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Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit

Deutscher Koordinierungsrat

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Koordinierungsrat





ONLINE-EXTRA Nr. 336

Juni 2023

Wie kaum ein anderer steht der Gelehrte und Rabbiner Leo Baeck (1873 – 1956) für die deutsch-jüdische Tradition des 20. Jahrhunderts. Am 23. Mai 1873 in Lezno (Polen) geboren, leitete er ab 1933 die Reichsvertretung der deutschen Juden, wurde 1943 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und emigrierte 1945 nach London, wo er 1956 starb. Baecks außerordentliche Gelehrsamkeit und seine unerschütterliche Integrität ließen ihn zu einer »heroische Führungspersönlichkeit der jüdischen Gemeinde in den dunkelsten Zeiten« werden. Er rerpäsentierte das »das Beste am deutschen Judentum. Er ist auch repräsentativ für die moderne jüdische Forschungstätigkeit, die Wissenschaft des Judentums, die vor 200 Jahren hier in Berlin ihren Anfang nahm, und für die Lebendigkeit jüdischen religiösen Lebens«, so formulierte es der amerikanisch-jüdische US-Historiker Michael A. Meyer, der 2021 eine meisterhafte Biographie über Leo Baeck veröffentlichte.

Leo Baeck sprach und schrieb über die Pharisäer, jüdische Erziehung, Maimonides und viele weitere Themen. Nach dem Holocaust erschien als sein letztes großes Werk „Dieses Volk. Jüdische Existenz“ (1955). Zeit seines Lebens setzte sich Baeck auch mit christlicher Religion und Theologie auseinander. Als Antwort auf Adolf von Harnack verfasste er „Das Wesen des Judentums“ (1905), charakterisierte den Protestantismus als „Romantische Religion“ (1922) und untersuchte „Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte“ (1938). Nach der Schoa engagierte sich Leo Baeck als Brückenbauer und im beginnenden christlich-jüdischen Dialog.

1955 wurden zeitgleich drei nach Leo Baeck benannte Institute (Leo Baeck Institute, LBI) gegründet - in Jerusalem, London und New York -, die sich als unabhängige Forschungs- und Dokumentationseinrichtungen der Geschichte des deutschen Judentums widmen. In Deutschland ist es der Verein "Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts" (FuF), der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Aktivitäten und Anliegen dieser Institute zu unterstützen. Den 150. Geburtstag Leo Baecks würdigten die FuF mit einer besonderen Veranstaltung. Am 23. Mai hielt der bereits erwähnte Historiker und langjährige LBI-Präsident Prof. em. Dr. Michael A. Meyer im Jüdischen Museum Berlin einen ebenso unterhaltsamen wie gehaltvollem Festvortrag über Leben und Wirken Leo Baecks, den COMPASS nachfolgend als ONLINE-EXTRA Nr. 336 im Wortlaut wiedergibt: "Leo Baeck zum 150. Geburtstag. Wer war er und was hat er uns heute noch zu sagen?"

Hingewiesen sei auch auf ein vom Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR) ausgerichtetes Online-Gespräch, das einen Tag nach Baecks 150. Geburtstag stattfand. Dabei sprachen Prof. Dr. Yaniv Feller und Prof. Dr. Christian Wiese ebenfalls über das Leben und Werk des liberalen Rabbiners und Repräsentanten des deutschen Judentums während des Nationalsozialismus sowie dessen Bedeutung für den christlich-jüdischen Dialog. Den Link zur Video-Aufzeichnung des Gesprächs findet man ebenfalls weiter unten innerhalb des ONLINE-EXTRA-Beitrages.

COMPASS dankt herzlich dem Verein Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts. e.V. für die Genehmigung, die Festrede von Michael A. Meyer an dieser Stelle zu publizieren.

© 2023 Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts e.V. //
Michael A. Meyer
online für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 336


Leo Baeck zum 150. Geburtstag
Wer war er und was hat er uns heute noch zu sagen?

Festrede


MICHAEL A. MEYER


Ernst Simon war ein Berliner Jude, später ein Professor für Pädagogik an der Hebräische Universität in Jerusalem. Bei einem Besuch in New York nach dem Zweiten Weltkrieg, als er zu Leo Baeck befragt wurde, erinnerte er sich an den Tagesablauf seines Freundes: "Baeck begann jeden Morgen mit dem davvening (d.h. dem Gebet). Dann las er ein blatt g'mora (eine Doppelseite des Talmuds). Sodann las er einen Akt aus einem griechischen Theaterstück in der Originalsprache. Und erst dann war er für den Tag bereit." Simons kleine Rückerinnerung weist darauf hin, welche große Rolle die Gelehrsamkeit in Leo Baecks Leben spielte, nicht nur die jüdische Gelehrsamkeit, sondern auch die Schöpferkraft des alten Griechenlands. Doch die Religion – das Gebet – stand an erster Stelle. Für Baeck war sie der Zugang zu sowohl jüdischer als auch weltlicher Weisheit.

