ONLINE-EXTRA Nr. 123
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Shlomo Riskin gilt in Israel und Nordamerika als einer der profiliertesten Rabbiner, der eine «modern-orthodoxe» Richtung des Judentums vertritt. Er hält Religiosität, Zionismus und modernes Leben für miteinander vereinbar, was sich beispielsweise in seiner Position wiederspiegelt, dass schwule oder lesbische Paare Kinder aufziehen dürfen oder religiöse Frauen am Militärdienst teilnehmen können. Nachdem Riskin zwanzig Jahre in New York als Gemeinderabbiner sowie an der Yeshiva University und der New York University wirkte, wanderte er 1983 nach Israel aus. Hier war er Mitbegründer der südlich von Jerusalem gelegenen Siedlung Efrat, die heute zu jenen Siedlungen gehört, die auch nach einem etwaigen Friedensschluss bei Israel verbleiben sollen. Politisch befürwortet Riskin im Übrigen eine «Zwei-Staaten-Lösung» des Nahost-Konflikts.
Shlomo Riskin ist auch Autor verschiedener Bücher und regelmäßiger Kolumnist in jüdischen, angelsächsischen Zeitungen wie auch beispielsweise der "Jerusalem Post". Unter dem Namen «Or Torah Stone» hat Riskin daneben ein Netzwerk an Bildungseinrichtungen aufgebaut, zu dem unter anderem Schulen, ein Frauen-College, Rabbinerseminare, Diaspora- und christliche-jüdische Programme gehören. In orthodoxen und christlichen Kreisen wirbt er dafür, die historische Figur Jesus als religiösen Juden wahrzunehmen. Anfang des Jahres etwa sorgte die von ihm gewählte Bezeichnung «Rabbi Jesus» für Aufsehen und Kritik. Riskin ist verheiratet und hat vier Kinder und 15 Enkelkinder.
Das nachfolgend als ONILNE-EXTRA Nr. 123 zu lesende Gespräch, das der israelische Schriftsteller Chaim Noll und der freie Journalist Martin Jehle mit Rabbiner Shlomo Riskin führten, erschien in gedruckter Fassung dieser Tage in der August-Ausgabe der JÜDISCHEN ZEITUNG. Das Interview mit Riskin, in dem er sich u.a. über die Siedlung Efrat und jüdische Reformer, das Problem der Konversion und den Dialog mit Christen äußert, dürfte vermutlich das erste, auf jeden Fall wohl umfangreichste Interview mit ihm sein, das im deutschsprachigen Raum bislang erschienen ist.
COMPASS dankt den Autoren für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe des Textes an dieser Stelle!
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Online-Extra Nr. 123
Herr Rabbiner Riskin, was hat Sie bewegt, vor über 25 Jahren Ihre Heimatstadt New York zu verlassen, um Mitgründer und Rabbiner der Siedlung Efrat im Westjordanland zu werden? Das ist eine etwas längere Geschichte. Als junger Rabbiner wurde ich zunächst wissenschaftlicher Assistent für Bibel und Talmud an der Yeshiva-Universität in New York. Denn nach meiner Ordinierung zum Rabbiner hatte ich mich erst nicht für die praktische Tätigkeit in einer Gemeinde interessiert. Stattdessen gefiel mir die Welt der Wissenschaft. Ich absolvierte also ein Aufbaustudium und begann mit meiner Doktorarbeit. Manhattan, genauer gesagt das Viertel Hell’s Kitchen, war damals stark im Wandel begriffen. Das Theaterstück The West Side Story spielte dort. Eine schlechte Gegend mit viel Kriminalität, Banden und so weiter. Zum Glück entschied der Bürgermeister New Yorks, die Innenstadt zu entwickeln, um Familien anzuziehen, die in der Vergangenheit in die Vororte gezogen waren. Voraussetzung dafür war aber, dass die Innenstadt attraktiv ist und genug kulturelle Angebote bot. Deshalb wurde mächtig gebaut, auch das Lincoln Center entstand in dieser Zeit – das sollte meine