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ONLINE-EXTRA Nr. 20

Oktober 2005


COMPASS dankt der Autorin für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

© 2005 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 20


Frauen im Judentum: Frau - Mann - Mensch

Grundlagen jüdischer Religiosität und Spiritualität 


RACHEL MONIKA HERWEG



Die traditionellen Ehrentitel der Eltern sind: Awi mori, Immi morati – mein Vater, mein Lehrer; meine Mutter, meine Lehrerin. Beide gelten im Kontext jüdischen Glaubens als Beauftragte Gottes und befolgen die Bitte des Morgengebets:


„Mache lieblich, Ewiger unser Gott, die Worte deiner Tora in unserem Munde und im Munde deines Volkes, des Hauses Israel, auf dass wir und unsere Sprösslinge und die Sprösslinge deines Volkes, des Hauses Israel, wir alle deinen Namen erkennen und deine Tora lernen um ihrer selbst willen. Gesegnet seist du, Ewiger, der du die Tora lehrst dein Volk Israel.“


Jüdische Tradition ist gelebte Gotteserfahrung. Die Liebe zu Gott erweist sich für Jüdinnen und Juden in der Liebe zur Tora (Fünf Bücher Mose), die traditionell als authentische Offenbarung Gottes gilt. Neben dieser schriftlich fixierten, in sich abgeschlossenen Tora (Lehre/ Weisung) existiert von Sinai an die sog. mündliche Tora – die fortlaufende Offenbarung.

Jüdisches Leben, alles jüdische Handeln soll auf der Tora und ihrer Auslegung beruhen, wie es heißt (Dtn 17,11): „Nach dem Geheiß der Weisung, die sie [die Rabbinen] dir weisen, und nach der Rechtsfindung, die sie dir zusprechen, sollst du tun.“ – In dieser Aufforderung liegt die Legitimation der mündlichen Tora, der Ausdeutung der göttlichen Offenbarung durch die Menschen, begründet. Gott soll in jeder Generation (neu) aus seiner ganzen Tora (der schriftlichen und mündlichen) interpretiert werden (vgl. Babylonischer Talmud [bT] Mak 24a).

Kein Mensch allein kann vollständige Gotteserkenntnis erlangen. Um Gott näher zu kommen, bedarf es des Zusammenwirkens vieler Menschen – ihres Erkenntnisaustauschs und der darauf basierenden Formulierung von Recht – Halacha (wörtl. „der zu gehenden Wegrichtung“); also auch des Zusammenwirkens von Frauen und Männern.

Rabbinisches Judentum hat über Jahrhunderte dieses Zusammenwirken in der Praxis – ich möchte sagen – „sehr speziell“ ausgeprägt. Dazu weiter unten; zunächst noch zu seinen zentralen Grundaussagen, die das Bild des und vom Menschen und der gleichen Würde von Frau und Mann, seiner und ihrer Stellung und Bestimmung und den gemeinsamen Ausgangspunkt ihrer Religiosität und Spiritualität mindestens theoretisch begründen:


1. Grundlegend ist die Heiligkeit menschlichen Lebens:

Gen 1,27: „Und Gott schuf den Menschen in seinem Bilde...“
Gen 2,7: „... und er hauchte den Odem des Lebens in seine Nase –
und so ward der Mensch zu einem lebenden Wesen.

Durch diesen Akt sei die Seele des Menschen als göttliches Prinzip zu betrachten. In jedem menschlichen Leben wirkt etwas Göttliches, und so besteht die Aufgabe des Menschen darin, nach Heiligkeit zu streben:

Lev 19,2: „Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, der Ewige, Gott.“

Aus der Heiligkeit des menschlichen Lebens wird geschlossen:

2. Menschliches Leben hat unendlichen Wert:

Jeder einzelne Mensch gilt als Ebenbild Gottes, als einzigartig und unverwechselbar. Individuelles Dasein und Leben werden in der Mischna (M Sanh 4,5) als so kostbar erachtet, „dass wenn einer eine Person vernichtet, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt vernichtet, und wenn einer eine Person erhält, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt erhalten“.