Selbst in den dunkelsten Zeiten konnten Leo Baecks Führungsaufgaben in der Gemeinde seine Sehnsucht nach wissenschaftlicher Tätigkeit nicht stillen. Bei einem Kurzbesuch 1939 in London, wohin er einen Kindertransport begleitete, der jüdische Kinder nach Großbritannien in Sicherheit brachte, lehnte er das Angebot ab, selbst im Land zu bleiben. Doch bevor er nach Deutschland zurückkehrte, verbrachte er seine wenigen freien Stunden damit, im Britischen Museum Manuskripte einzusehen. Eine Gelegenheit, sich ein wenig abzulenken, die er sich auch unter diesen Umständen nicht entgehen lassen wollte. Die Wissenschaft war für ihn jedoch mehr als eine willkommene Ablenkung. Sie gab ihm die Möglichkeit, sich zu behaupten, sich selbst und seinen jüdischen Mitmenschen zu zeigen, dass die Nazis zwar von außen Beschränkungen auferlegen mochten, aber nicht das schmälern konnten, was die Juden in ihrem Inneren ausmachte. In den letzten Monaten vor seiner Deportation in das Ghetto Theresienstadt im Januar 1943 erfüllte Baeck die zusätzliche Aufgabe, die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums herauszugeben, den Band, der der letzte des größten Beitrags des deutschen Judentums zur jüdischen Wissenschaft sein sollte. Stolz schrieb er seinem Kollegen, dem jüdischen Historiker Ismar Elbogen, der in Amerika Zuflucht gefunden hatte, der Band sei endlich fertig. Er war das Abschiedsgeschenk des deutschen Judentums an die jüdische Wissenschaft. "Wir wollen nicht bloß beendet werden", schrieb er, "Wir wollen in Ehre abschliessen." Doch die Nazibehörden erlaubten die Verbreitung des Bandes nicht. Sie beschlagnahmten ihn, so dass nur sehr wenige Exemplare überlebten. Die jüdische Wissenschaft sollte zusammen mit dem jüdischen Volk sterben.

Doch so wie Baeck den Holocaust überlebte, so überlebten auch die jüdische Wissenschaft und das jüdische Leben. Und sie existieren heute nicht nur in den großen jüdischen Zentren Israels und Amerikas, sondern auch in Deutschland, hier in Berlin, wo wir heute Abend freudig den hundertfünfzigsten Jahrestag seiner Geburt feiern können. Leo Baeck, die heroische Führungspersönlichkeit der jüdischen Gemeinde in den dunkelsten Zeiten, das Vorbild für Verantwortung und Integrität, steht für das Beste am deutschen Judentum. Er ist auch repräsentativ für die moderne jüdische Forschungstätigkeit, die Wissenschaft des Judentums, die vor zwei Jahrhunderten hier in Berlin ihren Anfang nahm, und für die Lebendigkeit des jüdischen religiösen Lebens, wie er sie während seiner langen Jahre als Rabbiner in Deutschland erlebte. Es ist die Liebe zum Lernen, die, als standfestes Fundament der Zivilisation, das Leben von Leo Baeck mit der langen jüdischen Geschichte talmudischen Studiums verbindet und die, besonders in der Neuzeit, ebenfalls seine Verbundenheit mit Kultur in ihren vielfältigen Formen ausmacht. Seine Fähigkeit, die wissenschaftliche Erforschung der Vergangenheit mit einem Engagement für die jüdische Gegenwart und Zukunft zu verknüpfen, machten ihn zu einer so bedeutsamen Persönlichkeit. Er war Gelehrter, Denker, ergebene Führungskraft des deutschen Judentums und ein bemerkenswerter Mensch, der auch 150 Jahre nach seiner Geburt noch eine Botschaft für unsere Zeit bereithält.

Der große Stellenwert, den das Lernen im Leben der deutschen Juden einnahm, war sicherlich eine ihrer bewundernswertesten Eigenschaften, eine Eigenschaft, die in einer Zeit wie der unseren geschätzt werden sollte, eine Zeit, in der verstandesmäßiges Streben nach Erkenntnis und die sorgfältige Beschäftigung mit der Vergangenheit nur zu oft durch bequeme Unwahrheiten oder Halbwahrheiten, die zu überstürztem Handeln führen oder dieses rechtfertigen, verdrängt werden. Aber das Lernen und das öffentliche Leben des Rabbiners Leo Baeck haben, so glaube ich, Juden und Nichtjuden sehr viel mehr zu sagen. Denn das Lernen war für Baeck nur der Auftakt seines Tagesablaufs. Gemäß der jüdischen Tradition war es für ihn der midrasch, die auf Tradition basierende Schriftauslegung, die zur ma'aseh führt, zu moralischer Haltung und moralischem Handeln. Baeck verband beides in dem was er „verpflichtendes Denken“ nannte.



Leo Baeck Institute


Das Leo Baeck Institut (LBI) besteht aus drei eigenständigen Instituten an wichtigen Orten der deutsch-jüdischen Emigration: Jerusalem, London und New York. Sie leisten mit ihrer Arbeit zur deutsch-jüdischen Geschichte und zu jüdischem Leben wichtige Beiträge für Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft. Vor Ort, aber auch in Deutschland – durch Archivarbeit, Forschung, Workshops, mehrsprachige Veröffentlichungen, Kulturveranstaltungen und Ausstellungen.



