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ONLINE-EXTRA Nr. 157

Februar 2012

Er war der einzige jüdische Abgeordnete, der im Parlament eines arabischen Landes saß. Und 1996 gründete er in Casablanca ein jüdisches Museum - das einzige seiner Art in der gesamten arabisch-muslimischen Welt. Eine Ausnahmepersönlichkeit. Ein Brückenbauer. Die Rede ist von Simon Levy, dem 1939 in Essaouira geborenen marokkanisch-jüdischen Intellektuellen und Historiker, der als Unternehmer, Politiker, Wissenschaftler und Leiter des erwähnten Museums für jüdische Kulturgeschichte durch sein Leben und Werk einen einzigartigen Einsatz für ein respektvolles Miteinander von Juden und Muslimen in Marokko geleistet hat. Anfang Dezember starb er nach längerer Krankheit in einem Krankenhaus in Rabat, Marokko.

Der Politikwissenschaftler und ONLINE-EXTRA-Autor Mohammed Khallouk, seines Zeichens selbst in Marokko geboren und aufgewachsen, erinnert in seinem nachfolgend wiedergegebenen Text an die Ausnahmepersönlichkeit Simon Levy und zeigt zugleich einige Linien auf, die Marokko als Beispiel muslimisch-jüdischer Koexistenz in Geschichte und Gegenwart erscheinen lassen.

COMPASS dankt Mohammed Khallouk für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!



© 2012 Copyright beim Autor 
online exklusiv für
ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 157


Simon Levy - Bewahrer des jüdischen Erbes der marokkanischen Kultur

MOHAMMED KHALLOUK



Marokko als Beispiel muslimisch-jüdischer Koexistenz in Historie und Gegenwart

Der Nahostkonflikt hat dafür gesorgt, dass Judentum und Islam im Kollektivbewusstsein einer gesamten Generation als sich von ihrem Ursprung her feindlich gegenüberstehende Religionen wahrgenommen werden. Der gemeinsame Ursprung beider monotheistischen Glaubenslehren ebenso wie des Christentums in Abraham wird dabei nicht nur außer Acht gelassen, sondern auch eine Jahrhunderte währende jüdisch-muslimische, von gegenseitigem Respekt getragene Koexistenz in verschiedenen Teilen der Welt.

Historisch gesehen befanden sich die größten jüdischen „Diasporagemeinden“ zudem in muslimisch beherrschten Gegenden, eine Tatsache, die heutzutage, nach Gründung des Staates Israel und einem anschließenden jüdischen Massenexodus aus der Arabischen Welt nach dort, aber auch nach Amerika oder Europa, von westlichen wie arabischen Historikern kaum noch erwähnt wird.

Eine Ausnahme bildete sicherlich der am 2. Dezember des vergangenen Jahres in Rabat gestorbene marokkanisch-jüdische Geschichtsprofessor Simon Levy, der sich als Wissenschaftler speziell dem jüdischen Anteil der Kulturgeschichte seines Landes zuwandte, als Politiker und Intellektueller jedoch permanent die gesamte marokkanische Nation und deren Wohlergehen im Blick hatte. Den Freiheitsbegriff aus Thora und Talmud interpretierte er in keiner Weise als „Privileg eines auserwählten Volkes“, sondern als allgemeine Aufforderung, sich für eine freiheitliche und tolerante Gesellschaft in der Gegenwart einzusetzen.

Die Beschäftigung mit der in Bezug auf die Behandlung der Juden wechselvollen marokkanischen Geschichte, die sie zu keiner Zeit veranlasste, dem Land ihrer Geburt in ihrer Gesamtheit den Rücken zu kehren, hat bei Levy sein Leben lang die Zuversicht erhalten, das Judentum werde auch in Zukunft ein Wesenselement der marokkanischen Nation bleiben und könne weiterhin gemeinsam mit einem ebenfalls in der abrahamitischen Ethik wurzelnden Islam zu einem humanen Fortschritt beitragen.

In der Tat erscheint die aktuelle, je nach Quelle zwischen 5000 und 15000 schwankende jüdische Einwohnerzahl im marokkanischen Königreich verschwindend gering, vor dem Hintergrund, dass noch in den Fünfziger Jahren, als Marokko seine Unabhängigkeit von der französischen Protektoratsherrschaft wiedererlangte, weit über 200000 Juden dort gelebt haben sollen. Dessen ungeachtet beherbergt das Königreich im westlichen Maghreb nach wie vor die größte Anzahl jüdischer Staatsbürger in der Arabischen Welt.

Dass die Bezeichnung „Staatsbürger“ hierbei nicht nur als juristischer Terminus verstanden wird, kann am Vermächtnis Simon Levys eindrucksvoll demonstriert werden, wenngleich andere landesweit geachtete Repräsentanten der marokkanischen Gesellschaft sich ebenfalls zum jüdischen Glauben bekennen, der König sich von einem Juden politisch beraten lässt, der neuen, erstmals von bekennenden Islamisten angeführten Regierung ein jüdisches Kabinettsmitglied angehören soll und das Hebräische Element sogar als wesentlicher Teil der marokkanischen Kultur in der aktuellen, dieses Jahr beschlossenen Verfassung definiert ist. 


