten und die Apostel mit einem universellen Auftrag für die Welt in dieses Land“ (2.3.1)
Knapp zusammengefasst, kann man sagen: Gott ist als der Gott aller Welt beschrieben, Jesus hat die Funktion, ein neues Licht auf das Alte Testament zu werfen und der heilige Geist dient als Hermeneut, der dazu anleitet, das Alte Testament ganz und gar auf das allein in universaler Ausrichtung verstandene Neue Testament hin zu lesen. Diese Position ist keine Besonderheit der palästinensischen Verfasserinnen und Verfasser dieses Wortes. Mit ihr partizipieren sie an einer langen christlichen Tradition, die immer wieder die Universalität gegen die Partikularität ausspielte und dabei vor allem dem partikularen Israel jedwede theologische Relevanz absprach. Palästinensische Besonderheit ist allenfalls, dass diese Darlegung hier gelingt, ohne Israel und seine Geschichte oder Aspekte seiner Geschichte auch nur ein einziges Mal zu benennen.
In den letzten Jahrzehnten ist vielen Christinnen und Christen jedoch deutlich geworden, dass sich in der Geschichte der Kirche eine das Partikulare ins Universale aufhebende Interpretation der Bibel und eine ihr entsprechende Theologie eminent judenfeindlich ausgewirkt haben. Und es ist ihnen aufgegangen, dass weder im Alten noch im Neuen Testament eine solche Aufhebung des Partikularen ins Universale erfolgt, sondern dass Partikularität und Universalität in einem produktiven Spannungsverhältnis zueinander stehen. Deshalb ist mit der theologischen Grundlegung im Wort der palästinensischen Christen und Christinnen eine kritische Auseinandersetzung geboten.
2. Gott als Gott aller Welt ist und bleibt Israels Gott
Der erste Artikel des palästinensischen Glaubensbekenntnisses vernachlässigt, wie das auch bei den altkirchlichen Glaubensbekenntnissen der Fall ist, mit der alleinigen Betonung des universalen Aspekts ein wesentliches Moment der biblischen Bezeugung Gottes. Nach ihr ist Gott ganz gewiss als der Schöpfer der Gott aller Welt. Aber er ist kein Allerweltsgott, sondern dezidiert Israels Gott, dem es gefallen hat und weiter gefällt, mit diesem Volk, dem jüdischen Volk, eine besondere Bundesgeschichte zu haben. Das gilt unbestreitbar für das Alte Testament, das zuvor jüdische Bibel war und weiterhin jüdische Bibel ist, was Christinnen und Christen mit dem Judentum verbindet wie mit keiner anderen Religion. Und diese besondere Bundesgeschichte mit Israel – und also die Identität Gottes als Israels Gott – ist nach dem Zeugnis des Neuen Testaments durch Jesus nicht beendet oder aufgehoben, sondern gilt weiterhin. Das zeigt sich terminologisch darin, dass auch das Neue Testament ausdrücklich von Gott als „Israels Gott“ spricht (Matthäus 15,31; Lukas 1,68; Apostelgeschichte 13,17). Vor allem aber stellt Paulus im Römerbrief die bleibende Verbundenheit von Gott und jüdischem Volk heraus, wobei er gerade seine nicht an Jesus als Messias glaubenden Landsleute im Blick hat. Sie bezeichnet er in 9,4–5 mit dem Ehrennamen „Israeliten“ und sagt anschließend: „Ihnen gehören die Sohnschaft, der Glanz, die Bundesschlüsse, die Gabe der Tora, der Gottesdienst und die Verheißungen; ihnen gehören die Väter und von ihnen kommt der Gesalbte seiner Herkunft nach.“ Darauf blickt er in 11,29 zurück, wenn er beteuert: „Unwiderruflich sind die Gnadengaben und die Berufung Gottes.“ Unmittelbar vorher hatte er zur Beurteilung seiner Jesus ignorierenden Landsleute in einer – von vielen Übersetzungen nicht kenntlich gemachten – Zwar-Aber-Konstruktion die Erwählung als gegenüber dem Evangelium wichtigeren Gesichtspunkt herausgestellt.
