ONLINE-EXTRA Nr. 104
© 2009 Copyright beim Autor
Geboren in Wien, aufgewachsen in einem israelischen Kibbuz: Reuven Kritz. In Jerusalem studierte er Literaturwissenschaften, lehrte an der Universität Tel Aviv und als Gastprofessor in den USA und in Heidelberg, wo er heute lebt und arbeitet. Bekannt wurde er in Israel vor allem mit seinen ironisch, politisch-philosophischen "Mini-Essays", die Ende 2007 auch in deutsch erschienen (siehe Compass ONLINE-EXTRA Nr. 65). Dieses Jahr nun legte er seinen Roman "Wie Krebse in der Nacht" vor, aus dem COMPASS heute zwei Kapitel in diesem ONLINE-EXTRA vorstellt.
"Krebse in der Nacht" spielt in seinen 27 Kapiteln auf ironische Weise mit Motiven eines Briefromans. Nachts schreibt der erfolgreiche Möbelfabrikant Jonathan Gartner Briefe an eine Unbekannte, um sein Selbst zu finden. Seine Erinnerungen werden zu Geständnissen seiner Schwächen und Misserfolge, die, weil mit leisem Humor und Heiterkeit erzählt, ihn in eine erträgliche Distanz zu den Kümmernissen seines Lebens bringen. Er beschreibt ihr seinen naiven Glauben an einen Stoffwechsel zwischen Individuum und Gesellschaft und seine Verirrungen im Gestrüpp der Ideologien bis ins grotesk Fantastische. Da behindern verführerisch gekräuseltes Haar und philosophische Betrachtungen einander, ein Kondom verschwindet und die leise Musik der Seele soll dennoch gerettet werden.
Ironisch gebrochene, heiter bis melancholische Gedankengänge, die ihren Verfasser "wie Krebse in der Nacht" zwicken...
COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Wiedergabe der Texte an dieser Stelle!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 104
Siebzehnte Nacht
Die zweite Begegnung mit Ihm. Jonathan kann Alisa wieder in die Augem schauen.
Die zweite Begegnung mit Ihm war anders, ein bisschen schlimmer und doch – besser. Magst du sie hören, Shula?
Das war ‘48, Anfang April, am frühen Abend. Wie viele Geschichten über den Befreiungskrieg hast du schon hören müssen? Hier hast du also noch eine, vielleicht eine nicht so heldenhafte wie sonst üblich.
Beim ersten Bombardement war es noch, als wenn man sich einen guten Kriegsfilm anschaut: Natürlich hat man Angst, große Angst, aber man weiß – wenn auch nicht ganz bewusst – dass man nur Zuschauer ist. Erst wenige Tage vorher war ich zum Nationaldienst in diesen Kibbuz geschickt worden, nachdem unser Schulunterricht mitten in der Elften unterbrochen wurde.
Nun saß ich als neugieriger Besucher in einer Betonstellung, die in zwei kleine Zimmerchen unterteilt war. Wir befanden uns alle im vorderen, die Aussicht war hier besser. An den Schießscharten standen einige Kibbuzgenossen, Männer und Frauen, die ich nur flüchtig kannte, und einer meiner Kameraden, der mit mir hier Dienst machte.
Angeblich sollte es bald einen Angriff geben. Was in diesem Fall zu erwarten und zu tun sei – darüber hatte ich kein klares Bild. Ich war ja nur ein neugieriger Besucher und fürchtete, weggeschickt zu werden. Von Zeit zu Zeit schaute ich durch die schmalen Schießscharten. Man sah nur den Stacheldraht vor der Stellung und dahinter ein dunkelgrünes Weizenfeld.
Und eben in diesem Feld, aber ziemlich weit entfernt, blitzte etwas auf, eine dunkle Wolke erhob sich. Dann erst, nach einer langen halben Sekunde, hörten wir die Explosion, und gleich danach gab's dasselbe noch einmal, aber viel näher, und schon schwirrte und summte es zwischen den Explosionen, es roch plötzlich stark nach feuchter Erde und Schießpulver – ein von Schießübungen bekannter Geruch. Unter den Kibbuzgenossen begann ein Geschrei. Einige riefen, dass man schießen solle, andere schrieen, nur ja nicht und um keinen Preis schießen, jemand befahl allen, sich zu ducken und nicht vor den Schießscharten herum zu stehen, das wurde sofort befolgt, durch die Scharten schlugen schon Granatsplitter ein, Mörtel und Beton fielen von den gegenüberliegenden Wänden. Jetzt kamen schon Blitze und Donner gleichzeitig mit den Stößen – die Wände zitterten, heißer Wind und Erdbrocken flogen durch die Scharten herein und klebten an den Wänden, hie und da schrie jemand.
