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Online-Extra Nr. 136

Keine Religion fällt vom Himmel

Eine historisch-kritische Annäherung an die Anfänge des Islams1

ANDREAS GOETZE




Der Ausgangspunkt könnte schwieriger nicht sein: Die in der einschlägigen Literatur erzählte Entstehung des Islam und seiner Ausbreitung im 7. und 8. Jahrhundert stellt sich als ein relativ geschlossenes Bild dar. Dabei unterscheidet sich die islamische Selbstdarstellung kaum von den Darstellungen in der übrigen Welt. In allen Schulbüchern, in Religions- und Geschichtsbüchern, in Lexika und Nachschlagewerken wird die traditionelle islamische Geschichtsdarstellung übernommen und teilweise bis ins Detail von Geburtsdaten und Jahresangaben wiedergegeben. Danach gehört es infolge der Darstellung in der westlichen Islamwissenschaft wie auch der islamischen Gelehrten zum Teil der Allgemeinbildung, anzunehmen, dass die Anfänge des Islam genau zu datieren seien. Der Prophet Muhammad soll von 570 bis 632 in Mekka und Medina gelebt und die Offenbarungen Allâhs verkündigt haben, die von seinen Zuhörern aufgezeichnet worden seien. Knapp zwanzig Jahre nach seinem Tod habe der Qur’ân als Grundlage des Islam als Religion in seiner endgültigen Form vorgelegen. In Kurzform wird im Folgenden die gängige Geschichtsschreibung aufgezeichnet.


I. Das verbreitete Verständnis der islamischen Geschichte

Der Islam ist eine dynamisch wachsende Weltreligion mit mehr als einer Milliarde Mitgliedern. Er sieht sich in seinem Selbstverständnis begründet durch die Offenbarungen, die der von Gott gesandte Prophet Muhammad erhalten habe. Nach islamischem Selbstverständnis liegen die Anfänge des Islam offen zu Tage: Muhammad, der von 570-632 auf der arabischen Halbinsel lebte, gehörte der islamischen Tradition nach der angesehenen Sippe der Hašemiten aus dem Stamm der Qurayš an. Sein Vater ‛Abdullâh starb noch vor der Geburt seines Sohnes. Als Muhammad sechs Jahre alt war, starb auch seine Mutter Āmina bint Wahb und er wurde durch seinen Onkel Abū Talib erzogen, der so verhinderte, dass der Junge in die Sklaverei kam. Im Alter von 25 Jahren lernte Muhammad die wohlhabende Kaufmannswitwe Hadīğa kennen, die ihn als Karawanenführer anheuerte. Seine Heirat mit Hadīğa ebnete Muhammad den Weg in die besseren Kreise von Mekka und er gewann Zugang zum religiös-wirtschaftlichen System der Stadt2. Das oberflächliche Treiben der Mekkaner sowie das unsoziale Leben waren ihm zuwider. Der Wendepunkt in Muhammads Leben trat ca. 610 ein, als er sich als Vierzigjähriger zu einsamen Meditationsübungen am Berge Hirā’ in einer Höhle aufhielt3. Als er dort in religiöse Betrachtungen versunken war, hatte er eine Begegnung mit einem himmlischen Boten und erhielt die ersten Offenbarungen. Bald darauf begann er, seine mekkanischen Mitbürger zu ermahnen und rief zu einem besseren Lebenswandel auf angesichts des nahe bevorstehenden Gottesgerichtes4. Er musste aus Mekka fliehen und zog nach Yatrib, dem späteren Medina (die islamische Tradition leitet „Medina“ ab vom Arabischen „madīnatu ’n-nabīyi = Stadt des Propheten). Das Jahr 622, das Jahr der „Hiğra“ (arabisch = Auswanderung), wurde zum Beginn der islamischen Zeitrechnung5.

Die herkömmliche islamische Tradition führt aus, dass nach Muhammads Tod eine kriegerische und religiöse Erfolgsgeschichte unter den vier „rechtgeleiteten Kalifen“ (632-661) begann. Dann bildeten zunächst die Omayyadenherrscher mit ihrer Hauptstadt Damaskus (661-750) und schließlich im 8. Jahrhundert die Abbasiden (ab 749) mit ihrer Hauptstadt Bagdad islamische Großreiche. Durch ihre Eroberungen überwanden die muslimischen Krieger von Mekka aus die beiden zuvor im Großraum Syrien herrschenden Mächte, das byzantinische Reich im Westen und das Perserreich (die Sassaniden) im Osten. In wenigen Jahrzehnten dehnten sie ihre Herrschaft über den Vorderen Orient hinaus bis an die Grenzen Indiens aus, eroberten Ägypten und Nordafrika und drangen bis nach Spanien vor6.

Nach traditioneller islamischer Geschichtsschreibung und in der Vorstellung der Allgemeinheit hat Muhammad die Offenbarungen Allâhs nur mündlich verkündigt. Diese Offenbarungen wurden verlässlich nur in mündlicher Tradition weitergegeben, höchstens teilweise schriftlich in einer Konsonantenschrift ohne Vokale als eine Art „Gedächtnisstütze“ festgehalten.7 Dieses Material ist nach muslimischer Überlieferung unter dem dritten Kalifen ‛Utmân8 zum heutigen Qur’ân zusammengestellt worden. Dieser Qur’ân ist nach islamischem Selbstverständnis weder erschaffen noch gar verfasst, sondern dem Propheten Muhammad von Gottes Boten, dem Engel Gabriel, direkt in der Höhle am Berg Hirā’ offenbart worden.


II. Zur Entwicklung der Islam – Die Forschung seit dem 19. Jahrhundert

Die Wahrheit der Geschichte über die unbesiegbaren arabischen Armeen, die von Mekka aus nicht nur die arabische Halbinsel, sondern auch den ganzen Mittleren Osten eroberten, wurde nie angezweifelt, obwohl allgemein bekannt ist, dass die schriftliche Berichterstattung darüber erst Jahrhunderte später verfasst wurde. Aus der Anfangszeit gibt es keine schriftlichen Aufzeichnungen. Das ist schon deshalb merkwürdig, da es in dieser Region eine hoch stehende Schriftkultur gegeben hat und zum Zweck der Machtsicherung Kriegsgewinner ihren errungenen Sieg normalerweise recht schnell dokumentieren ließen. Über zwei Jahrhunderte aber mussten sich muslimische Historiker nach islamischer Tradition mit mündlichen Überlieferungen begnügen. Es ist möglich und hat einige Plausibilität für sich, dass eine so spät aufgeschriebene Geschichte dann mit den tatsächlichen Ereignissen Jahrhunderte vorher nicht mehr viel gemeinsam hat. Man muss sich zumindest mit diesen Gedanken auseinandersetzen, dass es so sei könnte. Wenigstens Zufügungen, Glättungen und Vergröberungen der Darstellung sind zu erwarten. Es ist dabei in die eigenen Überlegungen mit einzubeziehen, dass sogar eine Fassung der Geschichte entstanden sein könnte, die vor allem die religiösen und politischen Verhältnisse 200 Jahre später widerspiegelt und legitimiert, indem sie die Geschichte so erzählt, dass es für die aktuellen Herrscher 200 Jahre später „passt“. Zumindest wäre es angebracht, neben der Darstellung aus islamischer Sicht nichtislamische Quellen (Inschriften, Münzen, schriftliche Zeugnisse, archäologische Funde) sowie den kulturellen, religiösen, politischen und sprachgeschichtlichen Kontext unabhängig der traditionellen islamischen Geschichtsschreibung zu untersuchen.

Orthodoxe Gläubige wollen davon nichts wissen. Für viele muslimische Gelehrte stellen die westlichen wissenschaftlichen Kriterien vielfach schon eine Provokation dar. Für sie ist ein historisch-kritischer Zugang nur ein Versuch, den Islam als Religion abzuwerten oder gar zu zerstören. Eine textkritische Beschäftigung mit den geschichtlichen Quellen und mit ihrem heiligen Buch, dem Qur’ân, wird grundsätzlich abgelehnt. Es sei denn, man hält sich an die vom Propheten selbst oder seinen Nachfolgern überlieferten Belehrungen. Der Qur’ân sei nicht dazu da, „um an den göttlichen Text spekulative Tüfteleien anzuknüpfen“9. Da gelte vielmehr das Wort des Qur’ân: „Und wenn du solche siehst, die über unsere Zeichen grübeln, so wende dich von ihnen ab“ (Sure 6, 67).

Die Islamwissenschaft als Teilbereich der Orientalistik10 befindet sich daher heute in keiner einfachen Situation. Sie muss sich wie moderne muslimische Gelehrte orientieren zwischen der Freiheit der Wissenschaft und Forschung und dem gesellschaftspolitischen und religiösen Druck, am vorgegebenen Konsens und den ungeschriebenen Gesetzen festzuhalten (keine Infragestellung der Offenbarung an Muhammad, des Qur’ân und der Darstellung der arabischen Geschichte).

Ein Blick in die Geschichte der deutschsprachigen Islam-Forschung macht deutlich, dass es diese Zurückhaltung nicht immer gab. Mitte des 19. Jahrhunderts befindet sich das Osmanische Reich im Verfall. Immer mehr Teile des vormals stolzen Reiches wurden von anderen Staaten erobert. 1830 erkämpften die Griechen ihre Freiheit, im selben Jahr fiel Algerien an Frankreich, 1881 auch Tunesien, 1877 wurden die Türken vom Balkan verdrängt und die Russen eroberten die Krim sowie das Schwarze Meer. Das Fortbestehen des osmanischen Reiches (des „kranken Mannes am Bosporus“, wie es hieß) war zunehmend von den europäischen Mächten abhängig. Zudem schwächten innerislamische Konflikte das Reich: So gelangten die Wahabiten, eine fundamentalistische Gruppierung innerhalb des Islam, auf der arabischen Halbinsel an die Macht und gründete später das „Königreich Saudi-Arabien“.

Mit der Aufmerksamkeit Europas für diese Region wurde der Islam im 19. Jahrhundert unter europäischen, besonders deutschen Gelehrten Thema. Orientalische Studien an den europäischen Universitäten hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt vor allem mit der Erforschung der arabischen Sprache und Literatur, also mit Philologie, befasst11. Mitte des 18. Jahrhunderts erhielt die historische Methode Einzug in die orientalische Philologie, so dass sich einige Forscher neben der Literatursichtung, der Textsammlung und -rekonstruktion auch historischen Themen zuwandten. Aufgrund des geschichtsbezogenen Denkens wurde der Qur’ân nun gründlich auf seine Quellen hin untersucht12. Insbesondere Gelehrte jüdischer Herkunft verbanden die aufkommende historisch-kritische Forschung mit der ihnen aus der jüdisch-rabbinischen Tradition vertrauten Auslegungsweise religiöser Texte.

