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Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit

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Koordinierungsrat





ONLINE-EXTRA Nr. 313

Juni 2021

Wenn es um das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum geht, ist das Spektrum an Problemen und Herausforderungen, die sich im theologischen Diskurs stellen, beachtlich weit. Zweifelsohne spielt dabei die Frage, wie die christliche Theologie mit dem Juden Jesus umgeht - und umgegangen ist - eine zentrale Rolle. Das Versagen von Kirche und Theologie, die Jüdischkeit Jesu theologisch ernst zu nehmen, dieses Versagen ins Zentrum einer Erklärung dafür zu stellen, warum das westeuropäische Christentum spätestens seit der Moderne insgesamt von Verfallserscheinunge und Versagenserfahrungen geprägt ist, ist die mutige und inspirierende These des katholischen Theologen Norbert Reck, die er jüngst in seinem zu Recht viel beachteten und hoch gelobten Buch "Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums. Zum Riss zwischen Dogma und Bibel. Ein Lösungsvorschlag" entfaltet hat.

Während auf der Südhalbkugel die Zahl der Christen zunimmt, verlieren die Kirchen im Norden zu Hunderttausenden ihre Mitglieder. Norbert Reck geht davon aus, dass die Ursachen weitaus tiefer liegen als angenommen und demzufolge die verschiedenen Reformversuche, darauf zu antworten, zu kurz greifen. Seit der Aufklärung herrsche ein tiefer Riss zwischen kirchlicher Lehre (Dogma) und kritischer Beschäftigung mit der Bibel (Exegese), der zu einem tiefsitzenden Verlust an Glaubwürdigkeit des Christentums geführt habe. Im Zentrum dieses Risses stehe dabei die Tatsache, dass sowohl die liberale Bibelkritik als auch der dogmatische Antimodernismus das Jude-Sein Jesu entweder unsichtbar gemacht oder Jesus gar als Überwinder des Judentums gepriesen haben. Dem entgegen versucht Reck aufzuzeigen, wie eine konsequente Entdeckung des Juden Jesus zu einer neuen Zukunft des Christentums führen könnte.

Im nachfolgend als ONLINE-EXTRA Nr. 313 hier publizierten Vortrag von Norbert Reck, den er am Theologischen Forschungskolleg der Universität Erfurt am 9. Februar 2021 hielt, schildert er anschaulich, wie das Christentum in der Moderne mit der Jüdischkeit Jesu umging und welche Reaktionsmuster dabei in der Theologie zu beobachten waren und sind - und skizziert abschließend, wie ein Ausweg aus diesen Sackgassen zu einer Erneuerung des Christentums führen könnte. Reck gehört zu den bemerkenswerten Ausnahmetheologen, den es immer wieder gelingt, nicht nur komplexe theologische Probleme anschaulich und nachvollziehbar darzulegen, sondern dessen Denken auch in letzter Konsequenz immer wieder auf die persönliche und gesellschaftliche Alltagsexistenz der Menschen zielt. Und in diesem Sinne ist seine Theologie immer auch eine politische Theologie. Auch dies ist in seinem Vortrag immer wieder spürbar.

COMPASS dankt Norbert Reck für die Genehmigung, seinen Erfurter Vortrag an dieser Stelle als ONLINE-EXTRA Nr. 313 im COMPASS publizieren zu dürfen!

© 2021 Copyright beim Autor
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 313


Der Jude Jesus und die christliche Theologie


Reaktionsmuster seit der Aufklärung und zukünftige Aufgaben


NORBERT RECK



I

Das Dokument Nostra Aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils hat seit seiner Veröffentlichung 1965 das christlich-jüdische Verhältnis nachhaltig verändert. Das Dokument erkennt an, dass das Christentum mit dem „Stamme Abrahams geistlich verbunden“ sei, dass die Anfänge des christlichen Glaubens schon bei den Patriarchen, bei Mose und den Propheten zu finden seien. Auch die Juden seien „immer noch von Gott geliebt“ und ihre Berufung durch Gott sei „unwiderruflich“.

Damit brach die Kirche mit einer jahrhundertealten, in Teilen sogar jahrtausendealten Einstellung gegenüber dem jüdischen Volk. Man dürfe „die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen“; Hass, Verfolgungen und Antisemitismus werden in Nostra Aetate entschieden beklagt.1

Seither hat sich viel getan. Wichtige kirchliche Folgedokumente sind erschienen, und liberale wie orthodoxe jüdische Gruppen haben darauf mit großem Wohlwollen reagiert und mit eigenen Dokumenten geantwortet.2

Insofern könnte man fast meinen, das christlich-jüdische Verhältnis sei inzwischen im Großen und Ganzen in Ordnung gekommen. Die Vertreter der beiden Religionen begegnen sich heute mit Respekt oder sogar mit Wertschätzung. Dass das Christentum seine Wurzeln im Glauben Israels hat und dass Jesus Jude war, geht vielen heute wie selbstverständlich von den Lippen.

Aber der Eindruck täuscht. Weder lassen sich jahrhundertealte christliche Ressentiments gegenüber den Juden und dem Judentum in wenigen Jahrzehnten überwinden, noch kann man sagen, dass die christliche Theologie heute insgesamt soweit wäre, vom Juden Jesus so zu sprechen, dass Jesus nicht als Antithese zum Judentum verstanden wird.

