ONLINE-EXTRA Nr. 8
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Das Evangelische Gottesdienstbuch hält im siebten Leitkriterium fest, dass der Gottesdienst ein wichtiger Ort ist, die Verbindung zum Judentum zum Ausdruck zu bringen. Diesen Anspruch versucht eine ebenso interessante wie streitbare Publikation einzulösen: "Der Gottesdienst im christlich-jüdischen Dialog. Liturgische Anregungen – Spannungsfelder – Stolpersteine." Herausgegeben wurde der Band von Alexander Deeg im Auftrag des Zentralvereins für Begegnung von Christen und Juden und von BCJ.Bayern (Begegnung Christen und Juden), unter Mitarbeit von Sabine Bayreuther, Hans-Jürgen Müller und Axel Töllner. (Siehe Anzeige weiter unten).
Ausgangspunkt des Bandes ist eine kritische Sichtung der im offiziellen Evangelischen Gottesdienstbuch für die einzelnen Sonn- und Feiertage zusammengestellten Texte (Lesungen, Wochensprüche, Psalmen etc.). Die Herausgeber fragen dann: Welche intertextuellen Wechselwirkungen, welche Spannungen tun sich auf, auch: welche Räume werden geöffnet, wenn in diesem Zusammenspiel gegenwärtiges Judentum mit seinen Texten und Interpretationen durch die Zeiten hindurch immer mit bedacht wird?
Nach der kritischen Analyse und Darstellung des Wechselspiels der Texte folgen konkrete Vorschläge für eine liturgische Praxis, die berücksichtigt, dass wir immer Gottesdienst in Israels Gegenwart feiern: konkrete neue Gebetsformulierungen, Meditationen, neue Abendmahlsbetrachtungen und anderes mehr bis hin zu knapp kommentierten Liedvorschlägen.
Diese praktischen neuen Textvorschläge zu jedem Sonn- und Feiertag machen damit auch den Schwerpunkt des Buches aus. Es ist im Wesentlichen ein liturgisches Experiment, in dem mutige neue Versuche und Erprobungen im Mittelpunkt stehen, um eine neue Qualität in das sensible gottesdienstliche Verhältnis zwischen Christen und Juden zu bringen.
Im Nachfolgenden stellt Ihnen COMPASS einen exemplarischen Beitrag aus dem Band vor. Passend zu diesen Tagen geht es in dem Beispiel um den Sonntag Kantate, der mitten in die Osterzeit fällt.
COMPASS dankt der Autorin und den Herausgebern des Buches für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 8
1. Zum Eigenen von Kantate
Der Sonntag Kantate fällt mitten in die Osterzeit. Wie beinahe alle anderen Sonntage des Osterfestkreises ist auch Kantate benannt nach dem Anfang des Leitverses (Antiphon) zum Eingangspsalm (Introitus): "Cantate Dominum canticum novum". Die mit diesem Sonntag verbundenen Traditionen sind in Bewegung. Das zeigt sich an der Zusammenstellung der mit diesem Sonntag verbundenen Texte in den Perikopenordnungen. Die lutherische Agende I von 1958 und die unierte Agende I von 1958 geben als Epistellesung und Evangelienlesung noch die von alters her gelesenen Texte Joh 16,5-15 und Jak 1,17-21 an. Die Glaubenden gehen einen Weg von Ostern über Himmelfahrt nach Pfingsten, und durch die uralten Lesungen dieses Sonntages wird der Zusammenhang dieses Weges hervorgehoben. Die Perikopenordnung von 1978 hat von diesen jahrhundertealten Lesungen abgesehen. Die Evangelienlesung ist nicht länger ‚altkirchlich’. Die Lesungen sind ganz und gar an der Bedeutung orientiert, die Kantate seit dem 19. Jahrhundert gewonnen hat: Kantate ist der Sonntag der Kirchenmusik.
