ONLINE-EXTRA Nr. 122
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„Die Stunde der Wahrheit: Ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe aus der Mitte des Leidens der Palästinenser und Palästinenserinnen“ - Unter diesem Titel wurde Mitte Dezember 2009 von sechzehn palästinensischen Christinnen und Christen in Bethlehem ein Dokument veröffentlicht und vom Ökumenischen Rat der Kirchen verbreitet, das seitdem als sogennanntes "Kairos-Palästina-Dokument" mitunter äußerst kontrovers diskutiert wird.
In einem politisch hoch-explosiven Kontext - dem Nahost-Konflikt - berührt das Papier sowohl unmittelbar wie auch mittelbar zentrale Aspekte des Verhältnisses von "Kirche und Israel" als auch den christlich-jüdischen Dialog. Erst vor wenigen Tagen hat der Internationale Rat der Christen und Juden (ICCJ), Welt-Dachverband von 38 nationalen Vereinigungen des christlich-jüdischen Dialogs, zu dem Papier eine bei aller Kritik insgesamt moderate Stellung eingenommen ("Let Us Have Mercy upon Words", engl.; eine deutsche Fassung soll im Laufe der kommenden Woche erscheinen).
Im vorliegenden ONLINE-EXTRA Nr. 122 analysiert, würdigt und kritisiert nun der "Pfarrer für das Gespräch zwischen Christen und Juden der Evangelischen Landeskirche in Württemberg", der evangelische Theologe Dr. Michael Volkmann, das "Kairos-Palästina-Dokument". Seine durchaus von Verständnis für das Papier und seine Verfasser geprägte Analyse verschweigt jedoch ebensowenig die neuralgischen Punkte des Dokuments, die insbesondere aus einer christlich-jüdischen Perspektive und im Blick auf die politische Brisanz des Themas benannt werden müssen.
COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe des Textes an dieser Stelle!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 122
Am 11.12.2009 veröffentlichten in Bethlehem sechzehn palästinensische Christinnen und Christen einen Appell, der vom Ökumenischen Rat der Kirchen verbreitet wurde und seitdem als „Kairos-Palästina-Dokument“ kontrovers diskutiert wird. Diese Stellungnahme aus der Sicht des Pfarrers für das Gespräch zwischen Christen und Juden der Evangelischen Landeskirche in Württemberg enthält sowohl eine Würdigung als auch Kritik. Die Kritik überwiegt die zustimmenden Teile.
„Die Stunde der Wahrheit …“ ist kein offizielles kirchliches Dokument. Der einzige Unterzeichner, der Oberhaupt einer nahöstlichen Kirche ist, Bischof Dr. Munib Younan, hat seine Unterschrift zurückgezogen. Das Dokument ist zwar mit „Wort des Glaubens“ überschrieben. Es enthält jedoch vor allem eine politische Botschaft und politische Forderungen.
Auf der Homepage kairospalestine.ps wird in der englischen Textversion dem Dokument eine kurze Erklärung vorangestellt, die von 13 Kirchenoberhäuptern – Patriarchen, Erzbischöfen, Bischöfen und einem Kustos – unterzeichnet ist. Diese Erklärung trägt den Titel „We hear the cry of our children“, sie umfasst knapp neun Zeilen. In ihr wird Unterstützung für den Aufruf nach Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung zugesagt und um Segen für den Aufbau einer Gesellschaft gebetet, die sich auf Liebe, Vertrauen, Gerechtigkeit und Frieden gründet.
Der ÖRK verbreitet in der deutschsprachigen Version nicht die Erklärung der Kirchenoberhäupter, sondern das 14 Seiten umfassende Papier der zuerst erwähnten Autoren. Die folgende Stellungnahme gilt daher diesem „Kairos-Palästina-Dokument“, nicht jener Erklärung der Kirchenführer.
Die friedlose Lage verlangt nach einer politischen Verhandlungs- und Kompromisslösung
Deutlich vernehmbar ist die Klage über die schwierige Situation der Palästinenser: ihre Unfreiheit, ihre materielle, rechtliche und seelische Not, ihre Perspektivlosigkeit, ihre innere Gespaltenheit und äußere Zerstreuung in viele Länder. Stellvertretend für ihre Landsleute beklagen die Autoren die Ausbreitung israelischer Siedlungen in dem von ihnen und von Israel beanspruchten Land, das ungelöste Flüchtlingsproblem, die zahlreichen Verhafteten, die Hindernisse bei der Religionsausübung, die Marginalisierung der christlichen Palästinenser.