In Deutschland existiert zudem die Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft des LBI sowie der Verein Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts e.V.. Die Freunde und Förderer des LBI und das LBI International unterstützen und ergänzen die Aktivitäten und Anliegen der Institute. Unsere Vielfalt sehen wir als Stärke. Das Leo Baeck Institut geht mit vereinten Kräften in die Zukunft, um deutsch-jüdische Geschichte und Kultur zu erinnern, zu erforschen und für künftige Generationen zugänglich zu machen.

 
Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts e.V.



Leo Baeck wuchs in der Kleinstadt Lissa in Posen (heute Leszno in Poznan) auf. Sein Vater, ein Rabbiner, sorgte für eine gründliche jüdische Bildung. Baeck besuchte aber auch das hoch angesehene örtliche Comenius-Gymnasium. Diese Kombination machte ihn sowohl zu einem stolzen Juden als auch zu einem deutschen Patrioten. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war er einer der ersten, der sich freiwillig als Seelsorger für die jüdischen Soldaten meldete. Wie fast alle anderen Mitglieder der jüdischen Gemeinde glaubte auch er an die triftigen Kriegsgründe seines Landes. Doch er lehnte es ab, den Feind in seiner Menschlichkeit abzuwerten. Der Soldat auf der anderen Seite war schließlich ein Mitmensch. Baeck identifizierte sich nicht mit dem im wilhelminischen Deutschland tief verwurzelten Imperialismus. Sein Deutschland war das von Lessing und Kant, nicht das von Erich Ludendorff. Die Liebe zum Vaterland, so schrieb er, dürfe niemals das Vaterland über die Liebe selbst stellen.

Nach dem Krieg trat Baeck zusammen mit seinem Freund Albert Einstein dem Jüdischen Friedensbund bei und beriet diesen bis zu seiner Auflösung durch die Nazis im Jahr 1933 in Bezug auf die jüdischen religiösen Quellen zum Thema Frieden. Frieden, so Baeck, sei nicht einfach die Abwesenheit von Krieg. Schalom bedeute ein aktives Bekenntnis zur wahren Natur der Menschheit. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte Baeck seine Hoffnung auf die Vereinten Nationen, so wie er sich zuvor den Erfolg des Völkerbundes erhofft hatte. Doch auch diese Hoffnungen wurden enttäuscht. Als 1948 die Armeen sieben arabischer Staaten den gerade entstehenden Staat Israel angriffen, plädierte Baeck, der im Laufe der Zeit zu einem glühenden Zionisten geworden war, für einen friedlichen Kompromiss. Zusammen mit zwei gleichgesinnten Freunden bemühte er sich im Vereinigten Königreich, wo er nun lebte, Spenden für die Opfer dieses neuen Krieges, israelische wie arabische, zu sammeln. Er glaubte, dass die Rückkehr des jüdischen Volkes in sein Land ein Akt der Vorsehung sei. Doch wie andere, insbesondere deutsche Zionisten, war er tief besorgt darüber, was die Staatsräson für das jüdische Gewissen bedeuten könnte. Er war nach wie vor davon überzeugt, dass humanitäre Erwägungen, unabhängig von Landesgrenzen, nicht weniger bedeutsam waren als politische Betrachtungen.

Wie die überwiegende Mehrheit der deutschen Juden konnte es auch Leo Baeck zunächst kaum glauben, dass das deutsche Volk Adolf Hitler Gefolgschaft leisten würde. Auch er dachte, wünschte und hoffte, die Naziherrschaft wäre nur ein kurzer Spuk. Es fiel ihm schwer, das Gefühl der Verbundenheit mit Deutschland und sogar mit Preußen aufzugeben, das er seit seiner Kindheit empfunden hatte. Sicherlich würde das deutsche Volk zur Vernunft kommen. Noch Monate nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten sprach Baeck von Deutschland als Heimat, und auch später glaubte er noch, dass mindestens achtzig Prozent der Deutschen den Führer ablehnten. Aber die erste Phase der fortschreitenden Ausgrenzung der Juden hatte schnell begonnen, und während sie sich nach und nach ausweitete, musste Baeck sich eingestehen, dass keine Verständigung möglich war. Auch physischer Widerstand kam für ihn und seine jüdischen Mitmenschen nicht in Frage. Die Aufgabe, derer er sich nun annahm, auch während er seine Forschungs- und Lehrtätigkeit an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin fortsetzte, erforderte nicht allein wissenschaftliche Arbeit, sondern auch tatkräftiges Handeln: Maßnahmen, um die Auswanderung für diejenigen zu ermöglichen, die gehen konnten, vor allem für die jungen Leute, und moralische Unterstützung für diejenigen, die das Land, das nicht mehr ihre Heimat war, nicht verlassen konnten oder nicht wollten.

