ONLINE-EXTRA Nr. 359
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Das heutige ONLINE-EXTRA wartet zum Abschluss dieses COMPASS-Jahres erneut mit einer Doppelausgabe auf:
ONLINE-EXTRA Nr. 359: Zum einen ein Beitrag von Ulrich Becke, evangelischer Theologe und Pfarrer im Ruhestand, dem jüngst ein nationalsozialistischer Adventskalender aus dem Jahr 1943 aus einem Nachlass übergeben wurde. Becke hat ihn studiert und die Umdeutungen christlicher Kultur und Brauchtums recherchiert. In einer Zeit, in der nationalsozialistische Phrasen und Denkfiguren wieder salonfähig werden, ist seine Analyse nicht nur unter historischen Gesichtspunkten äußerst interessant, sondern stimmt auch im Blick auf die gesellschaftspolitische Gegenwart sehr nachdenklich: »Vorweihnachten. Ausgabe 1943«
Beckes Beitrag erschien zuerst im "Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt", Heft 11/2024, und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion sowie des Autors wiedergegeben.
ONLINE-EXTRA Nr. 358: Zum anderen ein hoch spannendes und inspirierendes Gespräch über das Vermächtnis des jüdischen Schriftstellers Stefan Zweig und dessen Verständnis vom Judentum als Weltbürgertum. Wolf Südbeck-Baur, seines Zeichens Redakteur der in der Schweiz erscheinenden Zeitschrift "aufbruch. Unabhängige Zeitschrift für Religion und Gesellschaft" hat es mit dem Theologen Karl-Josef Kuschel geführt. Hintergrund ist Kuschels in diesem Jahr erschiene Publikation "Unser Geist ist Weltgeist: Stefan Zweig und das Drama eines jüdischen Weltbürgertums", das erstmals in der Zweig-Forschung eine umfassende und spannend geschriebene Studie über einen Dichter präsentiert, dessen Werk zwar bekannt, aber dessen Verständnis vom Judentum vielen nahezu unbekannt ist. Auf beeindruckende Weise zeigt nun auch das hier zu lesende Gespräch, wie sehr Kuschels Auseinandersetzung mit Stefan Zweig eine Aktualität offenbart, die mit Händen zu greifen ist.
Das Gespräch erschien zuerst in der Oktober-Ausgabe der o.g. Zeitschrift "aufbruch" und wird hier mit freundlicher Genehmigung wiedergegeben.
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Online-Extra Nr. 359
Ich ziehe das altersbraune Heft aus der Plastiktüte mit Büchern und Texten. „Herr Pfarrer, Sie können doch sicher etwas damit anfangen?“ Wieder einmal hat jemand aufgeräumt und entsorgt, sei es wegen Umzug oder Wohnungsauflösung. Und wieder einmal werde ich bedacht mit dem, was zu schade zum Wegwerfen ist oder eventuell den Pfarrer interessieren könnte, auch wenn er jetzt ein Rentner ist. Wie sieht denn die Gegenwart aus, in der damals 1943 „Vorweihnachten“ herausgegeben wird? Weihnachten 1943: was ist in diesem Jahr in Deutschland und Europa geschehen? Nach 1945 nur noch selten rezipiert, wurde es von Heino auf einem 2013 erschienen Weihnachtsalbum nochmals aufgelegt.
Auf der Vorderseite des Heftes, dessen Geruch Alter und Lagerung verraten, ist eine etwas altertümliche Familienszene zu sehen, eine Mutter, eng umringt von vier Kindern, darunter der Titel „Vorweihnachten. Ausgabe 1943“1 mit einem aufrecht dargestellten Tannenzweig.
Die Jahreszahl weckt mein Interesse: Wie sah die Adventszeit gegen Ende des Kriegs aus, und welches Bild davon gibt der gedruckte Zeitzeuge wieder? 1943 – jetzt bemerke ich, dass der Tannenzweig die Gestalt einer Lebensrune der Nazizeit trägt.
Das Heft ist wie ein Adventskalender gestaltet. Jedem Tag der Vorweihnachtszeit ist ein Blatt gewidmet, Gedichte, Bastelanleitungen, Lieder, Illustrationen. Eine zeigt eine Mutter mit Kind auf dem Schoß, dazu ein Hirte und ein König, der Raum ist dunkel, aber volles Licht umfasst Maria und das Jesuskind: Aber sind sie das wirklich?
