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Online-Extra Nr. 195


Martin Buber neu gelesen

(Hrsg.) THOMAS REICHERT, MEIKE SIEGFRIED und JOHANNES WASSMER
Martin Buber-Studien, Bd. 1. Lich/Hessen, Verlag Edition AV 2013, 432 S.


Die Beiträge des Bandes »Martin Buber neu gelesen« sind in den drei Teilen »I Praxis«, »II Politik« und »III Philosophie und Religion« zusammengestellt. Zu Beginn jedes Teils (S. 71–73, 159–161 und 249–252) führt eine kurze Einleitung in dessen Thematik ein.

Diese Einleitungstexte sind nachfolgend wiedergegeben.



I Praxis

Martin Bubers Denken – das, worauf er hinzeigt – hat Bedeutung im Leben vieler Menschen und ist insofern aktuell; über ein Interesse an Bubers Dialogik hinaus, das z. B. zu wissenschaftlichen Arbeiten über ihn führt, spricht er ins Leben seiner Leserinnen und Leser hinein. Bei einem Teil dieser Menschen führt die Beschäftigung mit Buber darüber hinaus dazu, dass das von ihm beschriebene »dialogische Prinzip« ihr berufliches Wirken prägt.

Für die beruflichen Bereiche, in denen Buber Bedeutung gewonnen hat, können hier nur Beispiele gegeben werden – um zwei dieser Bereiche wird es in den ersten beiden Beiträgen dieses ersten Teils des Bandes, »Praxis«, gehen.

Ein Gebiet, in dem praktische Arbeit und die Reflexion darüber oft zusammenfallen, ist die Psychotherapie, denn hier sind es die Therapeuten (d. h. Praktiker), die in Büchern über ihre berufliche Tätigkeit zugleich reflektieren. Wenn etwa Hans Trüb (1889–1949) über seine Arbeit schreibt, liest sich das oft wie »Buber auf psychologisch«; es ging ihm in seiner Arbeit um ebendie Wirklichkeit, auf die Buber – mit dem er sich immer wieder austauschte – in seinen Schriften hinwies. Bubers Denken wurde und wird im Bereich der Psychotherapie vielfältig aufgenommen: Es gibt Bezüge u. a. zur Gesprächspsychotherapie (vgl. sein Gespräch mit Rogers, wiedergegeben bei Anderson & Cissna), zu einer relationalen Psychoanalyse (vgl. etwa Altmeyer & Thomä 2006), zur Gestalttherapie, um nur drei Beispiele zu nennen.

Frank-M. Staemmler, der für diesen Band den Aufsatz »Heilsame Begegnungen – einige Parallelen zwischen Martin Bubers ›Ich und Du‹ und einer modernen, intersubjektiv orientierten Psychotherapie« geschrieben hat, arbeitet als Gestalttherapeut. Über die Abschnitte seines Beitrags stellt er als Überschriften Zitate Martin Bubers und zeigt, daran anschließend, Bezüge und Parallelen zwischen entwicklungspsychologischen Einsichten, Ansätzen, die sich mit dem Grund psychischer Krankheiten befassen, sowie therapeutischer Praxis und Buber. Indem er neue Forschung sowie gegenwärtige Praxis auf der einen und Bubers dialogisches Denken auf der anderen Seite aufeinander bezieht, gelingt es Staemmler, Bubers Aktualität zu zeigen; zugleich wirken aber die aktuellen Ansätze auf Buber zurück, d. h. sie lassen manches in neuem Licht erscheinen bzw. liefern die Basis, um die Dialogik aus ihrer Sicht zu verstehen.

