ONLINE-EXTRA Nr. 33
© 2006 Copyright bei Autor und Verlag
Vorstehender Beitrag entstammt dem Buch:
Björn Krondorfer, Katharina von Kellenbach, Norbert Reck:
Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945, Gütersloher Verlagshaus 2006 (siehe weiter unten).
COMPASS dankt Verlag und Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 33
Wenn die Opfer mein Problem sind – die Mörder sind es nicht! Die Mörder sind das Problem anderer, nicht das meinige. Falls ich versuchen könnte zu verstehen – aber das wird mir nie gelingen –, weshalb mein Volk zum Opfer wurde, so werden andere Leute verstehen müssen, oder den Versuch machen müssen zu verstehen, warum die Mörder Christen – sicher schlechte Christen, aber doch Christen – waren. (Wiesel 1983, 44f.) Elie Wiesel, Schriftsteller und Philosoph, Überlebender der Lager Auschwitz und Buchenwald, übt mit seinen Büchern und Vorträgen seit Jahrzehnten großen Einfluss auf das Denken von Juden und Christen aus. Für die christliche Theologie waren besonders seine Versuche inspirierend, traditionelle jüdische Gottesvorstellungen in aller Radikalität mit der Frage aus Auschwitz, „Wo war Gott?“, zu konfrontieren. Auch in Deutschland begannen deshalb seit den frühen siebziger Jahren einige Theologen und Theologinnen, sich dem Ernst dieser Frage auszusetzen und die christlichen Formen der Gottesrede einer Kritik zu unterziehen. Seit zwei Monaten sind wir hier zugange, wir haben mit vielen Menschen gesprochen, wir haben jede Menge Fragen gestellt, und wir haben keinen einzigen Nazi gefunden. Jeder ist ein Nazigegner. Alle Leute sind gegen Hitler. Sie sind schon immer gegen Hitler gewesen. Was heißt das? Es heißt, daß Hitler die Sache ganz allein, ohne Hilfe und Unterstützung irgendeines Deutschen durchgezogen hat. Er hat den Krieg angefangen, er hat ganz Europa erobert, den größten Teil Rußlands überrannt, fünf Millionen Juden ermordet, sechs bis acht Millionen Polen und Russen in den Hungertod getrieben, vierhundert Konzentrationslager errichtet, die größte Armee in Europa aufgebaut und dafür gesorgt, daß die Züge pünktlich fahren. Wer das allein schaffen will, muß schon ziemlich gut sein. Ich kenne nur zwei Menschen in der ganzen Welt, die so etwas können. Der andere ist Superman. (Padover 2001, 46) Der Blick auf die Täter ist somit ein Blick auf nahezu die gesamte deutsche Gesellschaft. Und die Bezeichnung Täter (statt Opfer) setzt auch ein gewisses Maß an Eigenverantwortung der Einzelnen voraus. Diese Einschätzung bildet die Grundlage der Untersuchungen dieses Buchs „mit Blick auf die Täter“. Sie soll hier, anhand einiger zeitnaher Aussagen (d.h. nicht aus der bequemen Perspektive der Nachgeborenen) näher erläutert werden. Eine Frau erzählte meinem Gewährsmann, mehrere G.Sta.Po-Männer sind in die jüdische Entbindungsanstalt eingedrungen, haben die Säuglinge weggenommen, in einen Sack gesteckt und sind damit fort, um sie auf einen Leichenwagen zu werfen. Das Gewimmer der kleinen Kinder wie das herzzerreißende Geschrei der Mütter rührt diese Ruchlosen nicht. Man glaubt das alles nicht, trotzdem es wahr ist. Zwei solcher Tiere fuhren gestern auf derselben Straßenbahn, sie hatten Peitschen in der Hand und kamen aus dem Ghetto. Am liebsten hätte ich die Hunde unter die Straßenbahn gestoßen. – Was sind wir Feiglinge, daß wir, die besser sein wollenden, das alles geschehen lassen; darum werden wir auch mitgestraft werden, auch unsre unschuldigen Kinder wird es treffen, denn wir machen uns mitschuldig, indem wir die Frevel zulassen. (Hosenfeld 2004, 640f.) Hosenfeld, der in Warschau bemüht war, möglichst viele bedrohte Menschen zu schützen, sah sich selbst nicht – wie viele andere Deutsche – von der Verantwortung ausgenommen. Im Gegenteil: Er hielt unerbittlich genau fest, wo man hätte handeln müssen, wo Gleichgültigkeit in Schuld umschlägt und wo schließlich auch die Frage nach Gott zur Ausrede wird. Ein Jahr später, am 6. Juli 1943, als das Warschauer Ghetto bereits restlos zerstört war, notierte er: Trifft Gott die Schuld? Warum greift er