Besonders bei Christen, die sich für „richtig“ fromm halten, muss man auf das Schlimmste gefasst sein.

Als Ende des Jahres 2019 der Stadtrat der italienischen Stadt Triest über die Verleihung der Ehrenbürgerschaft an die Auschwitz-Überlebende Liliana Segre abstimmte, meldete sich ein Politiker des Stadtrats und sagte, er werde sich seiner Stimme enthalten, denn Frau Segre hätte behauptet, dass Jesus Jude war. Für ihn sei Jesus aber der Sohn Gottes, deshalb habe ihn die Behauptung von Frau Segre verwirrt und auch verletzt.3 Da tut es nichts zur Sache, dass der Mann einer rechten Partei angehört – er drückt aus, was auch heute noch zahlreiche Christen und Christinnen empfinden: Sie werden wütend bei der Feststellung, dass Jesus Jude war.

Als ich im vergangenen Jahr im Österreichischen Rundfunk ein paar Bemerkungen über die jüdische Identität Jesu machte, erhielt ich ein paar Tage später den Brief eines Radiohörers mitsamt einem ganzen Konvolut von Bibelzitaten, anhand deren er mir beweisen wollte, dass Jesus ganz sicher kein Jude war, sondern eindeutig jemand, der im Judentum seinen größten Feind sah.

Natürlich kann man einfachen frommen Menschen hier nicht unbedingt einen Vorwurf machen; sie haben es oft nicht anders gehört – im Religionsunterricht, in Predigten, in allerlei kirchlichen Veranstaltungen. Die Verantwortung liegt hier ganz wesentlich bei der Theologie – im Bösen wie im Guten. Es waren immer schon Theologen, die es als ihre Aufgabe ansahen, dem Christenvolk zu erklären, was sie von den Juden zu halten hätten. Schon in der Spätantike haben sie den Menschen eingebläut, sie dürften nicht zusammen mit Juden essen und trinken, nicht mit ihnen Schabbat halten oder gemeinsam mit ihnen christliche und jüdische Feste feiern.

Die Leute selbst wären ursprünglich überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass daran etwas falsch sein könnte. Das wissen wir, weil wir mindestens bis ins 9. Jahrhundert Dokumente haben, die zeigen, dass Bischöfe und Theologen glaubten einschreiten zu müssen, wenn Juden und Christen zusammen aßen und tranken.4 Die Hauptverantwortung der christlichen Theologie für die Darstellung von Juden als Feinden des Glaubens, als Verbündeten des Teufels usw. ist nicht zu bestreiten.

Deshalb, so denke ich, müssen es heute natürlich die Theologen und Theologinnen sein, die die Diskriminierungsmuster und Abwertungen des Judentums herausarbeiten und überwinden helfen.

Aber damit rennt man an den theologischen Fakultäten bis heute keineswegs offene Türen ein. Die katholische Neutestamentlerin Maria Neubrand, Professorin an der Theologischen Fakultät Paderborn, die 2020 leider verstorben ist und an die hier kurz erinnert sei, wurde zwar für ihre wissenschaftlichen Bemühungen um das christlich-jüdische Verhältnis von Papst Franziskus als Konsultatorin in die vatikanische »Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum« berufen. Aber manchen Kollegen, so erzählte sie mir, galt sie immer nur als „die mit dem Judentick“.

So sieht es aus. Die Befassung mit der jüdischen Identität Jesu, mit dem jüdischen Charakter der meisten neutestamentlichen Schriften, mit den Grundüberzeugungen des Judentums, ohne die das Christentum nicht zu verstehen wäre, mit dem Weltverständnis im Judentum und bei den jüdischen Jesusanhängern oder mit der Judenfeindschaft in der christlichen Theologie – all das gilt vielen als Spezialgebiet für besonders Interessierte, für solche mit einem „Judentick“ eben, aber nur sehr selten als unabdingbare Voraussetzung, um überhaupt einen Zugang zur inneren Dynamik des christlichen Glaubens zu gewinnen. Dabei gäbe es hier unendlich vieles zu entdecken und zu lernen.

Aber fächerübergreifende Lehrpläne existieren dazu bis heute kaum, und Studierende haben Glück, wenn sie bei diesen Fragen auf engagierte Professorinnen und Professoren treffen. Die Regel ist es keineswegs. Viele engagierte christliche Kolleginnen und Kollegen, die diesen „Judentick“ haben, erleben sich oft als Außenseiter oder bestenfalls als akzeptierte exotische Sonderblüten in ihren Fachbereichen. Hier könnten noch viele Geschichten – auch Leidensgeschichten – erzählt werden, aber damit wir aus dem bloßen Kopfschütteln herauskommen, möchte ich hier nun einen Blick auf die Reaktionsmuster bei der Wiederentdeckung des Juden Jesus seit der Aufklärung werfen, um einige der theologischen Aufgaben, die in dieser Hinsicht vor uns liegen, skizzieren zu können.



"So frisch, ja spannend kann Theologie sein" (Christ in der Gegenwart)


NORBERT RECK:

Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums.