Jana Marek und Johannes Schopp arbeiten als Dialogbegleiter (oder »Dialogprozess«-Begleiter). In ihrem Beitrag »Das dialogische Prinzip – nötiger denn je!« beschreiben sie u. a., wie sich der Dialog auf eine neue Lern-, Lehr- und Beziehungskultur auswirkt, welchen Einfluss er auf soziale Lern- und Selbstbildungsprozesse der Beteiligten hat und welche Folgen eine dialogische Kultur für die Haltung der »Profis« wie auch für deren Methoden und Konzepte hat. Sie geben Beispiele aus ihrer Arbeit mit Kindern im Sprachcamp, mit Elterngruppen, Ausbildungsgruppen für Dialogbegleiter u. a. Bubers Dialogik ist in ihrer Praxis mit anderen Ansätzen verbunden, etwa mit dem David Bohms (1917–1992), und sie verweisen auf Personen, die ähnlich wie sie arbeiten, z. B. Freeman Dhority sowie Martina und Johannes F. Hartkemeyer. Im Beitrag von Jana Marek und Johannes Schopp wird immer wieder das emanzipatorische Moment der Dialogik deutlich: Sie unterläuft das Machtgefälle, das oft im Verhältnis zu »Experten« bzw. »Expertinnen« besteht, und lässt grundsätzlich jede Erfahrung zu Wort kommen, so befremdlich sie auch sein mag. Es gelingt den Autoren, dem Leser etwa von der Atmosphäre zu vermitteln, die bei der Arbeit mit dem Dialog entsteht.

Wenn Bubers Denken etwa in der Pädagogik oder der Sozialen Arbeit (vgl. Kunstreich 2009) diskutiert wird, wird es auf Gebiete der praktischen Anwendung bezogen – aber das bedeutet noch nicht unbedingt, dass für Pädagogen an Schulen und Sozialarbeiter in ihrer Praxis die Dialogik Bedeutung hat. In den Rahmen einer solchen Art des Praxisbezugs – der Reflexion über die mögliche Anwendung dialogischen Denkens – gehört der dritte Beitrag dieses Teils, Oliver Bidlos Aufsatz »Martin Buber Reloaded – Vom Dialog zur Proxemik«. Bidlo bezieht Bubers Denken auf heutige Kommunikationspraxis. Er denkt Buber mit Vilém Flusser weiter: Kann man die Dialogik für die neuen Kommunikationsbedingungen mit Internet, E-Mails und sozialen Medien fruchtbar machen, und wenn ja: wie? Der Autor zeigt, dass Begriffe wie Unmittelbarkeit, Verantwortung, Verbundenheit auch im Rahmen der neuen Kommunikationstechnologien eine Bedeutung haben und sich der Dialog auch dort von einer Sicht des anderen als Es abhebt. Im Sinne von Bubers quantum satis wird bei Bidlo deutlich, dass man von einem dialogischen Ansatz her die neuen Technologien nicht einfach »abschreiben« und einer mechanischen, »uneigentlichen«, »eshaften« Kommunikation zurechnen sollte.



Literatur

Martin Altmeyer & Helmut Thomä (Hrsg.):
Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta 2006.

Rob Anderson & Kenneth N. Cissna (ed.): The Martin Buber–Carl Rogers Dialogue. A New Transcript with Commentary. Albany: State University of New York Press 1997.

David Bohm: Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen. 2. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta 2000.

Timm Kunstreich: Gedanken zur Aktualität Martin Bubers; in: Hans Ullrich Krause & Regina Rätz-Heinisch (Hrsg.): Soziale Arbeit im Dialog gestalten. Theoretische Grundlagen und methodische Zugänge einer dialogischen Sozialen Arbeit. Opladen & Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich 2009, S. 55–68.

Wolf-Thorsten Saalfrank: Bubers Wirkung auf pädagogische Einzelbereiche. Im Gespräch. Hefte der Martin Buber-Gesellschaft, Nr. 11 (2005), S. 2–14.

Hans Trüb: Heilung aus der Begegnung. Eine Auseinandersetzung mit der Psychologie C. G. Jungs. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1951 (3. Aufl. 1971).

–: Vom Selbst zur Welt. Der zwiefache Auftrag des Psychotherapeuten. Zürich: Speer 1947.



