ONLINE-EXTRA Nr. 246
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Ende September fand im Europäischen Parlament (EP) eine internationale Konferenz statt, die sich dem Antisemitismus und der Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Europa widmete. Gastgeber der Konferenz waren der Präsident des EP, Martin Schulz, sowie Vize-Präsident Antonio Tajani, der im EP auch zuständig ist für den interreligiösen Dialog. Zu den geladenen Gästen gehörten u.a. der Präsident der europäischen Rabbinerkonferenz Pinchas Goldschmidt, der Oberrabbiner von Brüssel Rabbi Albert Guigui, der französische Philosoph Bernard-Henri Levy - und Rabbiner Lord Jonathan Sacks, ehemaliger Oberrabbiner von Großbritannien.
Rabbi Sacks hielt bei der Konferenz einen zentralen Vortrag, der insbesondere in der angelsächsischen Welt auf große Beachtung stieß. In eindringlichen Worten schilderte er die Problematik des Antisemitismus, wie er von den jüdischen Gemeinschaften in Europa wahrgenommen wird, zeichnete die teilweise bedrückende Stimmungslage der in Europa lebenden Juden und Jüdinnen nach und schloß seine Rede mit einem aufrüttelnden Apell an die europäische Gemeinschaft, dem wieder aufgeflammten Antisemitismus entschlossen entgegen zu treten.
Nachfolgend geben wir die bemerkenswerte Rede von Rabbi Sacks in einer von "Audiatur online" besorgten deutschen Übersetzung wieder. COMPASS dankt "Audiatur online" für die Genehmigung zur Wiedergabe der Übersetzung an dieser Stelle!!
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Online-Extra Nr. 246
Der Hass, der mit den Juden beginnt, hört niemals bei den Juden auf. Ich möchte, dass wir das heute verstehen. Es waren nicht nur die Juden, die unter Hitler litten. Es waren nicht nur die Juden, die unter Stalin litten. Es sind nicht nur die Juden, die unter dem IS, Al-Qaida oder dem Islamischen Dschihad leiden. Wir machen einen grossen Fehler, wenn wir denken, Antisemitismus sei nur eine Gefahr für Juden. In erster Linie ist er eine Gefahr für Europa und die Freiheiten, die wir im Laufe der letzten Jahrhunderte errungen haben.
Beim Antisemitismus geht es nicht um Juden, sondern um Antisemiten. Es geht um Menschen, die keine Verantwortung für die eigenen Fehler übernehmen wollen und daher anderen die Schuld geben. Wenn man während der Zeit der Kreuzzüge Christ war oder nach dem Ersten Weltkrieg Deutscher und man sah, dass die Welt sich nicht so entwickelt hatte, wie man es sich vorgestellt hatte, gab man erfahrungsgemäss den Juden die Schuld. Und das ist es, was auch heute geschieht. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gefährlich das ist. Nicht nur für Juden, sondern für alle, die Freiheit, Mitgefühl und Menschlichkeit schätzen.
Antisemitismus ist in einer Kultur das erste Symptom einer Krankheit, das erste Warnzeichen für einen kollektiven Zusammenbruch. Wenn Europa zulässt, dass Antisemitismus gedeiht, ist das der Anfang vom Ende Europas. Ich möchte in diesem kurzen Beitrag das vage und mehrdeutige Phänomen Antisemitismus analysieren, denn es erfordert Klarheit und Verstand, zu wissen, was Antisemitismus ist, warum er auftritt und warum Antisemiten davon überzeugt sind, nicht antisemitisch zu sein.
Zuerst möchte ich den Begriff Antisemitismus definieren. Juden nicht zu mögen ist kein Antisemitismus. Wir alle kennen Menschen, dir wir nicht mögen. Das ist normal, es ist menschlich und nicht gefährlich. Israel zu kritisieren ist kein Antisemitismus. Ich sprach letztens mit einigen Schulkindern und sie fragten mich: „Ist es antisemitisch, Israel zu kritisieren?“ Ich sagte nein und erklärte ihnen den Unterschied. Ich fragte sie: „Glaubt ihr, ihr habt das Recht die britische Regierung zu kritisieren?“ Alle hoben die Hand. Dann fragte ich: „Wer von euch glaubt, Grossbritannien habe kein Existenzrecht?“ Niemand hob die Hand. „Jetzt kennt ihr den Unterschied“, sagte ich, und alle verstanden.