Paulus hatte in den Kapiteln 1–8 des Römerbriefes den Unterschied zwischen Israel und den Völkern doppelt eingeebnet, sowohl hinsichtlich der menschlichen Sünde als auch hinsichtlich der göttlichen Gnade. In Bezug auf letztere hatte er ausgeführt, dass im Gesalbten Jesus Gott seine Gerechtigkeit, seine rettende Hilfe, auch den Völkern erwiesen hat. Hier ist es in der Tat zu einer universalen Ausweitung gekommen. Dennoch hält er an der bleibenden Besonderheit Israels fest. Die Besonderheit Israels in seiner Beziehung zu Gott gilt Paulus nicht in einem allgemeinen Universalismus aufgehoben. Vielmehr ist Gott „im Gesalbten Jesus“ auch Gott für die Völker gerade als Israels Gott und in seiner bleibenden Bezogenheit auf Israel. Israel wird nicht universalisiert. Für eine Reihe evangelischer Landeskirchen in Deutschland hatte das die Konsequenz, dass sie Aussagen über die bleibende Treue Gottes zu seinem Volk Israel in ihre Grundordnungen eingeschrieben haben. Das aber bedeutet nicht weniger, als dass die Bezogenheit auf das außerhalb der Kirche lebende Judentum konstitutiv zur christlichen Identität gehört. Der katholische Neutestamentler Rainer Kampling hat im Blick auf die nachkonziliare Israeltheologie seiner Kirche von der „Bindung der Kirche an Israel in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ als „einem signum ecclesiae“ gesprochen.1
So wenig im Neuen Testament die universale Ausweitung das partikular Besondere aufhebt, so wenig ist das Alte Testament, ist die jüdische Bibel auf die Darstellung einer partikularen Bundesgeschichte beschränkt, sondern stellt sie in einen universalen Rahmen. Das zeigt sich etwa an Stellen der Psalmen und der prophetischen Bücher, an denen die Völker zum Lob des Gottes Israels, des einen Gottes und Schöpfers der Welt, eingeladen werden. Es zeigt sich vor allem aber daran, dass in der Konstruktion der jüdischen Bibel der mit Abraham beginnenden besonderen Bundesgeschichte eine allgemeine Menschheitsgeschichte vorangestellt ist. In ihr ist das erste geschaffene menschliche Wesen nicht der erste Israelit, sondern schlicht ein „Mensch“, ein Mensch, der als Mann und Frau geschaffen ist. Es ist jedoch nicht ohne Bedeutung, dass vom Menschen zunächst in der Einzahl gesprochen wird. In der alten jüdischen Tradition wird gelehrt, der Mensch sei als einzelner geschaffen worden „um des Friedens der Geschöpfe willen, damit nicht ein Mensch zu seinem Nächsten sage: ‚Mein Vater ist größer als dein Vater.‘“ Es wird dann fortgefahren: „Um die Größe des Königs aller Könige, des Heiligen, gesegnet er, zu verkünden: Wenn nämlich ein Mensch 100 Münzen mit einem einzigen Stempel prägt, sind sie alle einander gleich. Aber der König aller Könige, der Heilige, gesegnet er, prägte jeden Menschen mit dem Stempel des ersten Menschen, aber keiner von ihnen gleicht seinem Nächsten. Daher ist jeder Einzelne verpflichtet zu sagen: ‚Meinetwegen ist die Welt erschaffen worden.‘“2 So groß ist die Würde eines jeden Menschen, des Ebenbildes Gottes. Auch hier kommen Universalität und Partikularität zusammen.
BÜCHER von Klaus Wengst
3. Der jüdische Jesus und universales Heil
Wie Gott im ersten Artikel des palästinensischen Glaubensbekenntnisses nicht in seiner Bundesbeziehung mit dem Volk Israel gesehen wurde, sondern ausschließlich in seinem Bezug auf die gesamte Schöpfung, so ist im zweiten Artikel nirgends erkennbar, dass Jesus als Jude unter Juden im Land Israel gewirkt hat. Auch hier erscheint allein der universale Aspekt. Jesus ist „der Welt als Heiland gesandt“ und er „kam in die Welt“. Auch diese Herauslösung Jesu aus dem Judentum teilt das palästinensische Wort mit der herkömmlichen christlichen Tradition. Wie in vielen Jesusdarstellungen dieser Tradition soll offenbar ein großer Bruch Jesu mit der biblisch-jüdischen Tradition suggeriert werden, wenn vom Auslösen einer „Revolution“ durch ihn die Rede ist „im Leben und im Glauben der ganzen Menschheit“. Das klingt radikal, bleibt aber inhaltlich fast völlig unbestimmt. Die einzige inhaltliche Ausführung besteht darin, dass unmittelbar anschließend die Wendung „eine neue Lehre“ aus Markus 1,27 aufgenommen wird, ohne auf den dortigen Kontext einzugehen. Nach ihm sind es die in der Synagoge von Kafarnaum Anwesenden, die sich fragen, ob das „eine neue Lehre aus Vollmacht“ sei, nachdem Jesus nicht nur gelehrt, sondern einen Besessenen von seinem Dämon befreit hatte. In der Rezeption im palästinensischen Wort dient die Wendung „eine neue Lehre“ allein als Brücke für die Behauptung, die „neue Lehre“ werfe „ein neues Licht“ auf das Alte Testament und die in ihm begegnenden Themen Verheißungen, Erwählung, Volk Gottes und Land. Im Klartext ist gemeint: Diese in der jüdischen Bibel, im Alten Testament, auf Israel bezogenen Themen werden durch die „neue Lehre“ aus diesem Bezug gelöst und universalisiert. Das wird deutlicher ausgeführt in auf den dritten Artikel bezüglichen Aussagen. Deshalb gehe ich darauf im nächsten Abschnitt näher ein, da hier auch die Frage des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament zueinander betroffen ist. Das Thema Land soll dann eigener Gegenstand des übernächsten Abschnitts sein.