Der spätere Wortführer des deutschen Reformjudentums, Abraham Geiger (1818-1874), gilt als Begründer der modernen, die historische Fragestellungen aufnehmenden Islamwissenschaft. Er hatte als junger Mann neben Hebräisch, Griechisch und Latein auch die Sprachen gelernt, die dem Qur’ân zugrunde liegen: Syro-Aramäisch und Arabisch. 1833 veröffentlichte Geiger ein Werk mit dem Titel: „Was hat Muhammad aus dem Judenthume aufgenommen?“, in dem er mit Hilfe der historischen Quellenkritik den Anteil jüdischer Texte am Qur’ân nachwies. Indem Geiger den Qur’ântext dem biblischen vergleichend gegenüberstellte, legte er zugleich erste Grundlagen einer vergleichenden Religionswissenschaft13. Seine ungeheure Kenntnis der jüdischen Schriften sowie der arabischen Sprache schuf ein wegweisendes Buch zu einem textkritischen Verständnis des Qur’ân.

Noch wichtiger für den historischen Zugang innerhalb der Islamwissenschaft waren die Veröffentlichungen von Gustav Weil. 1843 erschien seine Muhammad-Biographie, ein Jahr später seine „Historisch-kritische Einleitung in den Koran“14. Mit seinem dreibändigen Werk über die „Geschichte der Chalifen“ wurde zum ersten Mal auch der historische politische Kontext des Orients in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Ausführungen gerückt.

So entwickelte sich in dieser Zeit eine kritische Islam-Forschung, die sich mit dem Qur’ân, mit dem Leben Muhammads und mit der Mentalität seiner Anhänger auseinandersetzte. Damals durfte man noch den Islam und seine Quellen vorbehaltlos untersuchen, ohne beschuldigt zu werden, eine fremde „westliche“ Methode (die historisch-kritische Methode) anzuwenden. Besonders die Möglichkeit, in den Nahen und Mittleren Osten zu reisen, eröffnete neue Erkenntnisse und Einblicke in Strukturen, Mentalitäten, in Sprachen und Kulturen der Region. Völkerkundler, Anthropologen, Sprachwissenschaftler näherten sich dem Islam als Religion und Kultur auf eine ganz neue Weise.

Diese Möglichkeit des Reisens nutzte der 1850 geborene Ignaz Goldziher, der ebenfalls zu den Begründern der modernen Islamwissenschaft gezählt wird. Seine Forschungsreisen führten ihn nach Damaskus, Jerusalem und Kairo. Als Kind einer jüdischen religiösen Familie studierte er Thora und Talmud, bevor er dann an die europäischen Universitäten kam. Mit seinen „Muhammedanischen Studien" bahnte er den weiteren Forschungen von den Sprachen und Kulturen des Orients ihren Weg. Goldziher untersuchte mit den Methoden der Bibelwissenschaft die islamischen Quellen, d. h. er untersuchte die Text- und Redaktionsgeschichte wie die Form der Texte, die Begriffs- und Motivgeschichte und auch den sozialen, kulturellen und politischen Kontext der Gesellschaft, in der die Texte entstanden sein sollen.

Er war auch der Erste, der darauf aufmerksam machte, dass der Qur’ântext, auf den sich die islamische Auslegung bezog, alles andere als gesichert war. So stellte Ignaz Goldziher in einem Vortrag im Jahr 1900 an der Sorbonne, der Universität in Paris, aufgrund seiner Forschungen fest: „Je weiter wir in der kritischen Prüfung der frühen Dokumente des Islam vorankommen, (…) desto mehr können wir uns davon überzeugen, dass die muslimische Tradition (Hadît), die nach dem Koran unsere zeitlich älteste Informationsquelle darstellt, nur in geringem Maße uns in die frühe Kindheit des Islam zurückführt“15.

Neben Ignaz Goldziher war es vor allem sein Freund Theodor Nöldeke (1836-1930), der durch seine Forschungen zu einem der bedeutendsten deutschen Orientalisten wurde. Wie seine Vorläufer Geiger und Weil lieferte Nöldeke eine „Geschichte des Qorâns“ (1860). Diese Arbeit wurde zum Grundlagenbuch der Islam-Forschung und gilt bis heute als ein anerkanntes Standardwerk. Ihm kam es nicht mehr darauf an, nur philologisch zu arbeiten, sondern er verstand sich bewusst als Historiker16. Damit kam er dem allgemeinen Interesse an Geschichte und historischen Abläufen entgegen: Die Frühgeschichte des Islam war in dieser Zeit nicht nur auf wenige Spezialisten beschränkt, sondern „entsprach vielmehr einem allgemeinen akademischen Bedürfnis nach Aufklärung über den Islam“17. Aufgrund der besonderen Anerkennung, die Nöldeke zuteil wurde, wurde aber auch seine These über die Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit der arabischen Tradition als unumstößliche Prämisse aufgenommen. Diese Prämisse, dass der Qur’ântext im großen und ganzen von Muhammad selbst stamme, prägt bis heute die westliche Islamwissenschaft sowie die Allgemeinbildung durch Lexika und Nachschlagewerke und hat auch die im deutschsprachigen Raum weit verbreitete Qur’ânübersetzung von Rudi Paret stark beeinflusst.

Weitere bedeutende Historiker unter den deutschen Orientalisten waren zum einen Julius Wellhausen, der sich auch um die alttestamentlichen Wissenschaften verdient gemacht hat. Auch er sah in der historisch-kriti-schen Methode die Möglichkeit, den Ursprüngen der Religionen auf die Spur zu kommen. Zum anderen Aloys Sprenger (1813-1983): Er nutzte wie Goldziher ebenfalls die historisch-kritische Methode, um das Leben Muhammads darzustellen. Sein dreibändiges Werk „Das Leben und die Lehre Mohammad nach bisher größtenteils unbenutzten Quellen“ erhielt noch im 19. Jahrhundert zusammen mit Nöldekes „Geschichte des Qorâns“ den renommierten Preis der französischen Akademie der Wissenschaften, so bedeutend waren ihre Arbeiten.

Die herausragende Stellung der deutschsprachigen Forschung führte dazu, dass Deutsch neben Arabisch zeitweilig zur zweitwichtigsten Sprache der Orientalistik wurde. Wissenschaftliches Arbeiten zum Thema Islam in deutscher Sprache wurde noch durch den Umstand unterstützt, dass das Deutsche Kaiserreich keine arabischen Kolonien besaß, so dass das Verhältnis zu den Muslimen in jener Zeit vergleichsweise unbelastet war.

Andere Forscher gingen den von Geiger, Weil, Nöldeke, Goldziher und Sprenger u. a. eingeschlagenen Weg weiter. Heinrich Speyer (1897-1935) legte in seinem religionswissenschaftlichen Vergleich eindrucksvoll dar, wie viele biblische Erzählungen im Qur’ân aufzufinden sind, nicht nur aus dem Kanon des Alten und Neuen Testamentes, sondern auch aus apokryphen, vom rabbinischen Judentum wie den christlichen Kirchen nicht anerkannten Schriften.

Das gemeinsame syrische Erbe erkannten einige Forscher insbesondere an den sprachlichen Verwandtschaften bzw. Einflüssen. Alphons Mingana (1881-1937), Christ ostsyrischer Prägung, untersuchte den syrischen Einfluss auf den Sprachstil des Qur’ân und konnte zahlreiche syro-aramäi-schen Hintergründe nachzuweisen. Er ging beim fremdsprachlichen Anteil im Qur’ân von einem syro-aramäischen Anteil von nahezu 70% aus. Der schwedische, deutsch schreibende Orientalist und Religionswissenschaftler Tor Andrae (1885-1947), ehemals Dozent in Uppsala, war es schließlich, der in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine erste systematische Darstellung des Einflusses des syrischen Christentums auf den Islam in Bezug auf Sprache und Theologie schrieb18. Arthur Jeffrey (1893-1959) legte ergänzend ein Buch vor, in dem er alle fremdsprachlichen Worte und Begriffe veröffentlichte, die nicht arabischen Ursprungs sind.

Wie in der Bibelwissenschaft wurde damit auch die Orientalistik und insbesondere die Islamwissenschaft mit den historischen Fragestellungen vertraut. Dennoch war den meisten Forschern jener Zeit die Aufnahme des kulturellen, politischen und sozialen Kontextes in die Überlegungen zur Geschichte des Qur’ân zu modern19. Die Dominanz der Philologie blieb wie bisher bestehen. Nach Darstellung von Michael Marx, einem der wissenschaftlichen Mitarbeiter am Seminar für Semitistik und Arabistik an der FU Berlin und zurzeit am Langzeitprojekt einer kritischen Qur’ânausgabe beteiligt, kam es so zu einer „tragischen Entwicklung“. Arabisten, Judaisten, Aramaisten, Theologen und Sprachwissenschaftler hätten sich zwar mit dem Zeitraum zwischen dem 5. und dem 9. Jahrhundert beschäftigt, aber jeder verfolge nur den jeweiligen Ausschnitt seines Faches im Nahen Osten. Marx stellt im Rückblick auf die Forschungsgeschichte im 20. Jahrhundert fest: „Fragen zur Geschichte der verschiedenen Lesarten des Koran und zur Textüberlieferung in den Manuskripten, die von Nöldeke und seinen Schülern systematisch angegangen worden waren, wurden nicht weitergeführt. Die Problematik fremdsprachlicher Einflüsse auf den Koran und die Bedeutung der Interaktion zwischen Juden, Christen und möglicherweise judenchristlichen Gruppen für die Anfänge der islamischen Religion wurden nicht weiterverfolgt“20.

Die islamische Überlieferung mit ihrer Darstellung der Geschichte des Orients von der von Mekka ausgehenden islamischen Eroberung wurde über Jahrzehnte in „scholastischer Manier“ weitererzählt, „als ob sie nicht mehr hinterfragbar wäre“. D. h.: Durch diese Überordnung der göttlichen Offenbarung vor der geschichtlich denkenden Vernunft und damit dem historisch-kritischen Ansatz nahmen viele Gelehrte den Qur’ân so, wie er jetzt ist und sahen „ihre einzige Aufgabe darin, seinen Inhalt systematisch zu erklären und zu vertiefen“21.

In der westlichen Islamwissenschaft und insbesondere innerhalb der Qur’ânforschung gerieten Minganas und Tor Andraes Hinweise auf den syro-aramäischen Sprachstil und den syro-aramäischen Einfluss auf den Qur’ân ebenso in Vergessenheit wie die religionswissenschaftlichen Ansätze des 19. Jahrhunderts. Über viele Jahrzehnte finden sich fast keine Publikationen, die den im 19. Jahrhundert begonnenen historisch-kritischen Ansatz weiterführten22. Bis heute ist die Anzahl der kritischen Islamwissenschaftler, die ihre Anfragen an das verbreitete relativ geschlossene Bild über den Islam haben, gering.

Dass der Qur’ân aus mehreren Quellen zusammengesetzt sein und ursprünglich vor allem aus dem christlichen Milieu stammen könnte, griff als These erst wieder Günter Lüling 1974 in seinem provokativen Buch „Über den Ur-Qur’ân – Ansätze zur Rekonstruktion vorislamischer christlicher Strophenlieder“ auf. Darin stellte Lüling heraus, dass Teile des Qur’ân auf seiner ersten Entwicklungsstufe ein Buch mit Hymnen aus der christlichen Gemeinde von Mekka gewesen seien. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die auch unter islamischen Gelehrten bekannte Tatsache, dass viele Qur’ânstellen auch für Muslime schlicht unverständlich sind. So hat beispielsweise der andalusische Qur’ânforscher Qurtubî (gest. 1273) für die Sure 108 eine Liste von siebzehn verschiedenen Interpretationen zusammengestellt, die es zu seiner Zeit allein für das arabische Wort „al-kawtar“ gegeben hat23. Aufgrund seines radikalen Ansatzes, die Islamwissenschaft gänzlich in die christliche Theologie zu überführen, wurden aber seine durchaus bemerkenswerten Forschungsergebnisse von der westlichen Islamwissenschaft nicht weiter beachtet24.