2. Das Spannungsfeld der Lesungen
Mit den Lesungen des Sonntags Kantate ist etwas Außerordentliches geschehen: Alle Lesungen orientieren sich an Ps 98. Ist im EGb zumeist das Evangelium der "rector" aller anderen Lesungen, so gibt für diesen Sonntag Ps 98 den Ton an. Die Psalmenreihe unserer Perikopenordnung ist uralt, älter noch als die Evangeliumsreihe. In der Kirche werden und wurden schon immer Psalmen gesungen. In der Synagoge werden Psalmen gesungen. Jesus hat Psalmen gesungen. Er ging seinen Weg, Psalmen singend und betend, lebte und starb mit den Psalmen auf den Lippen. Auf den Weg Jesu gerufen singen Menschen in der Kirche die Psalmen Israels. Paulus fordert in Kol 3,16 die Gemeinde auf, Psalmen zu singen: So wohnt das Wort Christi bei den Menschen. Kol 3,12-17 ist die klassische neutestamentliche Grundlage für die ekklesiologische Bedeutung des Singens in der Kirche: Singen betrifft das Wesen der christlichen Gemeinde und ist unverzichtbar für den Gemeindeaufbau. Das Singen in der Kirche ist nicht Schnörkel, notfalls überflüssige Verzierung, sondern betrifft den Kern unseres Glaubens: Singenderweise werden wir zur Gemeinde Jesu Christi.
3. Unsre Tradition und ihre Lasten: Exklusivität
Das Singen ist immer auch Einstimmen in das Lied anderer: Einstimmen in das Lied des Psalmdichters, in das Lied Jesu Christi, in die Lieder Israels, in die Lieder der vielen Kirchenlieddichter aus unserer Zeit und aus früheren Zeiten. Diese Dimension des Singens ist in der kirchlichen Tradition wenig bewusst. Eine Differenzierung zwischen ‚meinem Lied’ und dem Singen eines anderen, oder etwa ‚unseres’ Liedes in der Kirche und dem Singen Israels, dem Singen in der Synagoge, ist in Kirchenliedtexten nur selten zu beobachten. Für den Sonntag Kantate sind im Evangelischen Gesangbuch zwei mögliche Wochenlieder angegeben: "Lob Gott getrost mit Singen" von den Böhmischen Brüdern (EG 243) und Luthers "Nun freut euch, lieben Christen g'mein" (EG 341). In beiden Liedern wird deutlich: um die Christengemeinde geht es, die hier singt. Das Heilsgeschehen ist ausschließlich das Geschehen zwischen Christus und dem Singenden. Kinder Gottes außerhalb der Kirche kommen hier kaum in den Blick.
Der Gottesdienst im christlich-jüdischen Dialog
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Ausgangspunkt dieses Bandes ist eine kritische Sichtung der im offiziellen Evangelischen Gottesdienstbuch für die einzelnen Sonn- und Feiertage zusammengestellten Texte (Wochensprüche, Lesungen, Psalmen etc.). Im Wechselspiel dieser Texte werden intertextuelle Wechselwirkungen und Spannungen sichtbar gemacht, die aus den o.a. Kontexten erwachsen sind.
Doch es bleibt nicht bei dieser kritischen Analyse. Nach der beispielhaften Benennung solcher »Stolpersteine« einer unserem jüdischen Erbe gerecht werdenden Liturgie folgen konkrete Vorschläge für eine an diesen Punkten veränderte liturgische Praxis: konkrete neue Gebetsformulierungen, Meditationen, neue Abendmahlsbetrachtungen und anderes mehr bis hin zu knapp kommentierten alternativen Liedvorschlägen. Diese praktischen neuen Textvorschläge zu jedem Sonn- und Feiertag machen damit auch den Schwerpunkt des Buches aus. Es ist im Wesentlichen ein liturgisches Experiment, in dem mutige neue Versuche und Erprobungen im Mittelpunkt stehen, um eine neue Qualität in das sensible gottesdienstliche Verhältnis zwischen Christen und Juden zu bringen.