Die nach wie vor vom Konflikt bestimmte Lage verlangt nach einer politischen Lösung, die zum Frieden führt. Die evangelischen Kirchen in Deutschland haben sich für eine Zweistaatenlösung und einen sachgemäßen Ausgleich der Interessen von Israelis und Palästinensern, also eine Verhandlungs- und Kompromisslösung, ausgesprochen (vgl. EKD-Studien Christen und Juden I-III). In der vom Oberkirchenrat unterstützten Erklärung evangelischer Christen in Württemberg „Einen gerechten Frieden im Nahen Osten fördern“ vom 11. Januar 2005 schrieben wir: „Wir bekräftigen die Erklärung unserer Landessynode zum 9. November 1988: ‘Als mit dem Volk Israel‘ – und wir fügen hinzu: auch mit den Christinnen und Christen in Israel und Palästina – ‚verbundene Kirche beten wir für den Frieden im Nahen Osten und bitten alle am arabisch-israelischen Konflikt mittelbar und unmittelbar Beteiligten, den Mut zu Verständigungs- und Aussöhnungsbereitschaft nicht zu verlieren. Feindschaft, Misstrauen, Gewalt und Hass führen ins Verderben. Nur die beharrliche Bemühung um Verständigung, Ausgleich und Frieden kann den Völkern im Nahen Osten den Weg in eine gemeinsame Zukunft ebnen.‘“
Diese Aussagen sind auch jetzt zu bekräftigen, wo es sich bestätigt, wie mühsam, langwierig und gefährdet der Weg zu einem Frieden in Nahost ist und wie schwer es für die vom Konflikt betroffenen Menschen ist, sich die Hoffnung zu bewahren.
Wege zum Verständnis des Judentums
Das Pfarramt für das Gespräch zwischen Christen und Juden ist eine selbstständige Einrichtung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Es hat seinen Sitz in Bad Boll und kooperiert mit der Evangelischen Akademie Bad Boll. Die Arbeitsgruppe "Wege zum Verständnis des Judentums" ist der Beirat des Pfarramts für das Gespräch zwischen Christen und Juden.
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Zu einigen politischen Aussagen des Dokuments a) Zum Spannungsverhältnis zwischen Gewaltfreiheit und „legitimem Widerstand gegen Besatzung“ Soll sich die Situation je zum Besseren wenden, so kann dies nur unter der Voraussetzung des Gewaltverzichts geschehen. Darum ist das Bekenntnis der Autoren zum gewaltfreien Handeln zu begrüßen und zu unterstützen. Zur Lehre von der gewaltfreien Aktion gehört die Korrelation zwischen Mitteln und Zielen und daher der Widerspruch zu der Auffassung, dass Frieden durch Gewalt zu erreichen ist. Die Frage ist jedoch, ob ein christliches Verständnis von Gewaltfreiheit jemals zur Leitlinie der muslimisch dominierten palästinensischen Politik werden wird. Die Fraglichkeit wird durch das Bekenntnis der Autoren zum „legitimen Widerstand“ noch verschärft. Denn „Widerstand“ bedeutete und bedeutet nach wie vor Terror gegen Juden beiderlei Geschlechts und jeden Alters. Der Begriff Terrorismus wird von den Autoren in Anführungszeichen gesetzt (4-3), das ist wohl so zu verstehen, dass sie seine Legitimität in Zweifel ziehen. b) Auflösung des jüdischen Staates statt Zweistaatenlösung Positiv kann die Bitte um die Kraft aufgenommen werden, dass die beiden Völker im Land zusammen leben und Gerechtigkeit und Frieden schaffen können (2-3-1). Allerdings ist die Zweistaatenlösung für die Autoren kein Thema. Die Formulierung für „eine [!] neue Gesellschaft für uns und unsere Gegner“ (4-3) weist auf die Vision eines einzigen Staates für beide Völker hin, die de facto eine Beseitigung des Staates Israel als jüdischer Staat bedeuten würde. Diese Vermutung wird durch 9-3 erhärtet: „Der Versuch, den [!] Staat zu einem religiösen – jüdischen oder islamischen – Staat zu machen, nimmt ihm seine Bewegungsfreiheit … Wir appellieren an beide, religiösen Juden und die religiösen Muslime: Macht den [!] Staat zu einem Staat für alle seine Bürger und Bürgerinnen …“ c) Nationalistische oder christliche Totenehrung? Positiv kann auch der Appell an die Muslime aufgenommen werden, dem Fanatismus und Extremismus abzuschwören (5-4-1). Nicht zustimmungsfähig ist jedoch die undifferenzierte Aussage (4-2-5): „Wir haben Hochachtung vor allen [!], die ihr Leben für unsere Nation hingegeben haben, und sagen, dass jeder Bürger bereit sein muss, sein Leben, seine Freiheit und sein Land zu verteidigen.