Mit einem Mal war es still. Jetzt versuchten wir zu sprechen, alle auf einmal, eifrig, unsere Stimmen hatten einen sonderbaren, fremden Klang.
Das waren Mörser und keine Kanonen. Hoffentlich. Bist du verrückt, warum hoffentlich? Weil Mörser bekanntlich nicht durch eine Betondecke durchkommen. Bekanntlich? Wem ist denn das so bekannt, glaubst du, dass die Mörsergranaten sich an das halten, was dir bekannt ist? Aber wisst ihr, wie viel jede solche Granate kostet? Ich habe die Einschläge gezählt. Mindestens 81 waren's, wahrscheinlich mehr. In 33 Minuten. Also, wenn jede davon hundert Pfund kostet, das heißt, 350 Dollar... Aber geh, hör auf, das kostet sicher das Dreifache... Was weißt denn du davon? Lasst doch das dumme Gerede und hört mal, wie die Stille in den Ohren klingt, schaut, wie dunkel es geworden ist, wie spät ist's eigentlich, was, schon sieben? Sie haben uns also eine ganze halbe Stunde... komisch, wie die Zeit rasch vergangen ist. Rasch? Unsinn, eine Ewigkeit war's. Und ich sag euch, so komisch das klingen mag, gleichzeitig rasch und langsam vergangen ist sie. Dann wollten wir in das hintere Zimmer gehen. Es war durch einen Volltreffer total zertrümmert.
Ich habe viele Bilder jenes Abends und jener Nacht in Erinnerung, ich kann sie wie Lichtbilder auf die Leinwand des Gedächtnisses werfen, aber ich erinnere mich an keinen einzigen Gedanken und an kein Gefühl – wie ein Stummfilm gleiten die Bilder vorbei: Viele Verwundete, einige Tote, leise Gespräche, huschende Schatten, verstohlene Zigaretten.
All das wurde wie durch eine Glaswand gesehen, keinerlei Verbindung mit irgend etwas davon, so wie es keinerlei Zusammenhang gab zwischen mir und jenem kranken Onkel der Familie Abramowitsch, der sich aus dem Fenster des zweiten Stockes gestürzt hatte.
Spät in der Nacht, wurde ich einer kleinen Stellung zugeteilt, die sich gleich hinter den Kuhställen und dem Misthaufen befand, gegenüber dem Schafstor. Ich solle ihnen helfen, einen Schützengraben auszuheben, solange es noch dunkel war. Wir gruben einige Stunden, als es hell wurde, hatten wir einen wenn auch flachen Verbindungsgraben fertig, er führte von unserer Stellung zum nächsten Misthaufen und sollte uns als Lebensader zum Hinterland dienen. Außerdem hatten sich alle private Erdlöcher gegraben, die fast einen Meter tief waren und verstreut dem Verbindungsgraben entlang lagen. So hatte jeder einen Schutz, in dem er zusammengekauert liegen konnte, da die Betonstellung selbst ins Auge stach. Wir wussten, die Kanonen würden besonders auf die Stellungen gerichtet sein.
Als es schon hell war, die Scharfschützen und die Maschinengewehre ihre Tagesarbeit begonnen hatten und wir nicht weiter graben konnten, kroch ich zum Kuhstall, um Wasser zu holen. Die letzten zwanzig oder dreißig ungeschützten Meter überquerte ich rennend, so dass ich in den Stall hineinstürmte und sofort über die erste zerfetzte Kuh fiel, die dort lag. Von außen, von der Ferne, schauten die Betonwände mehr oder weniger intakt aus, man konnte nicht ahnen, was sich drinnen abgespielt hatte. Jetzt sah ich, das Dach war an vielen Stellen durchgeschlagen, man konnte große Teile des Himmels sehen. Darunter lagen, wie aufeinander gehäuft, Kuhkadaver, Fleischfetzen klebten an den Wänden und den verbogenen Eisengestellen, an die die Kühe gekettet waren. Aus den riesigen Fleischkolossen ragten gelblich-graue Knochen und braune, zerrissene Gedärme, mit grünlichem, übel riechendem Kot.
An diesem Morgen suchte ich kein Wasser mehr.
Langsam kroch ich zur Stellung zurück.
Meine Leute, vier Burschen und ein Mädchen, saßen zusammen an einer Stelle, an der der Graben ein bisschen breiter und tiefer war und rauchten halbe Zigaretten.