Hier sei nur noch auf Folgendes hingewiesen. Es ist in der Arbeit der letzten Jahrzehnte am Neuen Testament immer deutlicher geworden, dass die Darstellungen Jesu in den Evangelien ganz und gar hineingehören in den jüdischen Kontext des ersten Jahrhunderts, und zwar nicht nur in den Kontext der Zeit Jesu um das Jahr 30, sondern auch in den Kontext der Zeit der Evangelien zwischen 70 und 100, der von innerjüdischen Auseinandersetzungen geprägt war. Das hat zwei Konsequenzen, die ich nur eben andeute. Einmal haben wir den Unterschied unserer Situation als Angehörige einer Kirche, die zur reinen Völkerkirche geworden ist, zur Situation der Entstehung der Texte aus innerjüdischen Auseinandersetzungen bei der Auslegung mit zu reflektieren. Und zum anderen lässt die Erkenntnis gerade auch der inhaltlichen Eingebundenheit der Evangelien in ihren jüdischen Kontext die Überlegenheitsrhetorik vergangener Zeiten, die an manchen Stellen bis in die Gegenwart hineinreicht, als ziemlich fad erscheinen. Das einzig wirklich Neue am Neuen Testament besteht darin, dass Menschen aus den Völkern – und mit ihnen wir – durch die auf Jesus bezogene Verkündigung im heiligen Geist zu dem einen Gott, Israels Gott, gekommen sind, zu ihm beten und ihn loben können, ohne jüdisch werden zu müssen. Wieder ist es Paulus, der das im Römerbrief mehrfach mit einem betonten „Auch“ zum Ausdruck bringt: auch die Völker (1,16; 2,9f.; 4,9.11f.; 9,24). Wiederum wird dieses „Auch“ an manchen Stellen von manchen Übersetzungen übergangen. In der Nachdichtung von Psalm 117 durch Joachim Sartorius ist das „Auch“ einprägsam zum Ausdruck gebracht, wenn die Völker zu Lob und Dank an Gott dafür aufgefordert werden, „dass er euch auch erwählet hat und mitgeteilet seine Gnad in Christus, seinem Sohne“.3
4. Über das Verhältnis der beiden Testamente zueinander
Der heilige Geist führe uns vor Augen, heißt es im dritten Artikel des palästinensischen Glaubensbekenntnisses, dass beide Testamente, das Alte und das Neue, zusammengehören. Wie diese Zusammengehörigkeit zu verstehen sei, daran wird kein Zweifel gelassen. Das traditionelle Schema von Weissagung und Erfüllung wird aufgenommen, nach dem Jesus Christus als die Erfüllung des im Alten Testament Geweissagten gilt. Und diese Erfüllung lässt die Verheißung als den „Auftakt zur vollständigen universellen Erlösung“ erscheinen. Auch hier saugt die für das Neue Testament einseitig behauptete Universalität alles Partikulare auf. Das Alte Testament wird ganz und gar von dem so verstandenen Neuen Testament her wahrgenommen und als Vorstufe auf es hin ausgerichtet. Man kann hier Luthers Auslegungsregel wiederfinden, im Alten Testament gelte das, „was Christum treibet“. Aber man soll sich dann über die Konsequenzen klar sein, die bei Luther auch ausdrücklich gezogen werden. Wenn das Alte Testament nur „in Christus“ richtig verstanden werden kann, dann muss man den Juden jedwedes angemessene Verstehen ihrer Bibel absprechen und folgerichtig dann auch rechte Gotteserkenntnis und rechten Gottesdienst und sie schließlich – was bei Luther tatsächlich geschieht – der Übertretung des ersten Gebots bezichtigen.4 Wenn man das nicht wollen kann und darf, muss man nach einer anderen Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament suchen. Und dazu leiten die neutestamentlichen Schriften auch selbst an. Mehr nebenbei sei angemerkt, dass es in der christlichen Bibel durchaus Verbindungslinien im Sinne von Verheißung und Erfüllung gibt. Aber sie dürfen nicht zur dominanten und schon gar nicht zur einzigen Kategorie der Verhältnisbestimmung erklärt werden. Weiter ist zu beachten, dass im gesamten Neuen Testament die Zuordnung von „verheißen“ und „erfüllen“ nur ein einziges Mal terminologisch begegnet (Apostelgeschichte 13,32–33). Und schließlich ist bei der neutestamentlichen Rede vom „Erfüllen der Schrift“ der hebräische Sprachhintergrund des neutestamentlichen Griechisch in Anschlag zu bringen. Hinter dem griechischen plerósai („erfüllen“) steht das hebräische lekajém („zustande bringen“, „verwirklichen“, „tun“, „aufrichten“, „in Geltung setzen“). Das tritt besonders deutlich hervor an der programmatischen Stelle Matthäus 5,17.5
Wichtiger ist die Beachtung folgender Binsenweisheit: Als die neutestamentlichen Autoren ihre Schriften verfassten, gab es noch kein Neues Testament. Was es aber ganz selbstverständlich für sie gab, war die jüdische Bibel, waren die in ihrer Zeit als heilig geltenden Schriften. Dass sie in und mit ihrer Bibel lebten, zeigt sich implizit und explizit in ihren eigenen Werken, sodass diese gar nicht ohne ihre Bibel verstanden werden können. In den Evangelien z.B. finden sich immer wieder Zitate aus der jüdischen Bibel und Anspielungen auf sie. Man wird geradezu sagen müssen: Die Evangelisten erzählen die Geschichte Jesu mit ihrer Bibel. Das geschieht in besonderer Dichte in den Passionsgeschichten. Indem sie Jesu Leiden und Tod mit ihrer Bibel erzählen, ziehen sie damit den in der Bibel bezeugten Gott in dieses düstere Geschehen hinein. Sie interessiert, was Gott mit diesem Geschehen zu tun hat; sie interessiert, was Gott damit anfängt. Die bloßen Fakten bleiben nicht sozusagen selbstmächtig bei sich selbst. Indem Gott in das Geschehen hineinkommt, öffnet sich eine über die niederschmetternden Fakten hinausgehende Perspektive. Dafür brauchen sie die Schrift; sie generiert die von ihnen erzählte Geschichte. Daher ist die Schrift der Raum des Evangeliums und der Evangelien. Damit ist aber deutlich: Ohne das Alte Testament hängt das Neue in der Luft. Bei der Entstehung der Kirche war die jüdische Bibel selbstverständliche Voraussetzung. Dass sie erster Teil der christlichen Bibel ist, darüber wurde in der Geschichte der Kirche nie entschieden oder gar abgestimmt. Sie war als Vor-Gabe schlicht da. Insofern also das Alte Testament als diese Vor-Gabe Raum des Evangeliums ist, hat es ein Prae, ein zeitliches und sachliches „Zuvor“ und „Voraus“. Andererseits habe ich als Nichtjude nicht von Haus aus eine Beziehung zur jüdischen Bibel. Durch ihr Zusammenbinden mit dem Neuen Testament ist die jüdische Bibel zum Alten Testament der Kirche geworden, das heißt nicht: zum veralteten, sondern zum ersten und in Geltung bleibenden Testament, zu dem ich als Nichtjude Zugang durch das Neue Testament habe. Unter der Hinsicht des Zugangs hat daher für mich das Neue Testament ein Prae, ein „Voraus“ und „Zuvor“. Wie ist dann das Verhältnis von Altem und Neuem Testament zu bestimmen? Ich kann Ihnen das auch im eigentlichen Sinn des Wortes hand-greiflich demonstrieren an dem Bibelexemplar, das ich am häufigsten gebrauche, damit Sie diesen Zusammenhang ein für allemal be-greifen. Ich habe mir ein griechisches Neues Testament, die neuste Ausgabe des Nestle/Aland, zusammen binden lassen mit einer jüdischen Bibel, gekauft in einem Buchladen in Meah Schearim in Jerusalem. Ich wollte einmal auch für meinen Arbeitszusammenhang eine Bibel haben, die ganze Bibel und kein isoliertes Neues Testament. Ich halte den Gebrauch isolierter Neuer Testamente für fatal. Das ruft den Eindruck hervor, als sei das Neue Testament die „eigentliche“ christliche Bibel, als könne man auf das Alte Testament „eigentlich“ verzichten.