II Politik

In seinem Essay »Der Dichter und die Nation« reflektiert Martin Buber die politische Rolle des Dichters und, um mit Schopenhauer zu sprechen, ›geistvollen‹ Menschen als ›Sprecher‹ und Vorbild eines Volkes. Der Dichter stärke die Kraft eines Volkes entscheidend und sei in der Lage, ihm Richtung zu geben, ohne sich in tagespolitische Belange einmischen zu müssen. Das Volk erhalte Gewissheit über die eigene Kraft und Identität mittels der dichterischen Sprache, die gleichzeitig dem Dichter seine Autorität verleihe. So sei der »große Dichter […] in aller Wahrheit die Blüte der Sprache« (ebd.). Entgegen einer direkten Zielsetzung offen politischer oder sozial engagierter literarischer Texte schreibt Buber aber dieser »Blüte der Sprache« »nicht mehr Aktion, nicht mehr Zwecksetzung, nur noch das untrügliche Sprießen« (ebd.) zu und distanziert die Aufgabe des Dichters von der jedes politischen Funktionsträgers und von jedem »programmatischen Aufruf«. Andererseits ermögliche es der Dichter dem Volk maßgeblich, dass es »auf neuer Straße seinen Weg wiederfindet« (ebd.) – und folglich kommt dem Dichter dann doch eine eminent politische Rolle zu. Instrument dieser richtunggebenden Hilfestellung sei das Wort des Dichters und insbesondere »die Redlichkeit seines Worts. Seines prüfenden, strafenden, sichtenden, läuternden Worts. […] Auch des ganz stillen, unpathetischen, ganz ›lyrischen‹ Worts.« (Ebd.) Wie sehr das Wort auch hier zuerst der Aus- und Ansprache im Sinne einer Begegnung bedarf, um wirken zu können, verdeutlicht Buber in seiner Schlussbemerkung: »Durch die Redlichkeit seiner Ausdruckswahl, durch die Redlichkeit seiner Lippenbewegung hilft der große Dichter, der vorbildliche, zur Richtung und zum Weg. Und dieser – nur der Bote, der seinem Auftrag treu bleibt – ist der große Dichter.« (Ebd.)

Uns scheinen diese Erwägungen nicht nur den Dichter Chaim Nachman Bialik, anlässlich von dessen 50. Geburtstag der Text entstand, in den Blick zu nehmen, sondern allgemein die Stellung des Dichters und Denkers in der Gesellschaft zu reflektieren, dem er eine Rolle als moralisch-politischer Bote zuweist und der an der »Überwindung des Dualismus von […] Moral und Politik« (Buber, Der heilige Weg, S. 116) teilhabe. Buber versteht Politik somit als die Bezugnahme eigenen Wirkens auf konkrete gesellschaftliche Wirklichkeit (vgl. Mendes-Flohr 1982, S. 92). Dementsprechend war er sich etwaiger politischer Implikationen seines eigenen Denkens bewusst und hat Dialog immer auch im Hinblick auf soziale und politische Wirklichkeit gefordert. Darüber hinaus hat er stets Kontakt zu politischen Menschen, von Theodor Herzl bis zu Dag Hammarskjöld, gepflegt, sich in politische Projekte eingebracht, Position bezogen und vielfältig in Aufsätzen und Kommentaren insbesondere zu Fragen des Judentums Stellung genommen. Buber wurde Zionist, hat an jüdischen Weltkongressen teilgenommen und sich als »Bote« eines sozialistischen und auf Ausgleich mit den Arabern bedachten Zionismus verstanden, der dem jüdischen Volk zu »Wiedergeburt« (Buber, Zweierlei Zionismus, S. 349), Gemeinschaft und neuer ›Richtung‹ mitverhilft.

Im Rahmen dieses Bandes setzen sich drei Beiträge beispielhaft mit den vielfältigen politischen Aspekten in Biographie und Werk Martin Bubers auseinander. Weitere Themen, denen beim Bereich »Buber und Politik« große Bedeutung zukommt – sein Verhältnis zu Israel, besonders seine Konzeption der Binationalität zur Lösung des Israel-Palästina-Konflikts; Bubers Bezug zum Sozialismus und die Verbindung zwischen der hebräischen Bibel und seinem Verständnis einer gerechten Gesellschaft – sind in jüngerer Zeit in einer anderen Publikation der Martin Buber-Gesellschaft von Siegbert Wolf (2011) und Martin Stöhr (2011) dargestellt worden. Zu verweisen ist auch auf Paul Mendes-Flohrs Überlegungen zu »Glaube und Politik im Werk Martin Bubers« (Mendes-Flohr 1982).