Ich konnte nicht mitrauchen und nicht mitplaudern und versuchte rasch mein Erdloch zu erreichen, dass sich – nicht sichtbar – ein paar Schritte von ihnen entfernt war. Dort saß ich zusammengekauert, den Kopf auf den Knien, und zog einen leeren Sack über mich, den ich in der Nacht durch glücklichen Zufall beim Misthaufen entdeckt hatte. Ich trennte ihn auf, um mich vor den Fliegenschwärmen zu schützen. Am ganzen Körper zitternd, bemühte ich mich, langsam und tief zu atmen, um nicht erbrechen zu müssen – ich hätte sonst meinen einzigen Sack und mich selbst besudelt.
Da begann das zweite Bombardement.
Ich schloss die Augen, zog mir den Sack über den Kopf und hielt mir die Ohren fest zu. Hoch über mir schwirrten die Granaten, sie hörten sich zuerst wie das Surren eines riesigen Ventilators an. Schnell wurde daraus schrilles Pfeifen, schon hörte man den Donner des Einschlages, wusste, diesmal war man heil geblieben, vernahm das Rieseln der fallenden Erdbrocken, einen kurzer Regen- oder Hagelschauer, der rasch über uns hinweg zog, schon hörte man das Schwirren und Surren der nächsten Granate.
Und plötzlich, erwartet unerwartet, wurde das Surren aufdringlicher und das Pfeifen schriller, es gab Blitz und einen Donner, der die Erde erzittern ließ, ein brennend heißer Luftstoß von scharfem Schießpulvergeruch wehte über mich hinweg, ich spürte einen starken Schlag an der Hüfte.
Ich lag ganz still. Also, das Ende. Wenn ich jetzt den Sack wegziehe, werde ich meine Hüfte zerfetzt sehen, rotes oder braunes Fleisch, aus dem ein gelblicher Knochen herausragt und dazwischen schlängeln sich zerrissene Eingeweide, voll grünlichem, übel riechendem Kot.
Ich konnte den Kopf nicht heben, um hinzuschauen. Auch die Hand gehorchte mir nicht, nach einer Weile gelang es mir, die Finger zu bewegen und zu tasten. War das ein Traum? Aber nein, ich fühlte das nasse, glitschige, aufgeschlitzte Fleisch und das raue Ende des zerbrochenen Knochens. Diese glitschig-raue Berührung war wie ein elektrischer Schlag. In zuckender Panik warf ich mich herum, um mich vom Sack zu befreien. Und immer noch zusammengekauert starrte ich entsetzt auf meine Hüfte. Es war wie im Traum und doch wieder nicht. Ich sah wirklich das zerfetzte Fleisch und den zersplitterten Knochen.
Also, das Ende.
Wie lange lag ich erstarrt – eine Zehntelsekunde oder einige Minuten? Dann regte sich der erste Verdacht. Ich fühlte keinen Schmerz und versuchte mich zu bewegen, was nicht gut ging, mein kleines Grab war viel zu schmal. Schmieg mal deinen Kopf an deine Knie, Shula, und versuch, deine Hüfte anzuschauen, da wirst du sehen, wie sonderbar beziehungslos und unsinnig sich alles um dich herum anfühlt. Ich schaute nochmals das Fleisch und den Knochen an, und bei allem Grauen kam mir plötzlich der Verdacht, dass das nicht mein Fleisch sei. Ich konnte es berühren ohne es zu fühlen, ich konnte sogar – den Ekel überwindend – den Knochen abtasten. Und obwohl ich wusste, dass man bei schweren Verwundungen oft keinen Schmerz spürt, war ich nun schon fast sicher, dass das Abgetastete da nicht das Meine war. Einige Schritte von mir entfernt kauerten meine Kameraden in ihren Erdlöchern und im Verbindungsgraben, vier Burschen und ein Mädchen. Die Burschen waren schnurrbärtig, drei, vier entscheidende Jahre älter als ich, kannten einander schon lange. Das Mädchen war derb, breit in der Hüfte, schwerfällig wie eine Bärin, verschwitzt, ungekämmt, attraktiv, mit scharfem, aufreizenden Körpergeruch. Ich schaute ich sie einige Male an und dachte an sie. In den kurzen Ruhepausen, die wir beim Ausheben des Verbindungsgrabens machten, bemühte ich mich, in ihrer Nähe zu sitzen, um ihren scharfen Geruch einzuatmen. Ich wusste nicht, wie sie hieß, mir schien, einer der Burschen hätte sie Lis genannt. Ihn nannte man Wigdu, das kam sicher von Awigdor. Alle lagen in ihren Löchern, sehr nahe und sehr fern. Natürlich konnte ich nicht erkennen, wessen Fleisch es war. Ich glaubte, es sei von Lis, meiner Bärin.