Aus dem unendlichen Wert menschlichen Lebens resultiert die Verpflichtung:

3. Menschliches Leben muss gerettet werden:

Lev 18,5: „... und durch sie [die Mizwot – Gesetze] sollst du leben!“


Die Ge- und Verbote der Tora dienen dem Erhalt menschlichen Lebens. Um dieses zu retten, erlaubt die Halacha, praktisch alle Mizwot der Tora außer Kraft zu setzen (Ausnahmen: Götzendienst, Unzucht, Mord. Bei Mord besteht die Ausnahme: Notwehr [gegenüber einem potentiellen Mörder (hebr. rodef)]).


Die Heiligkeit des Menschen (seine Ebenbildlichkeit) begründet seine Würde und Bestimmung als Partner und Partnerin Gottes:

Gen 1,28: „... und bezwinget die Erde.“

Dieses Gebot beinhaltet insbesondere die Verpflichtung (!) zum Erwerb und zur Erweiterung von Wissen (= Studium; Forschung und Lehre).

Nach Vorstellung des rabbinischen Judentums führt der Weg zu Gott nur über seine Offenbarung, die Tora. In ihr ist alles Wissen der Welt (bereits) enthalten (vgl. M Awot 5,26) – und sie befindet sich „nicht im Himmel“, sondern wurde den Menschen als einzige Quelle ihrer Auslegung und ihres Weltverstehens (= fortlaufende Offenbarung, s.o.) gegeben (vgl. bT BM 59b; Tem 16a).

Als religiöses Ziel des Judentums und Sinn aller Geschichte wird die Errichtung des Reiches Gottes auf Erden begriffen – die Erlangung des Weltfriedens, der auf der wahren Gotteserkenntnis aller Menschen beruht. Die Halacha markiert hierbei nicht das Ziel, sondern einen Weg. Sie verlangt Handeln, die „Selbstheiligung“ durch Gebotserfüllung, und nicht Glauben.



RACHEL MONIKA HERWEG

Die jüdische Mutter.
Das verborgene Matriarchat.



RACHEL MONIKA HERWEG:
Die jüdische Mutter.
Das verborgene Matriarchat.



Wiss. Buchgesellschaft Darmstadt
252 S.
29,90 Euro


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Seit den 50er-Jahren entstand unter jüdischen Literaten in Amerika das Bild der nörgelnd-fordernden, dominanten jüdischen Mutter, die ihre Söhne von sich abhängig zu machen trachtet. Viele jüdische Frauen verletzte diese Kritik tief. Wie konnte dieses Zerrbild jüdischer Mütterlichkeit entstehen? Mit dieser Frage beschäftigt sich R. M. Herweg. In ihrer Analyse verfolgt sie die Geschichte der jüdischen Frau und Mutter von der biblischen Zeit bis in die Gegenwart hinein und zeigt, dass die Klischees Verhaltensmuster enthalten, die einstmals für das Überleben der Gemeinschaft zwingend notwendig waren. Das Ergebnis der Untersuchung ist ein hochinteressantes Werk jüdisch-feministischer Theologie.



Zur historisch begründeten Rolle und Stellung der jüdischen Frau

Nun komme ich auf das „sehr speziell ausgeprägte“ rabbinische Verständnis des Zusammenwirkens von Frauen und Männern zurück:

Auf den Nenner gebracht ist die Bedeutung der Frau für den Mann im traditionellen oder orthodoxen Judentum: „wie Gott“ auf Erden zu sein und das geistige Potential des Menschen im Leben zu erkennen. Letztendlich geht es für Frauen darum, den Männern durch stilles Dienen, Zuarbeiten, Fördern – durch praktisches Ausführen und Bewähren der von ihnen festgelegten Halachot den Weg zur Erlösung zu bereiten. Freilich partizipieren sie dereinst am Erlösungsgeschehen: Durch die Taten ihrer Männer sind sie mit eingebunden.