Die deutschen Juden hatten Leo Baeck zum Präsidenten der Reichsvertretung der deutschen Juden erwählt, eine zweifache Aufgabe, die Baeck zum einen zum Vertreter der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland gegenüber der NS-Regierung machte, und die zum anderen erforderte, dass er zusammen mit den nationalen jüdischen Organisationen und den örtlichen jüdischen Gemeinden deren interne Angelegenheiten regelte. Es gab Stimmen, die meinten, dass dieses Amt, das politische und organisatorische Fähigkeiten voraussetzte, einem Mann mit praktischer Erfahrung und nicht einem Rabbiner übertragen werden sollte. Doch der Rabbiner Baeck übernahm dieses Amt, nachdem er schon eine Vielzahl jüdischer Gruppen geleitet hatte: unter anderem den Allgemeinen Rabbinerverband in Deutschland, die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden und die Loge des B'nai B'rith für Deutschland. Er wurde von Zionisten und Nicht Zionisten, von religiös traditionellen und religiös liberalen Juden gleichermaßen geschätzt. Aufgrund seiner Erfahrung und seiner breiten Akzeptanz war er der einzige ernstzunehmende Kandidat. Aber ich glaube, dass seine Wahl auch gerade dadurch bestimmt wurde, dass er Rabbiner war. Gewiss, das deutsche Judentum hatte seit dem achtzehnten Jahrhundert einen langen Prozess der Säkularisierung durchlaufen. Doch jetzt, in dieser Zeit der Gefahr, rückte ein spirituelles Bedürfnis, das viele vielleicht unterdrückt hatten, wieder in den Vordergrund. Die Menschen strömten in die Synagogen wie schon seit Generationen nicht mehr. Das von außen aufgezwungene Jude-sein suchte nach Resonanz im Inneren. Nur eine Person von geistiger Größe, eine religiöse Führungspersönlichkeit, konnte die Juden befähigen, dem zunehmenden Druck ihrer feindseligen Umwelt standzuhalten, ohne darüber in Verzweiflung zu verfallen. Viele jüdische Gemeindeglieder, die durch einen langen Prozess der Akkulturation und Säkularisierung ihres Judentums beraubt worden waren, hatten das Bedürfnis, ihr geistliches Erbe wiederzuerlangen. Leo Baeck repräsentierte nicht nur die Juden der Gegenwart, sondern auch die spirituelle Geschichte des deutschen Judentums, die, wenn auch nur kurz, in dieser Zeit der Not und Bedrängnis aufs Neue aufflackerte.

Die unmittelbarste Ursache für die wachsende Not war die zunehmende Armut, die sich immer schneller in Richtung Elend entwickelte. Die Juden verloren ihr Einkommen, da sie aus einem Beruf nach dem anderen vertrieben wurden, sie verloren ihren Besitz, der an arische Deutsche übertragen wurde, und die Älteren unter ihnen verloren zudem die finanzielle Unterstützung ihrer Kinder, die, wann immer es möglich war, nach Palästina, Amerika oder anderswohin abwanderten. Die jüdische Gemeinde konnte die Erlasse der Nazis nicht rückgängig machen, aber sie konnte die dadurch verursachte Armut lindern. Sie schuf eine Jüdische Winterhilfe, um der stetig steigenden Anzahl der von Armut Betroffenen zu helfen. Bei der ersten Spendenaktion sprach Baeck davon, dass die Fürsorge für die Bedürftigen die jüdische Gemeinschaft stärker mache als das ihr auferlegte Schicksal. Sie könne zu einer Willensgemeinschaft werden. Die Armut hatte die Juden zu Objekten gemacht. Aber durch ihre Unterstützung der Armen seien sie wieder Subjekte. Für Baeck beruhte eine gerechte Gemeinschaft auf Zedakah (wirtschaftlicher Gerechtigkeit), also nicht auf Großzügigkeit aus Mitleid, sondern auf der Überzeugung, dass eine religiöse Gemeinschaft ihr Gesicht nicht von denen abwenden darf, die in Not sind. Mit Baecks Worten: "Die wahre menschliche Gesellschaft ist die Gemeinschaft der Zedakah." Zuvor hatte Baeck zu sozialutopistischen Gruppen in Deutschland gesprochen, und später bewunderte er, wie auch Martin Buber, die israelischen Kibbuzim. In Nazi-Deutschland hatten die Juden nicht die Macht, eine vollkommen gerechte Gesellschaft aufzubauen, wie Baeck es später von den Israelis erhoffte, aber sie konnten Leid lindern und sich dabei gewiss sein, dass sie ma'asim tovim, Taten des Guten, vollbrachten. Dies, so glaubte Baeck, sei in der Tat die Aufgabe jeder Gemeinschaft, sowohl der jüdischen als auch der nichtjüdischen. Und das, meine ich, gilt auch heute noch.



Video: Zum 150. Geburtstag von Rabbiner Leo Baeck


Aufzeichnung eines Online-Gesprächs mit
Prof. Dr. Yaniv Feller
und Prof. Dr. Christian Wiese

vom 24. Mai 2023
auf dem YouTube-Kanal des Deutschen Koordinierungsrates


DKR-YouTube




  • Wie wurde Leo Baeck in seiner Zeit wahrgenommen?
  • Wie lesen ihn jüdische und christliche Denker:innen heute?
  • Welche Themen prägen die aktuelle Forschung zu Leo Baeck und dem deutschen Judentum bis zur Schoa?
  • Welche Ansätze bieten seine Gedanken zu Judentum, Christentum und ihrem Verhältnis für den christlich-jüdischen Dialog der Gegenwart und Zukunft?