Zum anderen ist meine Bibel praktisch: Ich habe immer den Urtext beider christlicher Bibelteile in einem Buch parat. Das gibt es seit ca. zehn Jahren auch bei der Bibelgesellschaft, indem das griechische Neue Testament in Form des Nestle/Aland und die christlich herausgegebene Biblia Hebraica als ein Buch gebunden sind. Ich war schon vorher auf die Idee gekommen. Das hier ist mein zweites Exemplar; das erste war nach elf Jahren verschlissen. Vor allem aber habe ich bewusst eine jüdische Bibel genommen, um mir klar zu machen und es immer vor Augen zu haben: Der erste Teil der christlichen Bibel war zuvor und ist zugleich die heilige Schrift einer anderen Gemeinschaft; und die jüdische Bibel erinnert mich zudem daran, dass zu ihr eine jüdische Auslegung gehört.
Diese Bibel ist symbolträchtig. Sie hat kein „Hinten“ und kein „Vorn“. Griechisch liest man von links nach rechts, hebräisch aber von rechts nach links. Entsprechend werden auch hebräisch geschriebene Bücher genau anders herum gemacht als bei uns. „Hinten“ ist in meiner Bibel also von beiden Richtungen her in der Mitte. Anders gesagt: Die Mitte dieser Bibel wird vom jeweiligen Schluss ihrer beiden Teile gebildet. In der traditionellen christlichen Bibel, in den Übersetzungen, steht am Übergang vom Alten zum Neuen Testament einmal der Schluss des Zwölfprophetenbuches, die Schrift Maleachi, an deren Ende auf den wiederkommenden Elija geblickt wird, und zum anderen der Anfang des Matthäusevangeliums, wo Elija in der Gestalt Johannes des Täufers kommt. Das könnte – muss aber nicht – als aufsteigende Linie gelesen werden. In meiner Bibel stößt ganz anderes zusammen: Den Schluss der jüdischen Bibel bildet das 2. Chronikbuch mit dem Erlass des persischen Königs Kyros, der es Juden, die wollen, erlaubt, wieder ins Land Israel und nach Jerusalem zurückzukehren. Das letzte Wort in 2. Chronik 36,23 lautet: vejáal („und er möge hinaufsteigen“). Am Ende des Neuen Testaments steht die Offenbarung des Johannes. Vor ihren rahmenden Schlussbemerkungen findet sich in Kap. 21,1–22,5 die große Vision vom neuen Jerusalem, das vom Himmel herabkommt. In dieser Bibel begegnen sich also am Ende ihrer beiden Teile in der Mitte des Ganzen das jetzige und das kommende Jerusalem – Jerusalem, das aus dem Exil zurückkommenden Juden Heimat und Zuflucht gibt und das doch auch in der hebräischen Bibel schon über sich selbst hinaus weist auf das kommende Jerusalem, zu dem die Völker der Welt pilgern, wie es dann auch die Offenbarung des Johannes visionär zeichnet. Das finde ich eine schöne jüdisch-christliche Perspektive.
5. Das Problem des Landes
Die Frage nach dem „Land“ spielt im Wort der palästinensischen Christen und Christinnen eine besondere Rolle. Ihr soll deshalb in einem eigenen Abschnitt nachgegangen werden. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass in diesem Wort neben den Verheißungen, der Erwählung und dem Volk Gottes auch das Land in universale Perspektive gerückt wird. In ihr erweitere sich seine Bedeutung und schließe die ganze Menschheit ein. Was das in Bezug auf das Land konkret heißt, bleibt allerdings reichlich verschwommen, aber in der Verschwommenheit dann doch wieder fatal eindeutig. Negativ ist jedenfalls deutlich, dass es aus der Bindung an Israel gelöst wird. So wurde ja auch die „Verheißung des Landes“ als „der Auftakt zur vollständigen universellen Erlösung“ verstanden und die Sendung von Patriarchen, Propheten und Aposteln „in dieses Land“ als mit „einem universellen Auftrag für die Welt“ versehen.