Symptomatisch erscheinen die endlos reproduzierten frauenpreisenden Äußerungen von jüdischen Männern, Gelehrten – Rabbinern. Sie loben Klugheit, Stärke und Verstand der Frau. Ihre Einsicht sei größer als die des Mannes (bT Nid 45b), sie erleuchte seine Augen und stelle ihn auf seine Füße (bT Jeb 63a), ihr göttliches Feuer „ist stärker als das des Mannes“ (bT Sota 17a) und so weiter und so fort. Das durch die Zeiten bestimmende Ideal der jüdischen Frau spiegelt sich im Frauenlob (Eschet chajil – „Frau von Stärke, Reichtum, Standfestigkeit“) am Schluss des Buches der Sprüche, das bis heute in vielen Familien den Frauen am Schabbatabend zugesungen wird. Nach seiner Heldin wurde die jüdische Ehefrau als „Krone ihres Mannes“ (Spr 12,4) betitelt und in mystischen Kreisen mit der Schechina, der göttlichen Einwohnung (dem weiblichen Aspekt Gottes) verglichen (16. Jh., Safed).

Das Bemerkenswerte an diesen und vielen anderen positiven Äußerungen der Rabbinen ist die Tatsache, dass es sich hier nicht in erster Linie um den „Menschen Frau“ handelt, sondern um den „Menschen Mann“ (vgl. bT Jeb 63a): Wenn der Mann keine Frau hat, ist er kein Mensch; wenn der Mann keine Frau hat, hat er keine Erde – sozusagen keinen Boden unter den Füßen (vgl. Klischee: die Frau als realistische Lebensmeisterin, der Mann als vergeistigter „Träumer“). Das Schicksal des Mannes hängt also von der Frau ab – das Gute und das Böse kommen von der Frau.

Bis heute prägt ein männergemachtes Frauenideal die Realität der Geschlechter. Alle frauenpreisenden Äußerungen lassen sich auf Genesis 21,12 „In allem, was Sara zu dir sagt, höre auf ihre Stimme!“ zurückführen. Dieser biblische Rat erging an den Patriarchen Abraham, der ungefähr vor 4000 Jahren gelebt haben mag. Angesprochen wurde der Mann als handelndes Subjekt und Entscheidungsträger, was der damaligen Gesellschaftsform entsprach. Solange Frauen nicht sagten und sagen: „Lass mich selbst lesen... lass mich alles tun, was auch du/ Mann tust“ und nicht gegen seine Entscheidungen aufbegehren, ist dieser Ratschlag „gut“, nämlich systemstabilisierend, indem er die wahren Machtverhältnisse verschleiert: Im praktischen Leben waren und sind Frauen den Männern an wirtschaftlicher Macht und sozialem Prestige, in juristischen Belangen und religiöser Partizipation nachrangig.

Rabbinisches (orthodoxes) Judentum hat zwar die „Gleichwertigkeit in Andersartigkeit“ von Frauen und Männern vertreten, aber nie deren Gleichberechtigung. Seit seiner Geburtsstunde im Jahre 70 hat es zwei nach Geschlecht getrennte arbeits- und aufgabenteilige Lebenswelten entwickelt: das Lehrhaus als Wirkungsort der Männer und das jüdische Haus mit der Familie in ihm als Domäne der Frauen. Beide sollten einander ergänzen und durch ihr Zusammenwirken das Traditionsgut in die Zukunft hinein sichern: das Lehrhaus von außen durch die Bewahrung und Fortschreibung des theoretischen Wissens, das jüdische Haus von innen durch die Bewährung dieses Wissens im alltäglichen praktischen Tun.