Die deutschen Juden hatten eine lange Tradition der Fürsorge für ihre Armen. Unter Baecks Führung stellten sie sich dieser Herausforderung in einer Zeit, in der viele ehemalige Spender für die Armen selbst zu Empfängern von Spenden wurden – oder zu verarmten Migranten, die aus ihrer Heimat in ein unbekanntes Land flüchteten.

Die größte Herausforderung bei der Führung eines unterdrückten Volkes, ob für die Juden in Nazi-Deutschland oder für jedes andere Volk, auf welchem Kontinent auch immer, in unserer modernen und heutigen Welt, ist der Kampf gegen die Entmenschlichung der Person und die Verunglimpfung der Religion oder Kultur, der diese Person angehört. Es ist eine Pflicht, den Unterdrückten zu sagen: Ihr seid nicht das, was über euch und eure Traditionen behauptet wird, ob ihr nun Rohingya, Uiguren oder das Volk der Ukraine seid. In der NS-Propaganda wurden die Juden als Untermenschen bezeichnet und gleichzeitig als gerissen, wenn nicht gar als teuflisch gefährlich angesehen. Der anfängliche Angriff auf die Juden in Deutschland war nicht nur ein Angriff auf ihren Lebensunterhalt. Es war auch ein Angriff auf ihr Selbstwertgefühl und darauf, was ihnen lieb und teuer war. Sie wurden als hässlich dargestellt, und ihre Religion als eine in ihren Vorschriften erstarrter Legalismus dargestellt, der echte Spiritualität erstickte. Angeblich fehlte es ihnen an Mut, an Lebenskraft, an echter wirtschaftlicher Initiative. Sie wären unfähig, großzügig zu sein, echte Gefühle zu empfinden und sich um irgendjemanden anderen als sich selbst zu sorgen. Tag für Tag erlebten die deutschen Juden ihre Verunglimpfung in der Nazipresse und mussten sich die Verleumdungen im Radio anhören. Bald wurde erzählt, dass jüdische Kinder, die dem Ansturm dieser Negativität nicht standhielten, selbst zu glauben begannen, sie seien tatsächlich irgendwie minderwertig.

Die alltäglichen Verwaltungs- und Fürsorgeaufgaben der Reichsvertretung konnten von Leo Baecks kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erledigt werden. Zwei Beispiele sind Otto Hirsch, der die Verwaltungsangelegenheiten der Reichsvertretung leitete, und Hannah Karminski, die für die Wohlfahrtsarbeit zuständig war – beide wurden von den Nazis ermordet. Aber es gab eine Aufgabe, die Baeck nicht an andere übertrug, und sie war nicht weniger wichtig als die Arbeit seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen: die Moral der Gemeinschaft aufrechtzuerhalten.

Die Botschaft des Rabbiners Baeck an die deutschen Juden anlässlich des Versöhnungstags Jom Kippur im Jahr 1935, ist zwar bekannt und wird oft zitiert, muss aber in jeder Diskussion über seinen midrasch und seine ma'aseh berücksichtigt werden. Diese Feiertagsbotschaft hatte die Form eines an Gott gerichteten Gebets. Nicht weniger als fünfmal erklärt Leo Baeck in diesem Gebet, dass das jüdische Volk am Jom Kippur vor seinem Gott stehe und dass Gott allein sein Richter sei. Er schrieb: "Ganz Israel steht in dieser Stunde vor seinem Gotte. Unser Gebet, unser Vertrauen, unser Bekennen ist das aller Juden auf Erden. Wir blicken aufeinander und wissen von uns, und wir blicken zu unserem Gotte empor und wissen von dem, was bleibt."

"Wir . . . wissen von uns." Baeck wollte damit sagen: Trotz aller anti-jüdischen Propaganda wissen wir, wer wir wirklich sind: nicht die Karikaturen in der Presse und im Radio. Und wir wissen, dass wir eine Tradition besitzen, die nicht nur für Juden, sondern für die ganze Menschheit von Wert ist. "Wer hat der Welt die Achtung vor dem Menschen im Ebendbilde Gottes gegeben? Wer hat der Welt das Gebot der Gerechtigkeit, den sozialen Gedanken gewiesen? . . . An diesen Tatsachen prallt jede Beschimpfung ab."

An einer Stelle des Gebets spricht Baeck ausdrücklich die Verleumdungen an, die die Nazi-Propaganda über die Juden verbreitete. Er schreibt: "… sprechen wir es mit dem Gefühl des Abscheus aus, daß wir die Lüge, die sich gegen uns wendet, die Verleumdung, die sich gegen unsere Religion und ihre Zeugnisse kehrt, tief unter unseren Füßen sehen."