Zum Riss zwischen Dogma und Bibel.
Ein Lösungsvorschlag



Matthias-Grünewald-Verlag
2. bearb. Aufl.
Ostfildern 2019
189 S.
€ 22,00



 
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Während auf der Südhalbkugel die Zahl der Christen zunimmt, verlieren die Kirchen im Norden zu Hunderttausenden ihre Mitglieder. Norbert Reck geht davon aus, dass die Ursachen tiefer liegen, als verschiedene Reformversuche greifen. Seit der Aufklärung herrscht ein tiefer Riss zwischen kirchlicher Lehre (Dogma) und kritischer Beschäftigung mit der Bibel (Exegese), der zum tiefsitzenden Verlust an Glaubwürdigkeit des Christentums geführt hat. Dabei haben sowohl die liberale Bibelkritik als auch der dogmatische Antimodernismus das Jude-Sein Jesu entweder unsichtbar gemacht oder Jesus gar als Überwinder des Judentums gepriesen. Norbert Reck schlägt vor, wie die Entdeckung des Juden Jesus zu einer neuen Zukunft des Christentums führen kann.



II

Im vorgegebenen Rahmen, der zur Kürze verpflichtet, habe ich aus den möglichen Aspekten der Thematik nur einen einzelnen Faden herausgelöst, um das theologische Problem einigermaßen sichtbar zu machen.5

Wenn ich von der „Wiederentdeckung“ des Juden Jesus spreche, dann ist damit gesagt, dass man in den christlichen Kirchen natürlich immer wusste, „dass Jesus Christus ein geborener Jude“6 war, wie es Luther 1523 formuliert hatte. Man wusste es und vergaß es immer wieder gern, weil das Wissen darum eher störte, wenn man vom Sohn Gottes, vom Heiland und Erlöser sprechen wollte. Die Wiederentdeckung begann, als der Hamburger Orientalist Hermann Samuel Reimarus 250 Jahre später das Thema mit dem geschichtlichen Blick der Frühaufklärung wieder aufbrachte. Mit einem Mal erschien die Sache in einem ganz neuen Licht. Reimarus nimmt zwar die Worte Luthers wieder auf, wenn er schreibt: „Uebrigens war er ein gebohrner Jude“. Aber er fügt sogleich hinzu: „und wollte es auch bleiben; er bezeuget er sey nicht kommen das Gesetz abzuschaffen, sondern zu erfüllen“7.

Einmal abgesehen davon, wie wir heute das Zitat aus dem Matthäusevangelium exegetisch deuten, war das eine erhebliche Weichenstellung: Es geht beim Judesein Jesu nicht um seine „Herkunft“, seinen „ethnischen background“, sondern um dessen bewusste Zugehörigkeit zum Judentum, um seine Identität.

Jesus als entschiedener und toratreuer Jude – das war nun doch eine ungewohnte, neue Sichtweise. Aber es war nicht von der Hand zu weisen: Laut den Evangelien ging Jesus „nach seiner Gewohnheit am Schabbat in die Synagoge“ (Lk 4,16), hielt die Gebote der Tora für maßgeblich und unvergänglich (Mt 5,17–18), pilgerte mehrmals zu Pessach und anderen jüdischen Festen nach Jerusalem (Joh 3; 12; 5,1; 7,10; 10,22) und sah sich „nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 15,24).

Jeder und jede konnte dies einfach in der eigenen Bibel nachprüfen. Dafür brauchte es weder Kenntnisse der Originaltexte noch bibelwissenschaftliches Fachwissen. Reimarus änderte so die Wahrnehmung des Neuen Testaments grundlegend: Je genauer man hinschaute, desto jüdischer schaute Jesus zurück.

Damit aber stellte sich die Frage nach der Bedeutung Jesu für den christlichen Glauben neu: Wenn es stimmte, dass Jesus seine Zugehörigkeit zum Judentum weder aufkündigen noch das Judentum überwinden wollte – wie konnte er dann zugleich der Sohn Gottes und der kirchlich verkündigte Christus, der Erlöser der Welt sein?

Das ist, sozusagen in Pillenform, der Kern der Fragen, die sich hier manifestieren. Die Reaktionen waren zahlreich und heftig, reichten von blankem Entsetzen bis hin zur Euphorie. Scharen von Theologen machten sich umgehend an die historisch-kritische Erforschung der Bibel, leiteten die Eigenständigkeit der Bibelwissenschaft als Fach gegenüber der Dogmatik ein und forschten nach dem sogenannten „historischen Jesus“, wie man ihn bald nannte. Auch Katholiken waren daran beteiligt, vor allem in Tübingen, Bonn und Münster, bis sämtliche aufklärungsaffinen Theologen aus den Universitäten vertrieben und die katholischen Bibelwissenschaften in einen hundertjährigen Dornröschenschlaf versetzt wurden. Das muss hier nicht vertieft werden – darüber ist reichlich Literatur vorhanden.8

Uns soll es hier allein um Reaktionen auf die „Jüdischkeit“ Jesu gehen, auf die die Theologie bis in unsere Gegenwart hinein, wie mir scheint, noch keine befriedigende Antwort gefunden hat. Wenn der sogenannte „irdische Jesus“ Jude war und auch bleiben wollte, dann musste die christliche Theologie klären, was sie mit diesem Mann zu tun hatte. Wie konnte man dann seine Bedeutung für das Christentum retten?