Gegend werden. Theater, gute Restaurants und Parkanlagen kamen dazu. Eines Tages begann jemand, zu Rosch Haschana und Jom Kippur Gottesdienste in einem der Hotels zu veranstalten; die Richtung war irgendwo zwischen konservativ und reformorientiert. Ich ging da hin um zu schauen und kam so mit der Arbeit als Rabbiner in Berührung. Das war die Initialzündung für mich und eine richtige Synagoge, die wir daraufhin gründeten: Die Lincoln Square Synagogue. Die Aussichten waren aber alles andere als großartig. Die Gegend galt eher als areligiös mit vielen Intellektuellen, Künstlern, Musikern, Autoren – säkulare New Yorker Juden, ohne Interesse an religiösem Judentum. Doch ich sah dieses Umfeld als Chance, und wir legten einfach los – zunächst in einer Wohnung in den Lincoln Towers. Es lief gut an, mehr und mehr Leute kamen, so dass wir schließlich die Lincoln Square Synagogue bauten. Zur Gemeinde gehörten ungefähr 700 bis 800 Familien und 600 Alleinstehende. Ich war dort 19 Jahre lang tätig. Als Rabbiner einer florierenden Synagoge hatten Sie also eine gute Position in New York und keinen Grund nach Israel zu gehen? Während all der Jahre habe ich Israel oft besucht, weil ich eigentlich immer dort leben wollte. Ich glaubte, dass alles, was in der Diaspora geschieht, nur eine Fußnote der Geschichte des jüdischen Volkes sein wird. Die wesentlichen Kapitel der jüdischen Geschichte werden in Israel geschrieben. Und wenn ich einmal die Chance dazu hätte, würde ich lieber an einem Kapitel als an einer Fußnote mitschreiben, dachte ich mir. Meine Frau und ich haben uns in Israel kennengelernt, bei einem Sommer-Programm. Ich gab Unterricht, sie war da, um zu lernen. Sie war 16, ich fünf Jahre älter. Wir haben uns sofort verliebt und schnell verlobt. Und wir haben uns gegenseitig versprochen: Wenn wir verheiratet sind, wollen wir auch in Israel leben. Nach der Hochzeit kam auch bald das erste Kind, ich war mit 24 Rabbiner der Synagoge, die Dinge liefen gut. Aber an einem hakte es: Wir fanden keinen Absprung nach Israel. Ich bemühte mich um Arbeit in Israel, aber es klappte nicht. Später habe ich verstanden, dass es daran lag, dass ich keinen Bart trug. Haben wir Sie richtig verstanden? Sie fanden keine Arbeit als Rabbiner, weil Sie keinen Bart hatten? Ja, es war üblich, dass in Israel ein orthodoxer Rabbiner einen Bart trägt. Aber mir hat das niemand gesagt. Naja, ich suchte jedenfalls weiter, kam fast jeden Sommer nach Israel, war an Programmen beteiligt, organisierte und unterrichtete. Aber an einen Job kam ich dennoch nicht. Die Schul in New York lief unterdessen immer besser. Wir gründeten zwei Schulen, eine Yeshiva High School für Jungen und eine für Mädchen, beide unter dem Dach von Or Tora. 1975 wurde ich dann zu einem sehr speziellen theologischen Kolloquium in den Kibbuz Lavin eingeladen. Ich hielt dort – neben anderen amerikanischen Rabbinern – einen Vortrag. Jeder von uns wurde daraufhin in einen weiteren Kibbuz eingeladen. So verbrachte ich den nächsten Schabbat in der Nähe von Aschkelon und erhielt eine Einladung, auch den nächsten Sommer mit meiner Familie in diesem Kibbuz zu verbringen. Es entwickelte sich so, dass ich mit meiner Familie die nächsten acht Jahre die Sommerferien als Gastwissenschaftler dort war – bis zu unserer Alija. Wie kam es nun genau dazu? Eines Tages begegnete ich scheinbar zufällig Moshe Moshkowitz, Chefberater des Innenministers Avraham Burg und ein Mann mit vielen politischen Kontakten und einer Menge Protektion. Er