Nicht nur auf sprachlichem, sondern auch auf historischem Gebiet wurde weiter geforscht. Die dänische Islamwissenschaftlerin Patricia Crone veröffentlichte 1977 zusammen mit Michael Cook das kontroverse Diskussionen auslösende Buch „Hagarism“, in dem sie die traditionelle Darstellung der frühen Islamgeschichte kritisch beleuchtete. Sie untersuchte dabei ausschließlich die zeitgenössischen nichtislamischen, also die armenischen, griechischen, aramäischen und syrischen Quellen. Danach sei die traditionell erzählte „islamische Eroberung“ zunächst nur ein Stammesaufstand gegen die herrschenden Großmächte jener Zeit gewesen, der seinen Ursprung nicht auf der arabischen Halbinsel gehabt habe, sondern im Raum des heutigen Jordanien. Erst im 9. Jahrhundert seien die Anfangsgeschehnisse in die ethnische Heimat der Araber, auf die arabische Halbinsel, verlegt worden. Weitere Untersuchungen insbesondere zu Mekka25  lassen ihrer Ansicht nach erkennen, dass nichtislamische Quellen nichts von Mekka als einem wichtigen Handelszentrum wissen. Und weder Mekka noch die Kaaba, weder Handel noch Handelsreisen werden im Qur’ân genannt, wohl aber in den Kommentaren islamischer Gelehrter. Patricia Crone folgerte daraus, dass alle Berichte über den Handel in Mekka auf die späteren Qur’ânausleger zurückgehen könnten und daher weniger historisch als vielmehr theologisch zu deuten seien.

Zu den kritischen Islamwissenschaftlern ist auch der amerikanische Historiker John Wansbrough (1928-2002) zu zählen, dessen Ausgangspunkt die frühesten schriftlichen Quellen der arabisch-islamischen Geschichtsschreibung waren, die erst aus dem 9. Jahrhundert stammen und vor allem jüdisch-christliches Material enthalten. Wansbroughs Forschungsergebnisse sagen, dass ein Großteil der traditionellen Geschichte des Islam eine Konstruktion späterer Generationen ist mit dem Zweck, eine eigene religiöse Identität zu erschaffen und zu rechtfertigen. Im Gegensatz zu Lüling geht er davon aus, dass es nicht einen „Ur-Qur’ân“ gegeben habe, sondern verschiedene Quellen in die jetzt vorliegende Textfassung eingeflossen sind.

Insbesondere die traditionelle Ansicht, dass das so genannte „klassische Arabisch“ eine der ältesten Sprachen im Mittleren Osten sei, wurde durch Wansbrough im Anschluss an die Forschungen im 19. Jahrhundert wieder in Frage gestellt. Dass das Aramäische die eigentlich verbreitete Schriftsprache bis ins 8. Jahrhundert gewesen sei, stellte 2001 Christoph Luxenberg (ein Pseudonym) in seinem Buch über die „syro-aramäische Lesart des Koran“ dar. Darin zeigt der in Deutschland lebende Arabisch- und Aramäischexperte auf, dass viele als schwer verständlich geltenden „dunklen Stellen“ im Qur’ân einen Sinn bekommen, wenn man sie aramäisch statt arabisch liest.

Aufgrund seiner archäologischen Forschungen und in diesem Zusammenhang aufgrund seiner Funde in der Wüste Negev in Israel kam Yehuda D. Nevo (1932-1992) zu der Überzeugung, dass die traditionelle islamische Geschichtsdarstellung und deren schriftlichen Quellen aus dem 9. Jahrhundert zu hinterfragen seien. Judith Koren veröffentlichte nach dem Tode Nevos seine Forschungsergebnisse, in denen die inhaltliche Nähe zu den Erkenntnissen von Crone und Wansbrough sichtbar wird. Im deutschsprachigen Raum führt die Forschungsgruppe „Inârah“ der Universität Saarbrücken (Karl-Heinz Ohlig, Rüdiger Puin, Volker Popp, Markus Groß u. a.) die kritischen Ansätze von Mingana, Crone, Wansbrough, Nevo, Luxenberg u. a. über die Anfänge des Islam weiter.


III. Die Schwierigkeiten mit der historisch-kritischen Arbeit

Mehrheitlich hat die westliche Islamwissenschaft die Anfänge einer kritischen Erforschung und damit den historisch-kritischer Zugang zur frühen Islamgeschichte anhand ihrer Quellen Qur’ân, Sîra (Prophetenbiographie des Muhammad) und Hadît-Literatur (Sammlung der Aussprüche des Propheten) nicht konsequent weiter geführt26. Vielleicht auch deshalb, weil schon Anfang des 20. Jahrhunderts unter westlichen Gelehrten z. B. in der Qur’ânforschung von der Schwierigkeit, „um nicht zu sagen, Unmöglichkeit“, gesprochen wurde, an einen Urtext heranzukommen27.

Entscheidenden Anteil an der geringen Anzahl kritischer Islamwissenschaftler dürften demnach zwei grundlegende Prämissen aus den Werken Theodor Nöldekes haben, die in der westlichen Islamwissenschaft fast bedingungslos geteilt werden28.

Zum einen die grundsätzliche Annahme, dass es sich beim Qur’ân um das authentische Wort des Propheten Muhammad handele und die vorliegende Textgestalt nicht nur eine mehr oder weniger geschlossene Einheit bilde29, sondern auch ganz im so genannten „klassischen Arabisch“ aufgeschrieben worden sei. Für die Glaubwürdigkeit der überlieferten Botschaften stünde die verlässliche mündliche Tradition.

Dieses islamische Dogma stellte letztlich auch Nöldeke nicht in Frage, auch wenn er als Historiker davon überzeugt war, dass Muhammad vor allem durch „fremde Quellen“, Judentum und Christentum, beeinflusst worden sei30. Er hielt dennoch unumstößlich daran fest, dass der ganze Text des Qur’ân von Muhammad stammen würde. Damit unterstrich er die Historizität der islamischen Überlieferung und teilte das islamische Selbstverständnis, das auf diese Weise zum Fundament der westlichen Islamwissenschaft wurde und demzufolge auch Teil der Allgemeinbildung in der westlichen Welt. Danach wurde der Qur’ân Muhammad auf Arabisch (vom Engel Gabriel) offenbart, schließlich mündlich überliefert, um dann auf Arabisch aufgeschrieben zu werden. Und: Der Islam wurde vor allem aus sich selbst heraus verstanden, ohne besonders nach dem gemeinsamen religiös-kulturellen Erbe zu fragen.

Zum anderen die prinzipielle Anerkennung der von der islamischen Geschichtsschreibung erzählten Ereignisse als historische Tatsachen31. Durch diese Prämissen erscheinen Artikel und Bücher über den Islam ganz aus der Haltung eines Muslims geschrieben, der an der Echtheit der göttlichen Offenbarung nicht zweifelt und psychologisch die Motive für Handlungen des Propheten erklären will ohne jegliche wissenschaftliche Skepsis an der Historizität dieser erzählten Umstände und Handlungen.

So konzentrierte sich die „historisch-kritische“ Arbeit seit Nöldeke darauf, die Suren des Qur’ân bzw. auch einzelne Verse aus den Suren „verschiedenen Abschnitten des Lebens Mohammeds zuzuordnen“. Die westliche Islamwissenschaft wurde nach dem zweiten Weltkrieg vor allem durch Philologen weitergeführt, die sich weder historisch-kritisch noch religionsgeschichtlich mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Material befassten. Schon Rudi Paret schrieb daher in der Einleitung zu seiner Koranübersetzung: „Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass auch nur ein einziger Vers im ganzen Koran nicht von Muhammad stammen würde“32 und bezieht sich ausdrücklich auf „den großen Orientalisten Nöldeke“, der den Qur’ân als „Werk Muhammads“ betrachtete33. In seinem Gefolge gehen westliche Islamwissenschafter und Orientalisten wie Bobzin, Busse, Gätje, Gaube, Hitti, Hoyland, Motzki, Nagel, Neuwirth oder Suermann mehr oder weniger davon aus, dass selbst „die Gliederung der Verse wie auch die Texteinteilung in Suren auf den Propheten selbst zurückgehen“34.

Dass die westliche Islamwissenschaft bis heute weitgehend mit Nöldeke der muslimischen Tradition folgt, mag auch an dem Umstand hängen, dass die kritischen Islamwissenschaftler bisher sehr unterschiedliche Thesen zur Entstehung des Islam und des Qur’ân in ihren Publikationen vertreten haben35. Die verschiedenen Ansätze machen aber zunächst nur deutlich, dass die Forschung in Bezug zu den Anfängen des Islam selbst ganz am Anfang steht und viele Fragen noch offen sind. Diese Fragen sind auch nach der traditionellen Darstellung noch offen, mag es auch durch das verbreitete relativ geschlossene Bild, das sich über den Islam gebildet hat, nicht so erscheinen.

Noch steht die Aufgabe aus, vergleichbar den Bibelwissenschaften, einen kritischen Apparat aller Handschriften des Qur’ân zusammenzustellen36. Obwohl also bekannt ist, dass eine kritische Qur’ânausgabe bis heute nicht vorliegt, geht man noch heute vielfach davon aus „dass mit höchster Wahrscheinlichkeit alle Verse des Korans, wie er uns heute vorliegt, authentisch, d. h. von Mohammed selbst verkündet sind“37. Tilman Nagel repräsentiert in seiner jüngst erschienenen Prophetenbiographie (2008) den klassischen Konsens und hält an dem verbreiteten überlieferten Bild fest: „Mohammed empfing über den Botenengel Gabriel die göttliche Rede (…) Der Koran ist identisch mit jener Rede, sie prägte sich dem Gedächtnis ein (…) vollständig und fehlerlos“38.

Es ist schon bemerkenswert, dass die Ansätze der historisch-kritischen Arbeit in der westlichen Islamwissenschaft bis auf ganz wenige Ausnahmen nicht weitergeführt worden sind. Man müsste sich nur vorstellen, nichtchristliche Religionswissenschaftler untersuchen das Christentum inklusive einer fundamentalistischen Sichtweise auf die Bibel und auf die Entstehungsgeschichte der Bibel, ohne dabei kritische Fragen zu stellen. Das wäre höchst erstaunlich.