Antisemitismus bedeutet, den Juden das Recht abzusprechen, gemeinsam als Juden zu existieren, mit denselben Rechten wie jeder andere auch. Er nimmt zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Formen an. Im Mittelalter wurden die Juden wegen ihrer Religion gehasst. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden sie aufgrund ihrer Rasse gehasst. Heute hasst man sie wegen ihrer Nation, dem Staat Israel. Antisemitismus tritt in verschiedenen Formen auf, bedeutet aber immer dasselbe: die Ansicht, dass Juden nicht das Recht haben, als freie und gleichwertige Menschen zu existieren.
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Wenn es etwas gibt, das ich und meine Zeitgenossen nicht erwartet hätten, dann, dass der Antisemitismus nach Europa zurückkehrt, während die Erinnerung an den Holocaust noch präsent ist. Wir rechneten nicht damit, weil Europa gemeinsam die grössten jemals dagewesenen Anstrengungen unternahm, damit der Virus des Antisemitismus den Staatskörper niemals wieder befallen würde. Es fand eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema statt – antirassistische Gesetze wurden verabschiedet, an Schulen wurde Wissen über den Holocaust vermittelt und es gab einen interreligiösen Dialog. Doch trotz alledem ist der Antisemitismus zurückgekehrt.
Am 27. Januar 2000 trafen sich Vertreter von 46 Regierungen aus der ganzen Welt in Stockholm, um eine gemeinsame Erklärung zur Erinnerung an den Holocaust und den andauernden Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Vorurteile abzugeben. Dann kam 9/11 und innerhalb weniger Tage überschwemmten Verschwörungstheorien das Internet, in denen behauptet wurde, dies sei das Werk Israels und seines Geheimdienstes Mossad. Im April 2002 war ich während des Pessach-Festes zusammen mit einem jüdischen Pärchen aus Paris in Florenz, als diese einen Anruf von ihrem Sohn erhielten, der sagte: „Mama, Papa, es ist Zeit für uns, Frankreich zu verlassen. Wir sind hier nicht mehr sicher.“
Im Mai 2007 sagte ich bei einem privaten Treffen hier in Brüssel zu den drei damaligen Führern Europas, Angela Merkel, Vorsitzende des Europäischen Rates, Jose Manuel Barroso, Präsident der Europäischen Kommission, und Hans-Gert Pöttering, Präsident des Europäischen Parlaments, dass die Juden in Europa sich zu fragen begannen, ob es in Europa eine Zukunft für sie gebe.
Das war vor über neun Jahren. Seitdem ist es noch schlimmer geworden. Bereits im Jahr 2013, bevor es einige der schlimmsten Vorfälle gab, stellte die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte fest, dass fast ein Drittel aller europäischen Juden aufgrund von Antisemitismus eine Auswanderung in Erwägung zogen. In Frankreich lag diese Zahl bei 46 Prozent und in Ungarn bei 48 Prozent.
Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen. Egal ob Sie Jude, Christ oder Moslem sind: Würden Sie in einem Land leben wollen, in dem Sie beim Beten von bewaffneten Polizisten beschützt werden müssen? In dem Ihre Kinder in der Schule von bewaffnetem Sicherheitspersonal bewacht werden müssen? In dem Sie das Risiko eingehen, auf offener Strasse beschimpft oder attackiert zu werden, wenn Sie ein Zeichen Ihres Glaubens tragen? In dem Ihre Kinder an der Universität beleidigt und eingeschüchtert werden, aufgrund von Dingen, die in einem anderen Teil der Welt passieren? In dem Ihre Kinder angebrüllt und zum Schweigen gebracht werden, wenn sie ihre Sicht der Dinge darlegen?
Das passiert Juden in ganz Europa. In jedem einzelnen Land Europas, ohne Ausnahme, haben Juden Angst um die Zukunft ihrer Kinder. Wenn das so weitergeht, werden die Juden Europa weiter verlassen, bis Europa – abgesehen von den schwachen und älteren Menschen – schliesslich judenrein sein wird.