hörte bei einem meiner Vorträge zu und fragte mich hinterher: «Was machst Du in Amerika? Wir brauchen Dich in Israel.» Ich antwortete: «Ich will ja dauerhaft nach Israel kommen, aber niemand scheint das richtig zu wollen. Ich finde einfach keinen Job.» Moshe Moshkowitz bat mich, in sein Auto einzusteigen, und wir fuhren auf einen leeren Hügel – nach Efrat. Das war ein Schlüsselerlebnis für mich. In den 30er- und 40er-Jahren gab es in der Gegend schon einmal vier kleine jüdische Siedlungen, aber sie fielen dem Unabhängigkeitskrieg zum Opfer. Moshkowitz sagte mir: «Nach dem Sechs-Tage-Krieg hatte Golda Meir die Idee, dass in dieser besonderen Gegend eine Stadt namens Efrat gebaut werden soll – das biblische Efrat.» Golda Meir erkannte die Schönheit der Landschaft, der Schweiz Israels. Sie spürte, dass diese Landschaft besondere Menschen anziehen könnte. Sie schrieb es sogar auf: »Hier wird die Stadt Efrat entstehen, 250 Meter oberhalb Jerusalems und dem Schutz Jerusalems dienend.» Zwei Gruppen von Olim sollten für den Aufbau von Efrat gewonnen werden, neue israelische Bürger, Pioniere aus wirtschaftlich entwickelten Ländern. Golda Meir dachte dabei besonders an Juden aus Amerika und Südafrika. Als ich mit Moshe Moshkowitz in der Landschaft stand, war es dort ganz leer, keine Häuser, keine Menschen, einfach gar nichts. Moshkowitz sagte: «Ich habe mal Dizengoff, den ersten Bürgermeister von Tel Aviv, gefragt, wie man in Israel Bürgermeister einer Stadt wird. Dizengoff antwortete: „Wenn Du Bürgermeister einer Stadt in Israel werden willst, musst Du eine Stadt bauen“.» Moshkowitz fuhr fort: «Rabbi Riskin, werden Sie mein Partner. Ich war in Ihrer Synagoge in New York, von Ihnen unbemerkt, als hunderte Menschen dort waren.» Yitzak Rabin war zu diesem Schabbat auch in der Synagoge, so dass sich Moshkowitz denken konnte, dass ich schon ein gewisses Profil hatte. «Sie holen die Leute aus Amerika und Südafrika, um Efrat zu gründen. Ich kümmere mich um alle erforderlichen Genehmigungen in Israel. Und Sie werden sehen. Am Ende bin ich der Bürgermeister, und Sie sind der Rabbiner von Efrat. Mit Gottes Hilfe», sagte Moshkowitz. So fing alles an: Ein leerer Raum mit großem Potential. Meine Frau und ich waren begeistert. Aber bis zum ersten Spatenstich vergingen noch Jahre. Von 1976 bis 1981 wurde jeder Quadratmeter Boden durch das Oberste Gericht geprüft, um sicherzustellen, dass kein Land dabei ist, das von einem Araber beansprucht werden könnte.
«Efrata» ist die frühere Bezeichnung für Bethlehem. Der Name der Siedlung ist – entsprechend ihrer geographischen Lage entlang des Weges nach Betlehem – an die Bibel angelehnt, wo es in Genesis 35,19 heißt: «Und Rachel starb, und sie wurde begraben am Weg nach Efrata, das ist Betlehem.» Rachel gilt als eine der Stammmütter der Stämme Israels.
Die Gründung Efrats wurde initiiert von Moshe Moshkowitz, dem ersten Bürgermeister, und Shlomo Riskin, der bis heute Chefrabbiner der Siedlung ist. Den organisatorischen Rahmen dafür bildete in den Jahren der Vorbereitung die eigens gegründete religiöse Alija- und Siedlungsgesellschaft «Raishit Geula». Ihr Zweck bestand darin, amerikanische und südafrikanische Juden für die Auswanderung und Teilnahme am Aufbau von Efrat zu werben.
Efrat unterliegt zurzeit einem von der israelischen Regierung verhängten 10-monatigen Baustopp («settlement freeze») für Siedlungen. Im März dieses Jahres wurde das Fundament einer geplanten Synagoge in Efrat durch die Grenzpolizei zerstört.
