ONLINE-EXTRA Nr. 121
Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Antisemitismus und Islamophobie stehen seit geraumer Zeit im Mittelpunkt vieler Diskussionen um Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Rassismus sowie diskriminierende Diskurse und Feindbilder insgesamt. Vor gut einem Jahr legten Sabine Schiffer und Contstantin Wagner eine keineswegs unumstrittene "Vergleichsstudie" zum Thema Antisemitismus und Islamophobie vor, die auf geteilte Resonanz stieß. © 2010 Copyright beim Autor
Im vorliegenden ONLINE-EXTRA-Text stellt der Politikwissenschaftler Mohammed Khallouk die Studie von Schiffer/Wagner ausführlich vor. Sich weitgehend eigener Wertungen enthaltend, zeichnet Khallouk den Aufbau und die Argumentationslinien der Autoren nach und gibt auf diese Weise Einblick in die verschiedenen Aspekte und Fragestellungen, die dem streitbaren Thema "Antisemitismus und Islamophobie" zu eigen sind.
COMPASS dankt Mohammed Khallouk für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 121
Ausgrenzungsdiskurse beginnen bereits mit der Wahrnehmung
Viele gebildete Deutsche haben angesichts der deutschen Geschichte mit dem staatlich organisierten Massenmord an Juden ein Schamgefühl verinnerlicht und zu ihrem Vermächtnis erklärt, dass sich derartiges nicht wiederholen dürfe. Zweifellos stellt die Shoa die bislang grausamste und extremste Form der Enthumanisierung einer zum „Feind“ erklärten Personengruppe dar. Andere Minoritäten sind mit der gleichen Qualität wie Quantität an Rassismus seitens der deutschen Gesellschaft bislang noch nicht konfrontiert worden. Die Fixierung auf jene für einmalig empfundenen Kollektivverbrechen als „Mahnmal für Gegenwart und Zukunft“ lässt allerdings leicht übersehen, dass Antisemitismus weder erst mit der Massenvernichtung von Juden beginnt noch historisch begonnen hat. Ebenso besteht die Gefahr, die bestehenden Ausgrenzungsdiskurse gegen andere als „Feind“ oder „minderwertig“ stigmatisierte Rassen, Religionen oder gesellschaftliche Minoritäten aus dem Auge zu verlieren.
Die Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer sowie der Politik- und Islamwissenschaftler Constantin Wagner haben sich deshalb in besonderer Weise mit dem Beginn dieses rassistisch begründeten antisemitischen Diskurses im ausgehenden Neunzehnten Jahrhundert auseinandergesetzt. Ihr wissenschaftliches Anliegen bestand darin, die Charakteristika jenes frühen Antisemitismus aufzuzeigen und einer neuerdings zu beobachtenden Stereotypisierung des Diskurses über Muslime und den Islam in der christlich-säkular geprägten deutschen Mehrheitsgesellschaft gegenüberzustellen. Die Ergebnisse dieser Vergleichsstudie präsentieren sie in dem populärwissenschaftlichen Buch „Antisemitismus und Islamophobie – ein Vergleich“ der Öffentlichkeit. Der dahinter stehende gesellschaftspolitische Anspruch ist weniger darin zu erkennen, beide Gruppenressentiments graduell auf eine Ebene zu stellen, als viel mehr die Gesellschaft für eine bestehende Islamfeindschaft zu sensibilisieren, um zu verhindern, dass sich das dahinter stehende ressentimentbeladene Islambild weiter etabliert, und letztlich ebenso wie der sich vor 100 Jahren ausbreitende Antisemitismus die Grundlage für Vernichtungsabsichten darstellen kann.