Unter den theologischen Anhängern der Aufklärung galt als ausgemacht, dass Erlösung etwas anderes sein musste als ein supranaturaler Rettungsakt durch ein Himmelswesen. Das glaubten sie nicht mehr ernsthaft vertreten zu können. Deshalb stellten sie Jesus in erster Linie als einen Menschen und einen Lehrer dar, der die Menschen wahrhaft ethisches Verhalten lehren und sie so von der Sünde ihres Egoismus erlösen konnte. Aber nun war er auch noch Jude. Also einer, der, wie Heinrich Heine 1838 schrieb, zur „Sippschaft jener ungeschneuzten Langnasen gehörte, die man auf der Straße als Trödler herumhausieren sieht“9. Wie konnte man Jesus noch ernst nehmen, seit er mit allen Vorurteilen gegenüber Juden in Verbindung gebracht wurde?

Hierzu gab es in der Hauptsache zwei Strategien: Man stellte Jesus als einen ganz besonderen Menschen heraus, der alle übrigen Juden himmelhoch überragte. Als einen, der ethisch und geistig überlegen war, mit göttlichem Funken begabt, ein Virtuose der Gottes- und Menschenliebe, einer, der den engen Rahmen des Judentums einfach sprengte. Kurz: man präsentierte Jesus als „Antithese zum Judentum“10, wie es Susannah Heschel so treffend auf den Punkt gebracht hat.

Die zweite Strategie, die spiegelbildlich die erste ergänzte: Man stellte das Judentum zur Zeit Jesu als eine Religion dar, die sich längst überlebt hatte, spirituell unfruchtbar war und sich in den legalistischen Zwängen einer „Gesetzesreligion“ verfangen hatte. Für Friedrich Schleiermacher etwa war „der Judaismus […] schon lange eine tote Religion“11; August Neander sprach von „erdrückenden Satzungen“ und der „todten Schriftgelehrsamkeit“12 des Judentums, und Bernhard Duhm sah im Judentum eine „seltsame Verbindung der größten prophetischen Gedanken und der engherzigsten Beschränktheit“13.

Kurz: Um die Bedeutung von Jesus für das Christentum neu herauszuarbeiten, musste Jesus nicht nur eine herausragende Gestalt sein – auch das Judentum seiner Zeit musste als ethisch minderwertig und religiös beschränkt qualifiziert werden. Um sich aus der Verlegenheit zu helfen, dass der Mensch Jesus Jude war, räumte man also nicht etwa die Vorurteile gegenüber dem Judentum beiseite, sondern zeichnete Jesus als Gegenfigur zu den Juden seiner Zeit. Und das hielt man dann für Theologie.

Anders gingen die Vertreter der jüdischen Aufklärung, der Haskala, mit dem jüdischen Jesus um: Etliche von ihnen forschten ebenfalls zum „Leben Jesu“ und zum Judentum des ersten Jahrhunderts. Ich erwähne hier nur den großen Abraham Geiger14. Er und andere taten dies auch in der Hoffnung, mehr Achtung für das Judentum gewinnen zu können, wenn sie zeigten, dass auch der Heiland der Christen ein Jude war. Diese Hoffnungen aber zerplatzten bald. Ihre Forschungen zum „historischen Jesus“ wurden von der christlichen Theologie entweder gar nicht zur Kenntnis genommen oder verächtlich abgetan – bis heute, muss man sagen, obwohl die jüdischen Forscher durch ihre bessere Kenntnis der rabbinischen Quellen wertvolle Beiträge zum Verstehen von Jesus leisten könnten. Rabbiner Walter Homolka wird völlig zu Recht nicht müde, auf den Skandal der christlichen Ignoranz gegenüber der jüdischen Gelehrsamkeit hinzuweisen.15 Zudem zogen sich noch manche der jüdischen Forscher im 19. Jahrhundert den Zorn christlicher Gelehrter zu, als sie die christliche Herabminderung des Judentums zur Zeit Jesu als völlig sachfremd kritisierten. Es war ja in Wahrheit eine höchst lebendige Zeit des jüdischen Geisteslebens. Aber christliche Professores können sehr ungehalten reagieren, wenn man sie der Stümperei überführt.16

Der Übergang vom Antijudaismus zum Antisemitismus war bei den christlichen Gelehrten fließend. Für den katholischen Leben-Jesu-Forscher Ernest Renan etwa war Jesus einer, der sich gegen seinen „Stamm“ auflehnte und den „Bruch mit dem jüdischen Geist“ vollzog. Renan glaubte allmählich, in den biblischen Texten „arische“ und „semitische“ Sprachfamilien unterscheiden zu können und beschrieb „das Christentum als arische Religion par excellence“17. Von hier bis zum Eisenacher Entjudungsinstitut in der Nazizeit war es kein großer Schritt mehr.

Sehr viel Judenfeindschaft unter den Theologen der Aufklärung und der Nach-Aufklärungszeit also. Wie aber sieht es bei denen aus, die der Aufklärung kritisch bis feindselig gegenüberstanden? Die die Leben-Jesu-Forschungen mitsamt den aufstrebenden Bibelwissenschaften für Unsinn hielten?

Katholischerseits stoßen wir in der neuscholastischen Theologie hauptsächlich auf die einfache Nichtbefassung mit den neuen Thesen und Fragen. Man geht nicht auf sie ein, man argumentiert nicht. Vornehmlich befasste man sich damit, die innere Stimmigkeit der christlichen Offenbarung herauszuarbeiten (wie z. B. Matthias Joseph Scheeben und Konstantin von Schaezler), zog sich ins katholische Milieu zurück und beklagte Rationalismus, Protestantismus, Liberalismus, Darwinismus usw.