nicht ein, warum läßt er das alles geschehen? [...] Wir sind so gerne geneigt, einem andern die Schuld zu geben und sie nicht bei uns selbst zu suchen [...] Wir haben seinerzeit, als die Nazi zur Macht kamen, nichts getan, um es zu verhindern. Wir haben die eigenen Ideale verraten, [das] Ideal der persönlichen Freiheit, der demokratischen Freiheit, der religiösen. Der Arbeiter lief mit, die Kirche sah zu. Der Bürger war zu feige, ebenso die führenden geistigen Schichten. Wir ließen zu, daß die Gewerkschaften zerschlagen wurden, daß die Konfessionen unterdrückt wurden, es gab keine freie Meinungsäußerung in Presse, Rundfunk. Zuletzt ließen wir uns in den Krieg treiben. Wir waren zufrieden, daß Deutschland ohne Volksvertretung blieb, wir ließen uns eine Scheinvertretung, die nichts zu sagen hatte, gefallen. Ideale lassen sich nicht ungestraft verraten. Jetzt müssen wir alle die Folgen tragen. (Hosenfeld 2004, 730)
I
Dass Elie Wiesel die Aufgabe von Christen indessen woanders sah, wie das oben wiedergegebene Wort zeigt, fand über lange Zeit jedoch keine Beachtung. Nicht die Frage, warum die Mörder Christen waren, beschäftigte die (kleine) Schar christlicher Denkerinnen und Denker, die sich an die Entwicklung einer Theologie nach Auschwitz machte. Ihr ging es vielmehr darum zu erkunden, wie die Theologie sich öffnen könnte für die Stimmen aus den Konzentrationslagern, für die Erfahrungen von Wiesel, Primo Levi, Ruth Klüger, Ruth Elias und vielen anderen: Wie müsste eine Theologie aussehen, die nicht länger „mit dem Rücken zu Auschwitz“ (Johann Baptist Metz) betrieben würde? Daraus resultierten Überlegungen zu den traditionellen christlichen Attributen Gottes (Leidensunfähigkeit, Allmacht etc.), neue Meditationen der alten Theodizeefrage (der Frage nach der Rechtfertigung eines liebenden Gottes angesichts des Abgrundes an menschlichem Leiden), Reflexionen über die Beziehungen zwischen Christentum und Judentum, über den Juden Jesus und über die Christologie, die ihm gerecht werden will (einen Überblick gibt Petersen 2004).
Dass die christliche Diskussion somit einen ganz anderen Verlauf nahm, als Wiesel vorgeschlagen hatte, liegt allerdings nicht unbedingt an der mangelnden Bereitschaft christlicher Theologen, sich auf eine Beschäftigung mit den Mördern einzulassen. Es hängt vielmehr mit dem Stand des Bewusstseins und Wissens in den jeweiligen theologischen Kontexten zusammen, an die die Theologie nach Auschwitz anknüpfen musste.
In Deutschland bedeutete dies, dass in der christlichen Theologie bis weit in die sechziger Jahre hinein kein Bewusstsein dafür vorhanden war, was der Massenmord an den Juden Europas für die Überzeugungen der Christen bedeuten konnte. In den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Ende der NS-Herrschaft wurden die Nachrichten über die Vernichtungslager von Kirchen und Theologie keineswegs als Irritation für ihren Glauben an einen gerechten Gott wahrgenommen. Man sprach vom „nationalsozialistischen Irrweg“, von der „verderblichen Diesseitigkeit des Nationalsozialismus“, von der „Dämonie“ seiner führenden Repräsentanten, vom „deutschen Schicksal“ und der „deutschen Katastrophe“. Man bekräftigte die Selbstwahrnehmung der Deutschen als Opfer und nannte die Besatzung durch die alliierten Siegermächte „Gericht Gottes“ und „Prüfung“. In dieser Situation empfahlen Theologie und Kirche die Rückbesinnung auf die christliche Sittlichkeit und die Rückkehr zur Kirche als den Ausweg, auf dem die Verheißung von Gottes Trost und Vergebung ruhe. Die sogenannte „Stunde Null“ wurde also nicht als Erschütterung christlicher Gewissheiten, sondern als „die Stunde der Kirche“ erlebt, wie sie Hans Asmussen am 14. August 1945 proklamierte (zit. n. Greschat 1990, 1). Die evangelischen und katholischen Kirchen erhofften sich einen neuen christlichen Aufbruch, eine „Rechristianisierung“ der Gesellschaft; kämpfen wollten sie gegen den „säkularistischen Abfall der Welt von Gott“ – wie sie mehrheitlich den Nationalsozialismus interpretierten (vgl. Greschat 1990; Löhr 1990).