Dem entspricht eine lange und breite christliche Tradition, gestützt auch von der neutestamentlichen Forschung, dass im Neuen Testament das Land als Israels Land keine Rolle spiele. Dieser im Alten Testament sich findende Bezug sei durch die Universalisierung des Heils im Neuen Testament überholt. Doch so wenig durch die im Neuen Testament erfolgende universale Ausrichtung die besondere Bedeutung des Volkes Israel in ein Allgemeines aufgehoben wird, so wenig geschieht das mit der spezifischen Bindung dieses Volkes an das Land Israel. Das zeigt sich schon terminologisch daran, dass in Matthäus 2,20–21 zweimal ausdrücklich vom „Land Israel“ gesprochen wird. In Matthäus 10,23 bezeichnet der Begriff „Israel“ in der Verbindung „die Städte Israels“ ebenfalls das Land und an einer Reihe weiterer Stellen ist mit „Israel“ die Einheit von Volk und Land Israel gemeint (Matthäus 8,10/Lukas 7,9; Matthäus 9,33; Lukas 2,34; 4,25.27; 24,21; Apostelgeschichte 1,6; so auch in der Verbindung „König Israels“: Johannes 1,49; 12,13; vgl. Matthäus 27,42/Markus 15,32). Auf diesen neutestamentlichen Sprachgebrauch hinzuweisen, scheint mir nicht ganz unwichtig zu sein. Denn unser Sprachgebrauch im Blick auf dieses Land war und ist weitgehend immer noch durch eine Entscheidung Kaiser Hadrians bestimmt. Nach dem zweiten jüdisch-römischen Krieg von 132–135 hatte er harte Strafmaßnahmen gegen das jüdische Volk ergriffen, die unter seinem Nachfolger wieder aufgehoben wurden – bis auf eine, die bis heute nachwirkt. Unter Aufnahme eines nur bei Literaten zuweilen gebrauchten Begriffs verordnete er der bis dahin als „Judäa“ benannten Provinz den Namen „Palästina“, um schon von dieser Bezeichnung her nicht an Juden denken zu lassen.
Wichtiger als dieser begriffliche Hinweis ist jedoch die Beobachtung, dass der Zusammenhang von Volk und Land Israel im Neuen Testament keineswegs aufgehoben wird, sondern sich im Gegenteil an einigen Stellen ausdrücklich findet. Das ist besonders deutlich der Fall in den ersten beiden Kapiteln des Lukasevangeliums, in denen durchgehend im Blick auf Johannes den Täufer und Jesus sehr massiv eine national-politische Hoffnung für Israel entworfen wird, die selbstverständlich auf das Land bezogen ist. Ich will hier nur Weniges anführen.6 Am Ende seiner Ankündigung der Geburt Jesu gegenüber Mirjam sagt der Engel Gabriel in Lukas 1,32–33: „Der wird ein Großer werden und Sohn des Höchsten heißen. Der Ewige, Gott, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Herrschen wird er über das Haus Jakob auf immer; seine Herrschaft wird kein Ende haben.“ Das ist nationale, politische Messianologie. Den alleinigen Bezug auf Israel macht die ausdrückliche Nennung „des Hauses Jakob“ unübersehbar. Nach Lukas 1,68–75 sagt der Priester Zacharias im Anschluss an die Beschneidung seines Sohnes Johannes: „Gesegnet der Ewige, Israels Gott: Denn er nimmt sich seines Volkes an, bereitet ihm Befreiung und richtet uns ein Horn der Rettung auf im Hause Davids, seines Knechtes. Wie er von jeher geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten: uns zu retten vor unseren Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen; an unseren Vorfahren Erbarmen zu üben und seines heiligen Bundes zu gedenken, des Schwures, den er Abraham, unserem Vater, geschworen hat; es uns – befreit aus der Hand unserer Feinde – zu geben, dass wir ihm ohne Furcht dienen in Lauterkeit und Gerechtigkeit, vor ihm all unsere Tage.“ Wiederum ist der Bezug auf Israel evident; das politisch-theologische Ziel ist deutlich herausgestellt. Zweimal ist von der Befreiung bzw. Rettung aus der Hand der Feinde bzw. der Israel Hassenden die Rede; und als Ziel dessen gilt, Gott ohne Furcht dienen zu können. Wenn dieses Dienen näher durch „Lauterkeit“ und „Gerechtigkeit“ charakterisiert wird, geht es um ein Gott entsprechendes, seinen Geboten nachkommendes religiöses und soziales Leben in der Gemeinschaft des Volkes Israel im Lande Israel. In Lukas 2,38 heißt es von der Prophetin Hanna, dass sie zu derselben Stunde über Jesus zu allen redete, „die auf die Befreiung Jerusalems warteten“. Jerusalem steht hier pars pro toto für Israel in der Verbindung von Volk und Land.
Die hier in den ersten beiden Kapiteln des Evangeliums geweckte Hoffnung wird in der dann folgenden Erzählung der Geschichte Jesu nicht erfüllt. Aber sie wird auch nicht dementiert. Im Gegenteil. Dazu gehe ich jetzt nur auf Apostelgeschichte 1,6 ein. Dort fragen die mit Jesus Gekommenen ihn unmittelbar vor seiner Himmelfahrt: „Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her?“ Jetzt, da sie nicht mehr meinen, dass Jesus ein für allemal tot sei, halten sie die Hoffnung, dass Jesus es wäre, der Israel befreien würde, nicht mehr für eine enttäuschte (vgl. Lukas 24,21), sondern haben sie erneut. Jetzt ist er von den Toten aufgestanden; ob er jetzt diese Hoffnung erfüllt? Wiederum dementiert Jesus diese Hoffnung nicht. Aber er sagt auch nicht ihre sofortige Erfüllung zu: „Nicht euch kommt es zu, Zeiten und Zeitpunkte zu kennen, die der Vater in eigener Souveränität festgesetzt hat“ (Apostelgeschichte 1,7). Dementiert wird das „Jetzt“ der Erfüllung dieser Erwartung, aber zugleich damit wird die Erwartung bestätigt, und zwar als eine, die Gott selbst zur Erfüllung bringen wird. Was den Schülern jetzt zukommt, sagt Jesus anschließend: „Ihr werdet vielmehr Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über euch kommt, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis ans Ende der Erde“ (Apostelgeschichte 1,8). Wie verhalten sich die Aussage von der Errichtung „des Reiches für Israel“ und die Aussage von der in der Kraft des heiligen Geistes erfolgenden Sendung zueinander, einer Sendung, die über Israel hinausgeht „bis ans Ende der Erde“? Stehen sie unverbunden nebeneinander oder besteht hier ein sachlicher Zusammenhang?