Traurigerweise erreichte Baecks Gebet die Synagogen nicht, in denen es verlesen werden sollte. Die NS-Behörden hatten davon erfahren und beschlagnahmten die Kopien, bevor sie ihren Bestimmungsort erreichen konnten. Zwei Jahre später jedoch, im Jahre 1937 und diesmal von der Kanzel der Synagoge Lützowstraße, konfrontierte Baeck unbeirrt die diffamierenden Behauptungen über die Juden, indem er sie indirekt entschieden zurückwies. Er sagte: "Wir hören Worte, beleidigend, quälend, peinigend. Aber in uns tönt laut die Stimme des Schweigens." Baeck hatte sich bemüht, das untergrabene Selbstwertgefühl durch seine Worte wiederzubeleben, sowohl schriftlich als auch mündlich. Seine erste Botschaft von 1935 hatte ihre Adressaten nicht erreicht; seine zweite mag seinen schweigenden Zuhörern etwas Trost gebracht haben.

Wirkungsvoller war sein beispielhaftes Handeln. Als Oberhaupt seiner Gemeinschaft und gleich einem Kapitän eines havarierten Schiffes – oder einem Präsidenten eines überfallenen Landes – blieb er in Berlin – bis er von dort abtransportiert wurde. Sein Rückgrat gab anderen Kraft. Obwohl er fünfmal verhaftet wurde, beugte er sich seinen Häschern nicht. Sein Gebaren erregte das Erstaunen seiner Verfolger. In Leo Baeck begegneten die Nazis einem Mann, der ihr Zerrbild des unterwürfigen, sich selbst bemitleidenden Juden widerlegte. Mit dieser Unbeugsamkeit auch unter großem Druck war er nicht allein. Die deutschen Juden besaßen seit langem ein bemerkenswertes Maß an Würde, die Baeck durch seine Haltung und sein Handeln zu bewahren half, als die Gesellschaft, in der sie lebten, ihnen diese Würde absprach.

Einige, die Baecks Verhalten bei seiner Verhaftung zur Deportation im Jahr 1943 kritisierten, sahen in ihm einen Repräsentanten nicht nur des Vortrefflichem, sondern auch des Vorurteilspflichtigem am deutschen Judentum. Als am 27. Januar desselben Jahres sehr früh am Morgen die Gestapo bei ihm zu Hause erschien, um ihn abzuholen, bat er um ein paar Minuten Zeit, nicht nur, um noch einige Briefe zu schreiben, sondern auch, um seine Haushaltsrechnungen zu bezahlen. Dieser letzte freie Akt vor der Deportation in das Ghetto Theresienstadt, so wurde behauptet, stelle eine wenig bewundernswerte Eigenschaft des deutschen Judentums dar: das Beharren auf der peinlich genauen Einhaltung der gesellschaftlichen Gepflogenheiten, selbst wenn dies absurd erschien. Die Israelis haben diesen sklavischen Regelgehorsam als charakteristisch für die Einwanderer aus Deutschland angesehen, für diejenigen Immigranten, die sie "Yekkes" nannten, ein Begriff, dessen Herkunft unterschiedlich ausgelegt wird, der aber wahrscheinlich daher stammt, dass die deutschen Juden auch im tropischen Klima von Tel Aviv ihre Jacken nicht ablegten. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass Baecks Beharren darauf, seine Wohnung erst nach dem Bezahlen seiner Rechnungen zu verlassen, keine bloße bürgerliche Anpassung war. Sie kann auch als ein Akt der Selbstbehauptung betrachtet werden, als eine laute und vernehmliche Bekundung: "Ihr von der Gestapo mögt mich als jemanden betrachten, der keinen Respekt vor den Regeln einer geordneten Gesellschaft hat. Ihr könnt mich aus dieser Gesellschaft auszuschließen, aber ich weise diesen Ausschluss zurück."

Trotz seines früheren deutschen Patriotismus wurde Baeck zunehmend kritisch gegenüber der Staatsmacht und insbesondere gegenüber einer Religion, deren Lehre der Nichteinmischung in staatliche Angelegenheiten der staatlichen Macht freien Lauf ließ. In seinem Aufsatz "Romantische Religion" warf er Martin Luther vor, das Christentum auf das Seelenheil des Einzelnen zu beschränken und das Wohl der Gesellschaft rückhaltlos dem Staat zu überlassen. Luthers Religion beschäftige sich mit der persönlichen Moral, während dem Staat allein die Aufgabe zukomme, gesellschaftliche Moral zu bestimmen. Für Baeck konnte es keine echte Frömmigkeit geben, die nicht auch mit der Verbesserung der Gesellschaft verbunden war. So wie für Immanuel Kant, den Baeck lebenslang bewunderte, gehörte die Sozialethik auch für ihn zum Kern der Religion. Sie dem Staat zu überlassen, hieße, die Religion ihres Wesens zu berauben.