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IV. Glauben und historisches Denken als Thema in allen Religionen

Das Erstaunen betrifft nicht den muslimischen Glauben. Muslime glauben, dass der Qur’ân direkt aus einem Guss dem Propheten Muhammad offenbart wurde. Der Qur’ân gilt ihnen als „ein Buch, an dem kein Zweifel ist“. Sie glauben ebenfalls, dass das Leben Muhammads bis ins kleinste Detail bekannt und ein historisches Ereignis ist. Ebenso glauben sie, dass die Religion Islam ohne Vorgeschichte auf einmal festgelegt ist und dass das Reich der Muslime in dreißig Jahren aus dem Nichts aufgebaut wurde. Aufgrund ihrer religiösen Überzeugung gehen sie davon aus, dass die vorislamische Vergangenheit von keinerlei Nutzen ist und daher gar nicht zur Kenntnis genommen werden muss. Das ist alles erlaubt, denn Gläubige dürfen glauben, was sie glauben wollen.

Das Erstaunen betrifft die westlichen Islamwissenschaftler und in deren Gefolge die Inhalte der Schulbücher, Lexika und Nachschlagewerke, die in ihren Darstellungen von eben dieser Glaubenswahrheit ausgehen. Dieser westliche Konsens beruht wie auch die muslimische Tradition selbst auf Grundlagen, die kein Historiker akzeptieren würde. Gerade nichtislamische Quellen geben zu zahlreichen Ereignissen, die in der islamischen Geschichtsschreibung erzählt werden, gar keine oder nur höchst spärliche Hinweise. Auch das ist erstaunlich angesichts der großen Auswirkungen, die die islamischen Eroberungswellen für Juden wie Christen gehabt haben sollen.

Dass eine offene kritische Wissenschaft im christlich-islamischen Gespräch nicht einfach ist, ist verständlich39. Denn Wissenschaftlern aus dem Westen, die sich mit der Lehre des Propheten beschäftigen, schlägt in der islamischen Welt Misstrauen entgegen. Muslime empfinden den historisch-kritischen Zugang zu ihrer Geschichte und ihrem heiligen Text oftmals als westliche Provokation und westliche Wissenschaftler gelten als „Hilfstruppen des Neokolonialismus“. Orientalisten galten (und gelten) als verkappte Missionare oder Spione: spätestens seit Eduard Said 1978 sein umstrittenes Buch „Orientalism“ herausgebracht hat, sahen sich auch westliche Islamwissenschaftler „dem Verdacht ausgesetzt, letztlich nur Ausdruck und Reflex einer politischen Herrschaftsideologie des Westens gewesen zu sein“40. Auch wenn Said die deutsche Orientalistik von seinem Generalverdacht ausdrücklich ausnahm41, wurde die westliche Islamwissenschaft gegenüber den islamischen Gelehrten nie diesen Generalverdacht los, von der westlichen Überlegenheit und damit der Unterlegenheit des Orients auszugehen42.

Heute führen Europäer, die Arabisch als die Sprache Mohammeds lernen, ohne zum Islam überzutreten, in den Augen vieler Gläubiger noch Schlimmeres im Schilde: Mit ihrer Qur’ânforschung wollten die Abendländer den göttlichen Ursprung der Offenbarung widerlegen, heißt es. So ähnlich hatten sich Christen im 18. Jahrhundert gegenüber der sich entwickelnden Bibelwissenschaft und der „Leben-Jesu-Forschung“ geäußert. Schon im christlichen Kontext wurde (und wird) in einigen Kreisen die historische Methode als glaubenszerstörend wahrgenommen. Der Ausdruck „historisch-kritisch“ hat so unter manchen Christen einen negativen Klang, wie er auch unter Muslimen vielfach negativ beurteilt wird. Der historische Zugang zu den Quellen würde benutzt, so heißt es, um Glaubenswahrheiten in Frage zu stellen und zu relativieren. Doch Theologie ist als Wissenschaft möglich, weil Glaube ein Verstehen ist. Um Missverständnissen vorzubeugen, soll daher von Anfang an betont werden: Es geht nicht darum, aus westlicher Sicht dem Islam und dem Qur’ân zu Leibe zu rücken. Das Ziel kann nicht darin liegen, eine wie immer auch geartete Überlegenheit der westlichen Religionswissenschaft gegenüber der islamischen Theologie zu behaupten oder den Islam in Misskredit zu bringen.

Recht verstanden ist das Gegenteil der Fall: Gerade durch den historisch-kritischen Zugang können die Quellen, die in einem regionalen Kontext entstanden sind, zueinander in Beziehung gesetzt werden. Das gemeinsame religiös-kulturelle Erbe wird dann erkennbar. Ausgehend von einer ergebnisoffenen kritischen Prüfung der eigenen heiligen Texte und Quellen ist so ein echter interreligiöser Dialog möglich. So mancher Gläubige in Judentum, Christentum und Islam scheut diesen Schritt, weil er einen Absturz seines Glaubens in die Beliebigkeit fürchtet. Diese Angst ist jedoch nur dann berechtigt, wenn die eigenen religiösen Überzeugungen und die Glaubenspraxis so wenig innere Stabilität aufweisen, dass sie der künstlichen Untermauerung durch nicht mehr hinterfragbare Dogmen bedürfen. Dann aber ist auch kein echter Dialog mehr möglich, dem es gelingt, die gemeinsamen Wurzeln herauszuarbeiten als ein Schlüssel, den Anderen als einen „nächsten Verwandten“ zu verstehen.

Solche die Lehre verfestigenden Prozesse haben in der Religionsgeschichte immer wieder eine Rolle gespielt, insbesondere in Krisenzeiten: Der Glaubensgemeinschaft bzw. Gesellschaft vertraute Motive, Begriffe und Erzählungen wurden in einen neuen Deutungsrahmen eingebettet und kanonisiert, um seine religiöse und kulturelle Identität zu sichern, um sich von den anderen Glaubensgemeinschaften abzugrenzen und um die Grundlagen des eigenen Selbstverständnisses zu fixieren. In einer globalisierten Welt, in der die Kulturen und Religionen enger miteinander verwoben sind und eine räumliche Trennung schwer möglich ist, müssen solche Fixierungen überwunden werden, falls sie zu starr geworden sind. Die historisch-kritische Arbeitsweise wirkt zwar für einen dogmatisch oder gar fundamentalistisch ausgerichteten „Schriftbesitzer“ zunächst einmal bedrohlich, weil sie seine „unumstößliche Wahrheit“ bedroht. Am Ende ermöglicht sie aber einen viel tieferen Zugang zu den heiligen Texten und kann Erkenntnisse zu Tage fördern, die das spirituelle Leben wesentlich mehr bereichern als die vordergründige Betonung der „Irrtumslosigkeit“ der heiligen Schrift oder der Quellen.


V. Innerislamische Aufklärung

Aus westlicher Sicht wird leicht vergessen, dass die Diskussion über einen historisch-kritischen Zugang zu den eigenen Quellen kein „islamisches Problem“ ist. Alle Religionen sind stets aufs Neue herausgefordert, ihr Verhältnis von (geglaubter) Offenbarung und (tatsächlicher) Geschichte zu klären. Auch in der islamischen Überlieferung gibt es ein offenes Denken und eine kritische Auseinandersetzungen mit der eigenen Überlieferung durch die alte Tradition des „’iğtihâd“, des kritischen Hinterfragens. Der Fokus auf den Nahen und Mittleren Osten verengt den Blick auf die Vielfalt des Islam und seiner Ausdrucksmöglichkeiten weltweit.

Der sudanesische Rechtgelehrte `Abdullah Ahmad An-Na‛îm drückte es im Rahmen eines Vortrages in Berlin 2008 wie folgt aus: „Wer dem Westen das Copyright für Aufklärung, Modernität und Individualismus zuschlägt, stellt den Muslimen eine ‚intellektuelle Falle’. Man redet ihnen ein, dass sie nicht modern werden könnten, ohne ihre Identität preiszugeben. Hier verrät sich die Denkungsart des Kolonialismus“43. Kritische muslimische Gelehrte mahnten in allen Jahrhunderten islamische Reformen und innerislamische Selbstkritik an und beriefen sich dabei auf den Qur’ân: Individualität gilt als Teil des islamischen Denkens.

Im 9. Jahrhundert gab es beispielsweise in Bagdad im „Haus der Weisheit“ offene Dialogforen. In einer Zeit, in der das römisch-byzantinische Reich im Westen philosophisch stagnierte, florierte der Wissenschaftsbetrieb unter den Gelehrten in Bagdad, die u. a. die griechischen Philosophen wie Aristoteles und Platon studierten44.

Die Diskussion um ein modernes Verständnis des Islam und insbesondere des Qur`ânverständnisses hält in der islamischen Welt bis heute an. Der muslimische Gelehrte Muhammad Halaf Allâh (1916-1997) unterstrich z. B. in seinen Forschungsarbeiten die Bedeutung des Unterschiedes von Wahrheit in einem spirituellen Sinne und Realität eines historischen Geschehens45. Halaf Allâh machte dieses Thema in der islamischen Welt publik. Er schrieb, dass die prophetischen Geschichten des Qur`ân nicht historisch, sondern als Verkündigungstexte zu verstehen seien, die religiöse Ziele reflektierten. Sie seien je nach Situation von Muhammad wiederholt worden und beinhalten daher auch stets historische Hinweise. Halaf Allâh bezieht sich mit seinem Denken auf eine lange Tradition islamischer Gelehrter, die sich dem historischen „Sitz im Leben“ einzelner Qur’ân-Passagen gewidmet haben.

Obwohl er unter den Intellektuellen viel Unterstützung erhielt, verlor Halaf Allâh seine Lehrerlaubnis an der Universität in Kairo. Dies zeigt, dass diese Art modernes Denken in der heutigen islamischen Welt weniger Anerkennung findet als in früheren Jahrhunderten. Traditionell sind alle Geschichten des Qur’ân von gleichem Wert und sind historisch ernst zu nehmen. Richtig ist, dass vielfach die gegenwärtigen politischen Situationen in den islamisch geprägten Ländern die Entfaltung des aufklärerischen Denkens nicht fördern, was aber nicht bedeutet, dass dies nicht Teil der islamischen Überzeugung darstellen kann. Unangebracht ist in diesem Zusammenhang die Tendenz vieler westlicher Kritiker, den Islam mit dem radikalen Islam in eins zu setzen, was genau der fundamentalistischen Sicht entspreche, wie die orthodoxen Vertreter den Islam durchzusetzen versuchen. Auf den „Spuren Nöldekes“ können sich muslimische Gelehrte ebenfalls bewegen, wenn sie betonen, dass jedes religiöse Erbe von seiner Zeit beeinflusst ist und in Kommunikationsprozessen viele Veränderungen durchlebt hat46.



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VI. Historisch-kritischer Zugang zu den Quellen

Zunächst ist es wichtig, sich klar zu machen, welche Quellen die Grundlagen des Islam bilden und von welchen Quellen aus der Frühzeit des Islam in der traditionellen islamischen Geschichtsschreibung rekonstruiert bzw. erzählt wird.


VI, 1. Quellen der islamischen Frühgeschichte


Für die Frühgeschichte des Islam und das Leben der Muslime gibt es folgende literarischen Quellen47: Den Qur’ân als erste Quelle und die „verbindliche Tradition“ (arab. „sunna“) als zweite Quelle. Die Sunna meint die Sammlungen von Hadîten, so genannten „Lehrgeschichten“, in denen die Worte und Handlungen des Propheten Muhammad und seine Entscheidungen in vielen Fragen des Lebens zu finden sind. Als die wichtigsten Hadîth-Sammlungen gelten die von al-Buhârî48 (gest. 870), Muslim (gest. 875), Tirmidî (gest. 892), Nasâ`î (gest. 915) und Ibn Mâğa (gest. 886).

