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Online-Extra Nr. 195


Martin Buber neu gelesen

(Hrsg.) THOMAS REICHERT, MEIKE SIEGFRIED und JOHANNES WASSMER
Martin Buber-Studien, Bd. 1. Lich/Hessen, Verlag Edition AV 2013, 432 S.




»…vom Gebot einer Gerechtigkeit getrieben und das Herz von ihm bewegt« 1 

Martin Buber und Deutschland nach der Shoah


SIEGBERT WOLF



»Wie ist ein jüdisches Leben nach Auschwitz möglich?
Ich weiß heute nicht mehr recht, was das ist,
ein jüdisches Leben, und werde es kaum noch wieder erfahren.
Aber ich weiß, was das ist: bei Ihm ausharren.
Die jetzt bei Ihm ausharren, leiten dazu hinüber,
was einst ein jüdisches Leben wird genannt werden dürfen.«
2



I.

Gegen Ende des Jahres 1942 erfuhr der Yischuv, die jüdische Gemeinschaft im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina, von der Shoah, den Massenmorden des deutschen Nationalsozialismus an den Juden in Europa. Als unmittelbare Reaktion darauf schlossen sich dort im gleichen Jahr jüdische Intellektuelle unter dem Namen »Al-domi« (hebr.: »Schweige nicht!«) zusammen (Porat 1984, S. 106 ff.). Diesem Kreis gehörte auch Martin Buber an, der seit 1938 in Jerusalem lebte und bis zu seiner Emeritierung 1951 einen Lehrstuhl für Sozialphilosophie an der Hebräischen Universität innehatte. Mit den Hilfeleistungen für die unter dem NS-Genozid leidenden Menschen unzufrieden, forderte »Al-domi« von der Yischuvführung, sämtliche Energien auf die Rettung jüdischer Menschen in Europa zu verwenden (ebd.; Segev 1995, S. 113). Bereits zum ersten Jahrestag der Pogromnacht in Deutschland 1938, in dessen Verlauf das Haus der Familie Buber in Heppenheim an der Bergstraße verwüstet worden war, hatte Buber den Yischuv zu erhöhtem Rettungsengagement für die von den Nazis verfolgten und vom Tode bedrohten Jüdinnen und Juden ermahnt (Buber, Them and Us).

Bald nach seiner Emigration aus Deutschland – gerade noch rechtzeitig, um den im Anschluss an die NS-Pogromnacht vom November 1938 praktizierten Massenverhaftungen und Deportationen jüdischer Menschen in die Konzentrationslager zu entgehen – kritisierte Martin Buber die weitgehende Ignoranz der Weltöffentlichkeit gegenüber dem Schicksal der europäischen Juden. Unmittelbaren Anlass hierzu bot der Ende November 1938 erschienene Artikel »The Jews« von Mahatma Gandhi (1869–1948) (Ghandi 1938; Bartolf 1998). Darin forderte Gandhi, von wenig Sachkenntnis getrübt, die deutschen Juden und Jüdinnen auf, nicht aus NS-Deutschland zu flüchten, sondern dem Nazi-Regime gewaltlos, unter Einsatz des eigenen Lebens, zu widerstehen. Dieses gefühlskalte Elaborat, veröffentlicht nur wenige Tage nach der Pogromnacht 1938, die Hunderten von Juden das Leben kostete und zur Verhaftung Zehntausender jüdischer Menschen führte, blieb nicht unwidersprochen. Am 24. Februar 19393 wandte sich Buber in einem offenen, allerdings unbeantwortet gebliebenen Brief an Gandhi (ebd., S. 158–175), dessen Person und Werk er bislang geachtet hatte. Vehement widersprach er Gandhis Gleichsetzung der Lebensrealität der indischen Bevölkerung in Südafrika mit derjenigen der deutschen Juden nach 1933. Zudem wies er darauf hin, dass der indische Akt des »Satyagraha«, des gewaltlosen Widerstandes, keineswegs auf die von Demütigung, Entrechtung, Verfolgung, Vertreibung und schließlich Ermordung gekennzeichnete Lebenssituation des deutschen Judentums anzuwenden sei:


»Man kann einsichtslosen Menschenseelen gegenüber eine wirkliche Haltung der Gewaltlosigkeit einnehmen, auf Grund der Möglichkeit, ihnen dadurch allmählich Einsicht beizubringen, aber einer dämonischen Universalwalze kann man so nicht begegnen. Es gibt eine Situation, in der aus der Satyagraha der Seelenstärke keine Satyagraha der Wahrheitskraft werden kann. Das Wort ›Martyrium‹ bedeutet Zeugenschaft; wenn aber kein Mensch da ist, der das Zeugnis entgegennimmt? Zeugenschaft ohne Zeugnis, unwirksames, unbeachtetes, verwehendes Martyrium, das ist das Los unzähliger Juden in Deutschland« (ebd., S. 161).


II.

Der nationalsozialistische Genozid erschütterte Martin Buber nachhaltig.4 Dass dieses Massenverbrechen am europäischen Judentum in Deutschland vorbereitet und in den von der Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs besetzten Ländern Osteuropas innerhalb weniger Jahre verübt wurde, überstieg zunächst sein Vorstellungsvermögen. Sein Essay »Schweigen und Schreien« vom Frühjahr 1944 führt diese Fassungslosigkeit drastisch vor Augen: »Noch nie habe ich so sehr verspürt, wie zweifelhaft all unser inneres Dasein trotz aller Werke der Erneuerung ist, wie in diesen Tagen, da die Massen unseres Volkes in die Gewalt ihrer Todfeinde gegeben sind« (Buber, Schweigen und Schreien, S. 640). Im Februar 1946, auf einer Gedenkfeier für seinen wenige Wochen zuvor verstorbenen Freund, den Theologen Leonhard Ragaz (1868–1945), in der liberalen Jerusalemer Synagoge »Emet we-Emuna« (hebr. »Wahrheit und Glaube«), deutete Buber die Shoah als beunruhigende Zäsur einer unerlösten Welt (Buber, Ragaz und »Israel«). Die Singularität und Präzedenzlosigkeit des NS-Genozids stand für ihn aufgrund der »organisierten Grausamkeit«, der »kein früherer geschichtlicher Vorgang zu vergleichen ist« (Buber, Das echte Gespräch, S. 33), außer Zweifel.5 Angesichts dieses Zivilisationsbruchs erschien es ihm unangemessen, so weiterzuleben wie bisher: »In dieser Zeit wird gefragt und gefragt: Wie ist nach Auschwitz ein jüdisches Leben möglich? Ich möchte diese Frage richtiger fassen: Wie ist in einer Zeit, in der es Auschwitz gibt, noch ein Leben mit Gott möglich? Die Unheimlichkeit ist zu grausam, die Verborgenheit zu tief geworden« (Buber, An der Wende, S. 178). Buber hegte keine Rachegelüste, eher eine tiefe Traurigkeit, dass dieses Menschheitsverbrechen stattgefunden hatte.

Wie reagierte Martin Buber auf diesen Zivilisationsbruch ›Auschwitz‹ als »Extremsymbol« der Menschheitskrise? Fanden diese Erfahrungen substantiellen Eingang in seine Kultur- und Religionsphilosophie? Wie gestaltete sich sein Verhältnis zum Nachkriegsdeutschland? Im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes kann nur ein erster Überblick gegeben werden. Eine detaillierte Abhandlung, die sämtliche Aspekte ausführlich berücksichtigt, muss einer zukünftigen Monographie vorbehalten bleiben.


III.

In den ersten Jahren des NS-Regimes konnte sich Martin Buber nicht zu einer Emigration aus Deutschland entschließen. Zwar nahm er die Ausgrenzung des Judentums und den Antisemitismus zwischen 1933 und 1938 mit Besorgnis zur Kenntnis (vgl. Buber, Der jüdische Mensch von heute, S. 543)6 – damals leitete er die von ihm initiierte »Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung« (1934–1938) bei der »Reichsvertretung der deutschen Juden«. Er wusste über das Martyrium der Juden in Deutschland nach 1933 ebenso Bescheid wie über den Horror in den Konzentrationslagern (vgl. Buber, Brief an Gandhi). Jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits eine Vorstellung davon zu entwickeln, was dem europäischen Judentum mit der Shoah noch bevorstehen sollte, überstieg auch Bubers Vorstellungskraft; zu eng war er mit der deutschen Kultur verbunden und zugleich von der westlichen humanistisch-aufklärerischen Perspektive auf das menschliche Wesen geprägt. Als er 1939 schließlich das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose7 konstatieren musste, hatte er einen langen inneren Kampf mit sich selbst ausgetragen und tat sich mit dieser Erkenntnis außerordentlich schwer (Buber, Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose, S. 629–632).

In Wien geboren, in Polen aufgewachsen, viele Jahre in Berlin und Heppenheim beheimatet, mit engen Beziehungen zu Frankfurt am Main – Freies Jüdisches Lehrhaus, Lehramt an der Universität Frankfurt und »Verdeutschung« der Hebräischen Bibel gemeinsam mit dem Philosophen Franz Rosenzweig (1886–1929) – sowie zum Heppenheim benachbarten Worms »mit seiner uralten jüdischen und christlichen Tradition« (Lamm 1978, S. 131), richtete sich Buber nach seiner Auswanderung aus Deutschland in Jerusalem ein. Dass bis nach dem Zweiten Weltkrieg sämtliche Verbindungen nach Deutschland abrissen, machte ihm »schwer zu schaffen« (Brief Martin Bubers an Hans Trüb vom 20.12.1945. In: BuBr III, S. 96 f., hier S. 96). Eine dauerhafte Rückkehr schloss er kategorisch aus. Israel blieb, trotz mancher Widerstände, seine neue Wahlheimat.8 Obwohl Buber im Nahen Osten das binationale, gleichwertige Zusammenleben von Juden und Arabern favorisierte, anerkannte er den 1948 gegründeten Nationalstaat Israel als die »neue geschichtliche Form unsrer Selbstbestimmung« (Brief Martin Bubers an Robert Weltsch vom 20.06.1961. In: BuBr III, S. 522 f., hier S. 523).


IV.