Eine zumindest indirekte Auseinandersetzung mit der Aufklärung findet sich in der berühmten Theologie der Vorzeit des Jesuiten Joseph Kleutgen. Wie schon der Titel des Werks anzeigt, sollte man sich besser nicht an den „Irrthümern“ des „bösen Zeitgeistes“ orientieren, sondern eben an der „Vorzeit“, an Thomas von Aquin und vor allem der Thomas-Interpretation des Konzils von Trient. Gelegentlich nennt Kleutgen einige seiner Gegner beim Namen. Aber seine wesentliche Strategie beim Umgang mit dem Juden Jesus ist eine andere. Er erwähnt ihn in seinem über 2000-seitigen Werk mit keiner Silbe. Für Kleutgen gab es nur Jesus Christus, den Sohn Gottes, die zweite göttliche Person der Dreifaltigkeit. Er schrieb: „das, was der Vater ist, ist der Sohn und der h. Geist, durchaus dasselbe“18.

Zwar hielt er formell an der Zwei-Naturen-Lehre fest, wonach Jesus Christus zwar „unvermischt“ ganz Gott und ganz Mensch ist. Trotzdem war der irdische Jesus für Kleutgen niemals ganz Mensch, sondern in allem immer auch Gott. Das zeige sich daran, dass er Wunder wirkte, dass er nicht sündigen konnte und dass er eine einzigartige unsterbliche Geistseele besessen habe. Und dementsprechend habe Jesus seine Weisheit und seinen Gottesbezug nicht aus dem Judentum geschöpft, nicht aus der jüdischen Bibel, sondern aus seinem Einssein mit Gott dem Vater.

Die Juden – das waren für Joseph Kleutgen allein die anderen. Diejenigen, die nicht verstanden oder verstehen wollten. Warum? „Weil“, so schrieb Kleutgen, „sie keine Liebe zu Gott haben, sondern nach Ehre und Ansehen bei den Menschen trachten“19. Übrigens formuliert er hier unversehens im Präsens. Und deshalb, so sagt er es im Anschluss an Dionysios von Alexandria († 265), „seien die Juden des Gottesmordes schuldig“20. Wo also die Theologen der Aufklärung aus Jesus eine ethische Lichtgestalt und aus dem Judentum eine verkommene Meute machten, macht Kleutgen aus Jesus einen Gottmenschen und aus den Juden als Kollektiv Gottesmörder.

Auf den Juden Jesus ging er wohl deshalb nicht ein, weil Jesu Zugehörigkeit zum Judentum, wenn sie einmal ausgesprochen war, nicht mehr dementierbar gewesen wäre. Allzu deutlich sind ja die biblischen Belege. Die Erwähnung der jüdischen Identität Jesu hätte eine Theologie nach Art Kleutgens intellektuell unmöglich gemacht. Deshalb wurde diese Identität nicht nur ignoriert, sondern aktiv beschwiegen.

Man könnte diese Art der Theologie auch beschreiben als Verfertigen einer Brille, die die Pharisäer, Schriftgelehrten und Sadduzäer oder auch die Juden insgesamt immer als Feinde oder Verräter Jesu zeigt – was sich aus den biblischen Texten ja nicht unbedingt herauslesen lässt. Diese Lesart führt am Ende zur angeblichen Ablehnung Jesu durch „die“ Juden schlechthin, was schließlich sogar einen Karl Barth 1942 veranlasste, die Juden in ihrer Gesamtheit „als das von Gott verworfene Volk“ zu bezeichnen, weshalb Israel sein Existenzrecht verloren habe und seine Existenz „nur noch ausgelöscht werden“21 könne.

Nach der Schoa waren solche Töne nicht mehr möglich. Papst Johannes XXIII. strich 1959 kurzerhand die Formulierung von den „treulosen Juden“ („Pro perfidis Iudaeis“) aus der Karfreitagsliturgie und zeigte damit, wie einfach Änderungen auch alter Traditionen möglich sind, wenn man es ernst meint.

In der Theologie bemüht man sich seither weitgehend darum, Herabwürdigungen und Verurteilungen von Juden und Judentum zu vermeiden. Allerdings wurden auf diese Weise noch keineswegs die damit zusammenhängenden Argumentationsstrukturen überwunden. Der Jude Jesus störte weiterhin und musste in einen Gegensatz zum Judentum geschrieben werden.

So zeichnete etwa der evangelische Systematiker Wolfhart Pannenberg Jesus als einen, der sich nicht scheue, der jüdischen Tradition der Mose-Offenbarung „frei gegenüberzutreten, im Vertrauen, dass er darin in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes handle“22. So konstruiert Pannenberg umstandslos einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Jesus und Gott auf der einen Seite und der jüdischen Tradition und Mose auf der anderen Seite.

Kardinal Gerhard Ludwig Müller spricht indessen zwar davon, dass der Glaube Jesu im Judentum zutiefst verwurzelt sei – wobei auch er von Jesu „Herkunft“ redet, nicht von seiner Zugehörigkeit oder Identität. Trotz dieser Verwurzelung, so Müller, mache aber die Gottesanrede „Abba“ durch Jesus eine einzigartige „Offenbarungs- und Willenseinheit mit Gott“23 deutlich – ein exklusives Sohnesverhältnis gegenüber Gott, das andere Juden in diesem Sinn nicht gehabt hätten. Müller schrieb dies in seiner Katholischen Dogmatik zu einer Zeit, in der diese berüchtigte Abba-These des Neutestamentlers Joachim Jeremias von der Bibelwissenschaft längst demontiert worden war.