Ich suche Autor und Verlag des Vorweihnachtskalenders von 1943, sehr kleingedruckt finde ich ganz am Ende „Herausgegeben vom Hauptkulturamt der Reichspropagandaleitung der NSDAP“. Ein Adventskalender in Goebbels’ Auftrag? Mich fröstelt und meine Neugier steigt zugleich.
Weihnachtsgeschichte im NS-Format
Ich lese die Geschichte zum vermeintlichen Krippenbild, eine „Weihnachtsgeschichte“ von Thilo Scheller: In einer Winternacht sind ein armer Holzfäller, ein Soldat, der aus dem Krieg kommt, und ein König unterwegs, auf der Suche nach dem rechten Weg (!). Der Holzfäller ist „wortkarg“, der Soldat stößt „schreckliche Flüche“ aus und der König ist „stolz und hochfahrend“. Die große Wandlung der drei Weggefährten geschieht, als sie zu einem kleinen Häuschen geraten: „Als sie die Tür auftaten, da saß am Ofen eine Mutter, die hielt ein Kind auf dem Schoß. (…) Andächtig standen sie vor der Mutter, die mit holdseligem Lächeln ihr Kind ansah“. Und für jeden der drei zufälligen Weggefährten hat die Mutter Grußworte parat. Dem Holzfäller trägt sie auf: „Zünde die Laterne an, die dort hängt (…) Licht und Wärme habe ich im Überfluß, denn wo könnte es wärmer sein als dort, wo ein kleines Kind geboren ist“. Dem Soldaten dankt sie dafür, dass er „Hüter der Heimat“ gewesen sei: „Da leuchtete es in den Augen des Soldaten, er legte seine große Hand auf den Scheitel des Kindes“. Dem König, der mehr Respekt erwartet hatte, aber zunächst beiseite stehen muss, kündet sie „Wir alle müssen warten, in diesem Knäblein hat mein Warten Erfüllung gefunden. (…) Kinder sind deines Reiches edelstes Gut.“
Und es kommen weitere Parallelen zu den biblischen Weihnachtsgeschichten und ihrer traditionellen Ausgestaltung: „Da sahen die drei Männer fromm (! – d.V.) auf das Kindlein, denn die Worte seiner Mutter hatten an ihre Herzen gerührt. Der Holzfäller schenkte ihm einen Tannenzapfen, der Soldat pfiff ihm ein Lied und der König nahm die goldene Kette von seinem Hals und gab sie der Mutter und neigte sich vor dem Kind.“
Und die Volksgemeinschaft blüht auf dem Rückweg der drei Männer: „Als sie sich trennen mußten, da gaben sie sich fest die Hand. Sie waren einander keine Fremdlinge mehr, der Holzfäller, der Soldat und der König. Auf allen Tannenspitzen leuchteten goldene Sterne, denn es war ja der Heilige Abend.“
Erda und Frau Holle statt Maria
Wer ist die Ur-Mutter mit dem Ur-Kind auf dem Schoß, die anstelle von Maria mit dem Jesuskind jetzt im Mittelpunkt dieser NS-Travestie einer Weihnachtsgeschichte steht und die Alfred Seckelmanns kolorierter Holzschnitt zeigt? Es steht zu erwarten und zu vermuten: die Ur-Mutter schlechthin, Frau Holle im Märchen, Erda in der germanischen Mythologie (und in Wagners Ring des Nibelungen) – sie soll in der Nazizeit als „Lebensmutter“ an Stelle der Maria mit dem Jesuskind treten.
Wer war Thilo Scheller, der Autor dieser Nazi-Travestie der Weihnachtsgeschichte? Klaus Vondung schildert: Scheller „kam aus der Jugendbewegung, war vor 1933 Sportlehrer an der Hochschule für Leibesübungen in Berlin und nun im RAD (Reichsarbeitsdienst) zu einer hohen Führungsposition aufgestiegen.“2 Alfred Rosenberg holt ihn 1941 in seine „Dienststelle für Kulturpolitik“.