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum es die Pioniere der Theologie nach Auschwitz als ihre erste Aufgabe ansahen, gegen das Selbstmitleid und die Opfermentalität der Deutschen den Blick entschieden auf die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus zu richten und damit in Kirche und Theologie denjenigen Gesicht und Gehör zu verschaffen, vor denen man sich bis dahin geflissentlich Augen und Ohren zugehalten hatte. Aus deren Fragen und Glaubenszweifeln wurden in der Folge dann auch zahlreiche Anfragen an die christliche Theologie entwickelt.
Es war ein wichtiger Schritt für viele christliche Theologinnen und Theologen, sich mit den zunächst sehr fremden Sichtweisen der jüdischen Opfer und ihrer Nachkommen auseinander zu setzen. Daraus ergaben sich auch für sie selbst neue Perspektiven, die sie die eigenen Traditionen und deren Selbstverständlichkeiten in einem neuen Licht sehen ließen. Zuletzt führte das Lernen, „mit den Augen der anderen zu sehen“, auch dazu, die Diskurse der Täter und Mitläufer sowie ihrer nachgeborenen Apologeten anders wahrzunehmen: die darin enthaltenen Unschuldsbeteuerungen und Selbstrechtfertigungen nicht mehr fraglos zu akzeptieren, sondern sie aus der Warte der Solidarität mit den NS-Opfern zu kritisieren.
So wird man sagen können, dass die Theologie nach Auschwitz in Deutschland von ihrer eigenen inneren Dynamik inzwischen an den Punkt geführt wurde, an dem Elie Wiesel sie vor mehr als zwanzig Jahren schon gerne gesehen hätte: bei der Klärung der Frage, „warum die Mörder Christen waren“, bei der kritischen Relektüre der eigenen christlichen Traditionen, die den millionenfachen Mord nicht verhindert haben – beim Blick auf die Täter.
Der Blick auf die Täter verändert die Theologie. Er befreit die Theologie nach Auschwitz von dem Zwang, immer neue Entwürfe eines zukünftigen, idealtypischen Christentums hervorzubringen, und führt sie stattdessen zur Auseinandersetzung mit der konkreten christlichen Theologiegeschichte und somit zur Verantwortungsübernahme für das real existierende Christentum. Anstelle der nervösen Abkehr von der „Vergangenheit“ kommt der traditionelle Weg der Umkehr wieder in den Blick: die reuevolle Betrachtung des Geschehenen, das Eingestehen eigenen Versagens und die Arbeit an der Überwindung irriger Vorstellungen.
Sodann erinnert der Blick auf die Täter die Theologie daran, dass allzu vieles Nachdenken über „Gott und das Leid“ von der Verantwortung ganz bestimmter Menschen für dieses Leid ablenken kann. Und während der ausschließliche Blick auf die Opfer bereits bestehende, allgemeine christliche Schuldgefühle weiter diffus verstärkte, zwingt der Blick auf die Täter, der von den Zeugnissen der Opfer geschärft wurde, zur Konkretion: Schuld ist nie allgemein und diffus; sie ist konkret. Die Taten sind feststellbar, die Diskurse der Verachtung und des Hasses sind analysierbar, die Täter sind benennbar. Schuld ist kein Schicksal, das noch auf den Nachgeborenen liegen müsste wie ein Alpdruck. Schuld ist bearbeitbar.