“ Es sind ja unter diesen Toten erschreckend viele, deren Tod den einzigen Zweck hatte, möglichst viele andere mit zu ermorden. Vielmehr wäre man dankbar für ein klärendes christliches Wort zu dem Problem, dass diese Selbstmordattentäter als „Märtyrer“ verehrt werden. d) Keine Würdigung der palästinensischen Autonomie Die Zuspitzung auf die Besatzung lässt den Autoren offenbar keinen Raum für eine Würdigung der palästinensischen Autonomie als Schritt auf dem Weg zur staatlichen Freiheit. Die gegenwärtige Regierung unter Ministerpräsident Salam Fayyad begann mit Erfolg, die Chancen der Autonomie zum Aufbau funktionierender zivilgesellschaftlicher Institutionen im Westjordanland zu nutzen. Eine ihrer ersten Maßnahmen war die längst überfällige Herstellung des Gewaltmonopols der Regierung. Verwaltung, Justiz und Polizei wurden mit ausländischer Hilfe effektiver gemacht. Israel honorierte solche Maßnahmen mit dem Abbau von Sicherheitskontrollen. Diese Maßnahmen und die größere Bewegungsfreiheit ermöglichten dem Westjordanland seit 2009 ein Wirtschaftswachstum von 6-7 %. Erstaunlich, dass sich dieser Wandel, für den auch Christen dankbar sein sollen, im Dokument nicht niederschlägt.
Die Behauptung, wenn es keine Besatzung gebe, gebe es auch keinen Widerstand (1-4; 4-3), ist historisch nicht haltbar. Größere arabische Angriffe auf Juden gab es in Palästina seit etwa 1920, Angriffe von Fedayin gegen Israel ab etwa 1950. Die PLO wurde 1964 gegründet. Die Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens erfolgte danach, 1967. Nach dem israelischen Rückzug aus Gaza 2005 und dem vollständigen Abbau der Siedlungen eskalierte dort der Konflikt.
Das Ende der Besatzung führt nur zum Frieden, wenn es im Zuge eines umfassenden Friedensvertrags verwirklicht wird, in dem sich beide Seiten an ihre Vereinbarungen binden. So sieht es das internationale Besatzungsrecht vor. Daher kann es nicht allein darum gehen, „den Unterdrücker zu zwingen, von seiner Aggression abzulassen“ (4-2-3). Palästinenser können selbst den größten Beitrag dazu leisten, dass Israelis sie nicht mehr als Bedrohung ansehen.
Dieses Verständnis der politischen Forderungen wird gestützt durch die „Botschaft an die Juden“: „Wir können unser [!] politisches Leben … nach dem Grundprinzip der Liebe und ihrer Kraft organisieren, wenn erst einmal die Besatzung beendet und die Gerechtigkeit wiederhergestellt ist“ (5-4-2). In allen diesen Zitaten ist von einem Staat, einer Gesellschaft, einem gemeinsamen politischen Leben die Rede, in keinem von zwei Staaten. In diesem einen Staat würden Juden zur Minderheit werden, dominiert von einer muslimischen Mehrheit, eventuell vermehrt um zurückkehrende Flüchtlinge, die „das Recht auf Heimkehr haben“ (1-1-6). In die Vision des einen Staates wird alles Positive hineinprojiziert: „Wir werden hier ‚ein neues Land‘ und ‚einen neuen Menschen‘ entdecken, der imstande ist, sich im Geiste der Liebe zu allen seinen Brüdern und Schwestern zu erheben.“ (10-1) Aber wie glaubwürdig kann ein solches Angebot an die Juden sein, wenn es ihnen die verschwindend kleine christlich-arabische Minderheit nicht garantieren kann? Ein solcher Staat würde die Schutzfunktion nicht erfüllen können, die der Staat Israel für die Juden hat und die auch von evangelischen Kirchen in Deutschland gewürdigt wird. Das eigentliche Problem des Konflikts und auch des hier zu analysierenden Dokuments liegt offensichtlich nicht in der Zuspitzung auf die Frage der Besatzung, sondern in der Frage der Akzeptanz des jüdischen Staates Israel durch seine arabischen Nachbarn. Das Existenzrecht des Staates Israel ist aus der Sicht der evangelischen Kirchen in Deutschland nicht hinterfragbar.