Der SPIEGEL berichtet im August 1958: „Thilo Scheller, 60, Reichsarbeitsdienstführer außer Dienst und Inhaber des Hermann-Löns-Preises (1943) wurde von der Deutschen Turnerjugend dazu auserwählt, für das Deutsche Turnfest 1958 in München ein Festspiel zu ersinnen, das dann wirklich aufgeführt wurde. Das Dichtwerk, in dem Personen wie ‚Der Böse‘, ‚Die Sorge‘ und ‚Der Fronende‘ Reime von Thilo Scheller auszusprechen haben. Der Titel des Festspiels lautet: ‚Und immer wieder öffnet sich ein Tor …‘“3
Das Jahr 1943
Auch für Scheller hat sich nach der Nazizeit manches Tor wieder geöffnet. Und vieles klingt seltsam vertraut und doch bitter verfremdet in den Texten von „Vorweihnachten 1943“ (der christliche Begriff „Advent“ ist aus der Sprache gründlich eliminiert):Uns ist ein Licht erstanden
In dunkler Winternacht –
So ist in deutschen Landen
Der Glaube hell entfacht:
Es kommt der Sonne Schein!
Nach vielen harten Tagen
Muß Sieg und Frieden sein!
Zu Beginn des Jahres hat die deutsche Armee in Stalingrad unter Generalfeldmarschall Paulus gegen Hitlers ausdrücklichen Befehl kapituliert. Nach unterschiedlichen Schätzungen sind in der Schlacht über 700.000 Soldaten getötet worden.
Nach der Schlacht um Stalingrad predigt Clemens Graf von Galen, der Bischof von Münster: „Nach der Lehre des hl. Thomas von Aquin steht der Soldatentod in treuer Pflichterfüllung an Wert und Würde ganz nahe dem Martertod für den Glauben. … Darum wird den christlichen Soldaten, die im Gehorsam gegen Gott aus Liebe zum Vaterland ihr Leben hingeben, ewige Herrlichkeit und Lohn zuteil werden, ganz ähnlich wie den hl. Märtyrern.“4
Seit Herbst 1942 laufen die Deportationen deutscher Juden nach Auschwitz. Im Februar ist die Widerstandsgruppe der Weißen Rose hingerichtet worden. Im Juli wird Mussolini für abgesetzt erklärt. Im selben Monat landen 180.000 alliierte Soldaten auf Sizilien. Im August wird ein Aufstand im Vernichtungslager Treblinka niedergeschlagen. Im selben Monat finden auf ausdrücklichen Befehl Hitlers die Bayreuther Festspiele trotz der Kriegslage statt. Im Oktober wird die Stadt Kassel im Bombenhagel fast völlig zerstört. Die Luftschlacht um Berlin beginnt im November. Im selben Monat werden in Hamburg die leitenden Mitglieder der Lübecker Christen, einer ökumenischen Widerstandsgruppe, hingerichtet. In den deutschen Kinos läuft 1943 der aufwändig gedrehte Farbfilm „Münchhausen“ nach einem Drehbuch von Erich Kästner. Zu den Hits des Jahres zählt Rudi Schurickes „Caprifischer“.
Ein Erwachsener bekam im Advent 1943 Lebensmittelkarten für die wöchentliche Zuteilung von maximal 1700 Gramm Brot, 250 Gramm Fleisch, 125 Gramm Fett und dieselbe Menge Zucker. Alle drei Wochen gab es zusätzlich 100 Gramm Kaffee-Ersatz, 62,5 Gramm Käse und 225 Gramm Teigwaren.
Hohe Sterne und morsche Knochen
Im Heft „Vorweihnachten 1943“ findet sich natürlich auch das wohl berühmteste (oder eher berüchtigtste) aller Nazi-Weihnachtslieder: „Hohe Nacht der klaren Sterne“ von Hans Baumann, wo es metaphorisch unklar und wabernd heißt: Hohe Nacht der klaren Sterne,
die wie weite Brücken stehn
über einer tiefen Ferne,
drüber unsere Herzen gehn.
Hohe Nacht mit großen Feuern,
die auf allen Bergen sind –
heut muss sich die Erd’ erneuern
wie ein junggeboren Kind.