Der Blick auf die Täter führt die Theologie nach Auschwitz damit auch in ein neues Paradigma: War der Ansatz der meisten bisherigen Arbeiten eher fundamentaltheologisch-dogmatisch geprägt (mit Fragen zur Glaubwürdigkeit des Glaubens nach Auschwitz, zur Gotteslehre und zur Christologie), so erhalten viele neuere Untersuchungen nun eine ethische Ausrichtung (ohne sich dabei auf die Disziplinen der Moraltheologie oder Theologischen Ethik festlegen zu lassen): Es geht um Fragen des rechten und falschen Tuns, um Lehren der Verachtung und des Respekts, um das Tradieren von Lügen und um das Bestehen auf der Wahrheit, um Bedingungen von Widerständigkeit und um Versagen und Scheitern. Dem Blick auf die Täter geht es um das konkrete Handeln von Christinnen und Christen in der konkreten Geschichte. Im aktuellen Wissenschaftsjargon würde man wohl von einem „ethical turn“ sprechen.
II
Der kritische Blick auf die Täter geht davon aus, dass die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht mit der Verurteilung und Bestrafung einiger seiner führenden Verbrecher erledigt ist. Der Begriff der Täterschaft umfasst mehr als die ca. 100.000 bis 300.000 an den NS-Morden direkt Beteiligten. Er bezieht sich auf die Gesamtheit der Taten, Worte, Handlungen und Unterlassungen, die zum Zustandekommen und langjährigen Funktionieren des nationalsozialistischen Gesellschaftsprojekts beigetragen haben. Illustrieren mag dies eine Äußerung des US-Offiziers Saul K. Padover, der mit seiner Abteilung für psychologische Kriegsführung zahlreiche Vernehmungen in den von der US-Armee seit Herbst 1944 besetzten Gebieten durchführte. Padover hat seinen Unmut darüber, dass kaum einer der Deutschen für seine (Mit-)Täterschaft einzustehen bereit war, mit sarkastischen Worten zum Ausdruck gebracht:
Unter den Deutschen, die ihre Beteiligung am Nationalsozialismus nicht leugneten und sich auch nicht als dessen Opfer stilisierten, ist zum Beispiel der deutsche Wehrmachtsoffizier Wilm Hosenfeld zu nennen. Er war – so wurde er einem breiteren Publikum durch Roman Polanskis Film Der Pianist bekannt – der Retter des Warschauer Pianisten und Komponisten Wladyslaw Szpilman. Hosenfeld hatte sich die Frage nach der eigenen Verantwortung bereits Jahre vor dem Ende des Krieges immer wieder gestellt. Er war zwar zu Beginn der Naziherrschaft enthusiastisches SA- und NSDAP-Mitglied geworden, aber noch vor dem Krieg setzte bei ihm wachsende Ernüchterung ein. Als Angehöriger der deutschen Besatzungstruppen in Warschau schließlich verfolgte er die Geschehnisse dort mit wachen Augen und Ohren und ahnte bald, dass die deutschen Verbrechen wegen ihrer Abgründigkeit selbst noch die folgenden Generationen in Mitleidenschaft ziehen würden. Am 13. August 1942 schrieb er in sein Tagebuch:
DEUTSCHE THEOLOGIE NACH 1945
|
|
Dieser Band nimmt neue Impulse der theologischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust sowie deren gesellschaftlichen Nachwirkungen auf. Die Diskussion inspirieren dabei insbesondere kritische Fragen nach den Tätern, ihrer Motivation und Herkunft aus dem christlich-abendländischen Geisteszusammenhang. Untersucht werden die folgenden Fragen: Schuld und Vergebung in der Seelsorgepraxis an NS-Tätern während der internationalen Nürnberger Prozesse und der westdeutschen Gerichtsverfahren in den 1960er Jahren. Wie ist die katholische Kirche und Theologie mit der persönlichen Schuld hinsichtlich der NS-Zeit und der Schoa in der deutschen Nachkriegsgeschichte umgegangen? Wie präsentieren deutsche protestantische Theologen in ihren Autobiografien die Zeit des Nationalsozialismus, der Schoa und der Nachkriegszeit?