Boykottaufruf gegen Israel
Der Boykottaufruf gegen „alle von der Besatzung hergestellten Güter“ (4-2-6) bzw. gegen ganz Israel (7-1) ist aus drei Gründen abzulehnen.
Zum einen hat Deutschland mit dem Boykott von Juden böse Erfahrungen gemacht.
Zum zweiten wäre ein Boykott mit einer einseitigen Schuldzuweisung an Israel verbunden. Dass die Realität so ist, wie sie ist, hängt jedoch auch mit dem politischen Handeln der palästinensischen Seite und etlicher arabischer Staaten zusammen. Im israelisch-palästinensischen Konflikt sind die Palästinenser, obwohl die Schwächeren, nicht nur Opfer, sondern auch verantwortlich Handelnde. Um Frieden zu erreichen, müssen sich beide Seiten bewegen, nicht nur eine.
Zum dritten bedeuteten internationale Sanktionen, dass eine Verhandlungslösung durch Zwang ersetzt würde. Niemand hat das Recht, einen existierenden Staat durch äußeren Zwang aufzulösen.
Der Boykottaufruf richtet sich an „Einzelpersonen, Gesellschaften und Staaten“ (4-2-6). Die ganze Welt soll Israel boykottieren. Wenn als Ziel „die Befreiung beider Völker von den extremistischen Positionen der verschiedenen israelischen [!] Regierungen“ angegeben wird (4-2-6), so verbleibt als einzige Alternative eine palästinensische Regierung, Fatah oder Hamas, für beide Völker. Sollte das mit Liebe, Gerechtigkeit und Frieden gemeint sein?
Zu einigen theologischen Aussagen des Dokuments
Die theologischen Aussagen des Papiers sind in die Abschnitte Glaube – Hoffnung – Liebe gegliedert. Wenn europäische Kirchen über das Judentum und Israel als Volk Gottes sprechen, beginnen sie häufig mit einem Schuldbekenntnis. Nicht so das Kairos-Palästina-Dokument. Es enthält kaum selbstkritische Aussagen, und wenn, dann wird in ihnen die politische Uneinigkeit der Palästinenser (3-2, 9-4) bzw. das eigene Schweigen (5-2) beklagt. Wenn auf den prophetischen Auftrag der Kirche hingewiesen wird (3-4-1), erscheint es notwendig darauf hinzuweisen, dass die Propheten Israels in aller Regel selbstkritisch gewirkt und die eigene Führung und das eigene Volk zur Umkehr gerufen haben. In 5-2 werden Christen allgemein zur Buße im Sinne der Umkehr in die Solidarität mit den leidenden Palästinenser aufgefordert. In 6-1 werden nicht näher bezeichnete christliche „fundamentalistische“ Unterstützer Israels zur „Umkehr“ zur Solidarität mit den Palästinensern aufgerufen.
Das Dokument relativiert theologische Aussagen über Gottes besondere Beziehung zu Israel mit dem Hinweis, Jesus habe „eine neue Lehre“ bezüglich der „Themen wie die Verheißungen, die Erwählung, das Volk Gottes und das Land“ gebracht (2-2-2). Es thematisiert die universale Bedeutung des Wortes Gottes (2-2) und „unseres Landes“ (2-3), aber keine spezifische Gnadengaben Israels. Die bleibende Erwählung Israels und die Bundestreue Gottes mit dem gelobten Land als elementarem Bestandteil der Bundesschlüsse sind für uns jedoch zentrale Aussagen, die die Mitte des christlichen Glaubens betreffen. Gottes besonderes Verhältnis zu Israel lässt sich nicht universalistisch relativieren. In der EKD-Studie „Christen und Juden III“ (4.6.5) heißt es: „Die von palästinensischen Christen geforderte Universalisierung aller biblischen Aussagen über das Land (‚jedem Volk hat Gott ein Land gegeben‘) widerspricht der … biblischen Einsicht, dass Gott sich selbst unauflöslich an das jüdische Volk gebunden hat. Bund und Land aber gehören zusammen.“ Diese Kritik trifft auch für das „Kairos-Palästina-Dokument“ zu.