Obwohl jeder Ausgrenzungsdiskurs immer im Kontext zur jeweils betroffenen Personengruppe und der diese ausgrenzenden Gesellschaft zu betrachten sei, erschien Schiffer und Wagner die historische Entwicklung der Judenfeindschaft als geeignet, die verschiedenen Komponenten der zeitgenössischen Islamfeindschaft auf Parallelen und wiederkehrende Diskursmuster hin zu untersuchen. Schließlich beruhe Ausgrenzung und Diskriminierung generell auf bestimmten Mechanismen, die unabhängig von der jeweils diskriminierten Gruppe Wirkung zeigten. Hinzu komme, dass die Judenfeindschaft - angesichts ihrer langen Historie und extremen Intensivierung bis hin zur Massenvernichtung – relativ umfangreich erforscht sei und Juden wie Muslime als Anhänger einer in Deutschland minoritären Religion mittels Konversion prinzipiell aus dem als „anders“ oder „feindlich“ konstruierten Kollektiv heraustreten könnten – eine Möglichkeit, die beim klassischem Rassismus aufgrund von biologischen Merkmalen auch theoretisch nicht besteht.
Der Ausgrenzungsdiskurs beginne Schiffer und Wagner zufolge beim biologisch begründeten Rassismus ebenso wie bei Antisemitismus und Islamophobie bereits damit, indem jeder, der das betreffende Merkmal aufweise, einer homogenen Gruppe zugewiesen werde und dieser generell bestimmte, von der Majorität abweichende Eigenschaften zugeschrieben werden. Diese zugeschriebenen Merkmale müssen nicht notwendigerweise mit negativen Assoziationen verbunden sein. Vor diesem Hintergrund hätten erklärte Philosemiten beispielsweise unbeabsichtigt zum Antisemitismusdiskurs beigetragen, da sie mit der konstruierten Kategorie „Jude“ stets ebenso wie die Antisemiten verallgemeinerten und eine Homogenisierung vornähmen. Sobald Differenzierung unterbleibe und Eigentümlichkeiten einzelner auf ein Kollektiv übertragen würden, sei der Keim für einen merkmalsspezifischen Ausgrenzungsdiskurs gelegt.
SABINE SCHIFFER und CONSTANTIN WAGNER
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Neben den historisch ausgerichteten Diskursanalysen beschäftigen sich die Autoren mit vielen aktuellen Diskussionen vor allem in Deutschland. Sie tragen eine Fülle von Material zu den Themen Antisemitismus, islamfeindlichkeit, Rassismus, Gruppendynamik, diskriminierende Diskurse und Feindbilder zusammen.
Ein Diskursmuster wird nachgezeichnet
Durch die umfangreiche Heranziehung von Medien, die Analyse öffentlicher Stellungnahmen antisemitischer wie islamophober Aktivisten und die Reflexion deren Argumentationsstrategien gelingt es Schiffer und Wagner, sowohl für den Antisemitismus als auch für die Islamophobie ein spezifisches Diskursmuster nachzuzeichnen. Hierbei erkennen sie zahlreiche Parallelen. Durch die Homogenisierung und Fixierung der konstruierten Gruppe als grundsätzlich „anders“ bleibe jedes dazu gehörige Individuum - unabhängig vom konkreten Verhalten, seinen persönlichen Ansichten und dem jeweiligen Kontext - in einer mit bestimmten Eigenschaften assoziierten Kategorie hineingeschoben. Die Bezeichnung „Neo-Rassismus“ erachten die Autoren daher für beide Ausgrenzungsdiskurse als angemessen. Ergab sich diese „Biologisierung“ eines nicht biologischen Merkmals beim Antisemitismus bereits dadurch, dass das Judentum als „Volk oder Rasse“ und somit Jude als angeborener unveränderlicher Status aufgefasst wurde, entstehe diese Verknüpfung bei der Islamfeindschaft, indem die Kategorie „Muslim“ mit einer bestimmten ethnokulturellen Abkunft gleichgesetzt werde.
Die sichtbare Distanzierung von mit der „fremden“ Religion assoziierten Verhaltensweisen, einhergehend mit dem Bestreben, sich die kulturellen Gepflogenheiten der Majorität anzueignen, impliziert daher nicht selten den Vorwurf, die wahre Identität der Außenwelt zu verschleiern. Offenbare man diese jedoch und ziele darauf hinaus, sein Leben öffentlich sichtbar nach jüdischen bzw. islamischen Grundsätzen auszurichten, bestätige man sozusagen das gegen die eigene Gruppe gerichtete Ressentiment. Unterstellt werde einem mangelnde Loyalität zur Mehrheitsgesellschaft, die sich im Falle der Juden in dem Terminus „Staat im Staate“ und im Falle der heutigen muslimischen Minorität in Europa in der Bezeichnung „Parallelgesellschaft“ ausdrücke.