Als weitere wichtige islamische Quellen sind die biographischen Werke anzusehen. Als bedeutendstes Buch gilt die Prophetenbiographie von Ibn Hišâm (gest. 833), auch „Sîra“ (arab. „Biographie“) genannt, die eine überarbeitete Version einer Sîra von Ibn Ishâq (gest. 768) sein soll (von Ibn Ishâq gibt es keine schriftlichen Zeugnisse). Für die islamische Geschichtsschreibung wichtig sind zudem die „Geschichte der Kriegszüge“ von al-Wâqidî (gest. 822), das „Kitâbu ’l-maġâzî“ von Ibn Sa‛d (gest. 845)49 und die „Annalen“ von at-Tabarî (gest. 922), die bis heute trotz ihres legendarischen Charakters hauptsächlich zur Rekonstruktion der islamischen Geschichte mit der arabischen Ausbreitung von Mekka her, der Geschichte der arabischen Reichen und Kalifen herangezogen werden. Diese Ausführungen von at-Tabarî bestimmen die islamische Traditionsliteratur bis heute50. Die Chronologie der Ereignisse inklusive genauer Zeitangaben in al-Wâqidîs Ausführungen zu den Schlachten ist ebenfalls bis heute maßgebend und gilt als eine wichtige Ergänzung zu der Sîra51.

All’ diese Texte, auf die sich die traditionelle islamische Geschichts-schreibung stützt, stammen aus dem 9. Jahrhundert. Quellen aus späterer Zeit bieten aber zunächst keinen historischen Beleg für frühere Ereignisse. Sie sagen nur etwas aus über das Zeitalter, in dem sie geschrieben worden sind, d. h. in diesem Fall, was Menschen im 9. Jahrhundert oder später über das 7. Jahrhundert dachten, aber nicht, was im 7. Jahrhundert selbst gedacht worden ist52.  Alle Informationen der klassischen Islamwissenschaft berufen sich auf schriftliche Zeugnisse aus dem 9. oder 10. Jahrhundert, also auf eine Zeit rund 200 Jahre nach dem Tod Muhammads53. Dazu zählen insbesondere auch die Prophetenbiographie, die so genannte Sîra von Ibn Ishâq, die in der bearbeiteten Fassung von Ibn Hišâm erhalten ist. Für die ersten zwei Jahrhunderte fehlen zeitgenössische islamische Quellen. „Dem Historiker des Islam“ stehen wohl „eine Masse von literarischen Quellen zur Verfügung, wie sie ähnlich keine andere Zivilisation vor dem Beginn der Neuzeit hervorgebracht hat“ (wie der Islamwissenschaftler Heribert Busse euphorisch schreibt54), sie sagen aber noch gar nichts aus über den Wert der Literatur als historischer Quelle.

Damit wird zumindest deutlich, dass es eine gewisse Plausibilität gibt, das verbreitete relativ geschlossene überlieferte Bild von den Anfängen des Islam noch einmal zu überprüfen. Denn so klar, wie es die islamische Geschichtsschreibung und in deren Gefolge viele (westliche) Islamwissenschaftler und dementsprechend Schulbücher, Lexika und Nachschlagewerke darstellen, liegen die Dinge nicht. Auch die die traditionelle Linie vertretende Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer bemerkt, dass „das Leben Muhammads und der frühen Gemeinde (…), ungeachtet aller wissenschaftlichen Skrupel, im wesentlichen doch aus den literarischen Quellen rekonstruiert (wird)“55.


VI, 2. Historische Probleme


Für die Bibel existieren textkritische Ausgaben seit langem. Vielfach wurden von historisch geschulten Theologen Sprache, Inhalt und Struktur des Alten und Neuen Testamentes durchleuchtet. Archäologische Ausgrabungen und zeitgenössische Quellen außerhalb des jüdisch-christlichen Kontextes geben Einsicht in den Wahrheitsgehalt der jüdischen wie christlichen Botschaft. Für den Islam und den Qur’ân fehlt das weitgehend, gibt auch die Islamwissenschaftlerin Neuwirth zu56. Fast sämtliche Kenntnisse über den Propheten und seine Verkündigung, wenn man an der traditionellen Geschichtsschreibung festhält, stammen von Muhammads Biographen, also Gläubigen, die selbst zur Gemeinde gehörten, und sind daher als historische Zeugnisse nur eingeschränkt verlässlich.

Grundsätzlich ist damit die Frage aufgeworfen, ob religiöse Texte Aufschluss geben (können) über reale historische Ereignisse: Inwieweit sind sie nicht größtenteils theologisch und damit als Glaubensaussagen zu verstehen? Diese Frage berührt alle drei monotheistischen Religionen und ihr Verhältnis von göttlicher Offenbarung zu historischen Fakten der konkreten Geschichte. Es ist davon auszugehen, dass die Texte der Prophetenbiographien, der „sunna“ sowie der „Annalen“ von at-Tabarî vielfach mehr legendarisches Material bieten als wirklich geschichtliche Überlieferung57, denn sie konzentrieren sich darauf, das Leben Muhammads und das islamische Gesetz für die Gläubigen darzustellen und zu begründen. Für die Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinn sind sie selbst nach Hoyland, der ansonsten die islamische Lesart der Geschichte teilt, nicht als erste Quelle zu nutzen58.

Zusammengefasst kann man sagen: Zum einen sind die vorhandenen islamischen Texte „mit den Augen des Gläubigen“ geschrieben, zum anderen stammen sie, wenn man Muhammads Leben ab 570 ansetzt, von Material aus einer Zeit 200 Jahre später ab.

Das bedeutet nicht, dass aus den ersten zwei Jahrhunderten islamischer Zeitrechnung zeitgenössische Texte fehlen. An zeitgenössischen Schriften aus dem 7. Jahrhundert existieren jüdische, christliche und andere nichtislamische Zeugnisse. Es gibt die Literatur, die die unter arabischer Herrschaft lebenden Christen hinterlassen haben, die Inschriften, die Münzprägungen, Papyri und die archäologischen Ausgrabungen. All’ diese Quellen helfen bei der Rekonstruierung der kulturellen, politischen und insbesondere theologischen Entwicklung vom 4. bis 9. Jahrhundert. Von großem Wert ist folgende Beobachtung: Nur selten wird in diesen Schriften einmal eine neue arabische Herrschaft erwähnt. So berichten die nichtislamischen Quellen nichts von einer neuen Religion der Araber und auch nicht von einer „arabischen Invasion“.

Um Licht in die Anfänge des Islam zu bringen, ist die Berücksichtigung nichtislamischer Quellen daher von ebenso großer Bedeutung wie es wichtig ist, die vorhandenen islamischen Quellen nicht kritiklos als historische Dokumente zu bewerten. Es genügt nicht, eine Muhammad-Biographie nur als Nacherzählung bzw. als Umarbeitung von Ibn Ishâq zu veröffentlichen. Solch mehr oder weniger kritiklose Übernahme der islamischen Traditionsliteratur aus dem 9. Jahrhundert setzt stillschweigend voraus, dass die literarischen Zeugnisse unumstößlichen dokumentarischen Wert haben.

In diesem Sinn haben westliche Gelehrte über Jahrhunderte die islamische Geschichte nur anhand dieser muslimischen Quellen nachgeschrieben und diese Zeugnisse wie historische Fakten akzeptiert59. Sie beachteten dabei weder die zeitliche Differenz von fast 200 Jahren noch die im Großraum Syrien verbreitete Tradition der Geschichtenerzähler, die ihrerseits wiederum Traditionen bildeten60. So schreibt Nagel in seiner jüngsten Prophetenbiographie zu Muhammad: „Bei der Darstellung des Lebensweges Mohammads und der frühen Deutung seines Wirkens halte ich mich vielfach eng an die Redeweise der Quellen (…). Ich scheue mich nicht, mir wesentlich erscheinende Aussagen in Übersetzung wiederzugeben und behalte in diesen Fällen meistens die im Originaltext vorherrschende Vermittlung des Inhaltes (…) bei“61. Es ist erstaunlich, wie über alle literaturkritischen Probleme hinweggegangen wird. Eine historisch-kritische Betrachtung der literarischen Zeugnisse ist auf diese Weise nicht gut möglich.

Anders als Nagel nimmt Jansen in seiner Muhammad-Biographie die historisch-kritische Perspektive ernst. Er widmet ein zentrales Kapitel der Ausrottung des Qurayza-Clans in Medina durch die Anhänger Muhammads62. Die in der Prophetenbiographie von Ibn Hišâm zu findende und von Ibn Ishâq überlieferte Geschichte erzählt in Details, was sich Grauenvolles abgespielt hat63. Die Juden wurden in kleinen Gruppen zum Markt gebracht, wo Muhammad kleine Gräben hatte ausheben lassen. In diesen Gräben wurden sie enthauptet. Auf dem Weg dorthin fragten sie, was ihnen bevorstünde und bekamen zur Antwort: „Begreift ihr denn nichts? Sehr ihr nicht, dass immer neue Gruppen geholt werden und die Abgeführten nicht zurückkommen?“

Jansen fällt nicht eine Sekunde ein, dieses Massaker zu beschönigen. Er hegt nur begründete Zweifel, dass diese grauenvolle Tat stattgefunden hat64. Denn in keiner jüdischen Chronik wird dieses Massaker berichtet. Und das wäre bei einer Gräueltat dieses Ausmaßes ein schlechterdings fast unmöglicher Gedanke. Es ist wichtiger Teil jüdischer Tradition, die Erinnerung an die Ermordeten wachzuhalten. Umso befremdlicher ist es, dass dieses Massaker keine Erwähnung gefunden hat65. Ebenso findet sich von der Vertreibung der „Banū Qaynuqâ‛“, nach der Prophetenbiographie von Ibn Ishâq einer der drei jüdischen Föderationen von Medina66, in den jüdischen Überlieferungen keine Spur67.

Wenn auch die überlieferten Geschichten wenig historisches Material erkennen lassen, sind sie theologisch bedeutsam. Theologisch legitimiert die dem Propheten Muhammad durch Engel befohlene Ausrottung eines jüdischen Clans zum einen ein solches Verhalten auch in späteren Jahrhunderten. Zum anderen erklären die Geschichten, in denen der Islam sozusagen das Judentum überwindet, dass das Judentum heilsgeschichtlich keine Bedeutung mehr spielt und macht deutlich: die Religion, die die andere überwindet und bleibt, ist die wirklich wahre Religion.

Patricia Crone hat die Handelsrouten auf der arabischen Halbinsel genau untersucht und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Mekka in vorabbasidischer Zeit kein blühendes Handelszentrum gewesen war. Denn warum sollten Karawanen auf ihrem Weg zwischen dem Yemen und Syrien, einer der „wichtigsten Transitstrecken des Fernhandels im vorislamischen Arabien“68, einen gewaltigen Umweg gehen, indem sie tief hinab ins unfruchtbare Tal Mekkas ziehen? Es gab keinen Grund, nach Mekka zu reisen oder sich dort anzusiedeln.