GREGOR TAXACHER: Von dem hier vorgestellten Buch kann man tatsächlich sagen: Es lässt einen bis zur letzten Seite nicht los, man kann es vor Spannung nur schwer aus der Hand legen. Das ist bei theologischen Veröffentlichungen eher selten.
theologie.geschichte
Hosenfelds Beobachtungen treffen sich in vielen Punkten mit den Überlegungen, die die aus Deutschland stammende Politikwissenschaftlerin und Philosophin Hannah Arendt wiederum ein Jahr später, im November 1944, im amerikanischen Exil verfasste. Auch ihre Gedanken kreisen um die verstörende Tatsache, dass die nationalsozialistischen Verbrechen nicht die Sache einiger weniger waren, sondern dass es den Nazis im Laufe der Jahre immer mehr gelungen war, die gesamte deutsche Gesellschaft weitgehend in ihre Projekte einzubinden. Während die aktiven Terrorformationen zunächst strikt von der Bevölkerung getrennt agierten und die Berichte über deren Verbrechen möglichst geheim gehalten wurden, kommandierte man später, im Zuge der Totalisierung des Krieges, auch „beliebige Wehrmachtsangehörige“ zu den Massenmorden ab (Arendt 2000, 26). Zugeich ersetzte man die ursprüngliche Geheimhaltung durch gezielte „Flüsterpropaganda“, „um diejenigen ‚Volksgenossen‘, welche man aus organisatorischen Gründen nicht hat in die ‚Volksgemeinschaft‘ des Verbrechens aufnehmen können, wenigstens in die Rolle der Mitwisser und Komplizen zu drängen. Die totale Mobilmachung hat in der totalen Komplizität des deutschen Volkes geendet.“ (27) Literatur Arendt, Hannah, 2000: Organisierte Schuld, in: dies., In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, München, 26–37
Mit diesen Beobachtungen wollte Hannah Arendt keineswegs der Vorstellung einer „Kollektivschuld“ das Wort reden. Es ging ihr nicht darum, die Deutschen pauschal aufgrund ihrer Geburt, ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Volk für mitschuldig zu erklären. Vielmehr wollte sie das Augenmerk auf die vielen einzelnen Akte der Beteiligung an der Maschinerie des „Verwaltungsmassenmordes“ lenken, die alle zusammen erst das extrem arbeitsteilige Unternehmen des Holocaust ermöglichten: „Daß in dieser Mordmaschine jeder auf diese oder jene Weise an einen Platz gezwungen ist, auch wenn er nicht direkt in den Vernichtungslagern tätig ist, macht das Grauen aus.“ (Arendt 2000, 31)
Anders als Hosenfeld spricht Arendt aber nicht von Feigheit, um das Verhalten der massenhaften Kooperation mit den Nationalsozialisten moralisch zu qualifizieren. Feigheit ist ja bereits ein Begriff, der nur auf Menschen anwendbar ist, die wissen, was ethische Anforderungen sind – vor denen sie bestehen oder scheitern. Arendt hingegen hat genau jene im Blick, die gar nicht sehen, worin ihre Verantwortung über den Bereich des Privaten hinaus denn bestehen sollte.
Sie weiß, dass viele sich an einen Platz in der Mordmaschine gezwungen sahen, und sie weiß, dass gerade die Arbeitsteiligkeit der Shoah dem Bewusstsein entgegenstand, an einem Verbrechen beteiligt zu sein. Das allerdings führt sie nicht zu dem Schluss, die Frage der persönlichen Verantwortung überhaupt zu suspendieren. Im Gegenteil: Sie sieht den Ansatzpunkt für eine moralische Bewertung gerade beim Nicht-Erkennen bzw. Nicht-wissen-Wollen, was die Auswirkungen des eigenen Handelns sind. Es ist für Arendt nicht in Ordnung, keine Phantasie für die Folgen der eigenen Taten zu haben. In Hinsicht auf das nahende Ende des Krieges bemerkt sie bitter: „Wenn der Vorhang diesmal fallen wird, werden wir einem ganzen Chor von Spießern zu lauschen gezwungen sein, die ausrufen werden: ‚Dies haben wir nicht getan!‘“ (2000, 33)
Mit dem Ausdruck „Spießer“ bezeichnet Arendt – „mangels eines besseren Namens“ und etwas abweichend vom allgemeinen Sprachgebrauch – jenen Menschen, „der nur an seiner privaten Existenz hängt und öffentliche Tugend nicht kennt“ (2000, 35), der sich nicht als Mitglied seiner Gesellschaft versteht und kein Interesse an öffentlichen Angelegenheiten zeigt. Er konzentriert seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf das Wohl seiner Familie und ist bereit, „um der Pension, der Lebensversicherung, der gesicherten Existenz von Frau und Kindern willen Gesinnung, Ehre und menschliche Würde preiszugeben“ (34). Er sieht sein Handeln ausschließlich funktional, nie ethisch bestimmt. Erlaubt ist alles, was dem Erhalt der Familie nützt – auch der Mord, auch die Mitwirkung an der Vernichtungsmaschine. Alle nicht zur eigenen Sippe gehörenden Menschen dürfen dabei umstandslos den eigenen Interessen geopfert werden.