Schiffer und Wagner erkennen dahinter einen Mechanismus der „selbsterfüllenden Prophezeiung“. Die Feind-Stigmatisierung und Homogenisierung von außen verleite bei den Betreffenden ihrerseits zu einer verstärkten Identifikation mit der zugewiesenen Gruppe und dementsprechend zu einem hiermit als „konform“ interpretierten Verhalten, welches anschließend für die konstruierte Assoziation als „Beweis“ angeführt werden könne. Tatsächliche oder vermeintliche Integrationsschwierigkeiten der betreffenden Minorität seien somit in erster Linie der Mehrheitsgesellschaft anzulasten, welche die erfolgte Integration entweder nicht als solche wahrzunehmen bereit sei oder Integration mit Assimilation und vollständiger Nachahmung des Verhaltens der gesellschaftlichen Majorität einhergehend mit der Aufgabe einer jüdischen versus muslimischen Identität gleichsetze.
Als weitere Parallele beider Ausgrenzungsdiskurse wird die Assoziation der als „homogen“ konstruierten Gruppe mit einer Bedrohung für die gesellschaftliche Majorität hervorgehoben. Man selbst könne sich dadurch in der Opferrolle wähnen und die Diskriminierung des konstruierten Kollektivs als „Verteidigung“ rechtfertigen. Erreicht werde dieser Verteidigungsmythos, indem man der stigmatisierten Gruppe entweder die gewöhnlichen humanen Charaktereigenschaften bestreite - zum Beispiel, indem sie als „Krankheit“ bezeichnet würde - oder ihr eine besondere übermenschliche Macht attestiere. In diesen Kontext ordnen die Autoren schließlich die Verschwörungstheorien ein, die eine Verbindung des für „bedrohlich“ interpretierten Kollektivs zur politischen oder ökonomischen Führungsebene unterstellten.
Diese gemutmaßten Verbindungen werden mit dem Täuschungsvorwurf in Zusammenhang gebracht, so dass der Eindruck erzeugt werde, die Herrschaftseliten gehörten entweder selbst der betreffenden Gruppe an oder stünden in einem Abhängigkeitsverhältnis zu dieser. Um ihre vermeintliche Verbindung zum „Feind“ nach außen hin zu demonstrieren, würden in islamfeindlichen Internetblogs Politiker und christliche Kirchenfunktionäre, die sich im Sinne der gesellschaftlichen Ansprüche von Muslimen einsetzten, sogar mit muslimischen Namen präsentiert. Die Bundesvorsitzende von Bündnis90/Die Grünen, Claudia Roth, beispielsweise werde als „Claudia Fatima Roth“ angeführt, so dass jegliches gesellschaftspolitische Agieren der betreffenden Person als „Einsatz für die Herrschaft des Islam“ erscheine. Die eigene politische Gegnerschaft zu ihr lasse sich somit als „Widerstand“ gegen eine unermesslich weitreichende bedrohliche Macht des Islam legitimieren.
Durch die Medien erlangt der Diskurs Breitenwirkung
Auffällig am antisemitischen wie am islamfeindlichen Diskurs ist die von den Autoren hervorgehobene Tatsache, dass beide in einem Kontext entstanden sind, in dem die Religion für die Majorität der Bevölkerung einen zurückgehenden oder untergeordneten Stellenwert besaß. Zum Ende des Neunzehnten Jahrhunderts als bedeutsamer geltenden Identitätsstifter, der Nation, fühlten sich die seit Generationen in Deutschland ansässigen Juden ebenso zugehörig. Die heutzutage hierzulande aufgewachsene sogenannte „dritte Immigrantengeneration“ besitzt durch den Schulalltag eine mindestens ebenso tiefgründige Beziehung zur deutschen Gesellschaft wie zum majoritär muslimischen Herkunftsland ihrer Vorfahren. Der Ausschließungsdiskurs geht folglich von minoritären Strömungen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft aus, die an traditionellen Identitätskriterien festzuhalten beanspruchen, die sie durch den Einfluss des „fremden“ Elements bedroht wähnen. Ihnen gelinge es, so die Botschaft der Autoren, ihre ressentimentbeladene Sichtweise medial so weit zu verbreiten, dass sie auch jenseits ihrer Klientel auf Resonanz träfen.