Die Formulierung, „dass die israelische Besatzung palästinensischen Landes Sünde gegen Gott und die Menschen“ (2-5) bzw. „das Böse“ (4-2-1) ist, ist theologisch überzogen. Besatzungen sind als eine zwar nicht wünschenswerte, aber auch nicht grundsätzlich zu verhindernde Tatsache einschließlich ihrer Beendigung im internationalen Recht geregelt.
Vergleich mit Apartheid
Durch die Bezeichnung „Kairos-Palästina-Dokument“ ziehen die Autoren bzw. der Ökumenische Rat der Kirchen einen Vergleich zwischen Israel und dem früheren Apartheidstaat Südafrika. Der Apartheidvorwurf zielt auf das Selbstverständnis Israels als jüdischer Staat. So wie die Apartheid in Südafrika beendet wurde, soll nach dem Willen der Autoren und des Ökumenischen Rates der Kirchen der jüdische Charakter des Staates Israel abgeschafft werden. Hinter dieser Forderung steht die Gleichsetzung von Zionismus und Rassismus, welcher Philip Potter als Generalsekretär des ÖRK anlässlich ihrer Annahme durch die UNO im November 1975 vehement widersprochen hat, und zwar mit folgenden drei Argumenten: keine der Bestrebungen des jüdischen Volkes könne diese Gleichsetzung rechtfertigen; es gebe keine Anzeichen dafür, dass der Zionismus im Sinne der UNESCO-Definition von Rassismus aus dem Jahr 1967 rassistisch wäre; die Gleichsetzung lenke von der vordringlichen Aufgabe ab, den Nahostkonflikt durch friedliche Verhandlungen zu lösen. Rückt der ÖRK heute von dieser Argumentation ab?
Zu erinnern ist auch an die differenzierte Reaktion der EKD unter Ratsvorsitz von Landesbischof D. Class auf den UNO-Beschluss: die Studienkommission „Kirche und Judentum“ wurde beauftragt, eine „Verstehenshilfe“ zu erarbeiten. Sie erschien 1976 unter dem Titel „Was ist Zionismus?“.
Der Vergleich Israels mit dem Apartheidstaat Südafrika ist unangemessen. Es gibt antiarabische Ressentiments unter Israelis, Rassentrennung ist aber nicht Teil der Politik Israels. Umgekehrt ist Antisemitismus unter Arabern und Muslimen nicht nur weit verbreitet, sondern häufig auch Mittel der Politik. Antisemitismus und die Ausdehnung der Feindschaft gegen Israel auf alle Juden ist der Hauptgrund dafür, dass die Zahl der Juden in arabischen Ländern von rund 1,2 Millionen (um 1930) auf gegenwärtig etwa 5.000 gesunken ist. In Israel leben mehr als 1,2 Millionen Palästinenser, die rechtlich gleichgestellt sind. Sie klagen jedoch über Diskriminierungen im täglichen Leben (1-2-1). Juden sind in keinem arabischen Land gleichberechtigte Staatsbürger.
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Zusammenfassung (Hinweis:
1. Deutlich vernehmbar ist die Klage des „Kairos-Palästina-Dokuments“ über die schwierige Situation der Palästinenser. Zusammen mit anderen evangelischen Kirchen in Deutschland tritt die Evangelische Landeskirche in Württemberg ein für die beharrliche Bemühung um Verständigung, Ausgleich und Frieden.
2. Positiv hervorzuheben ist die Mahnung der Autoren zur Abkehr von Gewalt, Fanatismus und Extremismus.
3. Das Dokument fordert die Auflösung des jüdischen Charakters des Staates Israel. Diese Forderung geht einher mit einer Theologie, in der die Besonderheit des Gottesverhältnisses Israels universalistisch aufgelöst wird.
4. Die Forderung, den jüdischen Charakter des Staates Israel abzuschaffen, wird mit der Gleichsetzung von Zionismus und Rassismus bzw. Apartheid legitimiert.
5. Ziel ist nicht der vom „Nahost-Quartett“ (UNO, USA, EU, Russland) favorisierte Kompromiss einer Zweistaatenlösung, sondern eine arabisch-muslimische Mehrheitsgesellschaft in einem einzigen Staat für Muslime, Juden und Christen.