Jüdische Ethik verpflichtet zu gesamtgesellschaftlichem Engagement

Simon Levy wäre jedenfalls der Letzte gewesen, dem man hätte nachsagen können, er habe ein konspiratives Agieren im Sinne des Staates Israel oder gar gegen die muslimische Majorität seines Landes gerichtet betrieben. Die politische und persönliche Freiheit aller marokkanischen Bürger – Muslime wie Juden – lag ihm immer in besonderer Weise am Herzen, wofür er sogar zweimal den Entzug seiner eigenen individuellen Freiheit in Kauf nahm. War der erste politisch bedingte Gefängnisaufenthalt seiner aktiven Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung gegen das französische Protektorat geschuldet, resultierte die zweite Inhaftierung aus seiner oppositionellen Einstellung zum absolutistischen Staatsverständnis des 1999 verstorbenen Königs Hassan II.

Nicht zuletzt die erkannte Diskrepanz der Politik des islamisch legitimierten Monarchen zum humanistischen Gemeinschaftsideal, das die Grundlage sowohl der jüdischen als auch der islamischen Ethik bildet, veranlasste Levy, sich in der kommunistischen Partei Marokkos zu engagieren. In keiner Weise war damit eine antireligiöse oder antikapitalistische Einstellung bei ihm verbunden - geschweige denn ein linker „jüdischer“ Antisemitismus, der Karl Marx von Historikern oft unterstellt wird. Vielmehr erachtete er es als Lebensaufgabe, den jüdischen Beitrag zur marokkanischen Kultur in Historie wie Gegenwart herauszustellen und insbesondere jüdische Zeitgenossen zum Einsatz ihres Kapitals in und für die marokkanische Gesellschaft zu ermuntern.




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In diesem Sinne ist die Stiftung für den Erhalt des marokkanisch-jüdischen Erbes, die Fondation du Patrimoine Culturel Judeo-Marocain zu verstehen, die Levy Anfang der 1990er Jahre ins Leben gerufen hat, mehr noch das 1998 begründete, von dieser Stiftung getragene Museum für marokkanisch-jüdische Kultur in Casablanca, das erste und bislang einzige jüdische Museum der Arabischen Welt, welches Levy bis zu seinem Tod leitete, und nicht zuletzt, der von ihm 2007 mitbegründete Mimouna Club.

In Erinnerung an den jüdischen Feiertag am Schluss des Passahfestes, der die Befreiung des Volkes Israel von der ägyptischen Sklaverei im Kollektivgedächtnis halten soll, setzte Levy sich in diesem Club aber auch allgemein für die freie Entfaltung jüdischen Lebens und Glaubens in der Gegenwart ein, wofür jedoch nicht mehr ein Exodus, wie seinerzeit von Mose initiiert, angestrebt werden sollte, sondern die gleichberechtigte Partizipation der Juden an einer majoritär nichtjüdischen marokkanischen Gesellschaft, die prinzipiell auch weiterhin dafür die Voraussetzung biete.

Der auf die Gesamtbevölkerung bezogen zweifellos extrem geringe Anteil an Juden im heutigen Marokko hat es mit sich gebracht, dass die meisten muslimischen Marokkaner keine persönliche Beziehung zu Juden mehr besitzen und – wie anderenorts auch – Judentum mit den Medienberichten über die israelische Politik gegenüber den Palästinensern assoziieren. Die Tatsache, dass eine von bekennenden Islamisten getragene Regierung einem Juden einen Kabinettsposten anbietet, belegt, die politische Elite des Landes, an der bis in die Gegenwart Juden ihren Anteil haben, versteht es nach wie vor, zwischen dem Judentum als Bruderreligion zum Islam und dem Staat Israel sowie dessen aktueller, „jüdisch“ gerechtfertigter, als ungerecht empfundener Politik zu differenzieren.


Marokkaner jüdischen Glaubens statt Privilegierter eines Auserwählten Volkes

Simon Levys Ziel bestand immer wieder darin, auch der marokkanischen Durchschnittsbevölkerung zu vermitteln, dass jüdischer Glauben und marokkanischer Patriotismus für ihn zwei Seiten einer Medaille darstellen. Ich konnte in einer persönlichen Begegnung mit ihm erfahren, wie sehr die Vermittlung des jüdischen Anteils der marokkanischen Kultur- und Geistesgeschichte Levy am Herzen lag. Tief bedauerte er, dass der Geschichtsunterricht staatlicher Schulen diesen bedeutenden Teil der nationalen Historie immer wieder ausblende.