Das Gegenkonzept zu dieser Art „Spießertum“ sieht Arendt in der „Idee der Menschheit“. Diese Idee geht zurück auf die Vorstellung „des jüdisch-christlichen Glaubens an einen einheitlichen Ursprung des Menschengeschlechts“ (Arendt 2000, 36). Denn dieser Glaube an den einen gemeinsamen Ursprung aller Menschen – oder humanistisch ausgedrückt: an ihre Gleichheit – macht es unmöglich, eine „Rasse“, eine Sippe oder Familie über alle anderen zu stellen. In der Idee der Menschheit ist somit „eine Verpflichtung zu einer Gesamtverantwortlichkeit mitenthalten“, die nicht nur eine Beschwörung sentimentaler Zusammengehörigkeitsgefühle sein darf, sondern ernsthafte Folgen haben muss. Dazu gehört auch „die sehr schwerwiegende Konsequenz, daß wir in dieser oder jener Weise die Verantwortung für alle von Menschen begangenen Verbrechen, daß die Völker für alle von Völkern begangenen Untaten die Verantwortung werden auf sich nehmen müssen“ (37).
„Owinu Malkenu chotenu lefonecho“ („Unser Vater, unser König, wir haben gesündigt vor Dir“) – im emphatischen „Wir“ dieses jüdischen Bekenntnisses kommt für Arendt eine aktive Verantwortungsübernahme zum Ausdruck, die „nicht nur alle in der Gemeinde begangenen Sünden, sondern alle menschlichen Verfehlungen überhaupt“ (37) einschließt. Nur in dieser Radikalität, die nicht mehr zulässt, dass irgendetwas sie nichts angeht, nur in diesem Ernst, der sich zugleich der Last und des Schreckens dieser Gesamtverantwortlichkeit bewusst ist, ist erst ein Gegenkonzept zum „Spießertum“ der Mitwirkung am Holocaust konsequent benannt.
III
Von dieser Warte aus betrachtet sind die gängigen Phrasen der deutschen Aufarbeitungsdebatten nach 1945 gerade keine Abkehr vom Ungeist der Massenverbrechen, sondern seine diskursive Fortsetzung: Wir hatten damit nichts zu tun – wir waren keine Nazis – wir waren nur Parteimitglieder, um Arbeit zu bekommen – wir haben nichts getan – wenn wir es nicht getan hätten, hätten es andere getan – wir haben nichts von den Untaten gewusst – wir konnten nichts dagegen tun ... Aus all diesen Worten spricht dieselbe Verantwortungsverweigerung, die zuvor Grundlage war für die Einbeziehung der Bevölkerung in das Projekt des Holocaust.
Solche Unschuldsposen müssen heute präzise benannt werden als das Vermächtnis einer Tätergesellschaft – das ist der gemeinsame Ausgangspunkt der Beiträge in diesem Buch. Das Nachdenken über die Nazizeit und über das, was nach dem Zweiten Weltkrieg daraus gemacht wurde, hat nur dann Sinn, wenn die Bejahung der generellen Verantwortlichkeit aller Menschen füreinander dabei die Grundlage ist.
Für die christliche Theologie sind hier die biblischen Basistexte (z.B. Gen 4,1–16) ebenso bindend wie für das Judentum. Insofern in den vorliegenden Überlegungen aber, im Anschluss an Hannah Arendt, außerdem auf die jüdische Tradition Bezug genommen wird, die in dieser Hinsicht deutlicher ist als die christliche, muss noch etwas hinzugefügt werden: Die christliche Theologie kann in dieser Frage nicht einfach Erkenntnisse der jüdischen Tradition und Philosophie für sich übernehmen und glauben, damit ihre Arbeit getan zu haben.