Unterdessen schwirrte und surrte es wieder, dann pfiff und explodierte es, ich zog wieder den Sack über mich, drückte fest die Augen zu und vergaß Fleisch und Knochen. Später, als es wieder ganz still war und nur entfernte Maschinengewehre von den Hügeln bellten, schob ich den Sack beiseite, fühlte das Fleisch und erinnerte mich. Jetzt aber, als ich es näher betrachtete, begriff ich, dass es nicht zu Lis gehören konnte: Der Knochen – anscheinend eine Rippe – war zu breit und nicht genug gewölbt für die Brust eines Menschen.
Drei Tage blieb ich noch jener Stellung zugeteilt, im süßlichen Gestank der toten Kühe, die wir weder begraben noch entfernen konnten, in den Schwärmen der schwarzen und grünen Fliegen, die so träge waren, dass man sie nicht verscheuchen konnte, im Ticken der Maschinengewehre und der Scharfschützen, drei Tage, die Routine wurden.
In den Nächten gruben wir so rasch und so viel wir konnten, der Verbindungsgraben und die Erdlöcher wurden breiter und bequemer, wir konnten sie mit Stroh polstern, jemand brachte weitere Säcke, man holte Wasser, wir aßen altes Brot, es gab auch gekochtes Fleisch – wofür sich keine Abnehmer fanden – und hoch begehrte halbe Zigaretten.
Einige Male saß ich dicht an Lis gedrückt und konnte ihren Geruch atmen, einmal schlief ich neben ihr und sie deckte mich mit Säcken zu, um mich vor den Fliegen zu schützen, sie verteilte Brot, Fleischsuppe und Zigaretten, und da sie das Feldtelefon beaufsichtigte, wusste sie immer als erste, was in den anderen Stellungen und im Kibbuzhof vor sich ging. Es hätte viele Gelegenheiten gegeben, mit ihr zu sprechen, trotzdem kam kein Gespräch zwischen uns zustande. Ich traute mich nicht, ihr in die Augen zu schauen und ihren Geruch atmete ich nur heimlich ein. Sie hieß wirklich Alisa.
Am dritten Tag saßen wir alle zusammen im Verbindungsgraben, rauchten und unterhielten uns über die Bombardements. Lis behauptete, das zweite sei das schlimmste gewesen. Beim ersten, sagte sie, hätte sie noch nicht gewusst, was da vor sich gehe und beim dritten hätte sie schon begonnen, sich damit abzufinden. Aber beim zweiten... Oh, Mama, da hatte sie Angst wie ein kleines Mädelchen, besonders als diese Granate da gleich neben uns die Kuh traf. Ein Stück Fleisch flog direkt auf sie und gab ihr einen Stoß und sie bekam einen Schock. Zuerst kapierte sie nicht, was passiert war und dachte, was ziemlich komisch klingt, wenn man's sagt, aber sie hatte zuerst das Gefühl, dass dieses Stück irgendwie zu ihm gehöre – und dabei zeigte sie mit dem Daumen auf mich – weil es aus seiner Richtung geflogen kam. Dabei schaute sie mich verlegen an und lachte kurz auf. Vermutlich kannte sie meinen Namen nicht und sagte deswegen er.
Ich rauchte scheinbar ruhig weiter und sagte nur: "Ja, wirklich?", und bemühte mich, dabei zu lächeln. Seitdem konnte ich ihr ruhig in die Augen schauen.
Sie hatte große, aufrichtige Kuhaugen, die seltsamerweise zu ihrem Geruch passten.
Als ich aber später einmal ein Pferd sterben sah, gekrümmt und gelähmt zuckend, das nach einer vernachlässigten Fußwunde Wundstarrkrampf bekam und dessen Todeskampf einige Tage dauerte, weil sein Besitzer ihm nicht den Gnadenschuss geben wollte, um die Versicherungssumme nicht zu verlieren... Oder als ich einen herrenlosen, vergifteten Hund im Sterben liegen sah, grau und abgemagert, voller Flöhe und Zecken, oder eine halb überfahrene Katze, die ihren zerquetschten Körper zum Straßenrand zog, oder sogar den grotesk aufgeblasenen Kadaver eines Esels auf einem Misthaufen – da fühlte ich eine gemeinsame Kreatürlichkeit, so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft.
REUVEN KRITZ
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Er beschreibt ihr seinen naiven Glauben an einen Stoffwechsel zwischen Individuum und Gesellschaft und seine Verirrungen im Gestrüpp der Ideologien bis ins grotesk Fantastische. Da behindern verführerisch gekräuseltes Haar und philosophische Betrachtungen einander, ein Kondom verschwindet und die leise Musik der Seele soll dennoch gerettet werden. Als er sich schwer krank glaubt, kommt ihm der Gedanke, wie er aus seinem möglichen Sterben das Geschäft seines Lebens machen könnte.
Hinter Jonathan Gartners erfolgreichem Leben wird langsam seine seelische Einsamkeit sichtbar und an einem weichen Abend legt er die Gedanken, die ihn wie Krebse in der Nacht zwicken, in den Schoß seiner Unbekannten.