www.efrata.muni.il
Haben Sie damals dazu aufgefordert, etwaige Ansprüche anzumelden? Ja. Deshalb gab es ja von 1976 bis 1981 die Verfahren. Und es werden heute keine Ansprüche geltend gemacht? Nein. Es hat einen Grund, warum Efrat wie eine Banane geformt ist: Fragwürdiges Land, bei dem wir nicht sicher sein konnten, haben wir nicht in Efrat einbezogen. Ihnen zu Folge ist das Eigentum an dem Land, auf dem Efrat gebaut wurde, unumstritten – es richten sich also tatsächlich keine Rückerstattungsansprüche dagegen? Nein. Wächst denn die Bevölkerung von Efrat? Ja, natürlich. Das bedeutet, dass auch neue Häuser gebaut Nun, ja und nein. Wir sind unglücklicherweise vom «Baustopp» der Regierung in den Siedlungen betroffen. Wir sind also seit Monaten nicht in der Lage zu bauen. Wir sehnen das Ende dieser Maßnahme herbei, um weiter bauen zu können. Einige Projekte, mit denen wir schon vor dem Baustopp begonnen hatten, konnten wir allerdings zu Ende führen. Efrat liegt hinter der «Grünen Linie» – deshalb wird es als Siedlung betrachtet und fiel auch unter den «settlement freeze» der israelischen Regierung. Ja, wir liegen hinter der «Grünen Linie». Aber wo ist dabei das Problem? Die Siedlungen sind überhaupt nicht das Problem, zu dem sie immer gemacht werden. Zwischen 1948, der Unabhängigkeitserklärung und dem Ende des Unabhängigkeitskrieges, und dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 gab es keine Siedlungen, es gab auch keine «Grüne Linie». Aber Araber töteten andauernd Juden. Und der Sechs-Tage-Krieg begann, bevor es Siedlungen gab. Das Gleiche gilt für die Absicht, uns ins Meer zu treiben. Das Problem ist, dass uns die Palästinenser hier nicht wollen. Oder besser gesagt: Die Führung der Palästinenser will uns hier nicht, die normalen Palästinenser haben unsere Anwesenheit akzeptiert. Sie haben eine Menge davon, eine höhere Lebensqualität als in den meisten arabischen Ländern. Also, die Probleme im Nahen Osten haben nichts mit den Siedlungen zu tun, sie sind lediglich ein rotes Tuch. Der Mythos ist – und leider glaubt die Welt daran –, dass es den Palästinensern hier geht wie den Schwarzen in Südafrika zu Zeiten der Apartheid. Dass wir wie die Buren in ihr Land kamen und es besetzt haben. Das ist natürlich Schwachsinn. Juden leben hier ohne Unterbrechung seit 4.000 Jahren. Es muss klar sein, dass wir das Recht haben, hier zu sein. Umstritten sind aber Umfang und Grenzen dieses Rechts. Die Palästinenser machen schließlich auch geltend, ein Recht darauf zu haben, in Selbstbestimmung hier zu leben. Alles, das ganze Land, ob Israel oder das Westjordanland, sind umstritten. Es gibt zwei Völker, die beide in diesem Land leben und es haben wollen. Wir müssen es teilen! Das Problem ist, dass wir ihr Recht anerkennen, wir erkennen die Möglichkeit eines palästinensischen Staates an. Aber die anderen erkennen nicht unser Recht an, hier zu sein. Das ist die ganze Tragödie! Die anderen sprechen über die Siedlungen, aber sie meinen die Tatsache, dass hier überhaupt Juden sind. Aber das gilt nur für ihre Führer. Mit den normalen Palästinensern haben wir gute Beziehungen. Wir haben mit den Arabern aus den umliegenden Dörfern eine Menge zu tun. Wir kümmern uns um ihre medizinische Versorgung in unseren Gesundheitseinrichtungen – das kostet jedes Jahr mehrere hunderttausend Dollar. Wir versuchen ihnen wirklich zu helfen. Ich sehen in ihnen die Verlängerung meiner eigenen Gemeinschaft. Sind Sie seit den Anfängen von Efrat durchgängig dabei und diesem Ort verpflichtet? Ja. Es ist – so Gott will – meine letzte Station. Efrat ist ein Traum, der wahr geworden ist. Es ist sogar mehr als das. Die Verwirklichung des Traums ist noch großartiger, als der Traum war. Es gibt einen