Mütter, euch sind alle Feuer,
alle Sterne aufgestellt,
Mütter, tief in euren Herzen
schlägt das Herz der weiten Welt.
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Hans Baumann war auch der Autor von „Es zittern die morschen Knochen“. Zur Geschichte dieses Liedes schreibt die Amberger Zeitung am 15. April 2005: „Nach Auskunft von Frau Elisabeth Baumann entstand das Lied ,Es zittern die morschen Knochen‘ mit den berüchtigten Versen ‚Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt‘ 1932 während einer Wallfahrt Hans Baumanns nach Neukirchen beim Heiligen Blut. Damals war er Mitglied im katholischen Bund ‚Neu Deutschland‘. Große Karriere machte dieser Text ab 1934 in den Organisationen der NSDAP. Er gehörte zu den Standardtexten der Hitler-Jugend und der SA und wurde zum Pflichtlied des Reichsarbeitsdienstes. Baumann selbst nutzte es aufgrund seiner einflussreichen, beruflichen Stellung in der Reichsjugendführung sehr effektiv.“ Es wird gelegentlich debattiert, ob es im Originaltext des Liedes geheißen hat „denn heute, da hört uns Deutschland“ oder aber „gehört uns Deutschland“.5 An die Stelle des Adventskranzes tritt in der „Vorweihnachtsfeier“ jetzt eine Lichterfeier, bei der die vier Lichter am „Sonnwendkranz“ von vier Kindern mit Sinnsprüchen angezündet werden, die Thilo Scheller gedichtet hat: Das Imperfekt in der dritten Strophe deutet auf ein wesentliches Element der nationalsozialistischen Umgestaltung des Weihnachtsfestes, der Instrumentalisierung der gefallenen Soldaten als stumme symbolische Gäste, die bei jeder Familienfeier als anwesend im Geist beschworen werden.
Kriegstreiberischer Rausch
„Um die 300 solcher kriegstreiberischer Lieder hat Baumann während des Nationalsozialismus gedichtet. Millionenfach gedruckt, versetzten seine Verse eine ganze Generation in Rausch. Wie es dem Mann trotz seiner Verstrickung in das NS-System gelingen konnte, zu einem der erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchautoren der Nachkriegszeit zu avancieren, bleibt bis heute unverstanden.“ So berichtet die Süddeutsche Zeitung am 20. Februar 2017 aus Anlass einer Tagung der Internationalen Jugendbibliothek über den Autor Hans Baumann.6
Der Verleger Hans-Joachim Gelberg stellt dort fest, Baumann nahm „in den 38 Jahren, die (sc. er) (…) nach Kriegsende noch lebte, (…) nie ausdrücklich Stellung zu seiner dunklen Vergangenheit – stritt sie aber auch nicht ab“. Anders als bei Wolfgang Borchert oder Günther Grass seien Themen wie Schuld und Vergebung bei Baumann nicht relevant. Die SZ zitiert den Gießener Literaturwissenschaftler Carsten Gansel: „Die zweite Schaffensphase Baumanns ist geprägt von einem Opfernarrativ.“ Ähnlich wie der durch die Namensänderung einer Schule jüngst in die Diskussion geratene Otfried Preußler in seinem Roman „Krabat“ versuche Baumann, seine Vergangenheit zu rechtfertigen. Auch seine Jugendromane handeln von Vertrauen, Verführung und Enttäuschung.
Zu Recht fordert die Kinder- und Jugendbuchautorin Gudrun Pausewang in einem Beitrag für die Jahresgabe 2016 der Universität Regensburg: „Es wäre die Pflicht der deutschen Öffentlichkeit gewesen, Hans Baumann nach 1945 von der Kinder- und Jugendliteratur fernzuhalten.“7
Dem Führer eine Freude machen
Ein zeittypisches „Abendgebet“ findet sich auch in „Vorweihnachten 1943“: Nun will ich ruhig schlafen
und nach der stillen Nacht,
mich mühn, auf deutscher Erden,
so stark und gut zu werden,
daß es dem Führer Freude macht.Ich bringe mein Licht unserer Mutter dar,
Sie sorgt für uns Kinder das ganze Jahr.