Über den Autor:
Reuven Kritz, geboren in Wien, aufgewachsen in einem israelischen Kibbuz; studierte in Jerusalem Literaturwissenschaften, lehrte viele Jahre an der Universität Tel Aviv und als Gastprofessor in USA und in Heidelberg, wo er lebt und arbeitet.
Fünfundzwanzigste Nacht
Moral und Faschismus. Wie viele Horizonte gibt es, wenn man ertrinkt? Warum Jonathan nicht für Angolas Freiheit kämpft.
"Moment, Jonathan. Was hast du gesagt? Gut oder schlecht? Was meinst du damit?"
"Das sind wieder Worte, die für Verschiedenes benutzt werden. Gewöhnlich meint man damit, dass etwas angenehm oder unangenehm ist. Leider lässt man meistens die erklärenden Worte wie "für mich" oder "meiner Meinung nach" weg und sagt, etwas ist gut oder schlecht, Punktum."
"Daraus entnehme ich, für dich ist gut und schlecht etwas Persönliches, das nach Sympathie entschieden wird."
"Ja, Shuli, leider.”
"Und die Sympathie hängt vom eigenen Vorteil ab?”
"Nein, Shuli, das ist zu extrem. Ich meine, dass unsere Sympathien, wir nennen sie Moral oder Werte, nicht zufällig verteilt sind. Sie sind das Resultat unserer Erfahrung und unserer Bedürfnisse.”
"Also, wenn du hörst, jemand lehnt etwas als unmoralisch ab, sagst du dir, dass es ihm unsympathisch ist, weil es gegen seine Erfahrung oder seine Bedürfnisse geht.”
"Ja, Shuli, leider ist das so.”
"Warum sagst du immer leider?”
"Solche Ansichten begeistern nicht, sie sind ziemlich unbequem und unpopulär.”
"Warum? Wenn die Moral sich immer nach den Erfahrungen und Bedürfnissen der Mehrheit richtet, müsste das doch bequem sein?”
"Ist es auch. Es ist nur unbequem, das zuzugeben.”
"Warum?”
"Weil Bedürfnisse und Erfahrungen sich ändern und nicht bei allen gleich sind."
"Sondern?"
"Es gibt viele Menschen, die eine ganz andere Moral anstreben und ganz andere Ansichten haben, manchmal in allen ihren Gedanken und Gefühlen, manchmal auch nur für einzelne.”
"Wozu?”
"Um mit reinem Gewissen handeln zu können. Ein schlechtes Ge wissen ist immer unbequem. Erinnerst du dich, wie der Wolf das Zicklein beschuldigte, ihm das Wasser an der Quelle beschmutzt zu haben? Äsop, der diese Fabel aufschrieb, wollte damit etwas über Moral sagen.”
"Dass die Starken eine für sich bequeme Moral erfinden?”
"Ja, und dass sie das nicht zugeben wollen.”
"Was sagen sie stattdessen?”
"Dass die Moral von Gott kommt und heilig, absolut und ewig ist. Aber man kann Gottes Willen deuten, wie man es braucht.”
"Bist du für Faschismus oder für Demokratie, Jonathan?”
"Ich bin gegen alles, was zum Faschismus führt, auch wenn es Demokratie genannt wird. Aber ich gestehe, dass ich deinen Gedankensprung von der Moral zur Politik nicht verstehe.”
"Ganz einfach, Jonathan: Wenn bei dir die Moral der Sympathie entspringt, will ich Beispiele sehen, wo deine Sympathien liegen.”
"Du bist ein gescheites Mädchen, Shuli.”
"Also, was sagt deine Moral zum Faschismus?”
"Er ist gefährlich und ich bin bereit Opfer zu bringen, um ihn zu bekämpfen.”
"Warum eigentlich?”
"Komm, Shuli, schauen wir zuerst, wie das Wort Faschismus benutzt wird. Nehmen wir an, in einem Wahlkampf, nennt ein Politiker, sagen wir ein gewisser Chasan einen anderen Politiker, den Tamir, Faschist. Tamir droht, Chasan wegen Verleumdung zu verklagen, und Chasan muss sich entschuldigen. Das erinnert mich an ein Gedicht von Heinrich Heine, in dem er erzählt, wie ein Ochse einen anderen zum Duell fordert, weil er ihn Esel genannt hat, während im selben Hof, auf einer anderen Seite, zwei Esel sich duellieren, weil einer den anderen Ochs genannt hat.”
"Was willst du damit sagen?"
"Dass man bei uns den Begriff Faschist als Beleidigung benutzt.”
"Und ist das falsch?”