Bürgermeister, einen Stadtrat und ein Rabbinat, das ich leite, mit sechs weiteren Rabbinern. Es gibt in Efrat 33 Synagogen bei 11.000 Einwohnern. Wie hoch ist der Anteil von Einwohnern, die im englischsprachigen Ausland geboren wurden? Der liegt bei ungefähr 35 Prozent. Der Rest sind meist gebürtige Israelis, viele von ihnen sind Kinder angelsächsischer Einwanderer Steht Efrat jedem offen? Natürlich. Ich würde niemals in einem Ort leben wollen, der nicht allen Leuten offen steht, ob sie nun religiös sind oder nicht. Aber das ist ein Prozess, der sich selbst steuert. Die meisten Leute, die hier leben, sind religiös. Zum nächsten Schabbat gibt es wieder vier Bar-Mitzwas in vier verschiedenen Synagogen. Ich gehe zu allen Festen. Ich liebe es, die Entwicklung, das Wachstum zu sehen. Die Stadt hat sich sehr gut entwickelt und ist sehr modern. Es gibt hier eine lokale Wirtschaft, ein Netzwerk an Kultur, Konzerten, Theaterstücken und Unterricht – mindestens ungefähr 400, 500 Tora-Unterrichtsstunden jede Woche. Ich zum Beispiel unterrichte jeden Morgen von 6.30 Uhr bis 7.15 Uhr vor 35 bis 40 Leuten zu einer Seite des Talmuds. Ich habe auch die Gelegenheit gehabt, Bildungseinrichtungen aufzubauen. Wir haben 15 Schulen und elf High-School-Gelände, eine Ausbildungsstätte für Rabbiner sowie ein Frauen-College. Jedes Jahr schicken wir 25 bis 35 Rabbiner und Lehrer in alle Welt, auch nach Deutschland. Der Ansatz von Efrat besteht also auch darin, Religion mit modernem Leben zu verbinden auf der Grundlage von Leuten, die aus entwickelten Ländern eingewandert sind. Führt die Umsetzung dieser Idee auch zu positiven Auswirkungen in der sozialen Wirklichkeit, wie etwa einer niedrigen Kriminalitäts- oder Drogenmissbrauchsrate? Ich denke, dass Efrat in sozialer Hinsicht einfach eine Stadt mittlerer Größe ist. Auch wir haben zum Beispiel ein Alkohol- und Drogenproblem. Einer meiner Söhne leitet eine Schule für junge Leute, die aus solchen Gründen die High School verlassen mussten. Er hat eine 96-prozentige Erfolgsquote darin, aus ihnen Bürger zu machen, die dann nach der Schule die Zugangstests für ihre weitere Ausbildung bestehen und zur Armee gehen. Die Zustände sind in etwa so wie in jeder anderen israelischen Stadt mittlerer Größe? Vielleicht sind sie sogar besser. Wir haben wahrscheinlich weniger als zwei Prozent sogenannter Problemkinder. Dazu werden aber auch schon diejenigen gezählt, die mit denen befreundet sind oder sympathisieren, die ein wenig trinken oder Drogen nehmen, aber selbst gar nicht dabei sind.
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Efrat ist also ein Ort, in dem man sicher aufwachsen kann, ohne all zu viel schlechten Einflüssen ausgesetzt zu sein. Ja, ganz sicher. Ich bin sehr stolz auf den Ort. Die überwältigende Mehrheit unsere Kinder wächst in sehr etablierten, moralisch anständigen und religiösen Familien auf. Es gibt schon fast hundert Eheschließungen von Paaren, bei denen beide Partner aus Efrat stammen. Aber wir haben natürlich auch Probleme, die wir auch nicht verbergen. Probleme mit Scheidungen, mit Gewalt – aber insgesamt kann man hier wunderbar leben. Alle meine Kinder leben hier. Ich habe vier verheiratete Kinder und 15 Enkelkinder – und sie leben alle in Efrat. Eine meiner Enkeltöchter ist Offizierin in der Armee. Durch unser Frauen-College, der Midreshet Lindenbaum, kann sie den Armeedienst mit dem Torastudium verbinden. Ist das die einzige Institution dieser Art? Anfangs war sie es. Sie wurde in der orthodoxen Welt als radikal betrachtet. Mittlerweile gibt es mindestens zwei weitere. Auch andere Ihrer Vorhaben wurden zunächst als radikal betrachtet… … ja, zum Beispiel, Anwältinnen in religiöse Gerichte zu bringen. Das ging früher überhaupt