Diese Frage lässt sich von Lukas 2,30–32 beantworten, wo Simeon mit dem sechs Wochen alten Jesus auf den Armen sagt, in Frieden sterben zu können: „Haben doch meine Augen gesehen, womit Du retten willst. Du hast es bereitet vor allen Völkern: ein Licht zur Offenbarung für die Völker und zum Glanz für Dein Volk Israel“. Hier begegnen im Lukasevangelium erstmals die Völker, und zwar als Gegenstand von Gottes Hilfe und Rettung. Er nimmt hier die biblische Grundunterscheidung zwischen Israel und den Völkern auf und bringt beide Größen in einen Zusammenhang miteinander. Von dem Kind, das Simeon in den Armen hält, sagt er: „ein Licht zur Offenbarung für die Völker“. Er spricht mit seiner Bibel. In Jesaja 42,6–7 heißt es in einer Gottesrede an die im Dienst Gottes stehende Gestalt: „Ich, der Ewige, habe dich gerufen in Gerechtigkeit, halte dich an deiner Hand und behüte dich. Ich mache dich zum Bund für das Volk (= Israel), zum Licht für die Völker.“ Dieselbe Konstellation findet sich Jesaja 49,6, wo es am Schluss heißt, dass Gottes „Hilfe reiche bis ans Ende der Erde.“ Was Simeon hier sagt, ist von diesen biblischen Texten gespeist. Eigentümlich ist Lukas an dieser Stelle der Begriff „Offenbarung“; und eigentümlich ist der Bezug auf Jesus. Den Völkern der Welt soll also durch Jesus offenbart werden, dass Israels Gott als der eine und alleinige Gott auch der Gott aller Welt und also ihr Gott ist, der sich in dem hier beschriebenen Kind auch ihnen helfend und rettend zuwendet. Hier, wo Lukas zum ersten Mal in seinem Werk die Völker in eine positive Beziehung zu Jesus als dem Mittel bringt, mit dem Gott hilft und rettet, stellt er sofort Israel positiv daneben. Jesus ist demnach nicht nur „ein Licht zur Offenbarung für die Völker“, sondern auch und eben damit ein Licht „zum Glanz für Dein Volk Israel“. Wie kann Jesus als „Licht zur Offenbarung für die Völker“ zugleich damit zum Glanz für Gottes Volk Israel werden? Ich denke, dass Lukas dabei folgende Vision hatte: Wenn die Völker durch Jesus den Gott Israels als den einen Gott aller Welt und damit auch als den ihren erkennen, dann können sie doch nicht mehr Gottes Volk Israel bedrängen und bedrücken und sich feindlich gegen es verhalten. Dann müsste sich doch für Israel erfüllen, was Zacharias gesagt hatte, „dass es uns gegeben sei – befreit aus der Hand unserer Feinde – ohne Furcht Gott zu dienen in Lauterkeit und Gerechtigkeit, vor ihm all unsere Tage“ (Lukas 1,73–75). Wenn das die Hoffnung des Lukas war, ist sie vom Verlauf der weiteren Geschichte bitter enttäuscht worden. Nach den Schrecken des vorigen Jahrhunderts und dem Erschrecken darüber ergibt sich mir als Konsequenz der vorgelegten Lektüre die Notwendigkeit einer theologischen und praktisch-politischen Wahrnahme Israels als des Volkes Gottes, die in die Pflicht nimmt, dazu beizutragen, dass es diesem Volk gegeben sei, befreit aus der Hand seiner Feinde ohne Furcht in eigener Identität leben zu können.
Was sich hier bei Lukas findet, hat bereits Paulus in prägnanter Kürze in Römer 15,8 zum Ausdruck gebracht. „Ich sage ja: Der Gesalbte ist Diener des Volks der Beschneidung geworden zum Erweis der Treue Gottes, um die den Vorfahren gegebenen Verheißungen zu bestätigen.“ Er stellt hier eine Beziehung des Gesalbten – und dabei denkt er natürlich an Jesus – zum Volk Israel her. Dieser ist in Bezug auf es „Diener“, hat also eine diakonische Funktion. Er vollzieht sie „zum Erweis der Treue Gottes“. Was Paulus in Römer 9–11 ausgeführt hat, wird hier auf eine knappst mögliche Formulierung gebracht: Gott hält Treue zu seinem Volk – unabhängig von dessen Stellung zum Messias Jesus. Im Gegenteil: Für diese Treue steht Jesus als Gesalbter auch noch ein. Er tut es so, dass er die den Vorfahren gegebenen Verheißungen bestätigt. Was sind die den Vorfahren gegebenen Verheißungen? Selbstverständlich diejenigen, die Paulus aus seiner Bibel kennt, nämlich vor allem die von Nachkommenschaft und Land und vom sicheren und gesicherten Leben im Land. Als Gesalbter ist Jesus so Diener Israels, dass er solche Verheißungen nicht etwa annulliert, außer Kraft gesetzt hätte. Er hat sie aber auch nicht erfüllt, sondern bestätigt; sie gelten weiterhin unverbrüchlich. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass Paulus mit den Verheißungen hier nicht die Kategorie der Erfüllung verbindet, sondern der Bestätigung. Wenn von Jesus die Erfüllung der auf Israel bezogenen Verheißungen behauptet würde, ginge das nur durch deren Spiritualisierung beim gleichzeitigen Wegziehen der Israelbezeichnung vom faktisch existierenden Judentum. Beides will Paulus ganz offensichtlich nicht. Jesus als der Gesalbte hat die auf Israel bezogenen Verheißungen nicht erfüllt, aber er hat sie auch alles andere als aufgelöst; er hat sie bestätigt.