6. Diese muslimische Mehrheitsgesellschaft soll nach Aussage der Autoren von den christlichen Werten der Liebe, Gerechtigkeit und des Friedens bestimmt werden. Wie das erreicht werden soll, bleibt unklar.
7. Um ihr Ziel zu erreichen, setzen die Autoren nicht auf eine Verhandlungslösung, sondern fordern Staaten, Organisationen und Einzelne auf zu Sanktionen, Boykott und Zwang gegen Israel.
8. Die Unterstützung von Christen und Kirchen für Israel soll nach dem Willen der Autoren in eine Unterstützung für die Palästinenser umgewandelt werden.
Folgerungen
Mit den theologischen und politischen Erklärungen evangelischer Kirchen in Deutschland über Israel und den israelisch-palästinensischen Konflikt können viele Aussagen des „Kairos-Palästina-Dokuments“ nicht in Einklang gebracht werden. Das Papier ist m. E. in seinen politischen und theologischen Aussagen nicht zustimmungsfähig.
Wichtig erscheint es jedoch, das Dokument als subjektiven Ausdruck einer überaus großen Betroffenheit zu werten, mit der die angesprochenen Kirchen umzugehen haben. Die Kirchen würden jedoch einen schweren Fehler begehen, wenn sie sich für Druck auf Israel instrumentalisieren ließen. Dies verbietet sich zum einen wegen ihrer eigenen judenfeindlichen Vergangenheit, von der sie sich unter großen Anstrengungen abgekehrt haben. Zum anderen würde kirchlicher Druck auf Israel ausgesprochen kontraproduktiv wirken. Dies wäre der sicherste Weg zum Scheitern eines jeden Versuchs, Israel zu Veränderungen zu bewegen.
In der vom Oberkirchenrat unterstützten Erklärung evangelischer Christen in Württemberg „Einen gerechten Frieden im Nahen Osten fördern“ vom 11. Januar 2005 schrieben wir: „Unsere Gesprächspartner in Israel und Palästina erwarten von uns aufmerksames Wahrnehmen, Einfühlung in ihre Situation und konkrete Hilfe. … Angesichts der vielschichtigen Konflikte ist es wichtig, dass wir miteinander und mit unseren Partnern im Gespräch bleiben und uns verstärkt darum bemühen, diejenigen miteinander ins Gespräch zu bringen, die keine Kontakte zueinander haben. Wir plädieren für die verstärkte Unterstützung von Personen und Gruppen, die sich um Verständigung, Ausgleich und friedliches Zusammen¬leben von Israelis und Palästinensern bemühen.“
In Konsequenz aus diesen Sätzen sollte die spezifische Reaktion unserer Landeskirche auf das „Kairos-Palästina-Dokument“ darin bestehen, Gespräche zwischen palästinensischen Christen und Juden verschiedener religiöser Richtungen anzuregen und nach Vermögen zu fördern. Das Dokument befürwortet in 9-2 ein besseres gegenseitiges Kennen lernen. Das Selbstverständnis des Dialogpartners wahrzunehmen ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Verständigung. Ändern müssen sich beide Seiten. Beide Gesellschaften verändern sich am ehesten durch Prozesse, die aus ihrem Innern kommen. Das Zusammenleben von Christen und Juden in Israel bzw. den Palästinensischen Autonomiegebieten bietet die Chance aufeinander zu zu gehen, einander besser zu verstehen und Bündnispartner für solche Prozesse zu finden.
Bad Boll, den 25.06.2010
Gez.
Dr. Michael Volkmann
Die vorstehende Stellungnahme fußt auf einer vom Ökumenischen Rat der Kirchen früh verbreiteten deutschen Version des „Kairos-Palästina-Dokuments“, welche in der Reihe der Unterzeichner auch den Namen von Bischof Dr. Munib Younan nennt. Die Information, dass dieser Name aufgrund eines Missverständnisses irrtümlicherweise unter dieses Dokument gesetzt worden sei, erreichte mich erst nach Abgabe der Stellungnahme.
M. V.)
Der Autor
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Pfarrer Dr. Michael Volkmann ist seit 2003 Pfarrer für das Gespräch zwischen Christen und Juden der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.
Mit 18 reiste er zum ersten Mal nach Israel und mit 20 Jahren verbrachte er ein Jahr als Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen im Land.
Anschließend Studium der Theologie, Erziehungswissenschaft und Judaistik; Promotion in Sozialwissenschaften.
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