"Da gibt es kein falsch oder richtig, sondern nur üblich oder nicht üblich. In meinem Beispiel wurde Faschist als Beschimpfung benutzt, Tamir wollte nicht so genannt werden und war beleidigt. Eigentlich hat Chasan nur gesagt, dass ihm Tamir sehr unsympathisch ist, was allgemein bekannt war.”
"Und wie benutzt du dieses Wort?”
"Ich benutze es selten. Schau woher es stammt: Von "Fasces", auf lateinisch "Rutenbündel". Mussolini gab seiner politischen Bewegung diesen Namen. Bei den Römern bekam ein Konsul, wenn das Vaterland in Gefahr war, absolute Macht über Leben und Tod der Bürger und das Symbol dieser Macht war ein Rutenbündel mit einem Beil in der Mitte.”
"Und warum hat Mussolini dieses Symbol gewählt?”
"Er behauptete, das Vaterland sei in Gefahr, die Bürger müssten auf ihre Rechte zugunsten des Staates verzichten und einsehen, dass sie sich in den Dienst des Vaterlandes stellen müssen.”
"Aber Jonathan, auch bei uns würden das viele Führer unterschreiben: Trumpeldor und Ben-Gurion und selbst Chasan – willst du behaupten, sie sind Faschisten?”
"Natürlich nicht, Shuli. Wenn jemand verkündet, der höchste Wert sei nicht das Glück und die Entwicklung des Einzelnen, sondern, der Mensch müsse für sein Volk, seine Partei oder für Gott leben und für sie Opfer bringen, hat er den ersten fatalen Schritt getan. Dann braucht er nur noch zu folgern, der Zweck heiligt die Mittel und er wird, wenn er konsequent ist und ihn niemand stoppt, bei Hitler und Stalin ankommen.”
"Aber es gibt doch viele, die bereit sind, ein Opfer zu bringen für etwas, das ihnen wichtig und teuer ist.”
"Natürlich. Aus ihrem freien Willen. Aber auch dann besteht die Gefahr, dass jemand von der Bereitschaft, sich zu opfern, zur Bereitschaft, andere zu opfern gelangt: Der Zweck – das Ziel – wird eben als etwas Erhabenes gesehen. Aber je mehr Mittel so ein Zweck heiligt, und je mehr diese Mittel das blockieren, was für mich höchster Wert ist – die Entwicklung der Persönlichkeit in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft – desto berechtigter finde ich es, so einen Zweck Faschismus zu nennen und ihn zu bekämpfen.”
"Du meinst also, der Unterschied zwischen Chasan, Ben-Gurion, Mussolini, Stalin oder Hitler ist nur quantitativ?”
"Auf keinen Fall. Aus quantitativen Unterschieden ergeben sich neue Qualitäten. Nach Mussolinis Befehl wurden zuerst Hunderte und dann Tausende misshandelt, verhaftet und getötet. Bei Stalin und Hitler stieg diese Zahl in die Millionen, wogegen bei Ben-Gurion nur wenige politische Gegner der britischen Polizei ausgeliefert und von ihr zu Tode geprügelt wurden, während Chasans Partei nie die Möglichkeit hatte, ihre Gegner physisch zu liquidieren, aber sie lehnte die Möglichkeit nicht ab. Man kann sie also nicht vergleichen.”
"Man kann einen Raubmörder nicht mit einem Taschendieb vergleichen oder mit jemandem, der keine Hände hat und deshalb nicht stehlen kann, aber nichts dazu sagt, wenn er sieht, wie andere stehlen?”
"Nein, Shuli, ich distanziere mich von deinen extremen Formulierungen. Vergleiche erregen nur Ärger und sind nicht hilfreich, um das Problem zu lösen."
"Was ist das Problem, Jonathan?”
"Es gibt zwei Grundhaltungen im Leben, man kann für die eine oder die andere Sympathie hegen, aber man kann nicht beweisen, welche die Richtige ist: Die eine behauptet, das Leben ist ohne einen Sinn, oder – und das ist dasselbe, nur schöner ausgedrückt – der Sinn des Lebens ist das Leben selbst, während die andere glaubt, der Sinn des Lebens ist, einer Idee zu dienen: Gott, der Revolution, dem Volk, dem Vaterland, der Ehre, der Menschheit... Beide können sympathische und unsympathische Varianten hervorbringen. Wenn man sie konsequent verfolgt, führt die eine zum Faschismus und die andere zur Anarchie.”
"Und du neigst zur Anarchie?”
"Meine Erzieher fanden, ich hätte anarchistische Neigungen. Ich glaubte damals, das Leben hätte keinen Selbstzweck und war bereit, meines und das der Andersdenkenden, für den Fortschritt der Gesellschaft zu opfern.”