Für Martin Buber galt in den ersten Nachkriegsjahren das Wort eines der bedeutendsten Vertreter des deutschen Judentums und Überlebenden der Shoah: Rabbiner Leo Baeck (1873–1956), der sich nach seiner Befreiung aus dem Lager Theresienstadt in London niedergelassen hatte:


»Die Geschichte des deutschen Judentums ist definitiv zu Ende. Die Uhr kann nicht zurückgestellt werden. […] Eine Rückkehr nach Deutschland? Ich sehe für Juden keinerlei Möglichkeit hierzu. Zwischen den deutschen Juden und dem Deutschland der Epoche 1933–45 steht zu viel. Soviel Mord, Raub und Plünderung, soviel Blut und Tränen und Gräber können nicht ausgelöscht werden. […] Gewiß werden einzelne Gemeinden hier und da fortexistieren, doch die nährende Humusschicht ist nicht mehr vorhanden« (Gespräch mit Leo Baeck, zit. aus: Meyer 2001, S. 130).


Als sich schließlich wieder jüdisches Gemeindeleben in Deutschland etablierte, stellte sich Buber dieser Entwicklung nicht in den Weg.

Aufgrund der Verbrechen des Nationalsozialismus bezeichnete er das deutsche Volk mit seinem tief verwurzelten Antisemitismus, seiner verbreiteten Subalternität, Obrigkeitshörigkeit und Staatsgläubigkeit als eines, »an dessen Seele die Erkrankung der Menschenseele in furchtbaren Schwären ausgebrochen ist« (Brief Martin Bubers an Adolf Sindler vom 19.07.1946. In: BuBr III, S. 109 ff., hier S. 110). Zu seiner »Umkehr« bedürfe es »einer Botschaft und Beschwörung zugleich« (ebd.). Vehement wandte er sich gegen


»ein Zusammenwerfen des deutschen Volkes mit dem Mordgesindel der Gaskammer-Organisation [...]. Ob es um Juden oder um Deutsche geht, ich werde stets dagegen kämpfen, daß man ein Volk mit seinem Abschaum identifiziert, welchen Abschaum es wie jedes Volk sein eigen nennt und nennen muß. Nicht bloß den [...] Fiktionen der ›Rassen‹, sondern auch den Realitäten der Völker gegenüber scheint mir Generalisierung die primäre Ungerechtigkeit zu sein« (Brief Martin Bubers an Hans Blüher vom 19.01.1955. In: BuBr III, S. 389 ff., hier S. 390).


Wie es um Deutschland infolge der Verheerungen des Nationalsozialismus zukünftig bestellt sein könnte, bewegte Buber nachhaltig: »Aber – wiederkommen, gar Weisung geben […]?« (Brief Martin Bubers an Josef Minn vom 23.09.1946. In: BuBr III, S. 123 f., hier S. 123). Dies lag ihm, nach dem, was geschehen war, fern: »zu ihnen [den Deutschen, S.W.] besonders, spezifisch zu ihnen zu reden vermag ich […] kollektiv, anders als zu Einzelnen […] nicht mehr« (ebd., S. 124).

In den unmittelbaren Nachkriegsjahren schlug Buber Einladungen deutscher Freunde zu Vorträgen in Westdeutschland aus. Auch Bemühungen der Akademie der Wissenschaft und der Literatur in Mainz, ihn als korrespondierendes Mitglied zu gewinnen, beschied er abschlägig. In einer persönlichen Mitteilung an Alfred Döblin (1878–1957), Vizepräsident der Akademie, Klasse Literatur, vom 26. April 1950 begründete er seine Haltung eingehend: Zwar habe er sich seit Kriegsende nicht gescheut, durch zahlreiche Gutachten bei Entnazifizierungsverfahren helfend einzugreifen, und


»[a]uch durch öffentliche Äußerungen verschiedener Art habe ich mein ungemindertes Interesse für die deutschen Menschen, die guten Willens sind, bekundet. Ich kann mich jedoch nicht dazu entschließen, an der Tätigkeit deutscher öffentlicher Institutionen teilzunehmen, denn dies erfordert einen Grad der Verbundenheit, zu dem ich mich nicht befähigt fühle. Ich bringe aber allem, was an echter Geistigkeit und an echter Menschlichkeit in Deutschland besteht und geschieht, eine tiefe und rückhaltlose Sympathie entgegen« (Brief Martin Bubers an Alfred Döblin vom 26.04.1950. In: BuBr III, S. 249).9


V.


Im Frühjahr 1947 brachen Martin und Paula Buber zu ihrer ersten Europareise nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Vorträge an Universitäten in den Niederlanden, Belgien, Skandinavien und Großbritannien – wo er in London mit Leo Baeck zusammentraf (Baeck 2001, S. 132) – standen auf dem Programm, nicht jedoch Vorlesungen in Deutschland. Diesem Land und seinen Menschen gegenüber blieb Martin Buber aus nachvollziehbaren Motiven zunächst noch distanziert:


»Es geschah, weil für mich seit dem, was von Deutschen, sowohl Massen wie einzelnen, in der Hitler-Zeit den Juden angetan worden ist – dem Ungeheuren, mit dem sogar die Weltgeschichte des jüdischen Martyriums nicht verglichen werden kann –, der Deutsche als Menge, als öffentliches Wesen gesichtslos geworden ist. Ich aber kann nur zu Menschengesichtern reden, die mit ihren persönlichen Sinnen mein Wort aufnehmen« (Buber, Nachtrag, S. 7).


Persönliche Kontakte knüpfte er ausschließlich zu wenigen langjährigen Bekannten, etwa zum Heidelberger Verleger Lambert Schneider (1900–1970), mit dem er 1947 an der ›sicheren‹ Deutsch-Schweizer Grenze bei Basel zusammentraf. Im Jahr darauf erschien bei Lambert Schneider das erste Buch Bubers in Deutschland nach seiner Emigration: Das Problem des Menschen (Schneider 1965, S. 90).

Hatte Martin Buber noch im Frühjahr 1950 eine Einladung des Münsteraner Theologen Karl Heinrich Rengstorf (1903–1992), auf einer Tagung über das christlich-jüdische Verhältnis zu sprechen, abgelehnt, so besuchte er im folgenden Jahr während einer Europareise und nachdem Rengstorf die Offerte an Buber erneuert hatte, erstmals seit 1938 wieder Deutschland (Heidelberg, Münster).10 In Münster las er als persönlicher Gast Rengstorfs in dessen Wohnung vor einem ausgewählten Kreis über »Die Opferung Isaaks« (Brief Martin Bubers an Karl Heinrich Rengstorf vom 19.01.19151. In: BuBr III, S. 266). Aus seinem Bekanntenkreis in Deutschland mehrten sich die Stimmen, die ihn zur Weiterarbeit an der 1925 begonnenen »Verdeutschung« der Hebräischen Bibel ermunterten (Brief von Karl Heinrich Rengstorf an Martin Buber vom 10.12.1949. In: BuBr III, S. 229 f. und Bubers Antwort vom 31.12.1949. In: ebd., S. 232), die Anfang der sechziger Jahre abgeschlossen werden konnte. 1949 schlug Hermann Hesse (1877–1962) der Schwedischen Akademie Buber für den Literaturnobelpreis vor (Brief Hermann Hesses vom 02.03.1949. In: BuBr III, S. 225, Anmerkung 1; Brief Martin Bubers an Hermann Hesse vom 22.11.1949. In: ebd., S. 225), der ihm allerdings – ebenso wie der Friedensnobelpreis – versagt blieb.

Schließlich gelang es Buber, nach einer Phase der »Lähmung, die aber […] nicht meiner Seele allein sondern auch der Welt anhaftete« (Brief  Bubers an Hermann Hesse vom 16.09.1945. In: BuBr III, S. 90 f., hier S. 90), sich zu öffnen und den unterbrochenen Kontakt mit deutschen Freunden abermals aufzunehmen: »Es ist der Abend nach dem ›langen Tag‹, wie die Juden ihn nennen: nach dem ›Versöhnungstag‹. Ich habe mich mit niemand zu versöhnen gehabt, nur mit allen, zumal mir selber. Das ist nun doch endlich geschehn« (ebd., S. 90). Seine reservierte Haltung, die nach eigenem Bekunden nichts mit irgendwelchem »Groll gegen die Gojim« zu tun hatte (Brief Martin Bubers an Baruch Litvin vom 03.05.1951. In: BuBr III, S. 280), löste sich so ins Dialogische auf. Seitdem besuchte er – gemeinsam mit seiner Frau Paula – regelmäßig das Land, dessen Bevölkerungsmehrheit zwischen 1933 und 1945 Jüdinnen und Juden nicht länger in ihrer Mitte duldete. Dass es ihm »wieder ermöglicht« war, »in Deutschland öffentlich zu sprechen« (Brief Bubers an Romano Guardini vom 12.12.1952. In: BuBr III, S. 323), ist den anhaltenden Bemühungen vieler zu verdanken, etwa dem ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss (1884–1963). Für den Politiker Heuss standen hierbei vor allem deutsche Interessen – wie die »vorbehaltlose Westintegration« und die »Wiederbewaffnung der Bundesrepublik im Rahmen der geplanten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft« (Frei 1999, S. 22) – im Vordergrund.11 Martin Buber schätzte das deutsche Staatsoberhaupt als einen Gesprächspartner, dem er vertraute. In einem Schreiben an Heuss Anfang März 1958 als Antwort auf dessen Gratulation zu seinem 80. Geburtstag (vgl. den Brief von Theodor Heuss an Martin Buber vom 24.01.1958. In: BuBr III, S. 447 ff.) bedankte er sich herzlich:


»Ich habe es all diese Zeit, seit der Versuch des Wiederaufbaus eines authentischen Deutschlands unternommen worden ist, als eine starke, sinnstarke Wirklichkeit empfunden, daß Sie es sind, der den Ort des ›Hauptes‹ einnimmt. Dazu aber kommt, daß Sie der sichtbarste unter jenen Deutschen sind, mit denen ich einen eigentümlichen Zusammenhang fühle« (In: BuBr III, S. 452 f., hier S. 453).





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Thomas Reichert,
Meike Siegfried und
Johannes Waßmer (Hrsg.)
Martin Buber neu gelesen


Martin Buber-Studien, Band 1
Verlag Edition AV
Lich 2013
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VI.