nicht, ist aber heute vollständig akzeptiert. Um als Anwältin in einem religiösen Gericht zu arbeiten, muss man umfangreiche Talmud-Studien durchlaufen, was Frauen jedoch an vielen Einrichtungen noch nicht möglich ist. Ein heikles Thema sind auch Menschen, die dem Judentum beitreten wollen. Das ist ein sehr wichtiges und eines der entscheidenden Themen überhaupt. Vorab muss ich sagen, dass ich absolut gegen die Haltung des gegenwärtigen religiösen Establishments im Bezug auf Konversionen bin. Warum? Die Tora sagt uns an 36 Stellen, dass wir den Konvertiten lieben sollen. Und der Talmud sagt uns ganz genau, dass die Liebe für den Nichtjuden beginnen soll, sobald er das erste Mal Interesse daran zeigt, möglicherweise zum Judentum konvertieren zu wollen. Und der Talmud gibt uns auch vor, nicht zu streng und prüfend mit ihnen zu sein. Kurz gesagt: Grundlegendes jüdisches Recht sagt uns, dass wir offen und freundlich zu Menschen sein sollen, die konvertieren wollen. Das ist auch meine Position. Die Wirklichkeit ist aber vielerorts eine andere. Bedauerlicherweise. Das liegt daran, dass der Konversions-Prozess in Israel von den Haredim, den Ultraorthodoxen, besetzt worden ist. Die religiösen Gerichte, die sich damit beschäftigen, waren einmal modernorthodox oder religiös-zionistisch, aber werden mittlerweile von Haredim dominiert. Das ist eine fatale Entwicklung, denn eine offene, freundliche Einstellung zu Konversions- Willigen ist einfach entscheidend für die Zukunft. Man muss sich bewusst machen: Es gibt fast 400.000 Einwanderer aus der früheren Sowjetunion in Israel, die nicht im Sinne der Halacha jüdisch sind. Auf Grundlage des Rückkehrrechts, ... ... für das ein jüdischer Großvater oder eine Großmutter genügt, um einwandern zu dürfen, konnten sie aber dennoch nach Israel kommen. Genau. Sie sehen, das Rückkehrrecht nach Israel lehnt sich daran an, welche familiäre Vergangenheit die Nazis für ausreichend hielten, jemanden als jüdisch zu betrachten. Die Konsequenz ist, dass viele israelische Bürger aus der früheren Sowjetunion nicht im Sinne der Halacha jüdisch sind. Es geziemt sich doch geradezu, sie konvertieren zu lassen. Welche Anforderungen sollten an Konvertiten gestellt werden? Für Männer gilt, dass sie beschnitten sein müssen. Frauen und Männer müssen ein rituelles Bad in einer Mikwe nehmen und die Gebote akzeptierten. Da kann es keine Kompromisse geben. Anderseits kann niemand erwarten, dass sich Konvertiten in allen Einzelheiten jüdischen Lebens auskennen. Selbst ich bin nicht allwissend in allen Bereichen, obwohl ich schon mein ganzes Leben als religiöser Jude lebe und religiöse Texte lese. Ich denke, dass die wesentlichen Bereiche gelernt werden müssen. Dazu gehören der Schabbat, die Feiertage, die Gundsätze des Kaschrut und der Reinheit der Familie, Wohltätigkeit und Güte, aber nicht jedes Detail. Übrigens, der Talmud erwähnt in diesem Zusammenhang Schabbat, Kaschrut und Wohltätigkeit. Es gibt bei manchen in Israel den Gedanken, Konversionen aufzuheben, wenn der Konvertit nicht mehr jüdisch lebt. Aber schon Moses Maimonides, ein jüdischer Gesetzeslehrer aus dem 12. Jahrhundert, hat gesagt, dass wenn jemand erst einmal konvertiert ist, die Konversion nicht mehr annulliert werden kann. Selbst wenn ein Konvertit anfängt, nicht mehr jüdisch zu leben, dann ist er eben ein nicht-religiöser Jude, aber ein Jude. Und wenn er heiratet, ist die Hochzeit gültig. Es gibt keine Juden unter Vorbehalt. Wer einmal Jude geworden ist, bleibt dies bedingungslos.
Or Torah Stone
In Israel kommt es nicht selten vor, dass Ehemänner nicht ausfindig zu machen sind oder sich gegen eine religiöse Scheidung sperren. Die betroffenen Frauen werden dadurch daran gehindert, wieder zu heiraten.