Wie konnte das passieren? Genauso, wie Viren das menschliche Immunsystem besiegen: durch Mutation. Der neue Antisemitismus unterscheidet sich auf drei Arten vom früheren. Einen Unterschied habe ich bereits erwähnt. Früher wurden die Juden aufgrund ihrer Religion gehasst, dann aufgrund ihrer Rasse und nun wegen ihres Nationalstaates. Der zweite Unterschied ist, dass das Epizentrum des alten Antisemitismus in Europa lag. Heute befindet es sich im Nahen Osten und wird von den neuen elektronischen Medien in der ganzen Welt verbreitet.
Der dritte Unterschied ist besonders besorgniserregend. Ich werde Ihnen erklären, warum. Es ist einfach, jemanden zu hassen, aber schwierig, diesen Hass öffentlich zu rechtfertigen. Wenn Menschen im Laufe der Geschichte ihren Antisemitismus rechtfertigen wollten, taten sie das, indem sie Rückhalt bei der obersten Autoritätsquelle ihrer Kultur suchten. Im Mittelalter war das die Religion. Es gab also religiösen Antijudaismus. Im Zeitalter nach der Aufklärung war es in Europa die Wissenschaft. Die tragenden Säulen waren die Naziideologie, Sozialdarwinismus und die wissenschaftliche Untersuchung von Rassen. Heute sind Menschenrechte die oberste Autoritätsquelle der Welt. Daher wird Israel – die einzige uneingeschränkt funktionierende Demokratie mit einer freien Presse und unabhängigen Justiz im Nahen Osten – regelmässig einer der fünf Todsünden des Menschenrechts bezichtigt: Rassismus, Apartheid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ethnische Säuberung und versuchter Völkermord.
Der neue Antisemitismus ist mutiert, sodass jeder behaupten kann, kein Antisemit zu sein. „Ich bin schliesslich kein Rassist“, sagen sie. „Ich habe kein Problem mit Juden oder dem Judentum. Ich habe lediglich ein Problem mit dem Staat Israel.“ Doch während es auf der Welt 56 muslimische und 103 christliche Nationen gibt, gibt es nur einen jüdischen Staat, Israel, der lediglich 0,25 Prozent der Landmasse des Nahen Ostens einnimmt. Israel ist der einzige der 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, dessen Existenzrecht regelmässig in Frage gestellt wird und den ein Land, der Iran, so wie viele andere Gruppen zerstört sehen möchte.
Antisemitismus bedeutet, den Juden das Recht abzusprechen, mit den gleichen Rechten wie alle anderen Menschen als Juden zu existieren. Heutzutage tritt dies in Form von Antizionismus auf. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen Zionismus und Judentum, und zwischen Juden und Israelis, doch für die neuen Antisemiten gibt es diesen Unterschied nicht. Es waren Juden, nicht Israelis, die bei den Terroranschlägen in Toulouse, Paris, Brüssel und Kopenhagen getötet wurden. Antizionismus ist der Antisemitismus unserer Zeit.
Im Mittelalter wurden Juden beschuldigt, Brunnen zu vergiften, die Pest zu verbreiten und christliche Kinder zu töten, um deren Blut zu verwenden. In Nazideutschland wurden sie beschuldigt, sowohl das kapitalistische Amerika als auch das kommunistische Russland zu kontrollieren. Heute werden sie beschuldigt, sowohl den IS als auch Amerika zu steuern. All die alten Mythen wurden recycelt – von der Ritualmordlegende bis hin zu den Protokollen der Weisen von Zion. Die Karikaturen, die den Nahen Osten überfluten, sind Nachahmungen derer, die in Der Stürmer veröffentlicht wurden, einem der Hauptpropagandamittel der Nazis von 1923 bis 1945.
Die stärkste Waffe des neuen Antisemitismus ist bestechend in ihrer Einfachheit. Sie sieht so aus: Der Holocaust darf nie wieder passieren. Aber Israelis sind die neuen Nazis, Palästinenser die neuen Juden und alle Juden sind Zionisten. Daher sind die wirklichen Antisemiten unserer Zeit niemand anderes als die Juden selbst. Und dies sind keine marginalen Ansichten. Sie sind in der muslimischen Welt, auch innerhalb europäischer Gemeinschaften, weit verbreitet, und infizieren langsam die extreme Linke, die extreme Rechte, akademische Kreise, Verbände und sogar einige Kirchen. Nachdem Europa sich selbst von dem Virus des Antisemitismus geheilt hat, wird der Kontinent nun durch Teile der Welt neu infiziert, die keine Vergangenheitsbewältigung leisteten, wie sie nach Bekanntwerden des Holocausts in Europa stattfand.