Martin Bubers Reisen in die Bundesrepublik Deutschland in den 1950er Jahren gingen einher mit mehreren öffentlichen Ehrungen. 1951 verlieh ihm die Universität Hamburg den Hansischen Johann Wolfgang von Goethe-Preis. Persönlich in Empfang nahm Buber ihn erst zwei Jahre später (vgl. den Brief Bruno Snells an Martin Buber vom 07.12.1951. In: BuBr III, S. 297). Seine Absage, im Winter 1951/52 nicht zur Preisverleihung in die Hansestadt zu reisen, begründete er mit unaufschiebbaren Lehrverpflichtungen in den USA (vgl. den Brief Martin Bubers an Bruno Snell vom 22.12.1951. In: BuBr III, S. 298). Dass allerdings grundsätzlichere Erwägungen hierfür ausschlaggebend waren, verdeutlicht sein Brief an den Hamburger Philologen und damaligen Rektor der Hamburger Universität, Bruno Snell (1896–1986):


»So sehr es mir gewährt ist, in jeder echten Begegnung mit einem deutschen Menschen ihn als Person rückhaltlos anzunehmen, und demgemäß auch, mit jedem aus solchen Personen gebildeten Kreis zu kommunizieren, so ist es mir doch bisher nicht möglich geworden, die seit den Vorgängen von 1938 ff. für mich bestehende Antlitzlosigkeit der deutschen Öffentlichkeit zu überwinden. Ein nicht durch intentionale Auslese zusammengeschlossenes Publikum, wie etwa die Studentenschaft einer Hochschule, erfüllt für mich die unerläßliche Voraussetzung nicht, unter der allein ich öffentlich zu sprechen vermag: jedes Gesicht, dem ich mich zuwende (und ohne solche immer neue Zuwendungen kann ich überhaupt nicht reden), als das meines rechtmäßigen Gegenüber betrachten zu dürfen. Unter den Lasten, die mir die Geschichte dieser Zeit auferlegt hat, empfinde ich diese als eine der schwersten; mindern läßt sich ihr Gewicht bislang nicht« (Brief Martin Bubers an Bruno Snell vom 25.01.1952. In: BuBr III, S. 309 f., hier S. 310).12


Erst im Sommer 1953, als Buber Gastvorlesungen zum Thema »Geltung und Grenzen des politischen Prinzips« an den Universitäten Heidelberg, Frankfurt a. M., Bonn, Münster, Tübingen und Göttingen hielt, konnte ihm am 24. Juni d. J. in Hamburg der Hansische Goethe-Preises 1951 höchstpersönlich überreicht werden.

Im gleichen Jahr erfolgte Martin Bubers bedeutendste Nachkriegsehrung in Deutschland: die Verleihung des bis heute angesehenen »Friedenspreis des Deutschen Buchhandels« – seit 1950 alljährlich vergeben vom »Börsenverein des Deutschen Buchhandels« (vgl. den Brief von Arthur Georgi an Martin Buber vom 17.06.1953, BuBr III, S. 346 f.).13 Als ihm der »Friedenspreis« am 27. September 1953 während der Frankfurter Buchmesse im Rahmen eines vom Hörfunk übertragenen Festaktes in der Paulskirche in Anwesenheit des Bundespräsidenten Theodor Heuss überreicht wurde14 – das Amt des Laudators übernahm der befreundete protestantische Theologe und Schriftsteller Albrecht Goes (1908–2000) –, hielt der Geehrte eine bemerkenswerte Rede; in »Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens« knüpfte Buber unmittelbar an seine vor 1933 entwickelte Dialogphilosophie an. Dieser Vortrag »markierte einen Beginn, nicht nur für Bubers eigenes Wirken in der Bundesrepublik, sondern auch für ein neues Miteinander zwischen Deutschen und Juden in diesem Lande« (Ehrlich 1997, S. 33). Darin bezeichnete er sich als einen »überlebenden Erzjuden« (Buber, Das echte Gespräch, S. 35) und betonte erneut die Singularität der Shoah:


»Ich, einer der am Leben Gebliebenen, habe mit denen, die an jener Handlung in irgendeiner Funktion teilgenommen haben, die Dimension des menschlichen Daseins nur zum Scheine gemein; sie haben sich dem menschlichen Bereich so dimensional entrückt, so in eine meinem Vorstellungsvermögen unzugängliche Sphäre der monströsen Unmenschlichkeit versetzt, daß nicht einmal ein Haß, geschweige denn eine Haß-Überwindung in mir hat aufkommen können. Und was bin ich, daß ich mich vermessen könnte, hier zu vergeben?« (Ebd., S. 33)


Davon nahm er Teile der deutschen Bevölkerung aus, vor allem diejenigen, die Widerstand geleistet hatten – auch die Jugend: »Die Erinnerung an die zwölfjährige Herrschaft des homo contrahumanus hat hier den Geist wacher und des ihm als Geist aufgetragenen Werkes bewußter gemacht, als er vordem war« (ebd., S. 35). So bemühte sich Buber kontinuierlich, mit deutschen Jugendlichen, die in den folgenden Jahren Israel besuchten, in ein Gespräch zu kommen, um sie vor Irrwegen zu bewahren.15 Den Mitläufern des Nationalsozialismus gegenüber, »die sehr vielen, die wußten, daß das Ungeheure geschah, und sich nicht auflehnten« (ebd., S. 34), brachte er erstaunliches Verständnis entgegen: »[…] mein der Schwäche der Menschen kundiges Herz weigert sich, meinen Nächsten deswegen zu verdammen, weil er es nicht über sich vermocht hat, Märtyrer zu werden« (ebd., S. 34). Zudem wies er die These einer Kollektivschuld aller Deutschen weit von sich (vgl. hierzu sein Schreiben an David Herstig vom 10.01.1963. In: BuBr III, S. 560) – doch zumindest die »Verdrängung der Schuld war kollektiv!« (Giordano 2012)16 Sowohl das Preisgeld des Hansischen Goethe-Preises als auch des »Friedenspreises des Deutschen Buchhandels« in Höhe von jeweils 10000.– DM stiftete Buber für Zwecke der Versöhnung von Juden und Arabern im Nahen Osten.


VII.

Die Annahme dieser beiden Ehrungen im Nachkriegsdeutschland sowie die Verwendung der Preisgelder trug ihm seitens der israelischen Presse manche Kritik ein.17 Moralisch verwerflich sei es, nur wenige Jahre nach der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus in das Land der Täter zu reisen und voreilig die Hand der Versöhnung auszustrecken, solange der öffentliche Diskurs über die Shoah in der deutschen Gesellschaft nicht stattgefunden habe. Selbstbewusst entgegnete Buber seinen Kritikern: »Unpopulär bin ich freilich, und das kann bei einem Unangepaßten, wie ich es von Jugend auf gewesen und im Alter […] geblieben bin, nicht gut anders sein« (Brief Martin Bubers an Hans Blüher vom 19.01.1955. In: BuBr III, S. 389 ff., hier S. 390). Er lehnte es grundsätzlich ab, ein


»Volk als Volk zu verdammen, wie die christlichen Kirchen so oft das jüdische Volk insgesamt als Messiasmörder verdammt haben. Ich fühle mich in die Pflicht genommen, in jedem Volke, von dem aus Untaten – und seien sie noch so monströs – geschehen sind, grundsätzlich und nach Möglichkeit auch praktisch zwi-schen aktiv Schuldigen, passiv Schuldigen und Nichtschuldigen (ich sage nicht: Unschuldigen, das ist keiner) zu unterscheiden« (Buber, Zur Klärung, S. 6).18


Des Weiteren begründete er die Annahme der Ehrungen in Hamburg und Frankfurt am Main damit, den wirklich zur Versöhnung bereiten Menschen in Deutschland Mut zum Weitermachen zuzusprechen.

Allerdings blieb auch Buber nicht verborgen, dass im Nachkriegsdeutschland der fünfziger und sechziger Jahre die große Mehrheit der Bevölkerung überhaupt nicht bereit war, sich mit den Massenverbrechen während des NS-Regimes angemessen auseinanderzusetzen. Die meisten Deutschen interessierten sich damals »weniger um die Anteilnahme am Leiden der Opfer«, sondern vielmehr dafür, »Teil einer neuen kosmopolitischen Gemeinschaft zu werden« (Levy & Sznaider 2001, S. 74, 78). Nur vereinzelt und eher noch in der Jugend als in der älteren Generation fand ansatzweise eine Beschäftigung mit der Vergangenheit, die die Shoah in den Mittelpunkt stellte, statt:


»Den Deutschen gegenüber war bei Buber in den letzten Jahren eine gewisse Ambivalenz des Gefühls festzustellen. Buber war realistisch genug, um nicht an die totale Wandlung eines Millionenvolks glauben zu können, andererseits beeindruckte ihn immer wieder die Begegnung vor allem mit jungen Deutschen, die nicht nur den Weg zu ihm gefunden, sondern auch aus seinem Werk wirklich entscheidende Impulse für ihre Schau der Welt und des Menschen empfangen hatten« (Ben-Chorin 2004, S. 133).


Wohl aufgrund antisemitischer Übergriffe in den 1950er Jahren durch rechtsextreme, darunter viele jugendliche Täter, nicht zuletzt die ›Antisemitismuswelle‹ 1959/60 mit der Schändung von Friedhöfen und Synagogen (z.B. der Kölner Synagoge Ende 1959), die verdeutlichten, dass eine grundlegende Abkehr von der NS-Ideologie in Deutschland mitnichten stattgefunden hatte, nahm er die bundesrepublikanische Jugend nun kritischer wahr. Schalom Ben-Chorin erinnert sich, dass Buber damals das Vorhandenseins »einer starken neonazistischen Unterströmung« in der deutschen Jugend befürchtete (ebd., S. 132).