Gemeinhin wird die zunehmende Polarisation von Männer- und Frauenwelt als jüdische Überlebensstrategie in der Diaspora gedeutet. Tatsächlich sicherte sie die Vormachtstellung der Männer, indem deren selbsterklärter Arbeitsbereich – das Studium von Tora, Talmud und rabbinischen Schriften sowie das schriftliche Tradieren von Halacha (jüdisches Recht) – Vorrang vor allen anderen Arbeiten hat. Die Rolle jüdischer Frauen in orthodoxen Gemeinden ist es bis heute, Männer in ihrem Studium und ihrer Geistigkeit zu fördern. Jahrhunderte hindurch haben somit weibliche Strategien – Selbstlosigkeit, Kooperation, Gegenseitigkeit – der männlichen Dominanz innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zugearbeitet. Die amerikanische Feministin Aviva Cantor hat diese Zuarbeit jüdischer Frauen als spezifisch jüdische Variante des Patriarchats („Reformpatriarchat“) bezeichnet.

Indem jüdische Männer jahrhundertelang den Frauen Lob gesungen, ihnen dadurch Ehre gegeben und immer wieder beteuert haben, dass die Geschicke Israels von ihnen abhingen und sie die wahren Drahtzieherinnen seien, haben sie sie bei der Stange gehalten und damit implizit für ihre Belange funktionalisiert.

Männliche Gelehrte „befreiten“ Frauen von der religiösen Pflicht, zeitgebundene positive Gebote zu befolgen. Später diente ihnen diese Befreiung als Legitimation, Frauen von der aktiven Teilnahme am Gottesdienst auszuschließen und sie der Verpflichtung zum Torastudium zu entheben. Indem Frauen der unmittelbare Umgang mit der Tora in Lehrhaus und Synagoge versagt wurde, wurde zugleich ihre direkte Verbindung zum Göttlichen – das sich dem jüdischen Menschen durch die Tora vermittelt – im institutionell-religiösen Bereich unterbrochen. Zwischen Gott und Frau trat der Mann; an die Stelle der unmittelbaren weiblichen Gotteserfahrung trat die Vermittlung der männlichen Erfahrung Gottes, die fortan die jüdische Tradition – und mit ihr die Autobiographie jüdischen Lebens, das Gebetbuch, bestimmte.


Reformbewegung und jüdischer Feminismus

Erst im Zuge der Haskala (jüdische Aufklärung) veränderte sich das traditionelle Spiel der Geschlechter: Ende des 18. Jahrhunderts entstand in Deutschland die jüdische Reformbewegung. Aus ihr heraus wurden Vorschläge zur Emanzipation der jüdischen Frau formuliert und in der Breslauer Rabbinerkonferenz von 1846 beschlossen. Sie beinhalteten u.a., dass Frauen alle religiösen Gebote zu beachten haben, auch Mädchen zum Lernen von Tora und Talmud verpflichtet sind und dass eine Frau nicht vom Vater oder Ehemann von ihren Gelübden losgesprochen werden darf. Frauen traten zunehmend als aktiv und selbstverantwortlich Handelnde auf den Plan. Der Umbruch, nämlich die weibliche Rückkehr zum unmittelbaren Umgang mit der Tora, war offensichtlich, als Regina Jonas 1935 als weltweit erste Frau in Deutschland die Ordination zur Rabbinerin erhielt. Sie wurde in Auschwitz ermordet – und danach für ein halbes Jahrhundert vergessen. Ihre Wiederentdeckung fiel in die Vorwehen des Amtsantritts der ersten Rabbinerin in Deutschland nach der Schoa, Bea Wyler (1995). Bis dahin war es ein weiter Weg – wenigstens in Deutschland.