Wie kann man etwas so absurdes glauben? Das ist ein umfangreiches und komplexes Thema, über das ich ein Buch geschrieben habe. Die einfachste Erklärung ist jedoch folgende. Wenn einer Gruppe schlimme Dinge widerfahren, stellen sich deren Mitglieder eine von zwei Fragen: „Was haben wir falsch gemacht?“ oder „Wer hat uns das angetan?“ Das gesamte Schicksal der Gruppe hängt davon ab, welche Frage sie stellt.
Wenn sich die Gruppe fragt: „Was haben wir falsch gemacht?“, übt sie Selbstkritik, was in einer freien Gesellschaft unerlässlich ist. Fragt sie: „Wer hat uns das angetan?“, hat sie sich selbst als Opfer definiert und sucht einen Sündenbock, dem sie die Schuld für all ihre Probleme geben kann. Traditionsgemäss sind das die Juden.
Antisemitismus ist eine Form kognitiven Versagens und entwickelt sich, wenn eine Gruppe das Gefühl hat, ihre Welt gerät aus den Fugen. Er trat erstmals im Mittelalter auf, als die Christen sahen, dass sie vom Islam in Gebieten, die sie als ihre eigenen betrachteten, insbesondere Jerusalem, besiegt worden waren. Das war 1096, als die Kreuzritter auf ihrem Weg ins Heilige Land in Nordeuropa Halt machten, um jüdische Gemeinden abzuschlachten. In den 1920er-Jahren trat er nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im Nahen Osten auf. Nach Europa kehrte der Antisemitismus in den 1870er-Jahren während einer Zeit der wirtschaftlichen Rezession und eines wiederauflebenden Nationalismus zurück. Aus denselben Gründen taucht er auch jetzt wieder in Europa auf: Rezession, Nationalismus und Widerstand gegen Immigranten und andere Minderheiten. Antisemitismus entwickelt sich, wenn die Politik der Hoffnung Platz für eine Politik der Angst macht, die schnell zu einer Politik des Hasses wird.
Dabei werden komplexe Probleme auf Einfachheiten reduziert. Die Welt ist nur noch schwarz und weiss, die Schuld liegt allein bei einer Seite, die andere Seite ist das alleinige Opfer. Unter Hunderten möglichen Schuldigen wird eine Gruppe herausgepickt. Das Argument ist immer dasselbe. Wir sind unschuldig, sie sind schuldig. Um frei zu sein, müssen wir sie, die Juden oder den Staat Israel, zerstören. So beginnen die schweren Verbrechen.
Juden wurden gehasst, weil sie anders waren. Sie waren die auffälligste nicht-christliche Minderheit in einem christlichen Europa. Heute sind sie die auffälligste nicht-muslimische Präsenz in einem islamischen Nahen Osten. Beim Antisemitismus ging es schon immer um die Unfähigkeit einer Gruppe, Platz für Verschiedenartigkeit zu schaffen. Keine Gruppe, die so handelt, wird jemals und kann jemals eine freie Gesellschaft hervorbringen.
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Ich höre da auf, wo ich angefangen habe. Der Hass, der mit den Juden beginnt, hört niemals bei den Juden auf. Beim Antisemitismus geht es nur zweitrangig um Juden. Hauptsächlich geht es um die Unfähigkeit einer Gruppe, Verantwortung für ihre eigenen Fehler zu übernehmen, und ihre eigene Zukunft aus eigener Anstrengung zu gestalten. Keine Gesellschaft, die Antisemitismus gefördert hat, hat es jemals zu Freiheit, Menschenrechten oder religiöser Freiheit gebracht. Jede von Hass dominierte Gesellschaft fängt damit an, ihre Feinde zu vernichten, aber zerstört letztendlich sich selbst.