Gleichwohl beschritt Buber den von ihm eingeschlagenen Weg der Versöhnung weiter und hielt mit Deutschland vielerlei persönliche Kontakte aufrecht. Dass er dabei seine jüdische Identität nicht verleugnete, belegt das 1950 erschienene Buch Zwei Glaubensweisen, in dem er Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Judentum und Christentum unterstrich – für identitäre christliche Interessen im Rahmen des jüdisch-christlichen Dialogs im Nachkriegsdeutschland, den Buber für unverzichtbar hielt, ließ er sich nicht instrumentalisieren. Von den christlichen Großkirchen forderte er, dass man endlich »sowohl Judentum wie Christentum als Gott meinende und als solche von Gott gemeinte Wirklichkeiten ansieht« (Brief Martin Bubers an Karl Thieme vom 23.03.1949. In: BuBr III, S. 196). Wiederholt ermahnte er die Christen, ein glaubhaftes, gleichberechtigtes Verhältnis beider Religionen – Juden und Christen – in Gegenseitigkeit zuzulassen.

Dass Martin Buber an ihn herangetragene Vortragswünsche aus Deutschland keineswegs ausnahmslos erfüllte, verdeutlicht ein Beispiel vom Sommer 1960, als die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Darmstadt mit der Bitte an ihn herantrat, er möge doch an der Einweihungsfeier zur Enthüllung einer Erinnerungstafel am Haus der Familie Buber in Heppenheim persönlich teilnehmen (vgl. das Schreiben vom 11.07.1960. In: BuBr III, S. 506 f.). Dieser lehnte das Ansinnen ab, da es der »Wahrheit nicht gerecht« werde,


»wenn an dem von mir und den Meinen in den Jahren 1915[1916]–1938 bewohnten Hause in Heppenheim a. B. eine Tafel angebracht würde, die nur an die Tatsache dieses Wohnens erinnerte, aber unerwähnt ließe, daß es Plünderung und Enteignung gewesen sind, die diesem Wohnzusammenhang ein Ende setzten. Eine Gedenktafel wie die von Ihnen geplante würde zwar eine hohe Ehrung meiner Person bedeuten, aber der geschichtlichen Wahrheit, an die die kommenden Geschlechter zur Mahnung und Warnung erinnert werden sollen, würde damit nicht die ihr gebührende Ehre erwiesen« (Brief vom 07.08.1960. In: BuBr III, S. 508).


VIII.


Ende Juni 1957 hielt Martin Buber in Stuttgart aus Anlass des 80. Geburtstages Hermann Hesses eine auch im Hörfunk verbreitete Festansprache: »Hermann Hesses Dienst am Geist« (vgl. hierzu den Brief Hermann Hesses an Buber vom November 1957. In: BuBr III, S. 443). Als er dann im folgenden Jahr seinen eigenen 80. Geburtstag beging, verlieh ihm die Stadt Frankfurt am Main die angesehene Goetheplakette. Staatspräsident Theodor Heuss würdigte ihn erneut als einen »Anreicherer des deutschen Geistes« (Brief von Theodor Heuss an Martin Buber vom 24.01.1958. In: BuBr III, S. 447 ff., hier S. 448).19 Martin Buber gehörte indirekt auch zu den Mitbegründern der »Germania Judaica – Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums«: Als er Mitte Juni 1958 die Rheinstadt, auf Einladung der dortigen Volkshochschule und der im gleichen Jahr begründeten Kölner »Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit«, besuchte und auf einem städtischen Empfang zu seinen Ehren eine Ansprache hielt, wurde die Gründung der »Germania Judaica« angekündigt, die im folgenden Jahr ihre Arbeit aufnahm. Als Buber damals gefragt wurde, was er von diesem Vorhaben hielte, antwortete er prägnant:


»Ich habe in meinem ganzen Leben nie gegen etwas gekämpft, auch nicht gegen den Antisemitismus, nicht mal in der bösen Zeit. Warum soll ich es jetzt tun? Man muß eine Sache nur richtig darstellen, dann ergibt sich alles von selbst. So fasse ich den Kampf auf. […] Sehen Sie, man muß lebendig werden lassen, was man vertreten will« (zit. aus: Germania Judaica 1960/61, S. 2–4).20


Im Sommer 1960 erfolgte die Verleihung des kulturellen Ehrenpreises der Landeshauptstadt München (Buber [Dankesrede], S. 11 f.). Der damalige Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel überreichte Martin Buber die Auszeichnung. In seiner Dankesrede drückte der Geehrte seine Verbundenheit mit der Stadt München aus: Seine Lebensgefährtin Paula Buber, geb. Winkler (1877–1958), war eine gebürtige Münchnerin: »Ich wußte, wir wußten, München werde sich und seinen Weg wiedergewinnen« (ebd., S. 11). Zeitgleich im Juli des Jahres hielt er im Rahmen der Vortragsreihe »Wort und Wirklichkeit« vor der Bayerischen Akademie der Schönen Künste den sprachphilosophischen Eröffnungsvortrag »Das Wort, das gesprochen wird«.

In den Jahren 1962 und 1964 schlossen sich zwei akademische Weihen für Buber in Deutschland an: die Verleihung des Ehrendoktorats der Medizinischen Fakultät der Universität Münster (vgl. hierzu Martin Bubers Dankschreiben an den Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Münster vom 17.07.1962. In: BuBr III, S. 550) und die Ehrenpromotion der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg (vgl. hierzu das Schreiben Lambert Schneiders an Martin Buber vom 30.11.1964. In: BuBr III, S. 628 f.). Krankheits- bzw. altersbedingt konnte Buber die Urkunden nicht persönlich in Empfang nehmen – sie wurden ihm nach Jerusalem zugeleitet. Wenige Jahre vor seinem Tod durfte sich Buber noch über das Erscheinen der dreibändigen »Monumental-Ausgabe« (siehe hierzu den Brief Martin Bubers an Lambert Schneider vom 01.07.1964. In: BuBr III, S. 618) seiner Werke (1962–1964) – Schriften zur Philosophie, zur Bibel und zum Chassidismus – im Verlag Lambert Schneider (Heidelberg) und bei Kösel (München) als ›Ausgabe letzter Hand‹ freuen: »Damit ist also recht eigentlich ›das Korn in die Scheuer gebracht‹« (ebd., S. 618).

Zu seinem 85. Geburtstag 1963 trafen abermals zahlreiche Glückwunschschreiben aus dem In- und Ausland in Jerusalem ein (z. B. von Theodor Heuss vom 02.02.1963. In: BuBr III, S. 570 f. und Bubers Danksagung vom Februar d. J. In: ebd., S. 575 f.). Diesen Anlass nutzten deutsche Freunde zu einem von Romano Guardini (1885–1968) verfassten Aufruf zur »Baumspende für Israel zu Ehren Martin Bubers«, den u. a. Albrecht Goes, Theodor Heuss und Karl Heinrich Rengstorf unterzeichneten (in: Freiburger Rundbrief XXII [1970], Nr. 81/84, S. 155 f.). Im Herbst 1970 konnte der »Martin Buber-Wald« im 1936 von deutschen Juden gegründeten Kibbuz Hasorea am Fuße des Berges Karmel – dieser Ort war auf des Namengebers eigenen Wunsch hin gewählt worden – feierlich eingeweiht werden (ebd., S. 152 ff.).21

Heute erinnern in Deutschland u. a. das »Martin Buber-Haus« in Heppenheim, in dem die Familie von 1916 bis 1938 lebte, das »Martin-Buber-Institut für Judaistik« an der Universität Köln (1966), die »Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie« an der Goethe-Universität Frankfurt am Main (1989), die im Jahre 2000 in Heidelberg gegründete »Martin Buber-Gesellschaft« sowie zahlreiche nach ihm benannte Schulen und Straßen an das Wirken dieses bedeutenden Religions- und Kulturphilosophen.


IX.

Noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg trieb Martin Buber die Frage um, »was nun aus dem Menschen werden kann« (Brief Martin Bubers an Josef Minn vom 23.09.1946. In: BuBr III, S. 123 f., hier S. 123). Trotz der als persönlich empfundenen ›Niederlage‹ des offensichtlichen Scheiterns einer deutsch-jüdischen Symbiose und deren Auflösung in der Shoah ließ sich Buber nicht von seiner Philosophie des Dialogs und dem Projekt eines hebräischen Humanismus abbringen. Seine libertäre Grundhaltung bestärkte ihn, die Hoffnung auf eine gerechte und friedliche Welt geeinter und freier Menschen nicht aufzugeben: »Er wurde so Vorbild eines herausfordernden Humanismus, der die üblichen Maßstäbe hinter sich ließ« (Yaron 2002, S. 184). Buber war bewusst, dass mit dem militärischen Sieg über NS-Deutschland und der Befreiung der Opfer aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern mitnichten das ›Böse‹ beseitigt war, so dass es nicht möglich schien, unbelastet wieder in den Alltag eintauchen zu können: »Die antihumane Woge, die mit Hitler historisch aufgebrandet ist, hat ihren Ursprung in dem in unserer Zeit erstarkten Mißtrauen der Menschen gegeneinander; aus diesem ist das wechselseitige Mißtrauen der Völker entstanden, das diese Weltstunde beherrscht« (Buber, Gruß und Willkomm, S. 250 f.). In »Hoffnung für diese Stunde« (1952) wies er auf die unerlässliche Notwendigkeit der Erneuerung einer Kultur des Dialogs im Zeitalter des Niedergangs, der Unmittelbarkeit und des Misstrauens hin (vgl. Buber, Hinweise, S. 313–326). Zugleich bezeichnete es Buber als »die eigentliche Schicksalsfrage der Menschheit«, dass die »Abgründe zwischen Mensch und Mensch« (ebd., S. 315 f.) überbrückt werden. In Bilder von Gut und Böse (1952) heißt es:


»Der Mensch ist als Mensch ein Wagnis des Lebens, undeterminiert und ungefestigt; er bedarf daher der Bestätigung, und diese kann er naturgemäß nur als der einzelne Mensch empfangen, indem die anderen und er selbst ihn in seinem Dieser-Mensch-Sein bestätigen. Immer wieder muß das Ja zu ihm gesprochen werden, vom Blick des Vertrauten und von der Regung des eigenen Herzens her, um ihn von der Bangigkeit des Preisgegebenseins zu befreien, die ein Vorgeschmack des Todes ist« (S. 66 f.).