Dem jüdisch-christlichen Dialog widmet sich «The Center for Jewish-Christian Understanding and Cooperation». Das Zentrum bietet ein- und zweitägige Programme für christliche Gruppen an, in denen unter anderem Jesus und sein jüdischer Hintergrund, der Talmud und die religiöse Bedeutung Israels näher beleuchtet werden. Im Juni dieses Jahres veröffentlichte das Zentrum eine Erklärung, in der die Lage der Christen in der arabischen Welt kritisiert wird, aber auch auf Probleme der christlichen Minderheit in Israel, etwa der Mangel an Wohnraum sowie gelegentliche Diskriminierung, eingegangen wird.
www.ohrtorahstone.org.il
Sind Sie innerhalb des orthodoxen Spektrums ein Reformer, der will, dass seine Positionen aus der Ecke des Alternativen in die Mitte kommen und von der Mehrheit akzeptiert werden? Ich bin nicht alternativ. Die Haredim haben in kurzer Zeit Veränderungen durchgesetzt; sie sind die Reformer in meinen Augen. Meiner Ansicht sind die großen rabbinischen Lehrer der vergangenen Jahrhunderte. Ein Beispiel: Der Talmud sagt, dass es gut ist, die Tora zu studieren, aber auch einen Beruf zu haben. Das ist der Lebensstil, den die Tora vorgibt. Das jüdische Recht war nie anders. Es hat nie verlangt, dass junge Leute für das Tora-Studium die Arbeit aufgeben. Das haben die Haredim eingeführt. Also, eigentlich bin ich in der Mitte, sozusagen «mainstream-orthodox». Sie sind auch einer der ersten orthodoxen Rabbiner, der sich für die jüdisch-christlichen Beziehungen stark gemacht hat. Dafür haben Sie eigens das Studien- und Begegnungszentrum «The Center for Jewish-Christian Understanding & Cooperation» gegründet, um die christliche Welt zu erreichen. Mein Interesse an den jüdisch-christlichen Beziehungen habe ich eigentlich Deutschland zu verdanken. Während der zweiten Intifada besuchte uns niemand – bis ich plötzlich einen Telefonanruf von einer Schwester Martha aus Darmstadt erhielt. Sie besuchte mich dann mit einer ganzen Gruppe protestantischer Schwestern der Evangelischen Marienschwesternschaft Darmstadt. Die Schwestern betreiben auch eine kleine Landwirtschaft; den Gewinn spenden sie für Israel. Ich erwiderte den Besuch und reiste nach Deutschland. Durch diese Treffen begann ich zu erkennen, dass es viele Christen gibt, die enge Beziehungen zu Israel und Freundschaften mit Juden pflegen, besonders oft evangelische Christen, die sich auch sehr für das, wie sie es nennen, «Alte Testament» interessieren, was für uns die Bibel ist. Was passiert an dem Zentrum genau? Wir geben Unterricht – dafür haben wir extra Lehrer. Es haben uns schon tausende Christen besucht, um mehr zu erfahren, über die jüdische Bedeutung des Christentums, über Jesus den Juden... … den berühmtesten Juden aller Zeiten… Sehr richtig. Ich beschäftige mich immer wieder mit Jesus, mit seiner Persönlichkeit und seinen Lehren, die stark im Denken des Talmuds verwurzelt sind. Jesus war ein Rabbiner, der in schwierigen Zeiten zu seinem Volk stand. Jesus als Rabbiner zu bezeichnen – das trifft doch sicher auf Vorbehalte, oder? Der Ausdruck «Rabbiner Jesus» kommt bei einem jüdischen Publikum, besonders in Israel, nicht gut an. Es gibt zu viele negative Assoziationen vor dem Hintergrund, was europäische Christen in der Vergangenheit in Namen von Jesus Juden angetan haben. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass es einen historischen Jesus gab, der ein jüdischer Lehrer war. Und diesen Fakt betone ich auch immer wieder gegenüber christlichen Gruppen, die uns besuchen. Wie weit kann für Sie ein Dialog mit Christen gehen, und wo liegen die Grenzen? Ich kann mir auch vorstellen, eine Derascha oder eine Divrej Tora, also die Lesung von Texten aus der hebräischen Bibel, in einer Kirche zu veranstalten. Das hängt von der Symbolik in der Kirche ab, aber generell wäre es möglich. In jedem Dialog mit Christen ist es aber wichtig, auch die Unterschiede zwischen uns hervorzuheben. Für mich ist Jesus nicht der Sohn Gottes. Wir sind alle gleichermaßen Gottes Kinder. Und Jesus war auch nicht der Messias. Der Messias ist nämlich der König Israels in einer Zeit des Friedens und der Erlösung. Und diese Zeit ist noch nicht gekommen. Mein großer Lehrer Rabbiner Soloveitchik, seligen Andenkens, hat Bedingungen für einen Dialog mit Christen formuliert, die auch ich teile: Theologische Diskussionen mit Christen sind sinnlos, wenn die jüdischen Teilnehmer nicht in Treue zu ihrem Glauben stehen, wenn die Christen uns als minderwertig sehen oder eine Seite die andere zum Konvertieren bewegen will. Das Gespräch führten Martin Jehle und Chaim Noll
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RABBINER SCHLOMO RISKIN
Von 1963 bis 1983 war er Rabbiner der Lincoln Square Synagogue an der Upper West Side sowie in Lehre und Wissenschaft an der Yeshiva University und der New York University tätig. In den 70er- und 80er-Jahren setzte er sich für die Ausreise von Juden aus der Sowjetunion in die USA ein.
1983 wanderte Riskin nach Israel aus, um Rabbiner der südlich von Jerusalem gelegenen Siedlung Efrat zu werden. Die zur Stadt angewachsene Siedlung gehört heute zu jenen, die auch nach einem etwaigen Friedensschluss bei Israel verbleiben sollen. Riskin befürwortet eine «Zwei-Staaten-Lösung» des Nahost-Konflikts. Unter dem Namen «Or Torah Stone» hat Riskin daneben ein Netzwerk an Bildungseinrichtungen aufgebaut, zu dem unter anderem Schulen, ein Frauen-College, Rabbinerseminare, Diaspora- und christliche-jüdische Programme gehören. Ziel seiner theologischen Ausbildung ist es, eine neue Generation von orthodoxen Rabbinern zu prägen, die das religiöse Leben in Israel und in der Diaspora stärkt, aber zugleich die Interessen des Staates Israel berücksichtigen soll.
Riskin vertritt eine «modern-orthodoxe» Richtung des Judentums, die Religiosität, Zionismus und modernes Leben für miteinander vereinbar hält. Dazu gehört etwa, dass schwule oder lesbische Paare Kinder aufziehen dürfen oder religiöse Frauen am Militärdienst teilnehmen können.
Riskin wirbt in orthodoxen und christlichen Kreisen dafür, die historische Figur Jesus als religiösen Juden wahrzunehmen. Anfang des Jahres sorgte die von ihm gewählte Bezeichnung «Rabbi Jesus» für Aufsehen und Kritik. Im «Jewish Chronicle» schrieb Ed Kessler, Direktor des «Woolf Institute of Abrahamic Faiths», dazu: «Shlomo Riskin ist vielleicht seiner Zeit voraus in der orthodoxen Welt, wenn er auf die Tatsache stolz ist, dass der Mann, der von über zwei Milliarden auf der ganzen Welt verehrt wird, als Jude geboren wurde, lebte und starb.» Riskin ist verheiratet und hat vier Kinder und 15 Enkelkinder.
DIE INTERVIEWER
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Chaim Noll, ursprünglich Hans Noll, wurde 1954 in Berlin (Ost) geboren. Dem Studium der Mathematik in Berlin und Jena folgt ein Studium der Kunst und Kunstgeschichte. Anfang der 80er Jahre verweigert er den Wehrdienst und wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. 1984 wird Noll ausgebürgert, geht in den Westen, arbeitet als Journalist und beginnt eine Karriere als Schriftsteller. Er lebt heute in der Wüste Negev und ist Writer in Residence und Dozent am Center for International Student Programs der Ben Gurion Universität Beer Sheva. Zu seinem schriftstellerischen Werk gehören Gedichte, Erzählungen, Romane und Essays. (Siehe auch seine zahlreichen Online-Extra-Beiträge: Übersicht)
Martin Jehle, geb. 1982 in Berlin, Jurist, gelegentliche journalistische Tätigkeit.
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