Burkhard Liebsch setzt in seinem Beitrag Martin Bubers Konzept einer auf kategorialer Fremdheit beruhenden Begegnung in Bezug zur weitgehend bekannten, ›entzauberten‹ Welt der Gegenwart. Liebsch zeigt auf, dass aus Fremdheitserfahrungen die Forderung unbedingter Gastlichkeit hervorgehe, und kritisiert die Ökonomisierung von Gastlichkeit sowie den damit einhergehenden Wertverlust von Fremdheit. Stattdessen fordert er die Anerkennung des Fremden und Ansprache des Anderen als Du und in der Folge eine gastliche, offene Welt, die den Anderen und Fremden als ebendiesen wertzuschätzen vermag.

Bubers Verständnis von menschlicher Gemeinschaft und seine Kontakte zu Denkern wie Gustav Landauer münden schon Jahrzehnte zuvor in sozialistische oder, wie Hans Diefenbacher in seinem Beitrag darlegt, anarchistische Überzeugungen. Diefenbacher verdeutlicht einerseits historische bzw. persönliche Bezüge zwischen der anarchistischen Bewegung, ihren Protagonisten und Martin Buber und stellt andererseits die große inhaltliche Nähe des Buberschen Denkens zu Teilen anarchistischer Programmatik heraus. Neben dem Diktum Gershom Scholems, Buber sei ein »religiöser Anarchist«, greift der Autor auch aktuelle Forschungsmeinungen auf und stellt Bubers Verhältnis zum Anarchismus in Beziehung zu Bubers philosophischem Werk. Dementsprechend erwächst Bubers Affinität zum Anarchismus nicht nur aus der Freundschaft mit Gustav Landauer, sondern stellt die Konsequenz aus Bubers Verständnis von Sozialismus, Utopie und »Gemeinschaft« dar.

Im Anschluss an die Shoah stellt sich die Frage einer Zusammenarbeit zwischen den Völkern für Martin Buber mit Vehemenz. Siegbert Wolf legt in seinem Beitrag in diesem Band ausführlich dar, wie sehr Martin Buber durch die Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus in seinem Verständnis vom Menschen erschüttert wird, wie schwer es ihm fällt, wieder ein Verhältnis zu den Deutschen zu erarbeiten, und dass Martin Buber letztlich dennoch nach Antworten im Sinne des Dialogs und der Mitmenschlichkeit auf die Frage nach dem Umgang mit der Shoah suchen konnte.



Literatur

Martin Buber: Der Dichter und die Nation. Zu Bialiks fünfzigstem Geburtstag (1922); in: Ders.: Der Jude und sein Judentum, a. a.O., S. 809.
–: Der heilige Weg; in: Der Jude und sein Judentum, a. a. O., S. 89–122.
–: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Köln: Joseph Melzer Verlag 1963.
–: Der Weg Israels; in: Ders.: Der Jude und sein Judentum, a. a. O., S. 538–542.
–: Zweierlei Zionismus; in: Ders.: Der Jude und sein Judentum, a. a. O., S. 349–352.

Paul Mendes-Flohr: Glaube und Politik im Werk Martin Bubers; in: Werner Licharz (Hrsg.): Dialog mit Martin Buber. Frankfurt a. M.: Haag und Herchen 1982 (= Arnoldsheimer Texte, Bd. 7), S. 90–107.

Martin Stöhr: »Es geht nicht an, das als utopisch zu bezeichnen, woran wir unsere Kraft noch nicht erprobt haben.« Einige Beobachtungen zu Gerechtigkeit und Frieden bei Martin Buber; in: Wolfgang Krone, Thomas Reichert & Meike Siegfried (Hrsg.): Dialog, Frieden, Menschlichkeit. Beiträge zum Denken Martin Bubers. Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg 2011, S. 52–67.

Siegbert Wolf: »Zion wird mit Gerechtigkeit erlöst«: Martin Bubers Konzeption der Binationalität zur Lösung des Israel-Palästina-Konflikts – und was davon geblieben ist; in: Wolfgang Krone, Thomas Reichert & Meike Siegfried (Hrsg.): Dialog, Frieden, Menschlichkeit. Beiträge zum Denken Martin Bubers. Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg 2011, S. 25–51.