Seitdem geriet Martin Buber in die Rolle eines Botschafters der deutsch-jüdischen Versöhnung. Er streckte seine Hände zum Dialog aus, auch gegenüber den nichtjüdischen Deutschen und trotz der von ihnen zu verantwortenden jüngsten Geschichte. Freilich achtete er darauf, mit welchen Menschen er das unmittelbare Gespräch aufnahm. In Betracht kamen für ihn nur einzelne, aufgeschlossene Persönlichkeiten, nicht der als öffentliches Wesen gesichtslos gewordene »Deutsche als Vielheit, als Menge« (Buber, Nachtrag, S. 7).

Während seine Popularität im Nachkriegsdeutschland anwuchs, reagierte die öffentliche Meinung in Israel eher mit Unverständnis gegenüber seinem libertären Konzept der Binationalität zur Lösung des Israel-Palästina-Konfliktes und seinem konsequenten Eintreten für die Rechte der israelischen AraberInnen (Wolf 2011, S. 25–51). Mediale Kritik schlug ihm ebenfalls entgegen, als er anlässlich des denkwürdigen Adolf Eichmann-Prozesses in Jerusalem Anfang der 1960er Jahre, der von der deutschen Bevölkerung weitgehend abgelehnt wurde,22 öffentlich intervenierte. So forderte er, Eichmann, einen der Hauptorganisatoren der Shoah, zwar in Israel, aber vor einem Internationalen Gerichtshof abzuurteilen, »weil er nicht glaubte, daß Juden, die die Opfer des Holocaust gewesen waren, auch die Richter sein sollten« (Friedman 1999, S. 514 f.). Hinzu trat seine prinzipielle Gegnerschaft zur Todesstrafe: »Die Todesstrafe ist partieller Selbstmord ohne legitimiertes Subjekt« (Buber, Eine Anmerkung, S. 233 f.; Ders., Über die Todesstrafe, S. 218). Sie verstoße fundamental gegen das Gebot »Du sollst nicht töten« (gemeint ist morden, S.W.) und wirke mitnichten abschreckend: »Der andere Grund für Bubers Gegnerschaft zur Eichmann-Hinrichtung war die Furcht, daß die deutsche Jugend die Exekution als symbolische Gerechtigkeit betrachten könnte, die sie von der Bürde der Schuld für den Holocaust befreite« (Friedman 1999, S. 515). Buber, der keineswegs Eichmanns Verantwortung am NS-Genozid in Abrede stellte, versuchte die Vollstreckung des im Dezember 1961 erstinstanzlich verkündeten und Ende Mai 1962 vom Obersten Gerichtshof bestätigten Todesurteils durch ein Gnadengesuch beim israelischen Staatspräsidenten Jizchak Ben Zwi (1884–1963) abzuwenden, indem er für eine lebenslange Haftstrafe plädierte – vergeblich; Eichmann starb in der Nacht vom 31. Mai zum 1. Juni 1962 durch den Strang:


»Darum doch stelle ich ›Situationen‹ gegen ›Prinzipien‹, die ›unreine‹ Wirklichkeit gegen die ›reine‹ Abstraktion. Die Ganzheit der Seele ist gerade in der Gebrochenheit der menschlichen Situationen zu bewähren, und das heißt: dadurch, daß man nicht über den Situationen schwebt, sondern auf sie eingeht, daß man sich ins Handgemenge mit ihnen einläßt, daß man ihnen jeweils so viel an Wahrheit und Gerechtigkeit abgewinnt, als man hier, auf ihrem Boden, der Wirklichkeit gemäß vermag« (Buber, Antwort, S. 618).23


X.


Neben der Singularität der Shoah, die Martin Buber vor allem als eine jüdische Tragödie deutete, betrachtete er dieses Massenverbrechen zugleich auch als ein universelles Problem der gesamten Menschheit:


»In unserem Zeitalter hat die Ich-Es-Relation, riesenhaft aufgebläht, sich fast unangefochten die Meisterschaft und das Regiment angemaßt. Das Ich dieser Relation, ein alles habendes, alles machendes, mit allem zurechtkommendes Ich, das unfähig ist, Du zu sprechen, unfähig, einem Wesen wesenhaft zu begegnen, ist der Herr der Stunde« (Buber, Gottesfinsternis, S. 152).24


Den nationalsozialistischen Genozid beschrieb er nicht als ein theologisches Problem, sondern als die extremste Ausformung von Ich-Es. Gott konnte er in Auschwitz nicht als Akteur am Werk sehen, weil er Gott in keiner historischen Situation der Menschheit konkret agieren sah – Träger von Geschichte und damit verantwortlich allein bleibe der Mensch.

Die meisten intellektuellen Köpfe sind nach dem Zweiten Weltkrieg einer Beantwortung der bedrückenden Frage, warum die Shoah gerade in Deutschland stattgefunden hatte, ausgewichen. Stattdessen konzentrierte man sich eher auf die allgemeinen Entstehungsbedingungen von Antisemitismus und Nationalsozialismus und universalisierte den Genozid am europäischen Judentum in die Menschheitsgeschichte (Traverso 2000). Auch in Bubers sozialphilosophischen Überlegungen fand die Erfahrung dieses Massenverbrechens nur mittelbaren Niederschlag. So entwickelte er in seiner Schrift Das Problem des Menschen (1948) eine philosophische Anthropologie, die ihn als einen kritischen Diagnostiker seiner Zeit auswies. Seine bereits vor 1933 gegebenen Antworten auf Krisenphänomene im 20. Jahrhundert richten sich auf die Notwendigkeit einer grundlegenden Neukonstituierung der Gesellschaft, auf die Abkehr von Herrschafts- und Gewaltverhältnissen und auf die Notwendigkeit neuer sozialer Arrangements der Menschen untereinander.

Nur auf den ersten Blick erscheint es als widersprüchlich, von der Shoah als einem »Zivilisationsbruch« zu sprechen und zugleich an die sozialphilosophischen und theologischen Einsichten vor 1933 anzuknüpfen. Gerade weil sich Buber den humanistischen Inhalten der Hebräischen Bibel und den zivilisatorischen Standards der europäischen Aufklärung zutiefst verbunden wusste, die allerdings im Bewusstsein und im Alltag vieler Menschen noch längst nicht angekommen sind, erschien es ihm wie anderen zeitgenössischen Sozialphilosophen (Diner 1988; Traverso 2000) als notwendig, an einer humanistischen, geschichtsoffenen Perspektive auf die menschliche Welt festzuhalten und deren Einübung im privaten und öffentlichen Raum einer Gesellschaft trotz der schrecklichen Massenverbrechen im 20. Jahrhundert weiterhin einzufordern; galt es doch, das Dialogische, Zwischenmenschliche und Gemeinschaftliche aufzurichten. Da er die Shoah der Deutschen im Nationalsozialismus globalisierte, indem er nach 1945 wiederholt eine Krise der gesamten Menschheit diagnostizierte – Buber sprach von der »Unerlöstheit der Welt« (Brief an Lina Lewy vom 4.2.1943. In: BuBr III, S. 72) –, begrenzte er sich nicht auf Überlegungen, wie es mit Deutschland nach dem Nationalsozialismus weitergehen könnte, sondern bezog im Rahmen seiner transnationalen Perspektive die gesamte Menschheit mit ein. Sein Krisenbewältigungsmodell basierte auf Dialog, Verantwortung, Empathie und Vertrauen sowie auf einem neuen menschlichen Miteinander auf der Grundlage von Gegenseitigkeit, Freiwilligkeit, Freiheit, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit.


XI.

Martin Buber verweigerte sich einer Reduktion des ›zoon politikon‹ auf einen politischen Menschen gemäß dem neuzeitlichen Verständnis, das auf Parteien, Parlamente und Interessenorganisationen zur Erringung der politischen Macht im jeweiligen Nationalstaat hinausläuft. Gleichwohl engagierte er sich öffentlich, zum Wohle des Judentums und zugleich zu dem der gesamten Menschheit. Dieses (anti-)politische Auftreten meint mitnichten eine nicht- bzw. unpolitische Haltung der Nichteinmischung in öffentliche Angelegenheiten: Seine vom kommunitären Anarchismus Gustav Landauers (1870–1919)25 zutiefst geprägte genossenschaftlich-föderalistische Gesellschaftsperspektive und die auf Zwischenmenschlichkeit ausgerichtete Dialogik orientierten sich nicht an der politischen Sphäre innerhalb der Gesellschaft. Buber zielte vielmehr auf eine Verringerung der Bedeutung von Machtpolitik. Sein Vertrauen richtete sich auf gesellschaftliche Initiativen von unten, ohne vordergründige Interessenpolitik:


»Für Buber […] war die Politik eine wesentliche Dimension des Lebens im Dialog und Dienst für Gott; Politik, behauptete er, ist weder außerhalb des ›Lebens im Geist‹, noch ist sie einfach eine unvermeidbare Aufgabe, die uns gelegentlich von den Notwendigkeiten der Geschichte auferlegt wird. Als die letzte Grundlage zwischenmenschlichen und alltäglichen Lebens, stellt Buber fest, ist Politik die notwendige Form, an der religiöse und ethische Lehren gemessen werden müssen und durch die sie konkrete Wirklichkeit erlangen. Nur wenn das Leben des Geistes Einfluß auf die Politik nimmt, kann es möglicherweise seine Hauptaufgabe verwirklichen – den beschämenden Dualismus zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, Gedanke und Tatsache, ja zwischen Moral und Politik selber zu überwinden« (Mendes-Flohr 1982, S. 92; vgl. Buber, Der Heilige Weg, S. 87–119).


Martin Buber war keineswegs so naiv anzunehmen, man könne politisch-öffentliches Agieren ignorieren und anderen überlassen:


»Man soll, meine ich, die Politik weder aufsuchen noch meiden, man soll weder prinzipiell politisch noch prinzipiell apolitisch sein. Das öffentliche Leben ist ein Bezirk des Lebens; es ist in unserer Zeit in seinen Gesetzen und Gestalten ebenso entstellt wie alles Leben, seine Entstellung nennt man heute Politik […]. Das eigentliche Übel an der Politik ist das in ihr wie anderswo herrschende ›politische Mittel‹: den anderen Menschen zu gewinnen, indem man sich ihm auferlegt« (Buber, Gandhi, S. 1092 f.).