Vor allem jenen Auftrag hat er deshalb an den Mimouna Club weiter gegeben, der diesen nunmehr von majoritär muslimischen Wissenschaftlern auszufüllen gedenkt. Intellektueller Höhepunkt in der politisch, pädagogisch wie zeitgeschichtlich definierten Arbeit des Clubs war die von ihm organisierte international ausgerichtete Holocaust Konferenz in Casablanca und Ifrane im vergangenen September, die der nun bereits sterbenskranke Simon Levy noch mit erleben durfte.

Anders als dem iranischen Präsidenten Ahmedineschad in seiner zeitgleich vor der UNO in New York vorgetragenen Rede, ging es in dieser ersten in einem arabischen Land abgehaltenen Konferenz zu diesem heiklen Thema in keiner Weise um eine Relativierung oder gar Leugnung historischer Tatsachen, sondern um die Hervorhebung des Potentials zur friedlichen Koexistenz und gegenseitigen Achtung von Muslimen, Christen und Juden, wofür gerade die marokkanische Historie und die Verhinderung der Auslieferung marokkanischer Juden an das von Nazideutschland abhängige französische Vichy-Regime durch den späteren marokkanischen König Mohammed V. einen Beleg darstelle.

Im Geiste Levys vertraten die Teilnehmer der Konferenz die Auffassung, dass der jüdische Beitrag zur marokkanischen Kultur und Gesellschaft mehr in den Vordergrund gerückt werden müsse, um antijüdischen Tendenzen entgegenzuwirken und eine Wiederholung jeglicher Kollektivverbrechen an Juden in der marokkanischen Gesellschaft, in der sie historisch eher die Ausnahme dargestellt hatten, zu verhindern.

Der Instrumentalisierung des Holocaust wie anderer historischer Verbrechen an Juden durch die israelische Politik ist somit ebenso entgegenzutreten wie der gerade in extremistischen Kreisen innerhalb der heutigen muslimischen Gesellschaft populären Negierung der Shoah, um Juden generell vom Opferstatus in den Täterstatus einordnen zu können.

Jüdischer Humanismus, wie ihn Levy vertreten hat, verlangt einen Einsatz für die Menschenrechte eines jeden. Er findet seine Grundlage in den Zehn Geboten und den Gesetzen des Talmuds, könnte sich aber ebenso auf das Neue Testament oder den Koran berufen. Indem er Juden ebenso wie Muslime dazu animieren konnte, dieser Sichtweise zu folgen, hinterlässt Levy eine realistische Perspektive für ein Marokko der Zukunft, in dem wie in der Historie beide Religionen gemeinsam zu Mitmenschlichkeit aufrufen und sich gegenseitig als Bereicherung für die eigene Nation erfahren.



MOHAMMED KHALLOUK

Der Nahe Osten am Scheideweg.
Haben Israelis und Palästinenser noch eine Chance zu friedlichem Zusammenleben?


MOHAMMED KHALLOUK
Der Nahe Osten am Scheideweg
Haben Israelis und Palästinenser noch eine Chance zu friedlichem Zusammenleben?



Lit Verlag
Münster 2003
184 Seiten
19,90 Euro


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Keine Region ist so konfliktträchtig wie der Nahe Osten. Getrieben von Fanatismus und religiösem Absolutheitsanspruch entsteht zwischen Sinai und Libanon, sowie zwischen Jordan und Mittelmeer ständig neuer Zündstoff für Gewalt und Auseinandersetzungen. Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft von Israelis und Palästinensern kollidiert mit verschiedenen aufeinanderprallenden Ideologien. Immer wieder hat es Versuche gegeben, ein gemeinsames friedliches Zusammenleben der beiden Völker zustande zu bringen, die bisher jedoch alle den gewünschten Erfolg vermissen lassen.

Die Entwicklung des Konflikts von seinem Ursprung bis zum heutigen Tage wird in diesem Buch behandelt. Im Mittelpunkt stehen die vielen bisher erfolglosen Einigungsversuche und die Gründe für ihr Scheitern. Gleichzeitig stellt es aber auch Wege vor, wie aus dieser scheinbar nicht enden wollenden Feindschaft ein Miteinander erwachsen kann.





Der Autor

MOHAMMED KHALLOUK

Dr., geboren 1971 in Sale, Marokko, 1993-1997 Studium der Sprachwissenschaft an der Mohammed V.- Universität Rabat. Schwerpunkte: Internationale Sprachtheorien, Geschichte der Sprachen und Philosophie. 1997-1998 Studienkolleg in Marburg; Schwerpunkte: deutsche Literatur, Geschichte, Sprache und Soziologie. 1999-2003 Studium der Politikwissenschaft mit den Nebenfächern Französisch und Allgemeine Sprachwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg mit Abschluss Magister Artium, 2004-2007 Promotion über islamischen Fundamentalismus in Marokko. Seit 2008 Habilitation an der Bundeswehruniversität München über Juden in Marokko. Seit 2008 Teaching and Resarch Asisstant im Bereich “Politische Theorien” an der Philipps-Universität Marburg.

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