III Philosophie und Religion



»Ich philosophiere nicht mehr als ich muß« (Buber, Antwort, S. 601). Dieses Bekenntnis aus Martin Bubers »Antwort« in dem von Paul Arthur Schilpp und Maurice Friedman herausgegebenen Sammelband Martin Buber hinterlässt bei Leser und Leserin eine eigentümliche Wirkung: Hier geht ein Autor auf Distanz – grenzt sich ab von einer bestimmten Wissenschaftsdisziplin, einer spezifischen Weise zu fragen, zu forschen, zu diskutieren. Doch gleichzeitig verrät diese Aussage ein Angewiesensein auf das Philosophieren – ein ›Müssen‹, eine Notwendigkeit. Zieht man andere Texte von Buber hinzu, wird deutlicher, von welcher Form des Philosophierens er sich absetzt und welches eigene Verständnis von ›philosophischer Erkenntnis‹ er entwickelt: Eine solche Erkenntnis ist für Buber stets ein Akt der »Selbstbesinnung des Menschen« (Buber, Problem des Menschen, S. 315). Diesen Akt müsse der wahrhaft Philosophierende »als Lebensakt vollziehen«, und zwar »ohne vorbereitete philosophische Sicherung«. Buber: »[…] er muß sich […] alledem aussetzen, was einem widerfahren kann, wenn man wirklich lebt« (ebd., S. 316). Es ist nun naheliegend, dass das in einer solchen Selbstbesinnung Erfahrene nur dann adäquat mitgeteilt werden kann, wenn in dieser Mitteilung die ursprüngliche Erfahrung als lebendige Erfahrung aufscheinen kann.

Bubers ›Entdeckung‹ der beiden Grundworte Ich-Du und Ich-Es lässt sich als Akt einer solchen Selbstbesinnung lesen: Bubers ›Dialogphilosophie‹ möchte hinzeigen auf eine – aus Bubers Perspektive – vernachlässigte Dimension menschlichen Lebens; sie appelliert an den Leser und die Leserin, sich jenseits tradierter und eingeübter Wahrnehmungsmuster, Verhaltensweisen, Vokabulare einzulassen auf die Vielfältigkeit des Begegnenden und zu Erfahrenden und auf die mannigfachen Begegnungs- und Erfahrungsweisen dessen, was wir in der Welt ›vorfinden‹.

Dass sich aus Bubers dialogphilosophischer Perspektive Einsichten formulieren lassen, welche aktuelle philosophische Debatten wesentlich bereichern, machen die ersten vier Beiträge dieses Teils deutlich. Die Aufsätze von Meike Siegfried, Antje Kapust und Jens Bonnemann zeigen, welche Impulse Bubers Ansatz für die Diskussion wichtiger Schlüsselbegriffe der Praktischen Philosophie – Verantwortung, Menschenwürde und Anerkennung – zu geben vermag. Der Beitrag von Eva-Maria Heinze lädt dazu ein, im Ausgang von Bubers Thematisierung der Natur als ›Du‹ Perspektiven für naturethische Überlegungen zu entwickeln. Dabei lässt sich auf je unterschiedliche Weise nachvollziehen, wie Bubers besonderes Verständnis von Philosophie Zugänge eröffnet, die fruchtbare Erträge für gegenwärtige Fragestellungen liefern können:

Bubers dialogisches Verständnis von Verantwortung, dies zeigt der Aufsatz von Meike Siegfried, fordert diejenigen Konzeptionen heraus, welche Verantwortung – der neuzeitlichen Tradition folgend – von der Selbstverpflichtung des autonomen, vernunftbegabten Subjekts her denken. Seine Hinwendung zur ›Wirklichkeit‹ der Verantwortung als eines dialogischen Geschehens entlarvt zugleich dasjenige Verständnis von Verantwortung als eine bloße »Metapher der Moral«, welches einer weltabgewandten, selbstbezogenen (philosophischen) Reflexion entstammt.

Mit ihrem Beitrag »Dialogische Momente der Menschenwürde« rekonstruiert Antje Kapust die innovativen Akzentverschiebungen, welche Buber hinsichtlich der Bestimmung von Menschenwürde in kritischer Auseinandersetzung mit drei überlieferten Ideen vornimmt: Durch die Modifikation zentraler Aspekte des Entwurfs der Imago Dei, der kantischen Konzeption von Menschenwürde sowie der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit im 19. Jahrhundert gewinnt die Menschenwürde nach Kapust bei Buber einen wesentlich dynamischen und dialogischen Charakter.