Anstatt sich ihm aufzuerlegen, schlug Buber vor, sich ihm zu erschließen:


»Wir leben in einer Weltstunde, in der das Problem des gemeinsamen Menschengeschicks so widerborstig geworden ist, daß die routinierten Verweser des politischen Prinzips zumeist sich nur noch zu gebärden vermögen, als ob sie ihm gewachsen wären. Sie reden Rat und wissen keinen […]. Vielleicht werden in der Stunde, da die Katastrophe ihre letzte Drohung vorausschicken wird, die an der Querfront Stehenden einspringen müssen. Sie, denen die Sprache der menschlichen Wahrheit gemeinsam ist, müssen dann zusammentreten, um mitsammen zu versuchen, endlich Gott zu geben, was Gottes ist, oder, was hier, da eine sich verlierende Menschheit vor Gott steht, das gleiche bedeutet, dem Menschen geben, was des Menschen ist, um ihn davor zu retten, daß er durch das politische Prinzip verschlungen wird« (Buber, Geltung und Grenze, S. 20).


Ohne Zweifel zählt der stets umfassend informierte Sozial- und Religionsphilosoph Martin Buber zu den öffentlich engagierten Menschen. Verantwortung zu üben, bedeutete für ihn, Antworten zu finden auf die jeweiligen vorgefundenen Lebensumstände. Dabei nutze es wenig, wenn sich der einzelne Mensch ins Kollektiv flüchtet und dort seine persönliche Verantwortung delegiert. Zu verhindern sei dies nur, indem der Mensch seine soziale Individualität entwickelt. Dass der Staat in der Neuzeit als sozialer Funktionsträger weitreichende Aufgaben der Gesellschaft übernommen und damit den Einzelnen sozial entmündigt hat, beunruhigte Buber erheblich, denn schließlich gehörte das »staatliche Gewaltmonopol« zu den »entscheidenden Voraussetzungen für die Einrichtung der Vernichtungslager« im Nationalsozialismus (Traverso 2000, S. 354). Gleichwohl verneinte Buber nicht die Notwendigkeit politischer Institutionen, auch des Staates, plädierte allerdings, gerade im Hinblick auf seine Erfahrungen mit dem NS-Regime, für eine weitestmögliche Machtreduzierung. Vorrang vor der Autorität des Staates besaß für ihn stets die Autonomie des sozialen Individuums.26 Einzig eine restrukturierte Gesellschaft könne das Erbe des modernen Nationalstaates antreten.27 Den modernen Zentralstaat akzeptierte er lediglich als Ordnungsprinzip, solange »bis in der messianischen Gestalt der Menschenwelt Schöpfung und Ordnung, Volk und Staat in einer neuen Einheit, in der Gemeinschaft des Heils verschmelzen« (Buber, Völker, Staaten und Zion, S. 288 f.).

Überblickt man Martin Bubers umfangreiches Werk, so trieb ihn die Beantwortung der Frage besonders um, wie zwischenmenschliches Zusammenleben ohne Zwang von außen, gewaltfrei und in einer für alle Beteiligten angstfreien Atmosphäre zu bewerkstelligen sei. Umfassende Kooperation soll an die Stelle von Hierarchie, Herrschaft und Unterdrückung treten. In seinem sozialphilosophischen Hauptwerk Pfade in Utopia (zuerst 1947; 1985) erweist sich Buber in der Nachfolge seines engen Freundes Gustav Landauer als ein nachhaltiger Anhänger von Föderalismus und Genossenschaften, von »Vollgenossenschaften«, die Produktion und Konsum, Landwirtschaft, Handwerk und Kleinindustrie, körperliche und geistige Arbeit miteinander in Einklang bringen sollen (Buber, Zwischen Gesellschaft und Staat). Um dies zu erreichen, sei eine »Dezentralisierung der politischen Macht«, eine »Änderung der Verteilung der Macht« (ebd., S. 1042) vonnöten: »je mehr relative Autonomie sowohl den lokalen und regionalen als auch den funktionalen Gemeinschaften gewährt wird, um so größer wird der Raum für eine freie Entfaltung der gesellschaftlichen Kräfte« (ebd., S. 41).


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XII.


Martin Buber gehörte zu den Ersten, die nach der Shoah »den Dialog mit Christen und mit Deutschen« wieder aufnahmen, wofür ihn sein Freund, der Schriftsteller Schalom Ben-Chorin (1913–1999), in dieser »letzten Epoche seines langen und fruchtbaren Lebens« als »den Botschafter aus Jerusalem« würdigte (Ben-Chorin 1989, S. 239 [Hervorhebung im Original]). Dass Buber nach 1945 als Kronzeuge des christlich-jüdischen Gesprächs in Deutschland galt, hing mit seiner grundlegenden Bereitschaft zusammen, das offene Gespräch zu suchen, und damit, dass er bereits vor 1933 in diesem Sinne vorbildlich gewirkt hatte:28


»Gewiß, ich gebe einem, der meinen Hinweis annimmt, kein Prinzipienbuch in die Hand, in dem er jeweils nachsehen könnte, wie er sich in einer gegebenen Situation zu entscheiden hat. Das ist nicht an mir […]
Nein, ein System der Ethik habe ich in der Tat nicht zu bieten; auch ist mir kein allgemeingültiges bekannt, das ich nur anzuführen brauchte. Doch halte ich es nicht bloß für natürlich, sondern auch für rechtmäßig, daß jeder an sittlichen Vorschriften annehme, was immer ihm hilft, den Weg zu gehen. Ich meine freilich, daß keine sittliche Norm einen absoluten Anspruch an einen Menschen hat, wenn sie nicht als Gabe des Absoluten geglaubt wird« (Buber, Antwort, S. 615 f.).


Zugleich richtete er an die Adresse der christlichen Großkirchen die ernste Mahnung, »daß der jüdisch-christliche Dialog nur möglich wäre, wenn die Kirche ihren Anspruch auf Vorrang aufgeben würde« (Friedman 1999, S. 392).

Während Buber wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg bereit war, zu Menschen in Deutschland von Angesicht zu Angesicht zu sprechen, ist zugleich seine anhaltende Reserviertheit gegenüber öffentlichen Institutionen in diesem Land augenfällig. Sein nachhaltiges Verdienst bleibt es, »das Tor aufgestoßen« zu haben, »durch das wir ihm dann nachfolgen konnten. Es war lange Zeit sehr umstritten, von Israel nach Deutschland zu fahren, um hier in irgendeiner Weise lehrend und vermittelnd tätig zu sein. Die große Autorität Martin Bubers hat es uns, den Jüngeren, den Nachfolgenden ermöglicht« (Ben-Chorin 1989, S. 239).


XIII.


Dass Martin Bubers frühe Versöhnungsbereitschaft gegenüber den Deutschen nach der Shoah, die aus seinem libertären, humanistischen Verständnis des Menschen und der Welt herrührte, offenbar auch einer Legitimierung der Bundesrepublik Deutschland genutzt hat, ohne dass sich die deutsche Gesellschaft zuvor grundlegend mit der Shoah und den Leiden der NS-Opfer auseinandersetzen musste, ist nicht zu leugnen. Ungerechtfertigt erscheinen dagegen wiederkehrende Tadel voreiliger Bereitwilligkeit zur Verständigung gegen Buber, die sich über seinen Tod hinaus hielten. So wiederholte etwa der Soziologe David Glanz im Jahre 1978, anlässlich des 100. Geburtstages Bubers, die Kritik, wonach dessen nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte Schriften in Ton und Stil wenig von seinen Vorkriegsschriften differierten (Glanz 1978, S. 142 ff.). Es fehle ihm an einer substantiellen Analyse des Nationalsozialismus und das Bemühen, seine Philosophie angesichts der Shoah noch einmal grundlegend umzustellen. Dabei übersah Glanz etwa Bubers unter dem Titel »An der Wende« (1951) erschienene Reden, die sich der Frage widmeten, wie ein Leben mit Gott möglich ist in einer Welt, in der Auschwitz stattgefunden hat:


»Stehen wir bezwungen vor dem verborgenen Antlitz Gottes, wie der tragische Held der Griechen vor dem antlitzlosen Verhängnis? Nein, sondern wir rechten auch jetzt noch, auch wir noch, mit Gott, eben mit ihm, den wir einst, wir hier, ihn, den Herrn des Seins, zu unserm Herrn erwählt haben. Wir schicken uns nicht in das irdische Sein, wir ringen um seine Erlösung, und wir rufen rechtend die Hilfe unseres Herrn, des wieder und noch Verborgenen, an. In solchem Stande harren wir seiner Stimme, komme sie aus dem Sturm oder aus einer Stille, die darauf folgt. Mag seine künftige Erscheinung keiner früheren gleichen, wir werden unsern grausamen und gütigen Herrn wiedererkennen« (Buber, An der Wende, S. 178 f.).29


Im Rahmen der vom »Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit« veranstalteten »Woche der Brüderlichkeit 1978« in Würzburg würdigte der US-amerikanische Rabbiner und Religionswissenschaftler Richard L. Rubenstein30 Martin Buber auf dem dort stattfindenden internationalen Kongress als den »bedeutendsten und einflußreichsten religiösen Denker, den diese zum Untergang verurteilte Gemeinschaft (das europäische Judentum) hervorgebracht hat« und als »eine weltweit führende Persönlichkeit« (zit. aus: Lamm 1978, S. 134 f.; Rubenstein 1979). Zugleich wiederholte Rubenstein aber den unzulässigen Vorwurf, dass der NS-Genozid am europäischen Judentum in dessen philosophisch-religiöses Denken keinerlei sichtbaren Eingang gefunden hätte:


»Buber […] erwähnt nirgends den Holocaust als ein theologisches Problem von überragender Bedeutung […]. Obwohl Buber nicht zögert, uns sowohl eine Diagnose der gegenwärtigen geistigen Situation anzubieten wie auch eine zuversichtliche Prophezeiung bezüglich des Kommenden, so teilt er uns leider nirgends die Gründe mit, die er für Diagnose oder Prophezeiung hat […]. Dennoch ist Bubers Schweigen in bezug auf den Holocaust als einem theologischen Problem völlig im Einklang mit seinem grundsätzlichen Verständnis der Begegnung des Göttlichen mit dem Menschlichen. Buber sieht diese Begegnung völlig außerhalb aller Kategorien der normalen menschlichen Erfahrung […]. Die Tatsache, daß für Buber der Holocaust kein religiöses Problem war, zeigt jedoch den radikalen Bruch auf, der zwischen seinem religiösen und dem der klassischen judaeo-christlichen Tradition bestand […]. Ist es möglich, daß Buber unfähig war, verantwortlich mit dem Problem der Macht umzugehen, ein Problem, das für zwischenstaatliche Begegnungen niemals irrelevant ist? […] Es wird manchmal gesagt, daß Buber ein Dichter war und daß wir nicht erwarten dürften, daß sein Denken im Bereich praktischer Angelegenheiten von Belang sei. Aber es war Buber selbst, der uns lehrte, daß die fundamentale Wirklichkeit menschlicher Existenz nicht in begrifflichen Abstraktionen zu finden ist, sondern in zwischenmenschlichen Beziehungen […]. An diesem Maß gemessen ist es schwer, die Folgerung zu vermeiden, daß ein Mann, dessen Denken so wenig Relevanz zur konkreten Erfahrung seiner eigenen Zeit und seines Volkes hat, kaum für unsere Erfahrung relevant sein kann […]. Vielleicht ist die eigentliche Frage, die wir allein stellen müssen, weshalb Buber diese weltweite Bedeutung erhielt. Vielleicht sagt seine Bedeutung über uns mehr aus als über ihn. […] Betrachtet man Bubers Leben und Denken im Lichte des Holocausts, so muß ich gestehen, daß ich auf diese Frage keine Antwort weiß« (ebd., S. 134 f.).


Dass diese von Rubenstein an Buber geäußerte Kritik in Teilen unzutreffend ist, belegen die Ausführungen im vorliegenden Aufsatz. Anlässlich seiner erwähnten Friedenspreisrede 1953 in Frankfurt am Main kam Buber – wenn auch nur kurz am Anfang – auf die Shoah zu sprechen. Ausführlicher widmete er sich damals menschheitlichen Problemen, vor allem der Abwesenheit des Dialogs und den Voraussetzungen zu seiner Wiederaufnahme. Das fehlende Vorhandensein von Ich-Du führte Buber auf das riesig angewachsene Verhältnis von Ich-Es zurück. Buber beschrieb die Shoah gewissermaßen als die extremste Auswirkung des dominanten Ich-Es-Verhältnisses:


»Daß die Völker, die Völkermenschen kein echtes Gespräch mehr miteinander führen können, ist nicht bloß das aktuellste, es ist auch das uns am dringendsten anfordernde Phänomen der Pathologie unserer Zeit.« (Buber, Das echte Gespräch, S. 41)
»In ihren menschlichen Menschen müssen die Völker ins Gespräch kommen, wenn der Große Friede erscheinen und das verwüstete Leben der Erde erneuern soll« (Ebd., S. 36).


Zugleich war Buber zutiefst davon überzeugt, dass die »Völker in dieser Stunde ins Gespräch, in ein echtes Gespräch miteinander kommen können« (ebd., S. 41). Beginnen könnten dieses Gespräch jene, »die heute in jedem Volk den Kampf gegen das Widermenschliche kämpfen«, die er als die »ungewußte große Querfront des Menschentums« würdigte (ebd.).

Der Tadel Rabbiner Rubensteins, dass die Erfahrungen der Shoah nicht in Martin Bubers theologische Reflexionen nach 1945 eingeflossen seien, wird Bubers eigener Perspektive nicht gerecht, betrachtete dieser den NS-Genozid doch mitnichten als ein theologisches Problem. Dass sich das ›Böse‹ im nationalsozialistischen Deutschland durchsetzen konnte, interpretierte er vielmehr als eine unmittelbare Folge des Fehlens menschlicher Begegnungen und Beziehungen. Gegen das ›Böse‹ mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln anzukämpfen, stand für Buber außer Frage (vgl. hierzu: Lawritson 1996, S. 296 ff.). Leben zu schützen gehörte für ihn zu den wichtigsten menschlichen Pflichten. Abstrakten Prinzipien dagegen, wie etwa dem Pazifismus, begegnete er mit anhaltender Distanz,


»da ich gar nicht weiß, ob ich nicht in einer gegebenen Situation, in der gekämpft werden muß, kämpfen würde. Selbstverständlich bin ich mit meinem ganzen Herzen für den Frieden, aber nicht für den üblichen, der nur in verschleierter Form den Krieg fortsetzt und vorbereitet« (Brief Martin Bubers an Maurice Friedman vom 22.03.1952. In: BuBr III, S. 314 ff., hier S. 315).


Ebenso unhaltbar ist die Kritik eines unhistorischen Optimismus, der Buber in der ihm eigenen Weise entgegnete:


»Nein: wenn Streiter um eine neue Humanität, Streiter der inneren Front, die die Völker quert, einen Appell an mich richten […] versage ich mich ihnen nicht, woher auch immer ihre Stimme kommt. […] Wo in dieser Weltstunde der äußersten Labilität die Menschlichkeit in die Handlung eintritt, liegt es unsereinem ob, sie zu ermutigen, um der Gegenwart und der Zukunft willen. […] In dieser gefährlichsten aller Menschenstunden kann keine andere Politik mehr helfen, als die humane« (Buber, Zur Klärung, S. 6).


Trotz einer weitgehend ökonomisierten und verstaatlichten Welt hielt Buber an der Option direkter zwischenmenschlicher Beziehungen – auch gegenüber den Deutschen nach der Shoah – fest:


»Als die Sphäre des Zwischenmenschlichen bezeichne ich nicht das Verhältnis der menschlichen Person zu ihrem Mitmenschen überhaupt, sondern die Aktualisierung dieses Verhältnisses. Das Zwischenmenschliche ist etwas, was sich jeweils zwischen zwei Menschen begibt; damit es sich aber je und je begeben könne, damit echte Begegnungen geschehen und immer wieder geschehen, muß dem Menschen das Du zum Mitmenschen innewohnen« (Buber, Antwort, S. 609 f.).


Diese unmittelbaren persönlichen Begegnungen sollen öffentliches und sozial verantwortliches Handeln ermöglichen, und daraus könne wiederum soziale Individualität erwachsen. Das »Zwischen« schaffe etwa den öffentlichen Raum, in dem sich das unmittelbare Handeln abspielt, das Menschen miteinander schöpferisch verbindet und damit die Welt, so wie sie sein sollte, im »Hier und Jetzt« erschafft. Gerade weil Buber angesichts der Shoah unerschütterlich an seinem libertären Humanismus festhielt, in dem er ein Korrektiv gegenüber den nicht eingelösten Versprechungen und Verfehlungen der modernen europäischen Aufklärung sah, gehört er zu den sozialphilosophischen Denkern seiner Zeit, die einen verantwortlichen Umgang dazu entwickelten. Er bemühte sich, Antworten zu geben, damit sich dieses Menschheitsverbrechen nicht wiederholt (vgl. hierzu Lawritson 1996, S. 307):


»Ein ›prophetisches Prinzip‹ ist mir zwar unbekannt, aber ich halte es mit den Propheten Israels. Sie meinten durchaus nicht, wir könnten, wenn wir Gerechtigkeit in den Beziehungen der Menschen zueinander einführten, die Erde zum Gottesreich machen. Aber sie verstanden, zum menschlichen Anteil an der Bereitung des Gottesreiches gehöre eben dies, daß wir es fertig bringen, miteinander zu leben« (Buber, Antwort, S. 613).