Nach den Erkenntnissen der Bibelwissenschaft bezeugt der Ausdruck „Abba“ keineswegs ein besonderes Gottesverhältnis Jesu; es ist ein Ausdruck, der zur Zeit Jesu als Gottesanrede unter Juden weitverbreitet war und auch heute noch in klassischen jüdischen Gebeten verwendet wird. Jesus bediente sich einer zu seiner Zeit gängigen jüdischen Gottesanrede.24 Sieht man also näher hin, wird aus dem vermeintlichen Beweis für Jesu Sonderstellung gegenüber dem Judentum eher ein Beleg für seine Jüdischkeit. Aber deshalb lassen sich auch bis heute nur wenige Systematiker von der Bibelwissenschaft informieren oder gar belehren. Das Verhältnis zwischen den Fächern ist stark gestört. Etliche Alt- und Neutestamentler sprechen von einem Trauerspiel.

Zuletzt noch ein kurzer Blick auf den Theologen Joseph Ratzinger. Auch er bedient sich einer Rhetorik des Respekts und der Wertschätzung gegenüber dem Judentum. Aber – wie ein später Nachfahre von Joseph Kleutgen – hat er es in seiner Jesus-Trilogie unternommen, den, wie er es nennt, „göttlichen Anspruch Jesu“ in allen kanonischen Evangelien nachzuweisen. So ist Jesus in Ratzingers Darstellung letztlich kein gläubiger, praktizierender Jude – Jesus habe sich vielmehr „selbst als die Tora – als das Wort Gottes in Person“25 verstanden.

Ratzinger konstruiert seinen Jesus also nicht schroff gegen das Judentum, sondern konziliant als die einzig wahre Vollendung des Judentums und des Bundes mit Gott. Auch so kann man mit dem Gottessohn den Juden Jesus auslöschen und der Judenheit darüber hinaus noch verklausuliert zu verstehen geben, sie hätte durch ihre Ablehnung Christi letztlich die Tora abgelehnt, also den Bund mit Gott gebrochen und ihre Erwählung zurückgewiesen. Und das habe eben Folgen, wie es die Juden mit der Zerstörung des Tempels von Jerusalem und der Zerstreuung in die Diaspora dann auch erlebt hätten.

Letzteres schrieb Ratzinger 2018 in seinem Aufsatz Gnade und Berufung ohne Reue. Es ist ein klassischer Topos der Judenfeindschaft: Die Juden haben sich ihr Unglück selbst zuzuschreiben.26 Man muss wohl dankbar sein, dass er das nicht schon in seiner Zeit als Papst rausgehauen hat.

Damit sind wir in der Gegenwart angelangt. Und es ist vielleicht deutlich geworden, dass die Theologie auch dann judenfeindlich sein kann, wenn sie vor Worten des Respekts und der Wertschätzung gegenüber dem Judentum nur so überfließt. Und wir haben es wohl auch nicht bloß mit schlechten Menschen zu tun, die hinter diesen Elaboraten stehen, mit Hasspredigern, mit Gesinnungstätern. Man sollte die Sache nicht allzu sehr personalisieren. Die Darstellung Jesu als eines Gottmenschen, der, offenbar anders als alle übrigen Juden, eine sehr innige Gottesbeziehung habe, hat eine spezielle Funktion für die christliche Theologie: Auf ihr ruht – bei Pannenberg, Müller, Ratzinger und etlichen anderen27 – ein Gutteil der Argumentation für eine Christologie der übernatürlichen Gottessohnschaft. Anders scheint es nicht zu gehen – sonst gleitet Jesus unversehens ins Judentum zurück.



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III

Mit der Profilierung des Gottessohns gegenüber dem Juden Jesus ging außer dem menschlichen Antlitz Jesu aber noch etwas anderes verloren: das für das Judentum charakteristische Weltverhältnis. (Übrigens nicht erst seit der Aufklärung – wie etwa Johann Baptist Metz gezeigt hat.28)

Mit diesem „charakteristischen Weltverhältnis“ meine ich: die Leidenschaft für die konkreten Angelegenheiten in diesem Leben, für Recht und Gerechtigkeit, für Solidarität mit den Verfolgten und Ausgebeuteten, für die Einsamen, Kranken und Gefangenen. Den Einsatz für das Himmelreich auf Erden, wie der britisch-israelische Rabbiner David Rosen gerne sagt.

Viele Christen und Christinnen zucken da ein bisschen zusammen, wenn sie das hören. Himmelreich auf Erden – das klingt für christliche Ohren immer ein bisschen ungehörig. Ist das nicht anmaßend? Riecht das nicht nach „Selbsterlösung“? Ist das nicht auch zu materialistisch gedacht? Soziale Tätigkeit, Barmherzigkeit – schön und gut, heißt es oft, aber sollten wir uns nicht vielmehr um geistige Werte kümmern? Um den reditus aus dieser Welt zurück zu Gott, wie Joseph Ratzinger sagt?29 Um „Entweltlichung“?