"Hast du schöne Erinnerungen aus dieser Zeit?”
"Die schönsten meines Lebens.”
"Das ist doch paradox: Als du nicht an das Glück des Einzelnen glaubtest, warst du am glücklichsten?”
"Kann sein, Shuli. Die Welt ist voller Widersprüche, und wer sich ihnen nicht aussetzen will, muss eine eigene widerspruchslose Welt erfinden."
"Hast du was gegen das Glücklichsein, Jonathan?"
"Warum soll Glück ein Maßstab sein, das Leben zu bewerten? Für mich ist der Maßstab die Entwicklung der Persönlichkeit, ihre Bereicherung auf allen Gebieten, und ich glaube, das geht nur in der Wechselbeziehung und Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Wenn Glück der höchste Wert ist, wie leicht ist es, Schweine glücklich zu machen. Und die Menschen, wie macht man die glücklich? Sollen wir mit Opium die Weltverbesserung betreiben? Ich würde auch für das vollkommenste Glücksgefühl nie auf Schmerz, Misserfolge und Ernüchterungen, die eine Entwicklung mit sich bringt, verzichten.”
Wir schweigen nachdenklich.
"Jonathan, vorhin hast du gesagt, du bist bereit, den Faschismus zu bekämpfen.”
"Ja, ich sagte, er ist gefährlich, und ich bin bereit, vieles zu opfern, um ihn zu bekämpfen.”
"Wie?”
"Das kommt darauf an.”
"Worauf?”
"Das hängt davon ab, wie gefährlich er ist und wieweit er mich verstrickt.”
"Er dich – was?”
"Verstrickt. Jede Gewalt ist mir verhasst, jeder Versuch, jemanden zu zwingen, etwas gegen seinen Willen zu tun. Und deswegen werde ich nur mit Gewalt kämpfen, wenn ich dazu gezwungen werde.”
"Und mit Worten – bist du bereit mit Worten zu kämpfen?”
"Nein, Shuli, nicht einmal das. Du hast keinen heldenhaften Freund. Dazu möchte ich dir etwas erzählen, dass mir als Gleichnis dienen soll: Ich habe einmal ein Bild gesehen, das aus verschiedenen Holzarten angefertigt war. Der Künstler hatte viele Holzsorten benutzt, schwarzes Ebenholz, dunkelbraunes Nussholz, rötliches Buchenholz, lichtgelbes Fichtenholz, und viele Sorten, die ich nicht kenne: Grünliches, graues, bläuliches, rosa und hell-lila Holz – alles war in dünnen Schichten eingelegt. Aber nicht nur die Farbschattierung, auch die Faserrichtung spielte dabei eine Rolle. Der Künstler muss ein großer Holzkenner gewesen sein, mit einem wachen Auge für ganz zarte Unterschiede in der Farbtönung und in der Maserung. Sicher konnte er zwischen hundert Holzsorten unterscheiden. Nehmen wir nun an, dass dieser gute Mann, der unglücklicherweise nicht schwimmen kann, in einen Fluss fällt und glaubt, verzweifelt, gleich zu ertrinken. Neben ihm treiben ein paar Holzbretter vorbei, unser Mann versucht, zappelnd und Wasser schluckend, sich an ihnen festzuhalten. Wenn man ihn später über die Holzsorten dieser Bretter befragt, über ihre Maserung und Farbschattierung, wird er zugeben, dass er nur an eines dachte: Ob er sich und wie er sich an diesen Brettern festhalten kann.”
"Wie meinst du das, Jonathan?”
"Wenn ich Zeit und Muße habe, werde ich zwischen hundert Holzsorten unterscheiden, und wenn ich ertrinke, werde ich nur an Holz zum Festhalten denken. Wenn ich jemanden kennenlerne, höre ich, was und wie er redet, beachte seine Gesichtszüge und den Ton seiner Stimme, die Aura, die ihn umgibt, kurz, seine Persönlichkeit. Aber wenn er Anstalten macht, mich niederzuschlagen, denke ich natürlich nur an eines: Wie ich mich am besten wehren kann. Aber eine Denkweise, die im anderen nur den Gegner sieht, will ich nicht übernehmen. Deswegen kann ich nie ein gutes Parteimitglied werden.”
"Und wenn du einmal eine sympathische Partei entdeckst?”
"Natürlich kann man für die eine oder andere Partei Sympathie hegen und die weniger gefährlichen Parteien gegen die gefährlicheren unterstützen. Alle interessieren sich für die Persönlichkeit eines jeden, aber nur, um herauszufinden, wieweit er ihnen nutzen oder schaden kann. Erst wenn ich eine Partei entdecke, die in ihren Genossen kein Mittel zum Zweck sieht, die sich für Menschen interessiert, auch wenn sie keine Genossen oder potentielle Wähler sind, die eine gerechte Sache unterstützt, auch wenn sie sich selbst dadurch schadet... Ja, wenn es so eine Partei gäbe...”