Während das Reformjudentum in Deutschland durch den Nationalsozialismus vollständig ausgelöscht wurde, gelangte es in den USA seit Ende des 19. Jahrhunderts zu immer größerer Blüte. Jüdische Frauen in den USA haben sich aktiv mit ihrem Erbe auseinandergesetzt, etablierten eine jüdisch-feministische Geschichtsschreibung und entwickelten neue Liturgien. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts begannen sie massiv und öffentlich für ihre gleichen Rechte innerhalb der Jüdischen Gemeinschaft zu kämpfen. Sie forderten die Veränderung oder Neuschreibung von Halacha, indem sie halachische Entscheidungen historisch rekonstruierten, als falsch oder einseitig entlarvten und neue Interpretationen hinzufügten. Damit vollzogen sie nachhaltig den Eintritt in die schriftliche Tradierung jüdischen Wissens und damit in den direkten halachischen Entscheidungsprozess.

Auf diese erste bedeutende Phase des jüdischen Feminismus folgte seit Mitte der 1970er Jahre eine stark in die Praxis wirkende Auseinandersetzung mit dem traditionellen Verständnis der Geschlechterrollen. Jüdische Frauen untersuchten die Funktion männlicher Ausdrucksformen und Sprache, erforschten weibliche (Gottes)Bilder in verschiedenen Richtungen des Judentums und rangen mit der Schaffung neuer Gebete und Rituale. Sie setzten sich auseinander mit dem Mythos der jüdischen Familie und der Mutter in ihr und kreierten neue Vorbilder, wie das der Gelehrten und Rabbinerin.

Der grösste Teil der jüdisch-feministischen Diskussion über die Rede von Gott und die Gottesbilder sowie das Experimentieren damit, kreiste um die Frage des Geschlechts/Gender Gottes. Jüdische Feministinnen kritisierten das Vorherrschen männlicher Pronomen und Bilder in der Hebräischen Bibel, rabbinischen Texten und im traditionellen Gebetbuch und suchten nach Alternativen.

Erstmals formulierte Rita Gross in ihrem Artikel „Female God Language in a Jewish Context“ (1979) eine breitere theoretische Kritik an der männlichen Sprache und entlarvte das Fehlen weiblicher Bilder und Symbole für Gott als den grundlegendsten Ausdruck für die Abwertung der jüdischen Frauen. Gottesbilder seien „nur“ Bilder und keine Wesensbeschreibungen, argumentierte sie, und wenn Jüdinnen und Juden nicht wirklich davon ausgingen, dass Gott männlich sei, wenn sie männliche Pronomen und Bilder verwendeten, dann sollten sie auch keinerlei Einwände gegen die Verwendung weiblicher Bilder haben (170f). Alles, was Jüdinnen und Juden je über das vertraute „Der Heilige, gelobt sei ER“ gesagt haben, könne und müsse demnach auch über „Gott-SIE“ gesagt werden (173).

Die Analyse von Rita Gross legte den Grundstein für spätere jüdisch-feministische Arbeiten zu diesem Thema. Während der 1980er und bis in die 1990er Jahre hinein entwickelten und diskutierten jüdische Feministinnen wie Judith Plaskow, Marcia Falk, Lynn Gottlieb, Ellen Umansky und Rachel Adler Fragen, die Rita Gross aufgeworfen hatte. Sie untersuchten die Rolle der männlichen Sprache in einem grösseren patriarchalen System, arbeiteten an der Frage, wie männliche Bilder Frauen herabsetzen, sie erforschten die weiblichen Bilder in verschiedenen Richtungen des Judentums und machten zahlreiche Vorschläge für einen neuen Sprachgebrauch.

Dabei griffen sie auf körperlich-seelische und soziale Erfahrungen von Frauen zurück. In Neufassungen traditioneller Gebete wurde Gott zur Mutter, Herrscherin, Schöpferin und Ernährerin, die Leben zur Welt bringt und mit ihrem Schoß die Erde beschützt. – So in dem Gebetbuch „Siddur Nashim: A Sabbath Prayer Book for Women“ (Ein Sabbat-Gebetbuch für Frauen; Privatdruck), dass Maggie Wenig und Naomi Janowitz ungefähr zur selben Zeit als der Artikel von Rita Gross erschien, geschaffen haben.