Im darauffolgenden Aufsatz »Ist die Anerkennung ein dialogisches Geschehen?« bringt Jens Bonnemann Buber in ein Gespräch mit der Anerkennungstheorie des Sozialphilosophen Axel Honneth. Das Potential von Bubers Dialogphilosophie sieht Bonnemann vor allem darin, dass sich hier – anders als in Honneths aktuellen Veröffentlichungen – eine »phänomenologische Beschreibung der Anerkennungsbeziehung« finden lässt, die auf Erfahrungen von Anerkennung jenseits institutionalisierter Strukturen verweist. Indem Bonnemann zudem Bubers Sensibilität gegenüber unterschiedlichsten Formen einer »Verdinglichung« des Gegenübers herausstellt, wird deutlich, inwiefern mit Buber eine »dialogphilosophische Präzisierung des Anerkennungsbegriffs« vorgenommen werden kann.

Mit ihrem Beitrag »Natur als Du. Reflexionen zur Bedeutung des Dialogs mit der Natur bei Martin Buber« schließt nun Eva-Maria Heinze einerseits an bereits herausgearbeitete Schlüsselmotive bei Buber an – zentral auch hier sein spezifisches Verständnis von Verantwortung –, geht aber andererseits einer Frage nach, die in den vorherigen Aufsätzen keinen Platz fand: ging es doch in diesen wesentlich um das Potential von Bubers Ansatz für die Beschreibung menschlichen Miteinanderseins. Indem Heinze auf Bubers Schilderungen einer dialogischen Beziehung mit der Natur – Pflanzen, Tieren, leblosen Naturdingen – eingeht, eröffnet sie die Perspektive, die Natur als wesentlichen Bereich der Mitwelt des Menschen zu verstehen, welcher eine spezifische Zuwendung des Menschen fordert.

Diese vier Beiträge zum Potential von Bubers Ansatz für aktuelle philosophische Überlegungen könnten für sich stehen – und sie können es doch auch wieder nicht. An unterschiedlichsten Stellen werden in diesen Aufsätzen Motive angesprochen oder Stellen bei Buber zitiert, die auf den Bereich des Religiösen und die Bedeutung des hebräischen Denkens für Bubers philosophische Schriften verweisen. Bezeichnenderweise sieht sich Buber in dem schon erwähnten Text »Antwort« – dies jedenfalls sein Fazit zu den kritischen Diskussion im Sammelband – vor folgende Alternative gestellt: Philosoph oder Theologe zu sein. Doch wie er der Philosophie eine bestimmte Wendung gibt, so entwickelt er in seinen Texten auch ein spezifisches Verständnis von ›Religion‹ und ›Glaubenserfahrung‹. Gegen Ende von Meike Siegfrieds Beitrags zu Bubers Verantwortungsbegriff wird die Urwirklichkeit von Ich und Du mit Buber als »Religion« beschrieben, konkret als »Religion im Sinne ›gelebter Gegenwart‹, das meint: unter Voraussetzung eines nicht-vergegenständlichten Gottesbegriffs«.

Somit erscheint es als plausibel, die Beiträge zur Philosophie in diesem Abschnitt durch drei weitere zum Themenbereich Religion zu ergänzen und die Leser und Leserinnen dabei zur Entdeckung mannigfacher Querverweise einzuladen; sie erhalten so die Möglichkeit, sich ein eigenes Bild von Bubers spezifischer Herangehensweise zu machen, religiöse Überlieferung – im engen Sinne – im Lichte seiner Dialogphilosophie zu deuten sowie philosophische Entdeckungen wiederum an religiöse Urerfahrungen rückzubinden.