Nach Baecks Überzeugung musste der religiöse Jude ein Kritiker staatlicher Macht sein. Es sei Gottes Gebot, heilig zu sein (kedoschim tihju), und das bedeute für den modernen Juden genauso wie für die Propheten des alten Israel, den moralischen Unterschied zwischen der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung und dem messianischen Ideal von Frieden und Harmonie hervorzuheben. Es ist nicht verwunderlich, dass die Sammlung von Baecks Aufsätzen Aus drei Jahrtausenden, in der auch der Aufsatz "Romantische Religion" wiederabgedruckt ist, von den Nazis beschlagnahmt wurde. Sie müssen erkannt haben, dass der Aufsatz sich zwar gegen die unpolitische Ausrichtung des lutherischen Christentums richtete, aber indirekt auch den Staat angriff, der auf die Dienlichkeit der religiösen Oberhäupter und religiösen Mitglieder der Gesellschaft angewiesen war.

Baecks Überzeugung, dass der religiöse Imperativ vor dem Willen eines unmoralischen Staates Vorrang habe, ist eine herausfordernde Botschaft und meiner Meinung nach auch in unserer Zeit eine notwendige. Aber es wäre unehrlich, nicht auf die Gefahr hinzuweisen, die in ihr mitschwingt: Die religiöse Kritik an der staatlichen Macht kann aus Fanatismus oder kleinlichem Eigeninteresse erwachsen. Doch für Baeck beruhte die religiöse Botschaft des Judentums an den Staat immer auf dem Gebot ve'ahavta lere'akha k'mocha (Liebe deinen Nächsten. Er ist wie du – um Hermann Cohens Übersetzung zu verwenden). Dieses spezifische Gebot, das den Anspruch völliger Allgemeingültigkeit hat und gleichzeitig jede arrogante Gewissheit demütig mäßigt, war die Botschaft, die die Religion dem Willen des Staates entgegensetzen musste. Im nationalsozialistischen Deutschland hatte das Christentum dies versäumt, und das deutsche Judentum war aus eigener Kraft nicht dazu imstande gewesen.


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Aber nicht nur die Religion hatte es versäumt, ihre Botschaft gegen die des Staates zu stellen. Nicht minder kritisch sah Baeck das akademische Establishment. Die Intellektuellen erlagen der NS-Propaganda und versagten auf ganzer Linie, dies zu bereuen, selbst, nachdem sie von den Folgen erfahren hatten. Der angesehene deutsche Historiker Friedrich Meinecke war den Juden gegenüber wohlwollend gewesen, und einige, darunter der jüdische Philosoph Franz Rosenzweig, hatten zu seinen Schülern gezählt. Doch wie so viele hatte auch Meinecke 1933 mit dem neuen Regime Frieden geschlossen, um seine Arbeit ungestört fortsetzen zu können. Als er nach der Schoah 1946 ein Buch mit dem Titel Die deutsche Katastrophe.

Betrachtungen und Erinnerungen veröffentlichte, erhielt Baeck ein Exemplar als Geschenk. Es verstörte ihn zutiefst. An einen ehemaligen Rabbinatsstudenten schrieb er, das Bemerkenswerteste an dem Buch sei für ihn das, was es ausgelassen hatte. "Er schweigt von dem Bankrott, der ihn doch zuerst angehen sollte, von dem Bankrott der Universitäten." Baeck erkannte eine traurige Wahrheit, die auch heute noch von erschreckender Aktualität ist: Nicht nur kann Wissenschaft von böswilligen Diktatoren für ihre üblen Zwecke missbraucht werden, auch Menschen guten Willens können ihr besseres Wissen leicht unterdrücken. Bildung, selbst auf höchstem Niveau, verhindert nicht das Schönreden des Bösen. Sie kann ihm sogar Vorschub leisten.

Für Baeck war es nicht allein das Wissen um das unumgängliche göttliche Gebot, das Kraft zum Widerstand gegen das Böse gab. Es war auch die Demut, mit der es angenommen wurde. Baecks Schriften bezeugen seine Abscheu vor Egoismus. Er erkannte deutlicher als die meisten anderen die Gefahren dessen, was wir heute "Personenkult" nennen. Berühmt ist seine Weigerung, einen solchen Kult um sich herum aufkommen zu lassen. Anders als jüngere Rabbinerkollegen vermied er es, von der Kanzel aus das Wort „ich“ zu benutzen. Trotz der vielen Ehrungen, die ihm zuteilwurden, hat er nie den Anschein erweckt, als würde er glauben, sie auch verdient zu haben. Als er nach dem Krieg Rabbinatsstudenten am Hebrew Union College in Cincinnati unterrichtete, bestand er darauf, ihnen die Türen zu öffnen, und nicht umgekehrt. Eine bessere Zukunft hing für Baeck weniger von einer gesellschaftlichen Umgestaltung ab – er war kein politischer Revolutionär –, sondern vielmehr von einer Umgestaltung des Charakters des Einzelnen. Die ideale Gesellschaft, so wie er sie sich vorstellte, beruhte nicht auf einer Ideologie, sondern auf Menschen, die sich um andere genauso kümmerten wie um sich selbst.