Besonders anschaulich wird anhand der Veröffentlichungen der christlich-fundamentalistischen Kleinpartei Christliche Mitte (CM) aus den Achtziger und frühen Neunziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts demonstriert, wie darin geäußerte Ressentiments gegen den als „fremd“ und „feindlich“ stigmatisierten Islam von Gesellschaftsschichten aufgenommen werden, in denen die Ideologie der Urheber auf andere Themenbereiche bezogen in keinster Weise geteilt wird. Mag die CM bis heute kaum über 1% der Stimmen bei Wahlen erhalten, die von ihren Funktionären verbreiteten, auf den Islam oder die Muslime bezogenen Stereotype fanden in modifizierter Form Eingang bis in die offiziellen interreligiösen Dialogpapiere der Evangelischen Kirche. Sogar in neueren Beiträgen der SPD nahen Friedrich-Ebert-Stiftung erkennen die beiden Autoren ein Islambild, das von jenen Negativassoziationen beeinflusst sei.
Die Methoden, diese Stereotype und Assoziationen zu erzeugen und damit gesellschaftliche Breitenwirkung zu erzielen, ähneln sich beim antisemitischen Diskurs des späten Neunzehnten Jahrhunderts und dem gegenwärtigen islamophoben Diskurs offenbar so sehr, dass man auf die Schlussfolgerung gelangen könnte, die Islamophoben hätten von den Antisemiten bewusst die Strategien übernommen. Als beliebte Methode, die konstruierte Andersartigkeit ins öffentliche Bewusstsein dringen zu lassen, werde Schiffer und Wagner zufolge in Medienbeiträgen die jüdische versus muslimische Religion eines Akteurs permanent angeführt, selbst dort, wo die Religion für die konkrete Angelegenheit überhaupt keine Relevanz besitze.
Wie in Zeitungsartikeln der 1880er Jahre über kritikwürdiges Spekulantentum bei den diesbezüglich genannten Juden deren Konfession – im Gegensatz zu ebenfalls beteiligten Nichtjuden eigenständige Erwähnung fand, so würden heutzutage bei Berichten über Kriminalfälle muslimischer oder aus muslimischen Ländern stammender Täter deren Religion oder ihr Migrationshintergrund in Medienberichten mit angegeben, bei Tätern aus der christlich geprägten Mehrheitsbevölkerung hingegen gewöhnlich nicht. Der Eindruck eines Zusammenhangs des Islam zu der berichteten Tat werde auf diese Weise künstlich hervorgerufen, obwohl nicht nur im konkreten Fall für eine Beziehung der Aktion zum Muslim sein des Akteurs, sondern nicht einmal für eine überproportionale Häufigkeit von Tätern muslimischer Religion Belege angeführt werden könnten.
Mögen islamistische Selbstmordattentäter den Bezug ihrer Anschläge zum Islam als Religion von sich aus beabsichtigt haben und diese Anschläge sogar als „islamisch“ rechtfertigen, durch die eigenständige Erwähnung eines „möglichen islamistischen Hintergrundes“ bereits bei Verdacht auf einen Anschlag entstehe die allgemeine Assoziation des Islam mit potentiellen Gewalttaten im Bewusstsein der Rezipenten. Dies gelte erst recht, wenn der Ausschluss eines spezifisch islamistisch motivierten Hintergrundes bei nichtmuslimischen Tätern oder einer nicht auf Gewalt zurückgehenden Ursache explizit genannt werde. Einem Muslim werde dadurch das Etikett des „potentiellen Gewalttäters“ angehaftet und der Islam gelte im öffentlichen Bewusstsein als „gewalttätige Religion“. Diejenigen, die tatsächlich im Namen des Islam Gewalt zu verüben beanspruchen, hätten hinsichtlich dieses im Westen Verbreitung findenden Islambildes ihr Ziel erreicht. Vielmehr sähen die Muslime sich der Definition Schiffers und Wagners zufolge ihrerseits Gewalt gegenüber, denn Gewalt beginne danach bereits mit dem Stereotyp, nicht erst mit der physischen Aktion.