Da sämtliche jüdischen Rituale Segnungen enthalten, die traditionell mit einer männlichen Formel eingeleitet werden – Gepriesen seist Du [männlich], Herr, unser Gott, König der Welt – stehen Frauen vor der Entscheidung, wie und in welchem Umfang sie diese traditionelle Sprache verändern wollen. Einige neuere Liturgien ersetzen im Hebräischen einfach den männlichen „Gott-ER“ durch das weibliche „Gott-SIE“. Andere verwenden weibliche Gottesvorstellungen und -namen aus der jüdisch-mystischen Tradition, wie Schechina – die göttliche Einwohnung in der Welt, die die reale Schöpfung aus sich hervorbringt und Bina – die Einsicht und geistige Urquelle des Lebens oder wählen und kreieren neue weibliche hebräische Ausdrücke, wie Rachmana – Mutter des Schoßes oder ruach ha-olam – Geistkraft der Welt.
Dem neuen feministischen Gebetbuch von Marcia Falk („The Book of Blessings: New Jewish Prayers for Daily Life, the Sabbath, and the New Moon Festival“, 1996), das Gebete in englischer und hebräischer Sprache enthält, liegt die Vorstellung von einer Göttlichkeit zugrunde, die in jedem kleinsten Winkel der Erfahrung gegenwärtig ist. Falk vermeidet (anders als viele andere Feministinnen) eine geschlechtliche Bildsprache, indem sie das Göttliche „überall dort findet, wo unser Herz und unser Geist, unser Blut und unsere Seele berührt werden“. Manchmal benennt Falk das Göttliche direkt – z.B. als Springbrunnen, Strom oder Quelle des Lebens, manchmal erinnert sie schlicht an die Gegenwart des Heiligen in der Schöpfung. So lautet die Übersetzung ihres Schema (Höre Israel), der zentralen Glaubensaussage des Judentums: „Höre Israel – das Göttliche ist überall in Fülle und wohnt in allen Dingen; das Viele ist Eins!“ (1996, S. 24).

In Deutschland war es vor allem Pnina Nave Levinson, die jüdische Frauen ermutigt hat, nach ihren eigenen Traditionen zu suchen, herrschende Rituale und Liturgien zu hinterfragen, Altes wieder - und Neues zu entdecken.

In Frankfurt am Main gründete sich im Frühjahr 1994 die egalitäre Gemeinschaft Kehilah Chadaschah. Sie markiert den Beginn einer jüdischen feministisch-liturgischen Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Seit 1995 ist in Oldenburg und Braunschweig eine Rabbinerin tätig; bis heute sind in Deutschland zwei weitere dazu gekommen. Seit Ende der 90er Jahre amtieren in der Jüdischen Gemeinde Berlin zwei Kantorinnen, unlängst ist eine dritte hinzu gekommen. 1998 wurde in Berlin die Initiative „Bet Debora“ ([Lehr]Haus Deboras) ins Leben gerufen. Bet Debora setzt sich v.a. ein für die Förderung eines jüdisch-feministischen Bewusstseins und jüdischer Frauenbildung und -forschung auf europäischer Ebene, für die Integration von Erfahrungen jüdischer Frauen aus West- und Osteuropa in die jüdische Tradition sowie des jüdisch-feministischen Diskurses in die Gesamtgesellschaft. 1999, 2001 und 2003 hat Bet Debora europäische Rabbinerinnen, Kantorinnen, jüdische Aktivistinnen und Gelehrte nach Berlin eingeladen, um über aktuelle Themen zu beraten.

In der Gegenwart benennen feministische Jüdinnen Regeln der gleichberechtigten Partizipation in allen Lebens- und Wirkungsbereichen von Frauen und Männern. Sie stellen die Frage nach Autorität und Demokratie und schaffen alternative Institutionen. Sie haben damit die vorausgegangene Rechtfertigungsposition der gleichen Teilhabe jüdischer Frauen an männlichen Privilegien überwunden.