Nichtmuslimische Quellen lassen kein Bild „von lebhaften Handelskontakten vom Hijâz und von Mekka bis in die fernsten Regionen Arabiens entstehen“69. Es ist eher davon auszugehen, dass „alle Berichte über den Handel in Mekka auf Exegeten zurückgehen, die sich mit Sure 106 beschäftigt haben“70. Nur in den Qur’ânkommentaren zu Sure 106, 2 steht, dass dieser Vers ein Hinweis auf Mekka als Handelsstadt gebe, von der aus regelmäßig Karawanen in alle Richtungen gezogen seien. Der Vers selbst gibt diese Deutung nicht her: „Auch in der Literatur sind keine historischen Fakten zu finden, womit die Händler in Mekka wohl gehandelt haben“71. So gibt die islamische Traditionsliteratur hier einen weiteren Hinweis für die Annahme, dass die Sîra des Propheten geschaffen wurde, um schwer verständliche Qur’ânpassagen zu erläutern72.

Ähnlich hat die Bibelwissenschaft durch Archäologie, Inschriftenfunden und durch Analysen des sozialen, kulturellen, politischen und religiösen Kontextes herausgearbeitet, dass die im Alten Testament erzählte Eroberung des gelobten Landes durch das auserwählte Volk Israel kein historischer Bericht, sondern theologische Literatur ist. Mit den islamischen Quellen lassen sich ähnlich wie mit der Bibel nur sehr bedingt Aussagen zu historischen Abläufen machen. Im Grunde lassen sich nur die unterschiedlichen, heute zugänglichen Inhalte der Überlieferung analysieren und womöglich die späteren Überarbeitungen und Umformungen ans Licht bringen.

Geht man von den Texten selbst aus, lässt sich historisch nur festhalten, dass erst im 9. Jahrhundert dargelegt wird, dass die Verkündigung Muhammads unter dem dritten Kalifen ‛Utmân (644-656) „zur heutigen Ganzschrift des Koran zusammengestellt worden sei“73. In dieser Zeit hatten es allerdings die später so genannten Abbasiden geschafft, aus dem Ostiran kommend ein mächtiges Großreich im Mittleren Osten zu festigen, bei dem der Islam nicht nur eine Religion der städtischen und politischen Elite, sondern die „neue arabische Religion“ der Massen werden sollte. Es ist nur ehrlich, wenn der Islamgelehrte van Ess feststellt: Texte aus dieser Zeit stehen „unter dem Verdacht der Projektion“74.

Das gilt auch für die Prophetenbiographien Muhammads, die viele biographische Details und Legendarisches über den arabischen Propheten zu berichten wissen. Der älteste erhaltene Text, die Sîra von Ibn Hišâm, stammt aus dem 9. Jahrhundert und stellt nach eigenen Angaben eine Überarbeitung des ersten Lebensberichtes durch Ibn Ishâq (767) dar. Auch hier liegen gut 200 Jahre zwischen den Ereignissen und ihren Berichten. Schon das als verbürgt geltende Geburtsdatum Muhammads um 570 ist nicht so gewiss, wie es herkömmlich angenommen wird. Ebenso erweist sich die von Ibn Ishâq übernommene Chronologie im Leben des Propheten als insgesamt unrealistisch75. Es wird auch hier wahrscheinlich, dass mehr theologische Gründe leitend waren und weniger historische.

Ausgehend von der Entstehungszeit der Prophetenbiographien unter der Herrschaft der Abbasiden lässt sich zumindest fragen, ob nicht Muhammad – ähnlich wie im Alten Testament beim „deuteronomistischen Geschichtswerk“ der Prophet Mose – als Identifikationsfigur im Rahmen der Machterhaltung und Legitimierung gebraucht wurde. Diese Biographien geben historisch betrachtet das Denken der Autoren im 9. und 10. Jahrhundert wieder. Das Leben des arabischen Propheten selbst liegt eher im Dunkeln.

Pointiert heißt das: „Niemand weiß heute genau, welche Erzählungen über Muhammad wahr sind und welche als fromme Erfindung verstanden werden müssen“76. Nichtmuslimische Quellen, d. h. syrische, iraqische, armenische, griechische, äthiopische, persische oder aramäische Chronisten aus dem 7. Jahrhundert berichten über das Leben Muhammads und seiner Bewegung, die aus der arabischen Halbinsel in den Großraum Syrien eingedrungen sein soll, nichts77. Doch was im historischen Sinn nicht wahr sein kann, kann demgegenüber in theologischer Hinsicht die volle Wahrheit sein.

Die kritischen Fragen der Historiker aufnehmend, erzählt Jansen in seiner Muhammadbiographie das Leben Muhammads auf der Grundlage der Sîra des Ibn Hišâm (bzw. seines Vorläufers Ibn Ishâq) nach, ohne den kritischen Fragen auszuweichen. Nach seiner Überzeugung ist das, was die Sîra über Muhammad sagt, und d. h., was das verbreitete überlieferte Islambild bislang über ihn zu wissen meinte, genauso historisch wie die Aussagen der vier Evangelisten über das Leben Jesu historisch sind.

Viele Geschichten, die von Ibn Ishâq bzw. in der Weiterverarbeitung durch Ihn Hišâm überliefert sind, haben nach den Untersuchungen von Jansen den theologischen Sinn, schwer verständliche Qur’ânstellen zu erläutern78. Denn viele Qur’ânstellen sind auch für Arabischkenner kaum verständlich. Sie lassen sich aber in Verbindung mit der Sîra interpretieren und ermöglichen eine gewisse (geschichtliche) Zuordnung. Diese Stellen könnten auch ganz anders gedeutet werden, aber durch die Prophetenbiographien erhalten sie einen Sinn, der bis heute in der islamischen Theologie leitend ist. Dass Qur’ân und Sîra wechselseitig genutzt wurden, um theologische Sinnzusammenhänge herzustellen, wird in der Islamwissenschaft nicht bestritten. Aber genau an der Stelle, an der theologische Texte für historische gehalten werden, lohnt es sich, genauer nachzufragen. Es ist aufgrund der Quellenlage erstaunlich, wie der Islamwissenschaftler Busse zu dem Urteil kommt, dass „die arabische Historiographie (…) in Bezug auf die Qualität den Vergleich mit der Geschichtsschreibung anderer Kulturkreise nicht zu scheuen“ brauche79.

Dass insbesondere dem Historiker (!) im Qur’ân und in der Sîra des Propheten „eine höchst farbige Quelle“80 zur Verfügung stehe, lässt sich angesichts des historischen Befundes so zweifelsfrei, wie es Nagel tut, gerade nicht sagen. Es ist erstaunlich, dass sich ein solch geschlossenes Bild der islamischen Geschichtsschreibung über Jahrhunderte auch in der westlichen Welt erhalten konnte, ohne selbst die genaue Chronologie der Ereignisse bei der Geburt Muhammads kritisch zu befragen81. Hans Jansen hält demgegenüber in seiner Muhammad-Biographie fest: „Was wir wirklich über ihn wissen, ergäbe ganz sicher kein Buch“. In „heiterer Gelassenheit“ nimmt er daher die spätere Überlieferung als literarische, aber nicht als historische Quelle.


VII. Auseinandersetzung mit dem traditionellen Bild von den Anfängen des Islam

Erzählte religiöse Geschichte hängt nicht an der Frage, ob Ereignisse genau so oder auch anders sich ereignet haben. Diese Geschichten möchten die Grundlagen des Glaubens beschreiben, manchmal sogar zweimal wie die Schöpfungsgeschichte oder die Sintfluterzählung im 1. Buch Mose oder die Geburtsgeschichte von Jesus bei Matthäus und Lukas oder die Geburtserzählungen von Muhammad in der Prophetenbiographie des Ibn Ishâq. Diejenigen, die diese Geschichten überlieferten, hatten auch mit widersprüchlichen Aussagen anscheinend kein Problem, sonst hätten sie sie nicht verschiedene Versionen berichtet. Es handelt sich ja nicht um historische Berichte, sondern um Verkündigung. Gläubige aller Religionen sehen in solch „historischen Leerstellen“ keine Probleme. Die religiöse Bedeutung der Geschichten hängt wie bei der Leben-Jesu-Forschung nicht von der Frage ab, ob sie sich tatsächlich so ereignet haben82. Das erzählte Leben Jesu, seine über ihm geschilderten Begegnungen und Geschichten bleiben Grundlage für den Glauben und die Frömmigkeitspraxis gläubiger Christen. Und so ist und bleibt für Muslime der Qur’ân das Wort Gottes, unabhängig der Erforschung seiner Ursprünge und unabhängig davon, ob sie diese Forschung für Ketzerei oder bestenfalls für sinnlos halten.

Eine gewisse wissenschaftliche Skepsis dem relativ geschlossenen traditionellen Bild der Anfänge des Islam gegenüber scheint aus den angesprochenen Gründen plausibel. Die Basis für diese Skepsis wurde im 19. Jahrhundert in der deutschsprachigen Orientalistik gelegt. Heute greifen andere Wissenschaftler die damaligen Fragestellungen auf:

Der Arabist und Qur’ânforscher Gerd-Rüdiger Puin fand beispielsweise arabische Handschriften in San‛â’ im Yemen. Seinen Analysen zufolge beinhalten diese Funde die umfangreichste Entdeckung frühester Qur’ân-handschriften. Er fand darin Texte, die so im Qur’ân stehen, allerdings mit leichten Variationen im „Schriftbild“. Er geht davon aus, dass die San‛â’-Funde älter sind als der heutige Qur’ântext, der traditionell auf ‛Utmân zurückgeführt wird. Hier schließen sich Fragen an nach dem Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und nach der bisher stets unhinterfragten Prämisse einer verlässlichen (!) mündlichen Überlieferung83. Es stehen ziemlich viele undeutliche Texte im Qur’ân: Kommt das durch die mündliche Überlieferung, wodurch ein Mensch einen bestimmten Konsonanten anders vokalisiert aussprach als der andere? Oder liegt die Ursache darin, dass hinter dem Qur’ântext andere, ältere, vielleicht aramäische Texte liegen? Mit Worten, die von der Schreibweise her dem Arabischen ähneln, aber doch eine ganz andere Bedeutung hatten? Wenn die alten Handschriften aus San‛â’ in einer kritischen Qur’ânausgabe zugelassen würden, würde damit implizit zugegeben, dass bei der Entstehung des Qur’ân der Anteil der redaktionellen Bearbeitung weitaus höher zu veranschlagen ist als die Annahme einer so genannten „verlässlichen mündlichen Überlieferung“.