ANMERKUNGEN



1 Martin Buber: Antwort (1963), S. 619.
2 Brief Martin Bubers an Ernst Szilagyi vom 02.07.1950. In: Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Bd. III, S. 253 ff., hier S. 255 [im Folgenden: BuBr].
3 Abgeschickt wurde dieses Schreiben am 09.03.1939.
4 Sein Freund Otto Hirsch (1885–1941), Jurist, Mitbegründer des Stuttgarter Jüdischen Lehrhauses, 1933 geschäftsführender Leiter der Reichsvertretung der deutschen Juden, war am 19. Juni 1941 im KZ Mauthausen ermordet worden. Vgl. hierzu den Brief Martin Bubers an Leopold Marx vom 08.09.1941: »Der Tod unseres Freundes hat mich sehr schwer getroffen, ich kanns noch immer kaum fassen« (BuBr III, S. 46 f., hier S. 47). Maurice Friedman schreibt in Band 2 seiner dreibändigen Biographie Martin Buber’s life and work, dass für den Rest seines Lebens kein Tag verging, an dem Buber nicht an die Shoah denken musste (vgl. ebd., Bd. 2, S. 306).
5 Für Hannah Arendt (1906–1975) ergab sich die Singularität dieses Massen-verbrechens daraus, »daß nicht einzelne Menschen aus menschlichen Gründen von anderen einzelnen Menschen totgeschlagen werden, sondern organisiert versucht wird, den Begriff des Menschen auszurotten« (Brief an Karl Jaspers vom 17.12.1946; in: Arendt/Jaspers, Briefwechsel, S. 104 ff., hier S. 106). Zudem wollten die Nationalsozialisten das mosaische Tötungsverbot außer Kraft setzen.
6 Dort heißt es: »Der jüdische Mensch von heute ist der innerlich ausgesetzteste Mensch unserer Welt« (Der jüdische Mensch von heute, S. 543).
7 Der Historiker Dan Diner (Jerusalem/Leipzig) sprach in diesem Zusammenhang von einer »negativen Symbiose« (vgl. Dan Diner, Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz). Der mit Buber befreundete Philosoph und Historiker Gershom Scholem (1897–1982) leugnete die Existenz einer deutsch-jüdischen Symbiose grundsätzlich (Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch).
8 Im Mai 1965, kurz vor seinem Tod, wurde ihm die Ehrenbürgerschaft der Stadt Jerusalem verliehen.
9 Martin Buber antwortete Alfred Döblin auf dessen Ersuchen vom 24.03.1950.
10 Was Martin Buber offenbar lange Zeit nicht wusste, war, dass Rengstorf nach 1945 zu den führenden Judenmissionaren zählte (u.a. Vorsitzender des »Evangelisch-Lutherischen Zentralvereins für Mission unter Israel«) – Missionstätigkeit in Israel blieb für Buber allerdings »indiskutabel« (Ben-Chorin 2004, S. 134).
11 So hat Heuss während seines Antrittsbesuches in Hessen in einer Ansprache vor der »Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit« in Wiesbaden Ende 1949 den euphemistischen Begriff der »Kollektivscham« eingeführt. Zugleich würdigte er Martin Buber als einen »bewußten Juden«, der noch immer »ein Stück Deutschland« verkörpere (Rede des Bundespräsidenten anläßlich der Feierstunde der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Wiesbaden am 7. Dezember 1949. Vgl. hierzu den Brief von Theodor Heuss an Martin Buber vom 24.01.1958 zu dessen 80. Geburtstag. In: BuBr III, S. 447 ff.).
12 Schalom Ben-Chorin gibt in seinen Erinnerungen Zwiesprache mit Martin Buber einen weiteren, inoffiziellen Grund für Bubers Weigerung an, den Hansischen Goethepreis im Jahre 1951 persönlich abzuholen: Buber wollte in Deutschland nicht auftreten, »ehe die deutsch-israelischen Verhandlungen« in den Niederlanden [1952, betr. Entschädigungen S.W.] »abgeschlossen waren, um nicht auf diese Weise sozusagen zugunsten der Deutschen einzugreifen« (Ben-Chorin 2004, S. 90).
13 Preisträger im Vorjahr war der seit vielen Jahren mit Buber bekannte katholische Religionsphilosoph Romano Guardini (1885–1968).
14 Vgl. den Bericht über die Feierstunde in der Frankfurter Neuen Presse vom 28.9.1953.
15 Diesen Optimismus Bubers gegenüber der deutschen Jugend konnte Leo Baeck nicht nachvollziehen: Gerade die Jüngeren, namentlich die Hitler-Jugend, seien »durch und durch verrottet und pervertiert. Sie ist so verdorben, daß ich nicht sehe, wie Re-Education hier noch helfen kann. Eine Neu-Erziehung der Deutschen hat eigentlich nur Zweck bei den Kindern unter sechs Jahren« (Gespräch mit Leo Baeck. In: Aufbau, 21.12.1945; zit. nach: Leo Baeck 1873–1956, S. 130).
16 Ralph Giordano (2012): »Für mich war die These von der Kollektivschuld nie ein Abstraktum, sondern empirische Wirklichkeit, die bündige Definition meiner Selbsterlebnisse. Gerade die bis an die Grenzen der Hysterie reichende Überreaktion auf die These ist ein neuralgisches Indiz für die Existenz des Geleugneten, und eine schwere Festung im Rücken einer tabulosen NS-Aufarbeitung. Die Geschichte der Deutschen kennt kein zweites Beispiel einer so kraftvollen Vernetzung zwischen Herrschaft und Volk, wie das nationalsozialistische« (vgl. auch Giordano 1987).
17 Vgl. hierzu die Briefe von Ludwig Strauß an Martin Buber vom 23.12.1951 und vom 28.1.1952 (Briefwechsel Buber – Strauß 1990, S. 270 f., 272). Siehe hierzu auch den Brief Ernst Simons an Martin Buber vom 20.01.1952. Darin kritisierte der mit Buber befreundete Religionsphilosoph und Pädagoge Ernst Simon (1899–1988) die Annahme des Hansischen Goethe-Preises (Simon 1998, S. 141 ff.).
18 Der Philosoph Karl Jaspers (1883–1969) unterschied in seiner Schrift Die Schuldfrage (1946) zwischen krimineller, politischer, moralischer und metaphysischer Schuld. Bubers Artikel »Zur Klärung« war eine Reaktion auf die heftige Kritik des Publizisten Hans Klee (1907–1959), der in Zürich das Israelitische Wochenblatt herausgab, an Bubers früher Versöhnungsbereitschaft. Siehe hierzu: Ewige Feindschaft? Hans Klee und Martin Buber über das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen. In: Freiburger Rundbrief, VII. Folge, 1954/55, Nr. 25–28, September 1954, S. 46 f.
19 1959 reiste der Funk- und Fernsehjournalist Thilo Koch (1920–2006) nach Jerusalem und führte mit Martin Buber ein Interview für den Rundfunk und das westdeutsche Fernsehen (Koch, 1961, S. 9–16; Friedman 1983, Bd. 3, S. 127, 319 f.).
20 Als ihn sein langjähriger Freund Hans Trüb (1889–1949) um einen Vortrag über die konkrete Bekämpfung des Antisemitismus ersuchte, beschied Buber abschlägig. Er könne dieser Bitte nicht entsprechen, »da ich von je gegen die Beteiligung von Juden an Organisationen zur Bekämpfung des Antisemitismus bin, nie für eine von ihnen (wie sie in Deutschland und anderen Ländern bestanden haben) etwas getan habe und diese Haltung auch jetzt zu ändern nicht imstande bin« (Brief Martin Bubers an Hans Trüb vom 13.05.1947. In: BuBr III, S. 129 f.).
21 Eine Zeit lang lebten dort auch Martin Bubers Tochter Eva (1901–1992) und sein Schwiegersohn, der Schriftsteller Ludwig Strauß (1892–1953).
22 Zugleich trug der Eichmann-Prozess wie auch der nachfolgende Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965) zur Auseinandersetzung von Teilen der deutschen Bevölkerung mit den Verbrechen der NS-Zeit bei.
23 Die Notwendigkeit von Prozesses gegen die NS-Täter hat der hessische Generalstaatsanwalt und Initiator der Frankfurter Auschwitzprozesse (1963–1965), Fritz Bauer (1903–1968), wiederholt betont: »Das deutsche Volk braucht eine Lektion im geltenden Völkerrecht. […] Die Prozesse gegen die Kriegsverbrecher können Wegweiser sein und Brücken schlagen über die vom Nationalsozialismus unerhört verbreiterte Kluft […].« (Bauer, Die Kriegsverbrecher vor Gericht, S. 211) Die Prozesse »können und müssen dem deutschen Volk die Augen öffnen für das, was geschehen ist, und ihm einprägen, wie man sich zu benehmen hat« (ebd.). Was Fritz Bauer mit den Prozessen gegen NS-Täter bezweckte, betraf nicht Schuldvergeltung, sondern sollte innerhalb der deutschen Bevölkerung Lernprozesse einleiten, damit sich die Shoah nicht wiederhole. Für Bauer war rasch klar, dass der deutsche Nationalsozialismus nicht auf Hitler oder Himmler reduziert werden könne: »Es gab Hunderttausende, Millionen anderer, die das, was geschehen ist, nicht nur durchgeführt haben, weil es befohlen, sondern weil es ihre eigene Weltanschauung war, zu der sie sich aus freien Stücken bekannt haben« (Bauer, Zu den Nazi-Verbrecher-Prozessen, S. 568).
24 Darin drückte sich auch seine Sorge vor einer weltweiten atomaren Aufrüstung aus (Buber, Haltet ein!, 1957).
25 Seit 2008 erscheinen dessen Schriften, herausgegeben von Siegbert Wolf, im Verlag Edition AV (Lich/Hessen).
26 In der von Florens Christian Rang (1864–1924) veröffentlichten Schrift Deutsche Bauhütte nannte Martin Buber in einer Zuschrift den Staat »den sichtbar gewordenen jeweiligen Stand des Unverwirklichtseins des Gottesreiches – um die Menschen, zwischen den Menschen, in jedem Menschen. Nur indem wir ihn in all seiner Tatsächlichkeit auf uns nehmen, gehen wir aus ihm auf Gott zu« (S. 184).
27 Das Konzept einer restrukturierten Gesellschaft übernahm er von Gustav Landauer (vgl. hierzu die Bände 3.1 und 3.2: Antipolitik der »Ausgewählten Schriften« Gustav Landauers, hrsg. von Siegbert Wolf. Lich/Hessen: Edition AV 2010). In Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951) schrieb Theodor W. Adorno (1903–1969): »Eine emanzipierte Gesellschaft […] wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen« (Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 114).
28 Erinnert sei an das Religionsgespräch zwischen Buber und dem evangelischen Theologen Karl Ludwig Schmidt (1891–1956) Anfang 1933 im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart (von der Osten-Sacken 1982, S. 116–144).
29 Der Religionsphilosoph und -historiker Seymour Cain (Cain 1996, S. 6–9) beanstandete Bubers angeblich ahistorischen Blick auf die menschliche Welt, womit zugleich dessen Sozialphilosophie eines kommunitären Anarchismus à la Landauer in Abrede gestellt wurde.
30 Richard Lowell Rubenstein (geb. 1924 in New York) zählt neben dem Philosophen und Rabbiner Emil Ludwig Fackenheim (1916–2003) zu den »Klassikern unter den Holocaust-Deutern« (Münz 1996, S. 25). 1966 veröffentlichte Rubenstein mit »After Auschwitz. Radical Theology and Contemporary Judaism« einen Aufsehen erregenden Beitrag der zeitgenössischen jüdischen Theologie zur geschichtstheologischen Interpretation der Shoah (Münz 1996, S. 245–266).


LITERATUR



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–: Gandhi, die Politik und wir (1930); in: Ders.: Werke. Erster Band: Schriften zur Philosophie, a .a. O., S. 1079–1094.
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–: Pfade in Utopia. Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung. Mit einem Nachwort hrsg. von Abraham Schapira. 3. Aufl., erheblich erweiterte Neuausgabe. Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1985.
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–: Reden und Aufsätze zum 80. Geburtstag. Düsseldorf: Zentralrat der Juden in Deutschland 1958 (= Schriften des Zentralrats der Juden in Deutschland, Nr. 2).
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LESEPROBEN



- Hans-Joachim Werner: Geleitwort
und Thomas Reichert, Meike Siegfried, Johannes Waßmer: Vorwort

- Siegbert Wolf: »…vom Gebot einer Gerechtigkeit getrieben und das Herz von ihm bewegt«  - Martin Buber und Deutschland nach der Shoah (auf dieser Seite)

- Einleitungstexte zu den drei Hauptteilen "Praxis", "Politik", "Philosophie und Religion"

- Vollständiges Inhaltsverzeichnis des Buches

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