Die Tragik dieser kurz skizzierten Entwicklung besteht nun darin, dass alle jüdischen Frauen außerhalb traditionell praktizierender Gemeinden Gefahr laufen, als Zerstörerinnen des Judentums betrachtet zu werden. Ihre gleichberechtigte und/ oder gleichartige Beteiligung am religiösen Gemeindeleben und an Gottesdiensten in der Synagoge mache die Männer impotent! Dieser Vorwurf der Ent-Mannung wurde seit den 1970er Jahren in den USA laut und lauter. Er wurzelt im negativen Stereotyp der „Jiddischen Mamme“, das ebenso ein Reflex auf veränderte Geschlechterverhältnisse ist – nämlich eine Form der männlichen Abwehr gegen selbstbestimmt handelnde Frauen – und das auch in Deutschland mittlerweile populär ist (z.B. durch die Romane Rafael Seligmanns).


Erkenntnis und Schlussfolgerung

Derzeit bringen jüdische Frauen ihre religiösen und spirituellen Bedürfnisse vehement an die Oberfläche. Mut allein reicht jedoch nicht, um weibliche Gotteserfahrung in der jüdischen Tradition sichtbar zu machen. Zentral erscheint mir neben florierender Publikationstätigkeit jüdischer Autorinnen der generationenübergreifende Diskurs unter Frauen zu sein, unser gemeinsames Lernen und Praktizieren, wie es für mich auch in einem neuen Bat Mitzwa-Ritual zum Ausdruck kommt: Frauen – Verwandte, Bekannte, Freundinnen – versammeln sich um das Bat-Mitzwa-Mädchen, das einen eigenen, noch nicht ganz fertiggestellten Tallit (Gebetsschal) trägt: Die Knoten, die für die Gebote des Judentums stehen, müssen noch in die Schaufäden an seinen Enden eingebunden werden. Jede anwesende Frau erzählt dem Mädchen eine persönliche Geschichte, eine wichtige Erfahrung aus ihrem Leben, „etwas“ aus ihrer Tradition – eine weibliche Gotteserfahrung. Dabei kann es sich auch um einen Bibel- oder Gebetstext, einen Midrasch (Auslegung) oder ein Lied handeln. Wichtig ist der persönliche Bezug, das, was nicht mehr in Vergessenheit geraten soll. Jede Frau spricht die Bat-Mitzwa direkt an, setzt sich neben sie, während die anderen in einem äußeren Kreis bleiben, und fügt während ihres Erzählens einen weiteren Knoten in die Schaufäden ein. Jeder einzelne Knoten steht so symbolisch für eine weibliche Überlieferung. Auf diesem neuen Weg ermächtigen Frauen die Bat-Mitzwa, ihre eigenen Gotteserfahrungen aktiv im Rahmen der jüdischen Tradition weiterzugestalten.

Die Weitergestaltung jüdischer Tradition durch Frauen geschieht in ein gewisses Vakuum hinein, denn beide, Männer wie Frauen haben in unserer modernen Welt durch Assimilation, durch technologischen und medizinischen Fortschritt ihre traditionellen Rollen verloren. Haben wir Mut, die Leere zu empfinden und verlassen wir uns auf unsere Intuition, sie auszufüllen!





Die Autorin

RACHEL MONIKA HERWEG

Dr., Judaistin, Pädagogin, systemische Familientherapeutin und Supervisorin, Berlin, Mitbegründerin der jüdisch-feministischen Fraueninitiative Bet Debora, Vorstandsmitglied der Interreligiösen Konferenz Europäischer Theologinnen (IKETH), Forschungen u. a. zur Rolle der Frau im Judentum und zum jüdisch-christlichen Dialog.

Rachel Herweg steht auf Anfrage auch für Vorträge und Seminare zur Verfügung.

Kontaktaufnahme über:
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Frauen im Judentum

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