Wie viele Juden nach der Schoah war Baeck nicht in der Lage, die Tragödie des Todes von sechs Millionen Juden rational mit dem Handeln eines gerechten Gottes in Einklang zu bringen. Er hat es auch nicht versucht; er schrieb keine Theodizee. Schon zuvor hatte er nicht nur vom Gebot geschrieben, sondern auch vom Geheimnis. Es war möglich, den Willen Gottes zu kennen, nicht aber sein Wesen. Baeck muss gedacht haben, dass es eine tiefe Beleidigung für die Trauernden wäre, den Tod ihrer Lieben theologisch zu rechtfertigen. Dies nicht zu tun, war kein Ausweichen, sondern eine Anerkennung der menschlichen Begrenztheit. Wie der biblische Hiob glaubte auch Baeck, dass Gottes Wesen jenseits menschlicher Erkenntnis liege. Es bleibe ein Geheimnis. Man könne nur auf das jahrtausendelange Überleben des jüdischen Volkes verweisen, dessen immer wiederkehrende Renaissance er in seinem zweiten und letzten Buch Dieses Volk. Jüdische Existenz schilderte. Das jüdische Volk, selbst Moses, habe den Schleier der Existenz Gottes nicht durchdrungen, aber die geschichtliche Existenz dieses Volkes, eine Antwort auf Gottes Gebot, habe ihm die Kraft gegeben, die Jahrhunderte zu überstehen.

Trotz allen Leids, das er gesehen und selbst erfahren hatte, verfiel Baeck, soweit wir wissen, nie der Verzweiflung. Im Mittelpunkt seines Wortschatzes stand das einfache Wort "dennoch". Die Propheten Israels hatten angesichts eines sündigen Volkes nie die Hoffnung aufgegeben, dass es dennoch Teschuwah (Reue) üben und zu den von Gott geforderten gerechten Taten zurückkehren werde. Gleichermaßen gab Leo Baeck die Hoffnung auf die menschliche Natur nicht auf. Vielleicht war er naiv.

Doch glaube ich, dass Baeck auch heute, da wir uns des Wiederauflebens des Bösen in unserer Welt nur allzu bewusst sind, seine Antwort mit diesem Wort beginnen würde: Dennoch.

Unmittelbar nach dem Holocaust vertrat Baeck bekanntlich die Meinung, dass die Geschichte des deutschen Judentums zu Ende sei. Trotzdem besuchte er die Bundesrepublik bis zu seinem Tod 1956 mehrfach. Er hielt Vorlesungen an Universitäten und hielt Gottesdienste in Synagogen ab. Juden und Christen strömten gleichermaßen herbei, um einige seiner Botschaften zu hören, Botschaften, die ich in diesem Vortrag angesprochen habe. Den ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, der gekommen war, um Baeck über den mittelalterlichen jüdischen Gelehrten Moses Maimonides sprechen zu hören, betrachtete Baeck als einen persönlichen Freund und als einen Freund des jüdischen Volkes. Sicherlich hätte Baeck sich darüber gefreut, dass die neue selbstbewusste jüdische Gemeinschaft in Deutschland weiter an Stärke gewinnt. Könnte man ihn heute danach fragen, würde er seine Antwort vielleicht mit dem Wort Dennoch beginnen. Dennoch, auch nach der Schoah, gibt es jüdische Bildung und jüdisches Leben in Deutschland, Midrasch und Ma'aseh, Lernen und Handeln. Einhundertfünfzig Jahre nach seiner Geburt ehren wir das Andenken des Rabbiners Leo Baeck. Möge es uns herausfordern, in seine Fußstapfen zu treten.



Der Autor

Prof. em. Dr. MICHAEL MEYER

wurde am 15. November 1937 in Berlin geboren. Seiner jüdischen Familie gelang es noch 1941 auf Vermittlung der Reichszentrale für jüdische Auswanderung über Spanien in die USA zu emigrieren, wo Meyer in Los Angeles aufwuchs und an der University of California Geschichte studierte. Am Hebrew Union College (HUC) in Cincinnati wurde er promoviert.[1] Ab 1964 lehrte er in der Dependance des HUC in Los Angeles, 1967 wurde er Mitglied der Fakultät des Hebrew Union College – Jewish Institute of Religion (HUC-JIR) in Cincinnati. Dort erhielt er die Adolph S. Ochs-Professur für Jüdische Geschichte. Zwischen 2000 und 2008 nahm er daneben auch regelmäßig Lehraufträge an der Hebräischen Universität Jerusalem und in der Dependance des HUC in Jerusalem wahr.

Von 1991 bis 2013 wirkte er zudem als Präsident des Leo Baeck Instituts. Neben der Erforschung des Reformjudentums beteiligte sich Meyer auch an der Herausgabe der Schriften Leo Baecks und der autobiografischen Schriften von Joachim Prinz. 2021 erschien seine viel beachtete Biographie über Leo Baeck ("Leo Baeck: Rabbiner in bedrängter Zeit", Verlag C.H. Beck). Gemeinsam mit dem Münchner Historiker Michael Brenner gab er zwischen 1996 und 1998 eine vierbändige Deutsch-Jüdische Geschichte heraus, dessen zweiter Band wesentlich von ihm geschrieben wurde. Im Jahr 2001 erhielt er die Ehrendoktorwürde des Jewish Theological Seminary of America.

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