Diese Fragestellung bewegt auch den Arabisch- und Aramäischexperten Christoph Luxenberg84. Er hinterfragt in seinen sprachgeschichtlichen Untersuchungen die Prämisse, nach der das so genannte „klassische Arabisch“ schon im 7. Jahrhundert als Schriftsprache genutzt worden sei, obwohl zu jener Zeit neben dem Griechischen vor allem das Aramäische die lingua franca und damit die verbreitete Schriftsprache des ganzen Mittleren Ostens gewesen ist – insbesondere je weiter man nach Osten kam. Nachweislich wurde Aramäisch mehr gesprochen und vor allem mehr geschrieben als Arabisch. Diese Erkenntnis verhilft nach Überzeugung von Luxenberg, gerade unverständliche „dunkle Stellen“ im Qur’ân zu verstehen. Einige Stellen würden nämlich nur deswegen unverständlich wirken, weil der Abschreiber beim Übertragen aramäischer Texte in das arabische Schriftsystem ähnlich aussehende syro-aramäische Buchstaben verwechselt habe. Hier schließen sich Fragen an nach den Grundlagen des Qur’ân und dem Einfluss der religiösen Strömungen (vor allem Judentum und Christentum, aber auch Parsismus und Manichäismus) auf Sprachstil, Struktur und Inhalt des Qur’ân und der islamischen Religion als Ganzes.

Der Münzsachverständige und Orientalist Volker Popp85 untersucht seit Jahren alte Münzen unter dem Grundsatz: Wenn eine Münze der erzählten Geschichtsschreibung widerspricht, z. B. wenn auf einer Münze der Name eines Fürsten steht, der laut der Geschichtsschreibung aber längst besiegt ist, dann bekommt die Münze recht und nicht die Geschichtsschreibung. Er kann nachweisen, dass die Münzen erstaunlich oft Recht bekommen. Hier schließen sich Fragen nach der Datierung von Ereignissen oder überhaupt ihrer Historizität an.


VIII. Kontextuelle Spurensuche

Die religiöse Kultur des Großraums Syrien war eine pluralistische Kultur86. Das galt schon im Blick auf die Bevölkerung, die sich aus sehr unterschiedlichen Völkern zusammensetzte. Neben den von alters her ansässigen Aramäern (den späteren Syrern im engeren Sinne) lebten Phönizier, Kanaanäer, Israeliten, Araber, Perser u. a. in diesem Teil der Erde und waren wechselnden politischen Einflüssen und Mächten ausgesetzt. So herrschten in diesem Gebiet die Ägypter, die Hethiter, die Perser und nicht zuletzt die Griechen und die Römer, die allesamt ihre Spuren auch in kultureller und religiöser Hinsicht hinterlassen haben.

Römische und griechische Götterwelt, die persische Religion (Begründer war Zarathustra, griechisch: Zoroaster, im östlichen Iran, dessen religiöse Weiterentwicklung Parsismus genannt wird. Der Parsismus als zarathustrische Religion war Staatsreligion im sassanidischen, d. h. persischen Reich von 226-651), Judentum, Christentum in all’ ihren Formen mit apokalyptischen und gnostischen Ausprägungen beeinflussten die Region. Solch’ eine pluralistische Kultur gewährleistete kein störungsfreies und erst recht kein chancengleiches Zusammenleben der Religionen verschiedener Völker. Machtfragen spielten eine wesentliche Rolle, Verfolgungen Andersgläubiger waren an der Tagesordnung. Und dennoch gelang es in diesem Lebensraum niemandem, die Überzeugungen der Anderen auszurotten und eine religiös in sich geschlossene Gesellschaft aufzurichten. Es ist von daher keine Überraschung, wenn sich die verschiedenen religiösen Strömungen wechselseitig beeinflusst haben und aus dem gemeinsamen religiösen und kulturellen Erbe im Großraum Syrien geschöpft haben.

Mit den letzten Bemerkungen wird der Ausgangspunkt dieses Beitrages benannt: Die Einladung zu einer spannenden kontextuellen Spurensuche hin zu den historischen Anfängen des Islam. In der westlichen Islamwissenschaft ist in den letzten Jahrzehnten einiges in Bewegung gekommen und wird neu diskutiert. Dabei ist Konsens, „dass die Anfänge des Islam nur dann verstanden werden können, wenn sie nicht von späteren Rückprojektionen, sondern auf der Basis der historischen Quellen und von den sich auf sie stützenden historischen und philologischen Fragestellungen her untersucht werden“87. Das religionsgeschichtliche Denken war für frühere Islamwissenschaftler wie Geiger, Weil, Goldziher, Mingara u. a. selbstverständlich gewesen. In der heutigen westlichen Islamwissenschaft werden Untersuchungen der benachbarten Religionen wie Zoroastrismus (Parsismus), Gnosis oder Manichäismus und der innerchristlichen Streitigkeiten kaum für die geschichtliche Darstellung des frühen Islam herangezogen.

Erst angestoßen durch die neueren Debatten zum Kontext und zur Entstehung des Islam im Allgemeinen und des Qur’ân im Besonderen ist auch in der westlichen Islamwissenschaft das Interesse an dem gemeinsamen religiös-kulturellen Erbe wieder neu erwacht. Das von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften finanzierte Langzeitprojekt eines „Corpus Coranicum“ will den geistigen Wurzeln des Qur’ân in den anderen Religionen nachspüren und belegen, dass der Islam auf einem geistigen Erbe beruht, das er gemeinsam mit Juden und Christen teilt88. Insgesamt wird erkennbar, dass in der Forschung die Arbeit an dem gemeinsam geteilten Erbe wieder neu an Bedeutung gewinnt.

Allerdings ist die historisch-kritische Forschung über Muhammad und noch mehr am Qur’ân keine leichte Angelegenheit. Und das aus wenigstens zwei Gründen: Zum einen genießt Muhammad eine herausragende, fast unantastbare Stellung unter den Muslimen und der Qur’ân gilt im islamischen Selbstverständnis als „konkurrenzloses Buch“. Konkurrenzlos, weil ihm „göttliche Urheberschaft“ zuerkannt wird im Gegensatz etwa zur Bibel, die – obwohl göttlich inspiriert – als Menschenwort angesehen wird. Dieses Buch ist nicht anzuzweifeln, es ist das unantastbare Wort Gottes, so dass die Leute, die sich mit dem Qur’ân befassen, Gottes Familie und seine Vertrauten bilden89. Wissenschaftler und Schriftsteller, die z. B. die Rahmenbedingungen mit einbeziehen, unter denen der Islam entstanden ist, sind bereits unter Häresieverdacht. So kann es geschehen, dass Kritiker nicht als Kritiker, sondern als Apostaten gelten. Und ein Abfall vom rechten Glauben kann im Islam mit dem Tod bestraft werden.

Zum anderen ist die Einordnung des historischen, religiösen, politischen und kulturellen Kontextes in der Islamwissenschaft umstritten. Die Frage nach der ursprünglichen Form des Qur’ân wurde und wird schon unter islamischen Gelehrten untersucht. Natürlich haben diese islamischen Gelehrten die traditionelle Lesart des Qur’ân als direkte Offenbarung an Muhammad nie in Frage gestellt. Aber ausgehend von der schon im Qur’ân gestellten Frage: „Betrachten sie denn nicht sorgfältig den Qur’ân?“ (Sure 4, 82), war (und ist) stets das Ziel, die Aussagen des Qur’ân besser zu verstehen90 – eben auch mit einer Einordnung des Textes in seinen historischen Kontext (z. B. indem man unterscheidet zwischen Suren aus der medinensischen und aus der mekkanischen Periode. Ebenso wurde in der westlichen Islamwissenschaft an einer chronologischen Reihenfolge der Suren gearbeitet91).

In der islamischen Tradition gilt es stets als Ziel, den Islam schon von seinen Anfängen her als eigenständige Religion darzustellen. Abhängigkeiten von anderen sind in diesem Geschichtsbild nicht vorgesehen. Daher gilt die Zeit vor dem Islam auch als „ğâhiliyya“, als „Zeit der Unwissenheit“ und verdient nur insoweit Beachtung, als sie deutlich macht, welch’ große Errungenschaft der Islam darstellt. Doch keine der Religionen ist „vom Himmel gefallen“ und nur aus sich selbst heraus zu verstehen, sondern nur im Kontext der Zeit ihrer Entstehung und d. h. mit Außenstehendem.

Ein zukunftsfähiger interreligiöser Dialog braucht einen quellen- und textkritischen Umgang mit den Urkunden des Glaubens. Erst dann ist es sinnvoll möglich, die Bedeutung der Texte für den heutigen Glauben zu entdecken. Erst dann können die Urkunden des Glaubens eine Grundlage friedlicher Beziehungen zwischen Christen und Muslimen (und Juden) werden. Denn nur dann ist es möglich, die Quellen und die Heiligen Texte in ihren gemeinsamen geschichtlichen Kontext, in dem sie entstanden sind, einzuordnen und zu verstehen. Das setzt natürlich die Bereitschaft voraus, sich mit der jeweils eigenen Tradition und Glaubensgeschichte kritisch auseinandersetzen und nach ihrer spirituellen Bedeutung fragen zu wollen.

Es ist dann nicht möglich, sich selbst „im Besitz der Wahrheit“ zu sehen und den anderen nur auf der Seite des Irrtums. „Das steht so in der Bibel!“ oder: „Das steht so im Qur’ân!“ sind Argumentationsmuster, die im Dialog nicht hilfreich sind. Diese Fixierung auf die alleinige Wahrheit der eigenen Religion verhindert, sich in den anderen hineinversetzen zu können. Dann geht es nur noch darum, dem anderen „seine bzw. die Wahrheit“ zu erklären. Das Trennende wird so immer stärker betont als die gemeinsamen Wurzeln, die Feindbilder mehr gefördert statt eine Verstehensbrücke zwischen den Religionen und Kulturen zu bauen.

Solange sich eine Religion als von Gott direkt gegeben versteht, sind alle geschichtlichen Annäherungen und historischen Einordnungen, die nicht dem Selbstverständnis entsprechen, nicht geduldet und stehen unter Blasphemieverdacht. Hier genau lohnt sich ein Blick zurück zu den so genannten „dunklen Anfängen“ des Islam. Es ist jedem sofort einsichtig, dass es notwendig ist, die Entwicklung des Islam im Kontext seines geographischen, religiösen, historischen und sprachlichen Entstehungsraumes zu untersuchen.