Bestehende Divergenzen zwischen Juden- und Muslimfeindschaft bleiben nicht unberücksichtigt
Die zahlreichen entdeckten Parallelen zwischen dem Antisemitismus des späten Neunzehnten Jahrhunderts und der in jüngster Zeit aufgekommenen Islamophobie lassen die Autoren nicht übersehen, dass zwischen beiden Gruppenfeindschaften durchaus Unterschiede bestehen. Diese erschöpfen sich nicht in der Tatsache, dass jener Antisemitismus in Deutschland sich historisch bis zur Massenvernichtung des konstruierten Feindes gesteigert hat – zumal eine vergleichbare Zuspitzung gegenüber anderen als „feindlich“ angesehenen Gruppen in der Zukunft prinzipiell ebenso wenig ausgeschlossen sei. Die Hauptdivergenz ergebe sich vielmehr daraus, dass die Juden bereits seit Jahrhunderten als Minorität in Europa gelebt hatten und somit sich Judenfeindschaft von vorn herein gegen ein „innergesellschaftliches Element“ gerichtet habe.
Islamfeindschaft blieb in historischer Dimension hingegen eine Fixierung auf ein „äußeres Feindbild“. Erst seit der Immigration in den 1960er und 1970er Jahren sieht sich die deutsche Gesellschaft mit Muslimen als eigenem Bestandteil konfrontiert. Das Bewusstsein, dass deren Religion nun ebenfalls dauerhaftes Element des eigenen Kollektivs darstellt, kam sogar erst mit der in Deutschland aufgewachsenen sogenannten „dritten Einwanderungsgeneration“ und ihrer bewussten Ausrichtung auf ein dauerhaftes Leben in Deutschland auf. Zugleich erschien damit eine der Mehrheitsgesellschaft zugeschriebene „christliche Identität“ in Frage gestellt, die mancher nun glaubte, gegen die „fremde“ Religion „verteidigen“ zu müssen.
Von diesem Moment an erhalte der Abgrenzungsdiskurs gegenüber Muslimen erst die gleiche Qualität wie der Antisemitismusdiskurs, der sich im Neunzehnten Jahrhundert durch die Zuerkennung der vollständigen Staatsbürgerrechte an Juden ergab. Nun erfährt er durch die Einbürgerung muslimischer Immigranten bzw. die Selbstdefinition der hier lebenden Muslime als „deutsche Bürger muslimischen Glaubens“ seine Grundlage. Schiffer und Wagner erkennen in der Antizipation einer spezifischen „deutschen Identität“ und selbstbewussten Partizipierung am deutschen Gesellschaftsleben letztlich die Basis für den Juden wie Muslimen entgegengebrachten Vorwurf, ihre wahrhaftige Identität verbunden mit „konspirativen Absichten gegen die Mehrheitsgesellschaft“ vor dieser zu verbergen.
Da Antisemitismus auch in der heutigen deutschen Gesellschaft als minoritäre Strömung nach wie vor existent sei, erachteten die Verfasser des Buches es vor allem für bedeutsam, die Divergenzen zwischen der Auswirkung jenes gegenwärtigen Antisemitismus und dem gleichzeitig an Dynamik gewinnenden islamophoben Diskurs herauszustellen. Hierbei konstatieren sie, dass Antisemitismus im Gegensatz zur Islamophobie in der Mainstreamöffentlichkeit kaum noch auf Resonanz treffe und dort eindeutig tabuisiert sei. Islamophobe Ansichten würden hingegen – wie der Karikaturenstreit belege - nicht selten als „legitime Meinungsäußerung“ gewertet, die ein Rechtsstaat zu tolerieren habe. Dieser auf doppelten Standards beruhenden Moralität erfordere es, öffentlich entgegenzutreten. Hierfür erscheine es wesentlich, dass auch der Antisemitismus nicht in erster Linie deshalb verurteilt werde, weil er sich gegen „Juden“ wende, sondern weil er eine Ungleichwertigkeit von Menschen unterstelle, aus der heraus prinzipiell jeder als „anders“ konstruierten Gruppe – einschließlich der Muslime das Stigma des „Minderwertigen“ anhaften könne.