Gerade dann, wenn an dem Gedanken der generellen Verantwortungsübernahme etwas Richtiges sein sollte, kann der christliche Weg nicht in der wohlfeilen Affirmation der eigenen jüdischen Wurzeln bestehen, ohne genauer der Frage nachzugehen, welches Schicksal diese Wurzeln zuvor im Christentum erlitten haben. Mit anderen Worten: Die Rede von der Verantwortlichkeit kann nicht aufgegriffen werden, ohne zugleich Verantwortung für die eigene theologische Tradition zu übernehmen. Christliche Theologinnen und Theologen müssen sich unter anderem dafür interessieren,
• wie nach 1945 innerhalb ihrer Disziplinen über die Nazizeit gesprochen wurde,
• welchen Denkmustern und Unschuldsmythen man dabei gefolgt ist,
• wie die Perspektive der Täter darin weiterlebt,
• welche antijüdischen Konzepte dabei eine Rolle spielen und
• wo gar mit Hilfe christlicher Grundsätze die Loslösung aus Verantwortungszusammenhängen betrieben wurde.
Nur wo dies alles klar gesehen wird, wo also die Theologie der Gegenwart für die jüngste theologische Vergangenheit einsteht, werden auch Schritte zu einer Theologie möglich, die ihr Erbe der Täterschaft tatsächlich überwindet.
In diesem Sinne wird im vorliegenden Buch thematisiert, wie Nationalsozialismus und Holocaust in den Autobiographien protestantischer Theologen repräsentiert werden (Björn Krondorfer), wie katholische Theologinnen und Theologen von Generation zu Generation mit der Frage der Schuld umgehen (Norbert Reck) und welche Rolle das evangelische Konzept der Vergebung bei der Bewältigung des Nationalsozialismus spielt (Katharina von Kellenbach). Das gemeinsame Ziel der Beiträge ist, die Gegenwart der nationalsozialistischen Vergangenheit in christlichen Diskursen sowie ihre politisch-kulturelle Funktion innerhalb einer ehemaligen Tätergesellschaft kritisch aufzuarbeiten. Erst wenn auch die geschichtliche Täterschaft und die Kompromittierung der Theologie nicht länger verdrängt, sondern als wahre Herausforderung an den christlichen Glauben begriffen werden, werden auch wieder theologische Aussagen jenseits von Abwehrreflexen, Apologetik und Gleichgültigkeit möglich sein.
Das Aufbegehren gegen die Gleichgültigkeit war auch für Sophie Scholl wichtig. An ihren Freund Fritz Hartnagel, der sich noch nicht zu einer klaren Position gegen Nationalsozialismus und Krieg durchringen konnte, schrieb sie drei Monate vor ihrer Hinrichtung: „... und wenn ich könnte, so würde ich Dich immer mehr aufhetzen gegen die Gleichgültigkeit, die über Dich kommen könnte, und ich wünschte, die Gedanken an mich wären ein steter Stachel gegen sie“ (Scholl 2003, 279).
Greschat, Martin, 1990: „Rechristianisierung“ und „Säkularisierung“. Anmerkungen zu einem europäischen interkonfessionellen Interpretationsmodell, in: J.-C. Kaiser/A. Doering-Manteuffel (Hg.), Christentum und politische Verantwortung. Kirchen im Nachkriegsdeutschland, Stuttgart, 1–24
Hosenfeld, Wilm, 2004: „Ich versuche jeden zu retten“. Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern, München
Löhr, Wolfgang, 1990: Rechristianisierungsvorstellungen im deutschen Katholizismus 1945–1948, in: J.-C. Kaiser/A. Doering-Manteuffel (Hg.), Christentum und politische Verantwortung. Kirchen im Nachkriegsdeutschland, Stuttgart, 25–41
Padover, Saul K., 2001: Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45, München (amerikanische Originalausgabe: Experiment in Germany. The Story of an American Intelligence Officer, New York 1946)
Petersen, Birte, 2004: Theologie nach Auschwitz? Jüdische und christliche Versuche einer Antwort (=Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum VIKJ, Bd. 24) Berlin, 3. Auflage
Scholl, Hans und Sophie, 2003: Briefe und Aufzeichnungen, Frankfurt am Main
Wiesel, Elie, 1983: Die Massenvernichtung als literarische Inspiration, in: Eugen Kogon/Johann Baptist Metz (Hg.), Gott nach Auschwitz, Freiburg, 21–50
Der Autor
Homepage:
geboren 1961, Dr. theol., ist Redakteur der deutschen Ausgabe der Zeitschrift "Concilium" und freier Autor u.a. für den Bayrischen Rundfunk.
Veröffentlichungen u.a.: Im Angesicht der Zeugen. Eine Theologie nach Auschwitz (Mainz 1998); Abenteuer Gott. Den christlichen Glauben neu denken (Darmstadt 2003).
Norbert Reck