Das heutige Europa ist nicht grundlegend antisemitisch. Aber es hat zugelassen, dass Antisemitismus über die neuen elektronischen Medien auf den Kontinent gelangt. Es hat nicht erkannt, dass der neue Antisemitismus anders ist als der alte. Wir befinden uns heute nicht wieder in den 1930er-Jahren. Aber wir sind nah an 1879, als Wilhelm Marr in Deutschland die Antisemitenliga gründete, an 1886, als Édouard Drumont La France Juive veröffentlichte, und an 1897, als Karl Lueger Bürgermeister von Wien wurde. Dies sind Schlüsselmomente der Verbreitung des Antisemitismus, und alles, was wir tun müssen, ist uns zu erinnern, dass was damals über die Juden gesagt wurde, heute über den jüdischen Staat gesagt wird.
Die Geschichte der Juden in Europa war nicht immer glücklich. Die Behandlung der Juden in Europa hat dem Vokabular der Menschheit neue Begriffe hinzugefügt: Disputation, Zwangskonvertierung, Inquisition, Vertreibung, Autodafé (portugiesisch auto-da-fé, „Glaubensgericht“, von lateinisch actus fidei, „Glaubensakt“, Anm.d.Red.), Ghetto, Pogrom und Holocaust – Wörter, die mit den Tränen und dem Blut von Juden geschrieben wurden. Trotz alledem liebten die Juden Europa und brachten einige seiner grössten Wissenschaftler, Schriftsteller, Akademiker, Musiker und modernen Denker hervor.
Wenn sich Europa wieder auf den Weg des Antisemitismus führen lässt, wird das die Geschichte sein, die man sich in der Zukunft erzählt. Zuerst waren es die Juden. Dann die Christen. Dann die Homosexuellen. Dann die Atheisten. Bis von Europas Seele nur noch eine ferne, verblassende Erinnerung übrig war.
Ich habe heute versucht, denen eine Stimme zu geben, die keine haben. Ich habe im Namen der ermordeten Roma, Sinti, Homosexuellen, Andersdenkenden, geistig und körperlich Behinderten und der anderthalb Millionen jüdischen Kinder, die wegen der Religion ihrer Grosseltern ermordet wurden, gesprochen. In ihrem Namen sage ich zu Ihnen: Sie wissen, wo dieser Weg hinführt. Gehen Sie ihn nicht noch einmal.
Sie sind die Führer Europas. Die Zukunft des Kontinents liegt in Ihren Händen. Wenn Sie nichts tun, dann gehen die Juden, die europäische Freiheit wird begraben und der Name Europa wird für alle Ewigkeit moralisch befleckt sein.
Setzen Sie dem Ganzen jetzt ein Ende, solange es noch geht.
Der Autor
Jhg. 1948, war von 1991 bis 2013 Oberrabbiner von Großbritannien.
Sacks besuchte die St Mary’s Primary School, die Secondary School Christ’s College in East Finchley, das Gonville and Caius College der Universität Cambridge, das New College der Universität Oxford, das King’s College der Universität London und die London School of Jewish Studies. Außerdem besuchte er die Talmudhochschule Etz Chaim Yeshiva in London.
Sacks studierte Philosophie und schloss am King’s College London das Studium mit einem Ph.D. (Dr.) ab.
Ihm wurden außerdem Ehrendoktortitel der Universität von Cambridge, University of Glasgow, Universität Haifa, Middlesex University, Yeshiva University, University of Liverpool und University of St Andrews verliehen. Er ist Ehren-Fellow des Gonville and Caius College und des King’s College London.
Sacks ist Vorsitzender des Chief Rabbi’s Cabinet, das aus vierzehn weiteren Rabbis besteht, die ihn in verschiedenen Bereichen beraten, beispielsweise jüdische Erziehung, Israel, jüdisch-christliche Beziehungen, Angelegenheiten, die das Beth Din und weitere Bereiche, die die jüdische Gemeinde betreffen. Das Chief Rabbi’s Cabinet trifft sich vierteljährlich. Deren Mitglieder sind berechtigt, den Großrabbiner bei öffentlichen Veranstaltungen zu repräsentieren.
Sacks war Direktor des Jews’ College, London, des weltweit ältesten Rabbinerseminars, sowie von 1978 bis 1982 Rabbi von Golders Green und von 1983 bis 1990 von Marble Arch in London. Er wurde sowohl vom Jews’ College als auch von Etz Chaim Yeshiva zum Rabbi ordiniert.
Sacks war regelmäßiger Gast im Fernsehen und Rundfunk. Er schreibt Beiträge in der überregionalen Presse. Er präsentierte 1990 die BBC Reith Lectures on The Persistence of Faith.