4. Unsre Tradition und ihre Chancen: Einstimmen in den Jubel Israels Gesegnet bist du, ewiger Gott: - Abendmahlsgebet für Kantate An allen Orten, zu allen Zeiten wollen wir dir danken, guter Gott:
Ps 98 ruft die Völker, die ganze Erde auf, einzustimmen in dieses Lied Israels und zu jubeln über die Wunder JHWHs. Auf die Befreiung aus Ägypten und auf die Umkehr aus dem Exil wird hier angespielt: So hat JHWH seine Gerechtigkeit offenbart, vor den Augen der Völker, so kommt JHWH, um den ganzen Erdkreis zu richten. Zwischen Pessach und dem Wochenfest findet in der Synagoge das Omer-Zählen statt, entlang der 49 Worte von Ps 67: unter den Völkern, auf der ganzen Erde, reift die Erstlingssaat von Pessach hin zur reichen Ernte am fünfzigsten Tag, dem Beginn des Wochenfestes, der in der Kirche zum Pfingstfest geworden ist. Die Völker werden mit hineingenommen in die Bewegung Israels - hin zum Zion als dem Ort, von dem die Schrift ausgeht in alle Welt (Jes 2,3). Ist das der Grund, warum man in der frühen Christenheit Ps 98 seinen Ort gab in der Liturgie der 49 Tage zwischen Ostern und Pfingsten? Deutlich ist jedenfalls: dieses Lied Israels weist Kirchenmenschen, die in der Völkerwelt ihre Wurzeln haben, auf den Grund der Befreiung, die durch das Ostergeschehen, das Pessach Jesu, auch ihnen zuteil geworden ist. Diesen Psalm singen ist Mitsingen mit Israel, Einstimmen in den erleichterten Jubel von Moses und Mirjam, gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen.
5. Ein Tagesgebet und ein Abendmahlsgebet für Kantate
- Tagesgebet
im Munde Unmündiger festigst du deine Macht,
auf Israels Lobgesang thronst du.
Selbst wo die Stimmen brechen, wohnst du.
Öffne unsere Herzen, unsere Sinne,
auf dass wir nicht vorübergehen an deinen Taten, an deinen Wundern,
sondern einstimmen in das Singen deiner Geliebten.
Sei du das Loblied, das wir singen,
Heilsbrunn, aus dem wir trinken. Amen.
Du ziehst vor uns aus, gehst vor uns her
in der Wolke, die dich verhüllt,
im Geistesfeuer, das uns erfüllt,
gehst unseren Weg auf deiner Erde,
Befreier, Tröster, voller Wunder bist du.
Einstimmen müssen wir,
mitsingen den Jubel Israels,
einstimmen mit David, Moses und Mirjam,
Berge, Meere, Ströme, der ganze Erdkreis stimmt ein
in das Loblied, das im Himmel klingt:
(Heilig, heilig, heilig...)
Wir segnen dich, deinen Namen preisen wir:
Treu bist du
deiner ersten Liebe Israel
auf den Wegen Jesu, deines Sohnes.
Deine Liebe teilt er aus.
In deinem Namen ist er gekommen,
er, der verheißene Gott-mit-uns.
An uns Menschen ist er gestorben, uns zum Leben.
Treu bist du:
noch wo die Nacht einbricht durch unsre Taten
ringst du um uns bis zum Anbruch eines neuen Morgens.
Treu bist du in Jesus, unsrem Bruder, deinem Sohn,
der sich an uns austeilt,
der sein Leben bricht wie Brot,
denn in der Nacht ...
Erfüll uns mit deinem Lebensatem, lass die Mauern brechen
und öffne die Türen, hinter denen wir gefangen sitzen,
erschüttere die ganze Erde in deinem Geistesbraus,
auf dass die Kehlen deiner Kinder aufgehen und wir zueinander finden,
dir zum Lobgesang und einander zum Segen. Amen.
Die Autorin
Dr. Maria Pfirrmann ist Pfarrerin der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Amsterdam, Niederlande.