Hier ist mit dem Juden Jesus dem Christentum das emphatische Verhältnis zur Welt verlorengegangen. „Welthandeln “, wie der merkwürdige Ausdruck wohl lautet, ist bestenfalls ein schöner Zusatz zum Glauben, ein Anhängsel, etwas, das „auch“ sein Recht hat, aber keineswegs das wesentliche Feld, auf dem Glaube sich realisiert.

Papst Franziskus versucht, das wieder ins Lot zu bringen, aber wenn er beispielsweise über den Skandal des Menschenhandels und die Umweltzerstörung spricht, werfen viele ihm eine unzulässige „Politisierung des Glaubens“ vor. Er solle sich doch lieber um die „genuinen“ Themen des Glaubens kümmern.

Hier sehe ich in der Tat den tiefen theologischen Kern der sogenannten Kirchenkrise: Als die Christen sich vom Judentum und dem Juden Jesus abgewandt und dem Christus Pantokrator zugewandt haben, ist ihnen die Leidenschaft für das Reich Gottes auf Erden weitgehend abhandengekommen – und damit die Bedeutung des Christentums für immer mehr Menschen. Die Kirche als Anstalt der Heilsvergewisserung interessiert immer weniger Menschen. Diejenigen aber, die wirklich hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, haben längst auf der Seawatch angeheuert, kämpfen um den Erhalt des Dannenröder Forsts, streiken für das Klima oder arbeiten mit amnesty international für die Freilassung von zu Unrecht Inhaftierten.

Damit sage ich gar nicht, dass die Kirche zu einer weiteren Menschenrechtsorganisation werden soll, aber die Kirche muss wissen, wo sie hingehört, wenn die Schöpfung Gottes zerstört und Menschen um ein würdiges Leben gebracht werden. Sie muss sich klar positionieren und den Mund aufmachen – um Gottes Willen.

Der Kern des Problems ist nicht das mangelhafte Marketing der Kirche oder die merkwürdige Sprache, an der sie angeblich „verreckt“30 – sie verreckt vielmehr an ihrer antijüdischen und weltfernen Theologie, was interessanterweise die zwei Seiten derselben Münze sind.

Was heißt das? In der christlichen Theologie müssen alle nur denkbaren Anstrengungen unternommen werden, die judenfeindlichen Versatzstücke aus unseren theologischen Reflexionen herauszubekommen – aus Respekt für unsere jüdischen Freunde und Freundinnen, aber auch um unserer selbst willen.

Es gibt ja bereits ehrenwerte Versuche, die christliche Theologie so zu formulieren, dass ihre wesentlichen Lehren nichts Anstößiges mehr für Juden und Jüdinnen enthalten. Man kann aber noch ein paar Schritte weitergehen. Man kann die christliche Theologie auch neu als eine in sich dialogische Angelegenheit entwerfen. Darin sehe ich die große Lebensleistung des katholischen Theologen Hans Hermann Henrix31. Eine Theologie, die weiß, dass sie ohne die jüdischen Gesprächspartner, ohne die jüdische Gelehrsamkeit nichts ist. Eine Theologie, die nicht selbst schon alles weiß, sondern die Perspektiven der anderen braucht, um besser zu verstehen, mit wem wir es beim Gott Jesu, dem Gott Israels, zu tun haben.

Insgesamt, denke ich, dürfte die christliche Theologie nicht mehr so zwanghaft darauf bedacht sein, ihre nächsten Schritte nur im Einklang mit ihrer Tradition zu wagen. Das Gewicht der Tradition ist inzwischen viel zu erdrückend und lähmend. Und sie enthält nicht nur Gutes, wie wir gesehen haben.

Warum nicht in den biblischen Büchern ganz frisch die Diskurse erheben, die den Gott Israels erkennbar machen als den Gott, der „die Schreie seines Volkes hört“ (vgl. Ex 3,7), der seine Menschen aus der Sklaverei führt? Warum nicht, anstatt nur von Jesu „jüdischer Herkunft“ zu reden, ihn und sein jüdisches Denken endlich besser kennenlernen? Warum nicht die urjüdischen Konzepte vom Messias und vom Gottessohn neu durchdenken auf ein erneuertes Heilsverständnis hin, das Juden, die ihrem Glauben treu bleiben, den eigenen Weg zum Heil nicht abspricht?

Wenn die Theologie nicht mehr verstanden wird als Verwaltung ewiger Wahrheiten, die sich ohnehin von Jahrhundert zu Jahrhundert geändert haben, dann könnte sie endlich „weltlich“ werden: Sie könnte zu einer Theologie werden, die im Bewusstsein ihrer Geschichtsgebundenheit und unter Aufbietung aller ihrer Kräfte über unser Leben und seine Gefährdungen nachdenkt, über unsere falschen und richtigen Werte, zu einer Theologie, die ihre besten analytischen Mittel einsetzt, um die brennendsten Probleme dieser Welt zu verstehen und neue Quellen unserer Handlungsfähigkeit zu erschließen. Kurz: zu einer im besten und ernsthaftesten Sinne antwortenden Theologie!

Wird das den massenhaften Exodus aus den christlichen Kirchen stoppen? Sicher nicht. Die Entwicklung hat längst eine eigene Dynamik und die Menschen, die ihren Hunger und Durst nach Gerechtigkeit realisieren wollen, haben längst andere Orte und Wege gefunden. Die Entwicklung wird über die verfassten Kirchen hinweggehen, und auch die theologischen Fakultäten werden – so bedauerlich das für die Zukunft eines aufgeklärten, selbstkritischen Christentums sein mag – in den kommenden Jahrzehnten verschwinden.