Demgegenüber erscheint es mir als hochproblematisch, wie im Wort der palästinensischen Christen und Christinnen vom „Land“ gesprochen wird. An keiner einzigen Stelle werden die Begriffe „Land“ und „Israel“ in positiver Hinsicht auch nur entfernt miteinander in Verbindung gebracht; in Bezug auf das „Land“ erscheint „Israel“ ausschließlich als Besatzer. Dagegen wird die Wendung „unser Land“ mehrfach mit biblischen Stellen in Beziehung gesetzt. In 2.2 wird Hebräer 1,1–2 zitiert, dass „Gott vorzeiten … geredet hat zu den Vätern durch die Propheten“ und „in diesen letzten Tagen zu uns … durch den Sohn“. Nimmt man die Zuschrift des Hebräerbriefes ernst, geht es dort bei „uns“, den Angeschriebenen, mit denen sich der Verfasser zusammenfasst, um Juden und bei den „Vätern“ um deren Vorfahren. In diesem Dokument jedoch wird das Zitat so eingeführt: „Wir – also Palästinenser und Palästinenserinnen – glauben, dass Gott zu den Menschen hier in unserem Land gesprochen hat“ (Hervorhebungen von mir). In 2.3.1 wird die Wendung „dieses Land“, in das Gott die Patriarchen, Propheten und Apostel sandte, im übernächsten Satz aufgenommen mit der Formulierung „unser Land“. Diese Art zu formulieren, ist zumindest nicht davor geschützt – um es vorsichtig zu sagen –, implizit als Anspruch auf das ganze Land westlich des Jordan als „unser Land“ verstanden zu werden. Ich sehe auch nicht, wie der nächste Abschnitt, 2.3.2, nicht als Infragestellung des Existenzrechtes des Staates Israel gelesen werden kann. Nach der Herausstellung dessen, dass die eigene palästinensische Präsenz „tief in der Geschichte und Geographie dieses Landes verwurzelt“ sei, wird fortgefahren: „Es war Unrecht, dass wir (?) aus dem Land vertrieben worden sind. Der Westen (?) versuchte, das Unrecht, das Juden in den Ländern Europas erlitten hatten, wiedergutzumachen, aber diese Wiedergutmachung ging auf unsere Kosten in unserem Land. Unrecht sollte korrigiert werden; das Ergebnis war neues Unrecht.“ Kann man diese nur sehr bestimmte Aspekte aufnehmende, also verkürzende und deshalb verzerrte Darstellung der Geschichte anders verstehen, als dass mit ihr das gesamte ehemalige britische Mandatsgebiet als „unser Land“ beansprucht und so bestritten wird, der Staat Israel bestehe zu Recht? Von daher muss man den schön klingenden Aufruf in 9.1, „eine gemeinsame Vision zu suchen, die sich auf Gleichberechtigung und Teilen gründet“, mit äußerster Skepsis betrachten, wie er denn wohl verstanden sei.
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6. Abschließende Anmerkungen
Im vorigen Abschnitt ist deutlich geworden, dass die theologische Auseinandersetzung hier aufs engste mit der politischen verzahnt ist. Für mich ist von der Bibel her klar, dass Volk und Land Israel unlösbar zusammengehören, und es scheint mir ebenfalls evident zu sein, dass diese Zusammengehörigkeit unter heutigen Bedingungen eine staatliche Form haben muss. Damit ist nichts gesagt über die Grenzen dieses Staates und damit ist keine Besatzung legitimiert. Aber an der Existenzberechtigung des Staates Israels darf es nichts zu rütteln geben. Das Wort der palästinensischen Christen und Christinnen führt alle Übel, die sie erfahren, monokausal auf die Besatzung zurück und meint daher, wenn die Israelis die Besatzung beendeten, würden sie „dann eine neue Welt ohne Angst und Bedrohung entdecken, in der Sicherheit, Gerechtigkeit und Frieden herrschen“ (1.4). Der Rückzug Israels aus dem Südlibanon und aus dem Gazastreifen hat gezeigt, dass das eine illusorische Sicht der Dinge ist. Sie ist deshalb illusorisch, weil das entscheidende Problem in der fehlenden Anerkenntnis und Akzeptanz des Staates Israel seitens mächtiger Staaten der Region und von ihnen ausgehaltener militanter Organisationen unter den Palästinensern besteht. Auch das Wort der palästinensischen Christen und Christinnen spricht diese Anerkenntnis nicht aus, sondern unterminiert sie implizit. Die „Vision von Gleichberechtigung und Teilen“ wurde 1948 von arabischer Seite mit Krieg beantwortet. Daran wird in diesem Wort nicht erinnert. Erinnert wird an 1948 nur unter der Perspektive der „Nakba“ (Katastrophe) und – damit zusammenhängend – an das nun schon im siebten Jahrzehnt offen gehaltene Flüchtlingsproblem. In den arabischen Ländern lebten 1948 etwa 860.000 Juden. Fast 400.000 von ihnen wurden 1948 vertrieben, die damals Gebliebenen bis auf einen minimalen Rest in den beiden folgenden Jahrzehnten. Sie wurden in Israel – und anderswo – integriert. Eine – teilweise – Integration der palästinensischen Flüchtlinge ist inzwischen nur in Jordanien erfolgt. Rolf Schieder urteilt über das Kairos Palästina-Dokument: „Es ist frappierend selbstgerecht. Ein Bekenntnis eigener Schuld fehlt. Die Opferperspektive erstickt jede Selbstkritik.“ 7