Mein Licht soll für all die Leute brennen,
Die heute nicht Weihnachten feiern können.
Ich bringe ein Licht für alle Soldaten,
Dir tapfer die Pflicht für Deutschland taten.
Mein hellstes Licht sei dem Führer geschenkt,
Der immer an uns und Deutschland denkt.
Im Pathos der NS-Zeit bedichtete das Thilo Scheller 1943:
Einmal im Jahr, in der heiligen Nacht, / verlassen die toten Soldaten die Wacht, / die sie für Deutschlands Zukunft stehen, / sie kommen ins Haus, nach Art und Ordnung zu sehen, / Schweigend treten sie ein in den festlichen Raum – / den Tritt der genagelten Stiefel, man hört ihn kaum – / sie stellen sich still zu Vater und Mutter und Kind, / aber sie spüren, dass sie erwartete Gäste sind: / Es brennt für sie eine Kerze am Tannenbaum, / es steht für sie ein Stuhl am gedeckten Tisch, / es glüht für sie im Glase dunkel der Wein. (…) Wenn dann die Kerzen am Lichtbaum zu Ende gebrannt, / legt der tote Soldat die erdverkrustete Hand / jedem der Kinder leise aufs junge Haupt: / „Wir starben für euch, weil wir an Deutschland geglaubt. (…)“8
Das Weihnachtsfest als Heldengedenken
Die Kulturwissenschaftlerin Esther Gajek sieht darin den entscheidenden Bruch mit dem christlichen Weihnachtsfest durch die Nazis: „Im Verlauf des Krieges wurde Weihnachten immer mehr im Sinne eines Gedenkens an die Gefallenen interpretiert. Damit war DER entscheidende Unterschied zum christlichen Weihnachtsfest gegeben: Stand dort das neugeborene göttliche Kind im Mittelpunkt, so galt nun die Aufmerksamkeit den im Krieg gestorbenen ‚Helden‘.“9
Hinzu tritt sicherlich die Tatsache, dass in vielen deutschen Familien im Advent 1943 die Trauer um gefallene Angehörige das Weihnachtsfest überschattet. Um dennoch Weihnachten feiern zu können, wird daraus eben auch ein Gedenktag an die Gefallenen.
Am Tag vor Weihnachten mahnt ein Beitrag in „Vorweihnachten 1943“: „In den Jahren des Krieges wie des Friedens darfst du niemals mehr den stillen Dank und das verpflichtende Gedenken an jene vergessen, deren Opfer dir die weihnachtliche Feier ermöglichten, deshalb brenne am Fest in jedem Hause ein Licht für alle die Getreuesten, die an den weiten Fronten dieses Krieges Ewige (sic) Wache halten.“
Nationalistische Weihe der Winterwende
Der Journalist Wolf Stegemann schildert in „Dorsten transparent“ vom 22. Dezember 2016 einen weiteren typischen Exponenten nationalsozialistischer Weihnachtsumdeutungen: „‚Wir müssen dafür sorgen, dass Weihnachten nicht die Nacht der Christkind-Weihe ist, sondern die nationalistische Weihe der Winterwende, wie es unsere germanischen Vorfahren kannten, ein echtes nationalsozialistisches Weihnachten, die Deutsche Weihnacht! Heil Hitler!‘ Mit diesem unsinnigen Geplapper wurde im Dezember 1939 Dorstens NSDAP-Ortsgruppenleiter Ernst Heine im ‚Völkischen Beobachter‘ zitiert, als er im Militär-Lager an der Schleuse vor Soldaten der Wehrmacht sprach und Weihnachtsgeschenke verteilte: Zigaretten, Süßigkeiten und von NS-Frauenschaftlerinnen selbst gestrickte Socken. Zu diesem Zeitpunkt war Heine bereits aus der evangelischen Kirche ausgetreten, ohne dass es seine Familie wusste. Gefeiert hatte Heine in diesem Jahr, wie in alle den vorangegangenen, das Weihnachtsfest im Kreise seiner Familie in der Wohnung an der Marler Straße wie eh und je: Mit geschmücktem Christbaum, der Weihnachtskrippe, mit gemeinsam gesungenen