"Wenn aber Unrecht geschieht – nicht dir, sondern einem anderen? Kommst du ihm da zu Hilfe?”
"Ich glaube, ja. Das hängt davon ab.”
"Von was? Wirst du überlegen, ob dir morgen das gleiche passieren könnte?”
"Nein, ich glaube nicht, dass ich so gedacht hätte, obwohl es natürlich zutrifft. Ich bin bereit, viele Leute und Sachen aus purer Sympathie zu unterstützen – das hängt leider viel von Trägheit und Routine ab. Zum Beispiel, Unrecht, das in einem fernen Land geschieht, sagen wir, in Angola. Ich weiß, dass dort die Eingeborenen, die für ihre Freiheit kämpfen, mitleidslos niedergemetzelt und ihre Dörfer niedergebrannt werden. Du könntest fragen, warum fährst du nicht nach Angola, um dort den Freiheitskampf zu unterstützen?”
"Gut, nehmen wir an, dass ich das gefragt hätte.”
"Gerade wollte ich dich bitten, nicht zu fragen, Shuli, ich habe keine gute Antwort. Weil ich nicht portugiesisch kann und nicht weiß, wie man hinfährt. Und weil ich dir noch Briefe schreiben will und in Gedanken mit dir diskutiere. Vielleicht, weil ich von den Gräueltaten, die dort geschehen, nur gehört, sie aber nicht gesehen habe. Wenn mir jemand einen Dokumentarfilm gezeigt und mir erklärt hätte, wie wichtig meine Teilnahme wäre... Wer weiß? Als ich hörte, dass bei uns, in Galiläa, die Grundstücke arabischer Bauern von der Regierung beschlagnahmt wurden, und dass ein junger Mann, namens Uri Davis, verhaftet wurde, als er dagegen protestierte, begann ich mich für die Sache zu interessieren, las das Pro und Kontra, darunter auch das Gutachten des Professorenkomitees, das die Angelegenheit untersuchte und kam zu dem Schluss, dass das Recht auf der Seite von Uri Davis war, so dass ihm meine ganze Sympathie galt. Als ich hörte, einige Leute tun sich weiter zusammen, um hinzufahren und das beschlagnahmte Gebiet demonstrativ zu betreten, um – wie Uri Davis – verhaftet zu werden, fuhr ich auch hin, und es war eine angenehme Überraschung, dort alte Freunde zu treffen. Das Resultat war, dass man uns einfach ignorierte, niemand erschien, um uns zu verhaften, Uri Davis blieb im Gefängnis und die Grundstücke blieben beschlagnahmt. Nun könntest du fragen: Warum hast du nicht wie Uri Davis einen Hungerstreik vor dem Büro des Ministerpräsidenten begonnen? Ich weiß selbst nicht, warum. Sicher aus Trägheit, Bequemlichkeit und Schwäche. Ich hätte vielleicht nicht länger als ein oder zwei Tage durchgehalten, ich hab dazu einen zu starken Appetit, aber wenn es wieder eine Demonstration gibt, fahre ich wieder mit. Da kann man nichts machen, Shuli, du hast eben keinen heroischen oder konsequenten Freund.”
Du lachst.
Nun ist es still auf der Bühne, alles verdunkelt sich langsam.
Vorhang.
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Der Autor
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... geboren in Wien, aufgewachsen in einem israelischen Kibbuz; studierte in Jerusalem Literaturwissenschaft, lehrte an der Universität Tel Aviv und als Gastprofessor in USA und in Heidelberg, wo er lebt und arbeitet.
Der in Israel bekannte Autor schrieb Romane und Erzählungen, historische und politische, lyrische und fantastische; reich an Milieu und leisem Humor. Vielfalt und Humor kennzeichnen auch seine akademischen Veröffentlichungen: Strukturen und Motive des Grotesken in deutscher, russischer und hebräischer Literatur, hunderte Interpretationen von Kurzgeschichten und Gedichten. Aufmerksamkeit erregten eine zweibändige Einführung in die Lyrik mit Beispielen aus der Weltliteratur und eine dreibändige Geschichte der Kibbuzliteratur.
Von Reuven Kritz liegen bereits zwei andere Werke in deutscher Sprache vor: "Die Krankheit der Dichter oder Hoffmanns Erzählungen" und "Die Genies von Kiryat Motzkin" (siehe Compass Online-Extra Nr. 65).
Reuven Kritz steht gerne für Lesung und Gespräch zur Verfügung!
Anfragen richten Sie bitte an:
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Betreff: Kritz Einladung