Die beiden Beiträge Wilhelm Schwendemanns beleuchten Bubers Verständnis von Religion aus zwei ganz unterschiedlichen Perspektiven: In »Ein Haus, das Gott nicht bewohnt – einige Bemerkungen zu Martin Bubers Kritik am ›Gott der Philosophen‹« rekonstruiert Schwendemann in einer eingehenden Lektüre von Bubers Buch Gottesfinsternis aus dem Jahr 1953 dessen kritische Auseinandersetzung mit dem Gottesbild sowie den Religionsvorstellungen abendländischer Philosophen; dabei wird Bubers Positionierung gegenüber traditionellen theologischen und religionsphilosophischen Konzeptionen einsichtig und seine Verortung hinsichtlich theologischer Diskurse von der Neuzeit bis zur eigenen Gegenwart deutlich. Der zweite Aufsatz von Schwendemann – »Martin Buber und die evangelische Praktische Theologie. Versuch einer Verhältnisbestimmung« – geht dem Potential nach, welches Bubers Ansatz für unterschiedliche Herausforderungen in religionspädagogischen Kontexten haben könnte. Zentral ist dabei für Schwendemann Bubers Verständnis von Bildung, sofern Buber diese als »einen personalen Vermittlungsprozess zwischen einem Ich/Selbst einer Person und der Welt versteht«. Für den Vollzug eines echten interreligiösen Dialogs lassen sich nach Schwendemann mit diesem Bildungsverständnis wertvolle Perspektiven gewinnen.

Diese beiden Beiträge umrahmen einen Aufsatz von Walter Schiffer, der sich unter dem Titel »Leben lernen, Leben lehren – am Beispiel der Schrift und Abrahams« zunächst den Grundprinzipien von Bubers und Rosenzweigs »Verdeutschung der Schrift« widmet und anschließend Bubers Deutung der Figur Abrahams reflektiert. Wenn Schiffer herausarbeitet, inwiefern die Bibel für Buber das »klassische Dokument der dialogischen Situation« gewesen ist, und anschließend aufzeigt, inwieweit Abraham laut Buber »auf die Ansprache Gottes jeweils mit einer Handlung antwortet«, tritt der Bezug zu den zuvor diskutierten Schlüsselbegriffen – Verantwortung, Menschenwürde – klar hervor. Zudem zeigt sich einmal mehr die unmittelbare Verschränkung philosophischer und religiöser Motive in Bubers Denken.

Als Schluss einer ›Klammer‹ um die drei Abschnitte zur Praxis, Politik, Philosophie und Religion endet der Band mit dem Beitrag von Francesco Ferrari »Individuum und Individuation. Eine Auslegung der Dissertation Martin Bubers«. Ferrari liest Bubers bislang kaum rezipierte Dissertation aus dem Jahr 1904 – Zur Geschichte des Individuationsproblems. Nicolaus von Cues und Jakob Böhme – im Kontext ihrer Entstehungszeit und führt in die zentralen Gedanken von Bubers Text ein. Indem Ferrari den Leserinnen und Lesern diese Schrift vorstellt, wird Buber hier in einer ganz spezifischen Weise ›neu gelesen‹, und die Ausführungen laden dazu ein, sich in intensiveren Diskussionen mit Bubers Dissertation und möglichen Verweisen auf spätere dialogphilosophische Einsichten zu beschäftigen.



Literatur

Martin Buber:
Antwort; in: Paul Arthur Schilpp & Maurice Friedman: Martin Buber. Stuttgart: Kohlhammer 1963, S. 589–639.
–: Das Problem des Menschen; in: Ders.: Werke. Erster Band: Schriften zur Philosophie. München/Heidelberg: Kösel-Verlag/Verlag Lambert Schneider 1962, S. 307–407.




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Thomas Reichert,
Meike Siegfried und
Johannes Waßmer (Hrsg.)
Martin Buber neu gelesen


Martin Buber-Studien, Band 1
Verlag Edition AV
Lich 2013
Broschur, 432 Seiten
Euro 19,90


Porto- und versandkostenfreie Bestellungen:
editionav@gmx.net



LESEPROBEN



- Hans-Joachim Werner: Geleitwort
und Thomas Reichert, Meike Siegfried, Johannes Waßmer: Vorwort

- Siegbert Wolf: »…vom Gebot einer Gerechtigkeit getrieben und das Herz von ihm bewegt«  - Martin Buber und Deutschland nach der Shoah

- Einleitungstexte zu den drei Hauptteilen "Praxis", "Politik", "Philosophie und Religion"  (auf dieser Seite)

- Vollständiges Inhaltsverzeichnis des Buches

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