Weihnachtsliedern, mit Kartoffelsalat und Würstchen. Nur am Weihnachtsgottesdienst in der evangelischen Johanneskirche, den seine Frau und Tochter besuchten, beteiligte er sich nicht. Seine Tochter erzählte noch, dass ihr Vater Weihnachten immer ein richtiger Familienmensch war, welcher der NSDAP-Ortsgruppenleiter sonst nicht war. Als eine NSDAP-Mitarbeiterin von ihm ein Kind bekam, wurde er an die Ostfront versetzt, überlebte und verschwand nach dem Krieg als ‚ehemaliger Soldat‘ in seinen Heimatort Bad Wildungen. Stieg dort wieder in die Kommunal- und Kreispolitik ein – dieses Mal in der CDU, der er seine NSDAP-Vergangenheit erfolgreich verschweigen konnte und verschwiegen hatte.“10
Zu den weiteren Exponenten der Nazi-Ersatz-Weihnachtskultur zählt auch Hans Strobel, deutscher Volkskundler und seit 1941 Leiter des Amtes „Volkskunde und Feiergestaltung“ im Amt Rosenberg. Strobel war Nationalsozialist, der Volkskunde unter völkisch-wissenschaftlichen Gesichtspunkten betrieb. Er leitete ab 1937 die Abteilung „Schulung“ in der Arbeitsgemeinschaft für deutsche Volkskunde, der später auch Thilo Scheller angehörte, und schrieb in der „Spielschar“, einer von der Reichsjugendführung der NSDAP herausgegebenen Zeitschrift für die Feier- und Freizeitgestaltung, über dieses Thema. Er versuchte, alle christlichen Elemente im Brauchtum zu negieren und attackierte die „konfessionelle“ Volkskunde. Strobel stirbt im Rang eines Untersturmbannführers in der Ardennenoffensive: am 24. Dezember 1944 – ein Lebensende von makabrer Koinzidenz.11
Gespenstisches Zeugnis
„Vorweihnachten 1943“ – ein gespenstisches Zeugnis für die Bemühungen der nationalsozialistischen „Kultur“-Politik, in einer Epoche der Barbarei und schon fast im Angesicht einer katastrophalen militärischen Niederlage Deutschlands das christliche Weihnachtsfest umzudeuten.
Es macht sprachlos zu sehen, wie nahtlos Autoren dieses Machwerks nach Kriegsende und Niederlage des Faschismus weiter publizieren konnten, ohne im Geringsten Distanz und Scham angesichts ihrer publizistischen und vor allem propagandistischen Rolle zu bekunden.
ANMERKUNGEN
1 Vorweihnachten, Ausgabe 1943, hrsg. vom Hauptkulturamt in der Reichspropagandaleitung der NSDAP in Verbindung mit dem Hauptschulungsamt, München: Zentralverlag der NSDAP 1943. Alle Zitate dort passim.
2 Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971, 62.
3 Der SPIEGEL 34 (1958).
4 Clemens August Graf von Galen, Predigt geschrieben am 25. Februar 1943, zu verlesen am Heldengedenktag 14. März, zitiert nach Peter Löffler (Hg.) Graf von Galen. Akten, Briefe und Predigten 1933-1946, Paderborn 1988, Nr. 377, S. 970.
5 Amberger Zeitung, 15. April 2005.
6 Süddeutsche Zeitung, 20. Februar 2017.
7 Universität Regensburg (Hg.), Jahresgabe 2016: Hans Baumann, Regensburg 2016, 35.
8 Zitiert nach: Die WELT, 22. Dezember 2000.
9 Richard Faber/Esther Gajek (Hg.), Politische Weihnacht in Antike und Moderne, Würzburg 1997, 202.
10 Dorsten transparent, 22. Dezember 2016.
11 Angaben nach Wikipedia.
Der Autor
Zunächst evangelischer Gemeindepfarrer in Bad Nauheim, seit 2003 dann mit halber Stelle auch Pfarrer für Ökumene und den Dialog der Religionen im Evangelischen Dekanat Wetterau. Regelmäßige Dienstaufträge als Bordseelsorger auf der MS Europa. Seit 2020 im Ruhestand.
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