Bei aller notwendigen Kritik ist diesem Wort zuzugestehen, dass es aus einer Situation erfahrenen Leidens und erfahrener Bedrängnis redet. Besatzung, wie immer sie zustande gekommen ist, produziert Demütigung, Leiden und auch Tod. Besatzung darf kein Dauerzustand sein. Der größte Skandal dieses Wortes besteht in meinen Augen darin, dass und wie es durch den Ökumenischen Rat der Kirchen verbreitet worden ist. Statt den Autoren und Autorinnen deutlich zu machen, dass ihre theologischen Aussagen an schlimmer traditioneller Judenfeindschaft partizipieren,8 statt ihnen die Sicht zu erweitern und ihnen so zur Selbstkritik zu verhelfen, hat er es als „Kairos Palästina-Dokument“ benannt in ausdrücklicher Anlehnung an das „Kairos-Dokument“, einen Aufruf südafrikanischer Kirchen aus dem Jahr 1985 gegen das Apartheidsregime in ihrem Land. Im Wort der palästinensischen Christen und Christinnen selbst ist eine solche Entsprechung nicht ausdrücklich vorgenommen, allerdings an drei Stellen angelegt. In 4.2.6 wird dazu aufgerufen, „sich für den Rückzug von Investitionen und für Boykottmaßnahmen der Wirtschaft und des Handels gegen alle von der Besatzung hergestellten Güter einzusetzen“. Unklar bleibt hier, ob sich der Boykott nur gegen israelische wirtschaftliche Aktivitäten in den besetzten Gebieten richten soll oder gegen Israel überhaupt. Dass Letzteres gemeint ist, ergibt sich aus den beiden anderen Stellen. In 6.3 nennen die Verfasser allgemein „Boykottmaßnahmen und den Abzug von Investitionen“ und in 7.1 fordern sie, „endlich ein System wirtschaftlicher Sanktionen und Boykottmaßnahmen gegen Israel einzuleiten“. Im Abschnitt mit der ersten Erwähnung von Boykottmaßnahmen sprechen sie am Ende die Hoffnung aus, dass sie „vielleicht die lang ersehnte Lösung unserer Probleme erreichen! Das ist schließlich auch in Südafrika und von vielen anderen Befreiungsbewegungen in der ganzen Welt erreicht worden“ (4.2.6). Diese Anspielungen sind vom Ökumenischen Rat der Kirchen durch die Benennung als „Kairos Palästina-Dokument“ sozusagen auf den Punkt gebracht worden, was die antiisraelische Ausrichtung noch einmal – vor allem unterschwellig emotional – enorm verschärft hat. Israel wird damit zum Apartheidsstaat erklärt. Das ist unerträglich.
ANMERKUNGEN
* Vortrag, gehalten am 13. Mai 2011 in Bonn im Rahmen der Studientagung des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit zum Thema "Kairos: Alles hat seine Zeit. Christlich-jüdische Herausforderungen global und lokal"
1 Rainer Kampling, Gott – sein Weg ist untadelig (Ps 18,30). Ein katholischer Blick auf Dabru emet, in: Dabru emet – redet Wahrheit. Eine jüdische Herausforderung zum Dialog mit den Christen, hg.v. Rainer Kampling u. Michael Weinrich, Gütersloh 2003 (S. 43–54), S. 47.
2 Mischna Sanhedrin 4,5.
3 Evangelisches Gesangbuch 293,1.
4 Vgl. dazu Klaus Wengst, Jesus zwischen Juden und Christen. Re-Visionen im Verhältnis der Kirche zu Israel, Stuttgart 22004, S. 30–34.79–81.
5 Vgl. dazu Klaus Wengst, Das Regierungsprogramm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2010, S. 67–70.
6 Ausführliche Darstellung bei Klaus Wengst, „… zum Glanz für Dein Volk Israel“. Warum Lukas nach dem Evangelium noch die Apostelgeschichte schrieb, in: „Mache dich auf und werde licht!“ Ökumenische Visionen in Zeiten des Umbruchs, Festschrift Konrad Raiser, hg.v. Dagmar Heller u.a. Frankfurt am Main 2008, S. 234–239.
7 Rolf Schieder, EKD regt Diskussion über Wirtschaftsboykott Israels an, Kirche und Israel 25, 2010 (S. 191–194), S. 194.
8 Vgl. Schieder, a.a.O., S. 192: „Es ist die geschwisterliche Pflicht der europäischen Christen, ihre palästinensischen Schwestern und Brüder nachdrücklich auf die Gefahren eines theologischen Antijudaismus aufmerksam zu machen.“
Der Autor
Prof. Dr., geboren 1942 in Remsfeld (Bezirk Kassel); 1961-1967 Studium der evangelischen Theologie in Bethel, Tübingen, Heidelberg und Bonn; 1967 Promotion in Bonn; 1970 Habilitation in Bonn; seit 1981 Professor in Bochum;
infolge der Studentenbewegung und daraus resultierender politischer Betätigung sozialgeschichtlich orientierte Exegese; seit Ende der 80er Jahre Begegnung mit dem Judentum, 1991 Studienaufenthalt an der Hebräischen Universität in Jerusalem.
Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag; Mitglied des Evangelischen Studienkreises Kirche und Israel in Rheinland und Westfalen; Mitglied des Ausschusses Christen und Juden der Evangelischen Kirche von Westfalen.
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