Aber in der Zwischenzeit können alle in der theologischen Ausbildung und in der theologischen Forschung Stehenden daran arbeiten, Ressourcen bereitzustellen für eine Gestalt des Christentums, das ohne Judenfeindschaft, Rassismus, Sexismus und Homophobie auskommt. Doch die Zeit läuft. Die wissenschaftsfeindlichen fundamentalistischen Strömungen des Christentums werden in den kommenden Jahrzehnten weiter Zulauf erhalten. Noch aber können wichtige, dialogisch gestimmte Positionen in die Diskurse eingebracht werden. Es gibt viel zu tun.



ANMERKUNGEN



1 Alle Zitate aus Nostra Aetate stammen aus Kapitel 4, zit. n. Karl Rahner/Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg/Basel/Wien 221990.
2 Zu nennen sind hier die Dokumente Dabru Emet (www.christen-und-juden.de/Download/DABRU%20EMET.pdf), Den Willen unseres Vaters im Himmel tun (https://www.jewiki.net/wiki/Orthodox_Rabbinic_Statement_on_Christianity) und Von Jersalem nach Rom (www.jewiki.net/wiki/Zwischen_Jerusalem_und_Rom).
3 Jerusalem Post, 3. Dezember 2019.
4 Léon Poliakov erwähnt u. a. Konflikte mit den Bischöfen Abogard und Amolon von Lyon im 9. Jahrhundert, vgl. ders., Geschichte des Antisemitismus. Bd. I: Von der Antike bis zu den Kreuzzügen, Worms 21979, 28f.
5 Ausführlicheres und Literaturangaben in meinen Buch Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums. Zum Riss zwischen Dogma und Bibel, Ostfildern 2019.
6 Martin Luther, Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei. 1523, in: ders., WA 11 (1900), 307–336.
7 Hermann Samuel Reimarus, Fragmente des Wolfenbüttelschen Ungenannten, hg. von Gotthold Ephraim Lessing, Braunschweig 1778, 13.
8 Vgl. etwa die einschlägigen Beiträge in Jens Holger Schjørring/Norman A. Hjelm (Hg.), Geschichte des globalen Christentums, 2. Teil: 19. Jahrhundert, Stuttgart 2017.
9 Heinrich Heine, Shakespeares Mädchen und Frauen, Berlin 2014, 4.
10 Susannah Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie, Berlin 2001, 214.
11 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Göttingen 71991, 191.
12 August Neander, Das Leben Jesu Christi in seinem geschichtlichen Zusammenhange und seiner geschichtlichen Entwickelung, Hamburg 1837, 38.
13 Bernhard Duhm, zit. n. Thomas Staubli, Wer knackt den Code? Meilensteine der Bibelforschung, Düsseldorf 2009, 47.
14 Vgl. Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum.
15 Vgl. zuletzt Walter Homolka, Der Jude Jesus – Eine Heimholung, Freiburg i. Br. 2020.
16 Vgl. Reck, Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums, 76f.
17 Zit. n. Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum, 257.
18 Joseph Kleutgen, Die Theologie der Vorzeit, Bd. I, Münster 1853, 99.
19 Joseph Kleutgen, Die Theologie der Vorzeit, Bd. IV, Münster 21873, 344.
20 Joseph Kleutgen, Die Theologie der Vorzeit, Bd. III, Münster 1870, 304.
21 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. II/2, Zürich 1942, 562.
22 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. II, Göttingen 1991, 374.
23 Gerhard Ludwig Müller, Katholische Dogmatik. Für Studium und Praxis der Theologie, Freiburg i. Br. 102016, 283.
24 Näheres dazu und zu anderen Irrtümern in: Paul Petzel/Norbert Reck (Hg.), Von Abba bis Zorn Gottes. Irrtümer aufklären – das Judentum verstehen, Ostfildern 32021.
25 Joseph Ratzinger, Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg i. Br. 2007, 143.
26 Vgl. Joseph Ratzinger, Gnade und Berufung ohne Reue. Anmerkungen zum Traktat »De Iudaeis«, in: Communio 47 (2018), 387–406, 405.
27 Weitere Belege bei John T. Pawlikowski, Christ in the Light oft he Christian-Jewish Dialogue, New York/Ramsey 1982.
28 Vgl. Johann Baptist Metz, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft (Gesammelte Schriften, Bd. IV), Freiburg i. Br. 2016, 143.
29 Joseph Ratzinger, Das Ende der Zeit, in: Tiemo Rainer Peters/Claus Urban (Hg.), Ende der Zeit? Die Provokation der Rede von Gott, Mainz 1999, 13–31, 24 u. ö.
30 Vgl. Erik Flügge, Der Jargon der Betroffenheit. Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt, München 2016.
31 Erwähnt sei hier nur stellvertretend für vieles: Hans Hermann Henrix, Gottes Ja zu Israel. Ökumenische Studien christlicher Theologie (SKI Bd. 23), Berlin/Aachen 2005.



Der Autor

Norbert Reck

Jhg. 1961, Dr. theol., ist freier Autor und Übersetzer. Er ist Mitglied im Gesprächskreis Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Von 2000 bis 2016 war er verantwortlicher Redakteur der deutschen Ausgabe der internationalen Zeitschrift »Concilium«. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema Christen und Juden nach der Schoa.

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