Eine Vergleichsstudie mit pädagogischem Anspruch
Sicherlich wurde der Vergleich der in jüngster Zeit in der europäischen Gesellschaft verstärkt aufgekommenen Islamophobie mit dem historischen Antisemitismusdiskurs in erster Linie ausgewählt, weil letzterer wissenschaftlich bereits eingehend erforscht ist und somit ausreichend Vergleichsmaterial bietet. Die Erkenntnis, dass Antisemitismus in der gegenwärtigen deutschen Mainstreamöffentlichkeit stets auf Widerstand trifft und diesbezüglich angesichts der historischen Zuspitzung in der Shoa eine allgemeine Sensibilität besteht, erschien jedoch gleichermaßen Motivation, den Antisemitismusdiskurs als Vergleichsmuster für die von vielen als „legitim“ angesehene Islamophobie zu prädestinieren. Dahinter verbirgt sich eine pädagogische Strategie und die Botschaft, das „Wehret den Anfängen“ dürfe sich nicht nur auf den Widerstand gegen vermeintliche oder tatsächliche judenfeindliche Ressentiments beziehen, sondern müsse eine Wachsamkeit gegenüber jeglichen Tendenzen der Homogenisierung und gruppenbezogenen Pauschalisierung beinhalten.
Auf diese Weise erhoffen sich die Autoren nicht nur zu erreichen, dass die Islamophobie gleichermaßen als Neo-Rassismus eingestuft wird und die Mehrheitsgesellschaft der muslimischen Minorität den ihr gebührenden Respekt entgegenbringt, sondern darüber hinaus die Reflexion jeglichen gruppenbezogenen Diskurses, in wie weit er auf Stereotypen beruht. Letztlich rufen sie ihre Leser zur Zivilcourage auf, eigenständig herauszufinden, wo ein neues Kollektiv als „Feind“ konstruiert und stigmatisiert wird. Dieser beklagenswerten Tendenz gelte es couragiert entgegenzutreten.
Der deutschen Mehrheitsbevölkerung wird verdeutlicht, dass die Erfahrung des Massenmordes an Juden während des Nationalsozialismus, sowie der objektive Rückgang und die Tabuisierung judenfeindlicher Ansichten keineswegs bedeutet, dass die deutsche Gesellschaft vor der Entstehung eines erneuten Ausschließungssystems immun ist. Der Kampf für die Gleichberechtigung und gleichwertige Anerkennung aller Menschen erweist sich demnach als immerwährende Aufgabe und erfordert permanente Aufmerksamkeit. Der Leser des Buches sieht sich aufgerufen, die Erkenntnisse aus Schiffers und Wagners Vergleichsstudie aufzunehmen und hiervon ausgehend mit geschärftem kritischem Blick sich in die öffentlichen gesellschaftspolitischen Debatten einzubringen.
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Dr., geboren 1971 in Sale, Marokko, 1993-1997 Studium der Sprachwissenschaft an der Mohammed V.- Universität Rabat. Schwerpunkte: Internationale Sprachtheorien, Geschichte der Sprachen und Philosophie. 1997-1998 Studienkolleg in Marburg; Schwerpunkte: deutsche Literatur, Geschichte, Sprache und Soziologie. 1999-2003 Studium der Politikwissenschaft mit den Nebenfächern Französisch und Allgemeine Sprachwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg mit Abschluss Magister Artium, 2004-2007 Promotion über islamischen Fundamentalismus in Marokko. Seit 2008 Habilitation an der Bundeswehruniversität München über Juden in Marokko. Seit 2008 Teaching and Resarch Asisstant im Bereich “Politische Theorien” an der Philipps-Universität Marburg.
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