ANMERKUNGEN



1 Zuerst veröffentlicht in: Hans-Joachim Tambour/Sr. Friederike Immanuela Popp (Hrsg.), Geschichten verändern Geschichte. Perspektiven der Unerschöpflichkeit des Biblischen Wortes. Festschrift für F. E. Dobberahn.), in: Paul Imhof/Eduard Saroyan (Hrsg.), Strukturen der Wirklichkeit, Bd. 6 (Schriftenreihe der Deutschen Universität in Armenien und der Akademie St. Paul), Wambach 2010, S. 206-244.
2 Aslan, S. 52ff.
3 Krämer, Geschichte, S. 19.
4 Aslan, S. 61.
5 Aslan, S. 72.
6 Krämer, Geschichte, S. 29ff.
7 Vgl. hierzu Nagel, Mohammed, S. 851 und Dobberahn, Soziologie, S. 337-387.
8 Aslan, S. 147, Gätje, S. 40f.
9 So Goldziher, Richtungen, S. 61, zum islamischen Selbstverständnis.
10 Als akademische Disziplin wurde die Orientalistik 1795 in Paris begründet, in Deutschland 1845 mit der „Morgenländischen Gesellschaft“. Der gesamte Orient ist Forschungsgegenstand und beinhaltet u. a. Fächer wie Arabistik, Turkologie, Iranistik, Ägyptologie und eben auch die Islamwissenschaft.
11 Zum Folgenden Mangold, S. 103ff.
12 Zum Folgenden auch Nabielek, S. 39ff.
13 Zu Abraham Geiger vgl. Lassner, S. 103-135. Mangold, S. 104, stellt fest, dass im deutschsprachigen Raum eine Untersuchung fehlt, die die Bedeutung und den Anteil jüdischer Gelehrter an der deutschen Orientalistik aufzeigt.
14 Mangold, S. 104f.
15 Goldziher, Islam, S. 415. Vgl. bes. ders., Studien; hierin untersucht Goldziher m. W. als erster die Prophetentraditionen mit der historisch-kritischen Methode.
16 Mangold, S. 106.
17 So Mangold, S. 107.
18 Griffith, Lore, S. 111f.
19 Mangold, S. 106f.
20 So Marx, S. 128.
21 So Nabielek, S. 44.
22 Schöller, Study, S. 187ff.
23 Gilliot, Authorship, S. 98.
24 Reynolds, Introduction, S. 10f.
25 Crone, Meccan Trade and the Rise of Islam (1987).
26 Zur Entwicklung der Forschung siehe Schöller, Study, S. 187ff.
27 So der Orientalist Pretzl, zitiert bei Reynolds, Introduction, S. 6.
28 Zum Folgenden Nabielek, S. 54.
29 So wiederholt bei Neuwirth, Koran, S. 100.
30 Nöldeke, Geschichte, Bd. 1, S. 17.20.
31 So zuletzt Nagel, Mohammed.
32 Paret, Koran, S. 5.
33 Nöldeke, Koran, S. 37.
34 So Neuwirth, Koran, S. 98f; vgl. zuletzt auch Dobberahn,  Soziologie, S. 337-387.
35 Reynolds, Introduction, S. 9.
36 Reynolds, Introduction, S. 3ff, schildert die gescheiterten Versuche aufgrund unglücklicher Umstände Anfang des 20. Jahrhunderts, zu einer solchen kritischen Ausgabe des Qur’ân zu kommen.
37 So Neuwirth, Koran, S. 100.
38 Nagel, Mohammed, S. 87.89.92-95, ähnlich Gätje.
39 Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich bei einem historisch-kritischen Zugang zu den Heiligen Texten im Gespräch mit dem orthodoxen Judentum und christlichen Gruppen, die die Bibel bei ihrem Literalsinn wortwörtlich nehmen oder im Gespräch über die Entstehung und heutige Gültigkeit von Dogmen in der katholischen Kirche. Letztlich hat jedes „scholastische Denken“ Schwierigkeiten mit historischen Fragestellungen.
40 Mangold, S. 21.
41 Said, S. 17ff.
42 Mangold, S. 113f.
43 Zitiert nach faz.net. vom 25. Mai 2008. An-Na`im, der in Atlanta lehrt, hielt einen Gastvortrag in Berlin auf Einladung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
44 Goddard, S. 52f.
45 Rippin, Muslims, S. 249ff. Seine Thesen, die er 1947 an der Universität Kairo vortrug, machten ihn in der ganzen islamischen Welt bekannt.
46 Abû Zayd, Koran, S. 172ff.
47 Zum Folgenden Ohlig, Ostiran, S. 14.
48 Die Sammlung der ?adî?e von al-Bu?ârî genießt unter den Muslimen die höchste Autorität: vgl. Nagel, Mohammed, S. 88.
49 Zu Ibn Sa?d siehe Bobzin, Mohammed, S. 48ff.
50 Bobzin, Mohammed, S. 32ff, stellt die muslimischen Quellen dar. Er erkennt vielfach den legenden-haften Charakter der Schriften, stellt aber die grundsätzliche Historizität der Überlieferungen nicht in Frage.
51 Bobzin, Mohammed, S. 47.
52 Nevo / Koren, S. 9. Die christliche Bibelwissenschaft steht vor einem ähnlichen Problem bezüglich der Person des Mose oder des Verhältnisses des historischen Jesus zum geglaubten Christus.
53 Ohlig, Anfänge, S. 8.
54 Busse, Historiographie, S. 264.
55 So Krämer, Geschichte, S. 9, um dann im Laufe ihres Buches dann doch nur die islamische Lesart der Geschichte wiederzugeben.
56 Neuwirth, Archäologie, S. 145.
57 Ohlig, Ostiran, S. 15.
58 Hoyland, Arabia, S. 9. Allerdings bleibt Hoyland seinem kritischen Anfangskommentar selbst nicht treu, wenn er die Sîra Ibn Hišâms als „historische Quelle“ nutzt (S. 156.185). Andererseits erkennt er aber auch, dass man über die Kämpfe der arabischen Stämme bzw. der ersten Kriege nur über spätere (!) Sammlungen etwas weiß: „Die historische Konstruktion mag daher sehr fraglich sein, aber sie haben eine hohen sprachlichen Wert…“ (S. 225).
59 Nevo/ Koren, S. 1.
60 Nevo / Koren, S. 5f.. Analoges lässt sich im Alten Testament z. B. am Buch Josua zeigen: In Jos. 6 wird der Sturz der Mauern von Jericho durch die Posaunen der Israeliten erzählt. Ausgrabungen haben aber gezeigt, dass die Mauern von Jericho längst schon zerstört waren (vgl. H. Weippert, Palästina, S. 199.268.340ff). D. h. die Geschichtenerzähler nutzten die gefallenen Mauern, um die Heilsgeschichte des Volkes mit Gott zu erzählen und um den Besitzanspruch auf das Land religiös zu legitimieren.
61 Nagel, Mohammed, S. 846f.
62 Jansen, S. 311-317.
63 Guillaume, S. 461-469.
64 Zum Folgenden Jansen, S. 16f.
65 Nagel, Mohammed, S. 350f.369f, problematisiert eben genau dies nicht und zeigt damit, dass er die Prophetenbiographien unkritisch als historische Grundlage seiner Überlegungen aufnimmt.
66 Guillaume, S. 363f. Eine Geschichte, die mit fast gleichlautendem Wortlaut schon einige Seiten vorher erzählt wurde: S. 360.
67 Jansen, S. 278, kritisch zu Schöller, Sîra, S. 25-28, der von einem historischen Bericht ausgeht, ohne überhaupt die Frage nach einer jüdischen Rezeption zu stellen. Er bleibt ganz dem Rahmen der Traditionsliteratur verhaftet.
68 Ausführlich bei Crone, Meccan Trade. Vgl. auch Aslan, S. 47: der Ort ?a’if lag nah an diesem Handelsweg und hatte selbst ein Allâh geweihtes Heiligtum.
69 So Jansen, S. 97.
70 So Jansen, S. 181 im Anschluss an Crone, Trade, S. 205-210.
71 So Jansen, S. 49: Dadurch erhält die unverständliche Sure 106 doch einen Sinn.
72 Jansen, S. 95.
73 Ohlig, Anfänge, S. 8.
74 van Ess, Theologie, VIII.
75 Jansen, S. 32ff.
76 So Jansen, S. 13.
77 Jansen, S. 18.
78 Jansen, S. 95.
79 So Busse, Historiographie, S. 264.
80 So Nagel, Mohammed, S. 17.
81 Jansen, S. 26ff.
82 Jansen, S. 13.
83 Von einer anfangs nicht gesicherten Eindeutigkeit des Qur’ântextes zeugen Handschriftenfragmente aus ?an?â’, der Hauptstadt der arabischen Republik Yemen, die 1972 zufällig bei Bauarbeiten an der „Großen Moschee“ gefunden worden sind. Gert-Rüdiger Puin, Yemenexperte und Islamwissenschaftler, war von 1981 bis 1985 im Yemen mit der schwierigen Restaurierung und systematischen Sichtung der Qur’ânfragmente beauftragt. Die Untersuchungen dieser Fragmente geben Hinweise vor allem auf die arabische Orthographie und ihre Entwicklung, den graphischen Hilfssystemen und den Frühformen der arabischen Kalligraphie. Die Funde geben Anlass, neu über den Qur’ân als das von Ewigkeit her „verbürgte Wort Allâhs“ nachzudenken, wodurch die Forscher nicht nur Wissenschaft, sondern zu-gleich auch Ideologiekritik treiben. Dessen ist sich auch Moncef Ben Abdeljelil, Professor für Literatur und Humanwissenschaften an der Sousse-Universität von Tunis, bewusst, der an einer textkritischen Ausgabe des Qur’ân arbeitet. Mit einem Team untersucht er heute die Mehrzahl der Qur’ân-Pergamente sowie der ältesten existierenden Qur’ân-Manuskripte, die in ?an?â’ gefunden worden waren. Auch er fand heraus, dass sie Unterschiede zur offiziellen Version des Qur’ân (die ja selbst auf eine Redaktion zurückgeht) aufweisen. Abdeljelils Untersuchungen bestätigen nur, dass der Qur’ân als Heiliger Text durch Menschen im Laufe der Zeit Veränderungen erfahren hat. Hierin liegt wesentlich das ideologiekritische Moment gegenüber dem klassischen Verständnis des Qur’ân.
84 Ausführlich und mit vielen Übersetzungsbeispielen vgl. Luxenberg, Lesart.
85 Popp, Islamgeschichte, S. 16-123.
86 Widengren, Mani, S. 7: „Umstrittene politische Kraftfelder, verschiedene Kultureinflüsse und wetteifernde Religionen machen das Land zu einem Brennpunkt, an dem zwei Imperien, das römische und das iranische, aufeinander stoßen, wo zwei Kulturen, die hellenistische und die iranische, sich begegnen, und wo die Religionen – nicht nur zwei, sondern eine Unzahl von Glaubensrichtungen – den Kampf um die Seelen aufgenommen haben“.
87 Ohlig, Anfänge, S. 13. Vgl. dazu die Sammelbände von Ohlig / Puin, „Die dunklen Anfänge“ und Ohlig, „Der frühe Islam“ und die weitere Diskussion bei Reynolds (Hg.), The Qur’ân in It´s Historical Context.
88 www.bbaw.de/bbaw/Forschungsprojekte/Coran: „Der Kommentar beruht darüber hinaus auf einer umfassenden Heranziehung jüdisch-christlicher Intertexte und betrachtet den Text des Korans als ein Dokument der spätantiken Welt“. Das „Corpus Coranicum“ befindet sich derzeit in einer Sondierungs- und Aufbauphase; eine Internetveröffentlichung der ersten Ergebnisse ist für 2010 geplant.
89 Gätje, S. 93ff.
90 Reynolds, Introduction, S. 8f.
91 Böwering, S. 71f, Gätje, S. 44ff.


Literaturauswahl



(bei mehreren Artikeln, Büchern ist der jeweilige Autor in den Fußnoten mit dem ersten Hauptwort zitiert)

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Der Autor

ANDREAS GOETZE


Jhg. 1964, ist Pfarrer in Rodgau-Jügesheim, Vertrauenspfarrer des Jerusalemsvereins (Partner der Evang-lutherischen Kirche in Jordanien und Palästina und ihrer Schulen, z.B. TALITA KUMI), Mitglied der "Konferenz für Islamfragen" der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und seit vielen Jahren engagiert im christlich-jüdischen Dialog.



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